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Mittwoch, 7. November. Ich hatte mich sehr spät erhoben. Vom Peter-Paul schlug bereits die Mittagsglocke, als ich den Newski hinunterschritt. Der Tag war kalt und ungemütlich. Vor den geschlossenen Türen der Staatsbank standen Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett. „Wozu gehört ihr?“ fragte ich, „zur Regierung?“ „Die Regierung ist futsch. Slawa Bogu“ (Gott sei Dank). Das war alles was ich herausbekam. Die Straßenbahnen fuhren wie gewöhnlich, nicht nur innen überfüllt, sondern auch außen behangen mit Männern, Frauen und kleinen Jungen, die sich anklammerten, wo nur ein Plätzchen sich fand. Die Läden waren geöffnet, und die Straßen schienen sogar weniger unruhig als am Abend vorher. Die Mauern der Häuser waren in der Nacht mit unzähligen gegen den Aufstand gerichteten Appellen beklebt – an die Bauern, an die Frontsoldaten, an die Petrograder Arbeiter. Einer lautete wie folgt:
Die Stadtduma bringt den Bürgern zur Kenntnis, daß sie in einer außerordentlichen Sitzung vom 6. November ein Komitee für die öffentliche Sicherheit gebildet hat, das sich zusammensetzt aus Mitgliedern der Zentralduma und den Stadtbezirksdumas sowie aus Vertretern der folgenden revolutionären demokratischen Organisationen: Zentralexekutivkomitee der Sowjets, Gesamtrussisches Exekutivkomitee der Bauerndeputierten, die Armeeorganisationen, Zentroflot, Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten (!), Gewerkschaftsrat u.a.
Zu erreichen sind die Mitglieder des Komitees für öffentliche Sicherheit im Haus der Stadtduma. Telefon Nr.15-40, 223-77, 138-36.
7. November 1917“
Dies war (mir wurde das erst später klar) die Kriegserklärung der Duma an die Bolschewiki. Ich kaufte eine Nummer des Rabotschi Put, wie es schien die einzige Zeitung, die zu haben war, und etwas später, aus zweiter Hand, von einem Soldaten, für fünfzig Kopeken ein Exemplar des Den. Das in Großformat in der beschlagnahmten Druckerei der Russkaja Wolja hergestellte Blatt der Bolschewiki enthielt auf der Vorderseite in großen Lettern die Parolen: „Alle Macht den Sowjets der Arbeiter, Soldaten und Bauern! Friede, Land, Brot!“ Der Leitartikel war von Sinowjew [1] gezeichnet, der sich, wie Lenin, verborgen halten mußte. Er begann:
„Jeder Soldat und jeder Arbeiter, jeder wahre Sozialist und jeder ehrliche Demokrat begreift, daß es heute nur zwei Möglichkeiten gibt.
Entweder – die Macht verbleibt in den Händen der Bourgeoisie und der Gutsbesitzer, das hieße: Unterdrückung der revolutionären Arbeiter, Soldaten und Bauern, Fortsetzung des Krieges, unvermeidliche Hunger und Tod ..., oder die revolutionären Arbeiter, Soldaten und Bauern übernehmen die Macht, das wäre die völlige Zerschmetterung der Gutsbesitzertyrannei, die Niederlage der Kapitalisten, sofortiger Vorschlag eines gerechten Friedens. Die Bauern würden das Land erhalten, die Arbeiter die Kontrolle über die Industrie, die Hungernden Brot, der wahnsinnige Krieg ginge zu Ende!“
Der Den enthielt – allerdings sehr unvollständige – Nachrichten über die Ereignisse der letzten bewegten Nacht: Besetzung der Telefonzentrale, der Telegrafenagentur und des Baltischen Bahnhofs durch die Bolschewiki; die Offiziersschüler von Peterhof außerstande, nach Petrograd zu kommen; die Kosaken unentschlossen; Verhaftung einiger Minister; Erschießung Mejers, des Chefs der Stadtmiliz. Verhaftungen, Gegenverhaftungen; Handgemenge zwischen Soldaten, Offiziersschülern und Rotgardisten! [1*]
An der Ecke der Morskaja traf ich den Hauptmann Gomberg, Sekretär der Militärsektion der menschewistischen Sozialpatrioten. Auf meine Frage, ob der Aufstand wirklich stattgefunden habe, zuckte ermüde die Achseln. „Tschort snajet“ (Weiß der Teufel.)
„Vielleicht gelingt es den Bolschewiki in der Tat die Macht an sich zu reißen; aber sie werden sie keine drei Tage halten können. Es fehlen ihnen die Männer, die fähig wären, die Regierungsgeschäfte zu führen. Vielleicht ist es ganz gut, sie den Versuch machen zu lassen. Sie werden um so schneller abwirtschaften ...“
Das Militärhotel an der Ecke des St. Isaak-Platzes war von bewaffneten Matrosen umstellt. In der Hotelhalle waren viele elegante junge Offiziere, aufgeregt auf und ab gehend oder miteinander flüsternd. Die Matrosen ließen niemand heraus.
Plötzlich ein Gewehrschuß, darauf das Geknatter einer ganzen Salve. Ich rannte hinaus. Am Marienpalast, dem Sitz des Rates der Russischen Republik, schien sich etwas ereignet zu haben. Quer über den weiten Platz waren in langen Reihen Soldaten mit schußbereiten Gewehren aufmarschiert und starrten zu Dach des Gebäudes empor.
„Provokazia! Auf uns wurde geschossen!“ schrie einer, während ein anderer zur Tür lief.
An der Westecke des Palastes stand ein Panzerauto, rotbeflaggt und mit roten, noch frischen Schriftzeichen: „SRSD“ (Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten). Seine Geschütze waren auf den St.-Isaaks-Platz gerichtet. Am Ausgang der Nowaja Uliza erhob sich, die Passage versperrend, eine Barrikade aus Kisten, Fässern, einer alten Matratze, einem umgestürzten Wagen. Am Ende des Moika-Ufers lag, denn Zugang hindernd, ein großer Haufen geschnittenen Holzes. Auch entlang der ganzen Häuserfront waren Holzklötze, die von einem in der Nachbarschaft lagernden Stapel stammten, zu einer Brustwehr aufgeschichtet.
„Erwarten Sie denn hier Kämpfe?“ fragte ich.
„Das wird bald losgehen“, antwortete aufgeregt ein Soldat. „Gehen Sie weg, Genosse, sonst werden Sie zu Schaden kommen. Sie müssen von dort drüben kommen.“ Dabei zeigte er in Richtung der Admiralität.
„Wer muß kommen?“
„Das kann ich nicht sagen, Brüderchen“, antwortete er und spuckte aus.
Vor dem Tore des Palastes eine Ansammlung von Matrosen und Soldaten, denen ein Matrose von dem Ende des Rates der Russischen Republik erzählte:
„Wir gingen hinein, postierten an allen Ausgängen unsere Genossen, und dann ging ich zu dem den Vorsitz führenden Konterrevolutionär hin und sagte einfach: ‚Schluß mit dem Rat. Geht schnell nach Hause.‘“
Die Umstehenden lachten. Alle möglichen Ausweispapiere schwingend, gelang es mir, bis zur Tür der Pressegalerie vorzudringen. Dort aber hielt mich ein riesiger Matrose an, der, als ich ihm meinen Ausweis zeigte, lächelnd sagte: „Lieber Genosse, wenn Sie St. Michael selber wären, könnten Sie doch nicht passieren.“ Durch die Scheiben der Tür bemerkte ich das wutverzerrte Gesicht und die gestikulierenden Arme eines dort eingeschlossenen französischen Korrespondenten ...
Nicht weit entfernt stand, von einem Haufen Soldaten umringt, ein kleiner graubärtiger Mann in der Uniform eines Generals, mit vor Erregung hochrotem Gesicht.
„Ich bin General Alexejew“, schrie er, „als Ihr vorgesetzter Offizier und Mitglied des Rates der Russischen Republik fordere ich Sie auf, mich passieren zu lassen.“ Der Posten kratzte sich den Kopf, im unklaren, was er machen sollte. Er rief einen sich nähernden Offizier heran, der sehr aufgeregt wurde, als er sah, wen er vor sich hatte, und stramm militärisch grüßte, noch ehe er begriff, was er tat.
„Exzellenz“, stammelte er in der unter dem alten Regime üblichen Manier, „der Zutritt zum Palast ist strikt untersagt, und ich habe keine Befugnis —.“
Ein Automobil kam vorüber. Ich erkannte den im Wagen sitzenden Goz, der die Situation anscheinend sehr belustigend fand und laut lachte. Dann ein zweites Auto, auf dem Vordersitz bewaffnete Soldaten, im Wageninnern verhaftete Mitglieder der Provisorischen Regierung. Plötzlich sah ich Peters, ein lettisches Mitglied des Revolutionären Militärkomitees, über den Platz gelaufen kommen.
„Ich denke, Sie hatten alle diese Herrschaften schon gestern abend festgesetzt“, sagte ich, auf das Auto weisend.
„Ach“, antwortete er mit einer unzufriedenen Grimasse, „diese Dummköpfe haben die meisten wieder laufen lassen, noch ehe wir uns klargeworden waren, was wir eigentlich wollten ...“
Den Woskressenski- Prospekt hinunter waren gewaltige Scharen Matrosen aufmarschiert, dahinter, soweit das Auge reichte, Soldaten.
Wir gingen durch den Admiraltejski-Prospekt zum Winterpalast. Sämtliche Zugänge zum Schloßplatz waren von Wachen besetzt, die niemand passieren ließen, und quer über den ganzen westlichen Teil des Platzes zog sich ein Truppenkordon, von einem Haufen aufgeregter Bürger umlagert. Mit Ausnahme einiger weiter entfernter Soldaten, die aus dem Schloßhof Holz zu holen schienen, um es an der Vorderseite zu einer Art Brustwehr aufzustapeln, war alles ruhig.
Es war nicht möglich, herauszubekommen, ob die Wachen zur Regierung gehörten oder zu den Sowjets. Unsere im Smolny ausgestellten Passierscheine nützten uns indessen nichts, und so näherten wir uns der Linie von einer anderen Seite, zeigten mit wichtiger Miene unsere amerikanischen Pässe vor, erklärten, daß wir in „amtlichen Geschäften!“ kämen und – schlüpften durch. An der Tür nahmen uns die gleichen alten Palastdiener in ihren mit gelben Messingknöpfen besetzten Uniformen mit rot- und goldverziertem Kragen höflich unsere Hüte und Mäntel ab, und wir gingen nach oben. In den dunklen, trüben, ihrer Wandverkleidung beraubten Korridoren lungerten einige alte Diener herum, und vor Kerenskis Tür schritt ein junger Offizier auf und nieder, seinen Schnurrbart kauend. Wir fragten, ob wir den Ministerpräsidenten sprechen könnten. Er verbeugte sich höflich und schlug die Hacken zusammen.
„Nein, ich bedauere“, sagte er auf französisch. „Alexander Fjodorowitsch ist sehr beschäftigt ...“ Er musterte uns einen Moment und fügte hinzu: „Er ist gar nicht hier ...“
„Wo ist er denn?“
„Er ist zur Front gefahren. [2*] Wissen Sie, er hatte nicht einmal genügend Brennstoff für sein Auto, wir waren daher gezwungen, die Hilfe des englischen Hospitals in Anspruch zu nehmen.“
„Sind die Minister hier?“
„Die tagen hier in irgendeinem Raum. Wo, weiß ich nicht.“
„Was meinen Sie, werden die Bolschewiki kommen?“
„Gewiß, die kommen sicher, Ich erwarte jede Minute die telefonische Meldung, daß sie anrücken. Wir sind jedoch bereit. Wir haben die Offiziersschüler hier. In der Vorderseite des Palastes. Dort, durch diese Tür.“
„Können wir dort hinein?“
„Nein, gewiß nicht. Das ist nicht gestattet.“ Hastig schüttelte er uns allen die Hand und ging davon. Wir wandten uns der verbotenen Tür zu, die durch eine den Saal teilende provisorische Wand führte und von außen verschlossen war. Von der anderen Seite hörten wir Stimmen. Irgendwer lachte. Sonst Grabesstille in den weiten Räumen des alten Palastes. Ein alter Diener kam herbeigelaufen. „Aber nicht doch, Barin, da können Sie nicht hinein.“
„Warum ist die Tür verschlossen?“
„Um die Soldaten festzuhalten“, versetzte er, und einige Minuten später etwas von „Tee holen wollen“ murmelnd, ging er nach dem hinteren Teil des Saals davon. Wir öffneten die Tür.
Unmittelbar vor uns standen ein paar Wachen, die indes nichts sagten. Am Ende des Korridors war ein großer geschmückter Raum mit vergoldeter Deckenverzierung und riesigen Kristallkronleuchtern und dahinter mehrere kleine Zimmer mit dunkler Holztäfelung. Auf dem Parkettboden lagen zu beiden Seiten lange Reihen schmutziger Matratzen und Decken, auf denen sich faul Soldaten rekelten. Überall war ein wüstes Durcheinander von Zigarettenenden, Brotresten, Kleidungsstücken und leeren Weinflaschen. In der schier unerträglichen Atmosphäre von Tabaksqualm und ungewaschenen Menschenmassen kamen immer mehr Soldaten zum Vorschein, mit den roten Achselstücken der Offiziersschulen. Einer hatte eine Flasche weißen Burgunders, die offenbar aus den Kellereien des Palastes stammte. Sie sahen uns verwundert nach, als wir so von Raum zu Raum wanderten, bis wir zu einer Reihe mächtiger Staatssalons kamen, deren lange schmutzige Fensterreihen nach dem Schloßplatz blickten. Die Wände bedeckten riesige Gemälde in massiven Goldrahmen, Schlachtenszenen aus der russischen Geschichte: „12. Oktober 1812“ und „6. November 1812“ und „16.-28. August 1813“. Eines der Bilder war an der rechten oberen Ecke beschädigt.
Das ganze war – nach dem Zustand der Wände und des Fußbodens zu urteilen – offenbar schon seit Wochen eine einzige große Kaserne. Auf den Fensterbänken sah ich schußfertige Maschinengewehre, zwischen den Lagerstätten Gewehrpyramiden.
In die Betrachtung der Bilder versunken, fühlte ich plötzlich zu meiner Linken einen intensiven Alkoholdunst. Dann eine Stimme in hartem, aber fließendem Französisch: „Ah, die Herrschaften sind Ausländer. Ihre Art, die Bilder zu bewundern, sagt mir das.“ Ein kleiner, gedunsener Mensch, der, als er die Mütze lüftete, einen kahlen Kopf zeigte.
„Amerikaner? Sehr erfreut. Ich bin Stabshauptmann Wladimir Arzybaschew. Ganz zu ihren Diensten.“ Er schien absolut nicht verwundert, daß vier Ausländer, darunter eine Frau, die Kampfstellungen einer Armee durchwandern, die jeden Augenblick den Angriff erwartet. Er beklagte den Zustand Rußlands.
„Wenn es nur die Bolschewiki wären,“ sagte er, „aber die ganze glänzende Tradition der russischen Armee ist niedergebrochen. Blicken Sie um sich. Die Leute, die Sie hier sehen, sind alles Offiziersschüler, Anwärter für die Offizierslaufbahn. Aber haben sie das Aussehen von Gentlemen? Kerenski hat die Offiziersschulen allen geöffnet, auch dem einfachen Soldaten, sofern er nur ein Examen zu machen in der Lage war. Natürlich sind nun sehr, sehr viele von der Revolution angesteckt ...“
Ohne Umstände wechselte er das Thema. „Ich möchte lieber heute als morgen Rußland verlassen. Ich habe mich entschlossen, zur amerikanischen Armee zu gehen. Wollen Sie das bitte bei ihrem Konsul in die Wege leiten? Ich gebe ihnen meine Adresse.“ Da half kein Protest; er schrieb sie auf ein stück Papier, und gleich schien ihm leichter ums Herz zu sein. Ich habe sie heute noch: „2. Offiziersschule Oranienbaum, Alter Petershof“.
„Wir hatten heute morgen Parade“, fuhr er fort, während er uns durch die Zimmer führte. „Das Frauenbataillon hat beschlossen, zur Regierung zu halten.“
„Ist das Frauenbataillon im Palast?“
„Ja, in den hinteren Räumen. Dort ist es in Sicherheit, wenn es zu Kämpfen kommen sollte.“ Seufzend: „Die Verantwortung ist groß.“
Wir standen einen Augenblick am Fenster und blickten auf den Platz vor dem Palast hinunter, wo drei Kompanien Offiziersschüler in langen Mänteln und bewaffnet aufmarschiert waren. Ein hochgewachsener, energisch blickender Offizier, in dem ich Stankewitsch, den Chef des Militärkommissariats der Provisorischen Regierung erkannte, sprach zu ihnen. Nach einigen Minuten schulterten zwei der Kompanien ihre Gewehre, stießen drei scharfe Hurras aus und marschierten über den Platz durchs Rote Tor der Stadt zu.
„Sie wollen die Telefonzentrale besetzen“, sagte irgendjemand. Drei Kadetten standen neben uns, und wir kamen ins Gespräch. Sie erzählten, sie seien aus den Reihen der einfachen Soldaten in die Schule gekommen, und nannten uns ihre Namen: Robert Olew, Alexej Wassilenko und Erni Sachs, ein Este. Aber jetzt wollten sie nicht mehr Offizier werden, weil die Offiziere sehr unbeliebt seien. Sie wußten anscheinend nicht recht, was sie tun sollten. Fest stand jedenfalls, daß sie nicht sehr glücklich waren.
Bald aber fingen sie an, große Reden zu führen.
„Wenn die Bolschewiki kommen, werden wir ihnen zeigen, was kämpfen heißt. Die wagen es ja nicht. Das sind doch alles Feiglinge. Wenn wir aber doch überwältigt werden sollten, nun ja, dann behält jeder eine Patrone für sich selbst ...“
Da plötzlich in nicht allzu weiter Entfernung Gewehrfeuer. Draußen auf dem Platze begannen die Leute zu rennen und warfen sich flach auf den Boden. Die an den Ecken haltenden Droschken rasten davon. Auch im Palast war allgemeine Aufregung, Soldaten liefen wild durcheinander, ihre Gewehre und Patronengürtel greifend und schreiend: „Sie kommen, sie kommen!“ ... Nach einigen Minuten war alles wieder ruhig. Die Droschken kamen zurück, und die am Boden liegenden Leute erhoben sich. Durchs Rote Tor kamen die Offiziersschüler gezogen, nicht mehr ganz im Schritt marschierend, einer von ihnen auf zwei Kameraden gestützt.
Wir verließen den Palast ziemlich spät. Am Platze waren die Wachen verschwunden. Das weite Halbrund der Regierungsgebäude lag wie ausgestorben. Wir gingen in das Hotel France, um zu essen. Wir waren noch bei der Suppe, als der Kellner mit todblassem Gesicht hereinkam und uns aufforderte, für den Rest des Essens in den Hauptspeisesaal im hinteren Teil des Hauses zu kommen, weil die Lichter ausgemacht werden sollten. „Es wird eine große Schießerei geben“, sagte er.
Als wir wieder an der Morskaja anlangten, herrschte tiefe Dunkelheit. Nur an der Ecke des Newski flackerten ein paar Straßenlaternen. Darunter stand ein großer Panzerwagen mit laufendem Motor, der schwarze Rauchwolken ausstieß. Ein kleiner Junge war daran hochgeklettert und starrte in den Lauf eines Maschinengewehrs. Überall standen Matrosen und Soldaten, offenbar auf irgend etwas wartend. Wir gingen zum Roten Tor zurück. Auch dort war ein Haufe von Soldaten versammelt, zu den hellerleuchteten Fenstern des Winterpalastes hinaufstarrend und laut miteinander redend.
„Aber nein, Genossen!“ hörte ich einen sagen. „Wir können unmöglich schießen. Das Frauenbataillon ist drinnen. Man würde sagen, wir schössen auf russische Frauen.“
Am Newski kam wieder ein Panzerauto um die Ecke gebogen, und ein Mann schrie, seinen Kopf aus dem Türmchen heraussteckend: „Los, hinüber und angegriffen!“
Der Führer eines anderen Autos kam heran und schrie, den Lärm des arbeitenden Motor übertönend: „Das Komitee sagt, wir sollen warten. Die haben da Artillerie hinter ihren Holzstapeln ...“
Straßenbahnen fuhren hier nicht, man sah kaum einen Fußgänger, die Laternen waren gelöscht. Ein paar Straßen weiter jedoch ging das Leben seinen gewohnten Gang: überfüllte Straßenbahnen, auf und nieder wogende Menschenmassen, erleuchtete Schaufenster, die Reklamezeichen der Lichtspieltheater. Wir hatten Einlaßkarten für das Ballett des Marientheaters – alle Theater waren geöffnet –; wir fanden es jedoch draußen interessanter ... I
n der Dunkelheit bahnten wir uns mühsam unseren Weg über Haufen geschnittenen Holzes, die den Zugang zur Polizeibrücke versperrte, und sahen vor dem Stroganowpalast einige Soldaten, beschäftigt, ein Dreizollfeldgeschütz in Stellung zu bringen. Soldaten in den allerverschiedensten Uniformen liefen ziellos hin und her, unablässig redend ...
Den Newski hinab promenierten unübersehbare Menschenmassen. Die ganze Stadt war offenbar unterwegs. An jeder Straßenecke Ansammlungen und hitzige Debatten. Wachposten standen an den Kreuzungen, jeweils ein Dutzend Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett.; rotgesichtige alte Männer in kostbaren Pelzmänteln drohten ihnen mit der Faust, elegant gekleidete Frauen kreischten Verwünschungen. Die Soldaten lächelten verlegen, gaben ausweichende Antworten ... Panzerwagen fuhren die Straße auf und ab. Sie trugen die Namen der alten Zaren – Oleg, Rurik, Swjatoslaw – und in riesengroßen Buchstaben aufgemalt die Aufschrift „RSDRP“ (Rossiskaja Sozial-Demokratitscheskaja Rabotschaja Partija). [A] Am Michailowski erschien ein Mann, den Arm voller Zeitungen, und war sofort umringt von einer wütenden Menge, die, einen Rubel, fünf und zehn Rubel bietend, sich um die Zeitungen raufte. Es war Rabotschi i Soldat, ein vierseitiges Blättchen in kleinem Format und Riesenlettern, das den Sieg der proletarischen Revolution und die Befreiung der noch immer in den Kerkern schmachtenden Bolschewiki ankündigte und die Truppen der Front zur Verteidigung der Revolution aufforderte. Im übrigen enthielt das Blatt nichts wesentlich Neues ...
An der Ecke der Sadowaja waren über zweitausend Menschen versammelt und starrten zum Dach eines hohen Gebäudes empor, wo ab und zu ein kleiner roter Funke aufglühte.
„Seht!“ sagte ein hochgewachsener Bauer hinaufzeigend. „Ein Provokateur. Gleich wird er auf die Leute schießen ...“ Anscheinend dachte niemand daran, den Vorgang zu untersuchen.
Wir waren am Smolny, dessen massige Fassade ganz in Licht getaucht war. Aus dem Dämmer der angrenzenden Straßen ergossen sich endlose Scharen dunkler Gestalten. Ein unaufhörliches An- und Abfahren von Automobilen und Motorrädern. Aus dem Torweg ratterte ein riesiges elefantenfarbenes Panzerauto mit zwei vom Turm flatternden roten Fahnen. Es war kalt, und die am äußeren Tor postierten Rotgardisten hatten ein Feuer angezündet. Auch am Innentor war ein Feuer, bei dessen flackerndem Schein die Wachen schwerfällig unsere Ausweise durchbuchstabierten und uns von oben bis unten musterten. Von den zu beiden Seiten des Torweges aufgestellten vier Maschinengewehren waren die Segeltuchdecken abgenommen, und von den Bodenstücken hingen die Patronengurte herab. Unter den Bäumen im Hofe stand eine dunkle Herde Panzerautos mit ratterndem Motor. Die endlos langen, kahlen, fast dunklen Korridore hallten wider von dem dumpfen Getöse marschierender Füße, von Rufen und Schreien. Aus dem Treppenhaus wälzte sich eine dunkle Menge: Arbeiter in Blusen und runden schwarzen Pelzmützen, die meisten mit Gewehren bewaffnet; Soldaten in rauhen, erdfarbenen Mänteln und grauen, flachgedrückten Pelzmützen; dann und wann ein Führer – Lunatscharski, Kamenew – inmitten dahineilender, aufgeregt redender Gruppen, mit abgespannten besorgten Gesichtern, riesige Aktenbündel unter dem Arm. Die außerordentliche Sitzung des Petrograder Sowjets war eben vorüber. Ich hielt Kamenew an, einen beweglichen Mann mit breitem, lebhaften Gesicht und kurzem gedrungenem Hals. Ohne Umstände zu machen ‚ las er mir in fließendem Französisch die eben angenommene Resolution vor:
„Der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten begrüßt die siegreiche Revolution des Proletariats und der Garnison Petrograds. Der Sowjet hebt insbesondere die Geschlossenheit, Organisiertheit und Disziplin sowie die völlige Einmütigkeit hervor, die die Massen bei diesem außergewöhnlich unblutigen und außergewöhnlich erfolgreichen Aufstand an den Tag gelegt haben.
Der Sowjet bringt seine unerschütterliche Überzeugung zum Ausdruck, daß die Arbeiter-und-Bauern-Regierung, die von der Revolution als Sowjetregierung geschaffen wird und die dem städtischen Proletariat die Unterstützung seitens der ganzen Masse der armen Bauernschaft sichert, unbeirrt zum Sozialismus schreiten wird, dem einzigen Mittel zur Rettung des Landes vor den unsagbaren Leiden und Schrecken des Krieges.
Die neue Arbeiter-und-Bauern-Regierung wird sofort allen kriegführenden Völkern einen gerechten demokratischen Frieden anbieten.
Sie wird sofort das Eigentum der Gutsbesitzer an Grund und Boden aufheben und den Boden den Bauern übergeben. Sie wird die Arbeiterkontrolle über die Produktion und Verteilung der Produkte sowie die allgemeine Kontrolle des Volkes über die Banken einführen und diese gleichzeitig in ein einziges Staatsunternehmen verwandeln.
Der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten fordert alle Arbeiter und die gesamte Bauernschaft auf, die Arbeiter- und Bauernrevolution mit aller Energie und Hingabe zu unterstützen. Der Sowjet bringt seine Überzeugung zum Ausdruck, daß die städtischen Arbeiter im Bunde mit der armen Bauernschaft eine unbeugsame kameradschaftliche Disziplin an den Tag legen und die straffste revolutionäre Ordnung schaffen werden, die für den Sieg des Sozialismus notwendig ist.
Der Sowjet ist überzeugt, daß das Proletariat der westeuropäischen Länder uns helfen wird, die Sache des Sozialismus zum vollen und dauernden Siege zu führen.“
„Dann meinen Sie also gesiegt zu haben?“
Er zuckte die Schultern. „Vorläufig haben wir noch schrecklich viel zu tun. Wir stehen erst am Anfang.“
Auf der Treppe traf ich Rjasanow, den stellvertretenden Vorsitzenden der Gewerkschaften, der finster blickend an seinem grauen Bart kaute. „Verrückt! Total verrückt!“ schrie er. „Die europäischen Arbeiter denken gar nicht daran, zu marschieren. Das ganze Rußland ...“ Er hob den Arm zu einer zerstreuten Geste und rannte davon. Rjasanow und Kamenew hatten beide gegen den Aufstand gesprochen und waren von Lenin scharf zurechtgewiesen worden.
Es war eine bedeutsame Sitzung gewesen. Im Namen des Revolutionären Militärkomitees hatte Trotzki das Ende der Provisorischen Regierung verkündet.
„Die Eigentümlichkeit bürgerlicher Regierungen ist, daß sie das Volk betrügen. Wir, die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten, sind im Begriff, ein Experiment zu machen, das in der Geschichte nicht seinesgleichen hat. Wir gehen daran, eine Regierung zu bilden, die kein anderes Ziel kennen wird als das Wohlergehen der Arbeiter-, Soldaten- und Bauernmassen.“
Lenin war erschienen. Von ungeheurem Beifallssturm begrüßt, sagte er die siegreiche Erhebung des Proletariats in der ganzen Welt voraus. Sinowjew: „Das russische Proletariat hat mit dem heutigen Tage seine Schuld gegenüber dem internationalen Proletariat beglichen. Wir haben einen fürchterlichen Schlag gegen den Krieg geführt, einen tödlichen Schlag gegen alle Imperialisten und gegen den Henker Wilhelm im besonderen.“
Dann hatte Trotzki mitgeteilt, daß man die Front von dem Sieg der Revolution in Kenntnis gesetzt habe, daß aber bisher keine Antwort eingetroffen sei. Gegen Petrograd seien vielmehr Truppen in Anmarsch, und man müsse an diese eine Delegation entsenden, um ihnen die Wahrheit mitzuteilen.
Rufe. „Ihr greift dem Willen des Gesamtrussischen Sowjetkongresses vor!“
Was Trotzki zu der kühlen Bemerkung veranlaßte: „Es ist der Aufstand der Petrograder Arbeiter und Soldaten, der dem Sowjetkongreß vorgegriffen hat.“
Wir hatten Mühe, uns durch die lärmenden Massen hindurchzuzwängen, die den Eingang des großen Sitzungssaales belagerten. In qualvoller Enge saßen hier auf ihren Sitzen, auf allen Fensterbänken, auf dem Rand der Tribüne die Vertreter der Arbeiter und Soldaten ganz Rußlands. Die einen in betretenem Schweigen, die anderen wild erregt, erwarteten sie das Glockenzeichen des Präsidenten. Der Saal war nicht geheizt, aber die ungewaschenen Menschenleiber verbreiteten eine stickige Hitze. Über der Masse hing, schwer und atembeklemmend, stinkiger Zigarettenqualm. Dann und wann stieg jemand auf die Tribüne und forderte die Versammlung auf, das Rauchen einzustellen, worauf alle – die Raucher nicht ausgenommen – in den Ruf einstimmten: „Nicht rauchen, nicht rauchen!“ und unentwegt weiterqualmten. Ich fand einen Platz neben Petrowski, einem anarchistischen Delegierten aus dem Obuchow-Werk, der, unrasiert und schmutzig, sich vor Müdigkeit kaum aufrecht halten konnte. Er hatte drei Nächte hindurch, ohne zu schlafen, im Revolutionären Militärkomitee gearbeitet.
Auf der Tribüne die Führer des alten Zentralexekutivkomitees – zum letztenmal saßen sie über den Sowjets, die sie vom ersten Tag an beherrscht und die sich nun gegen sie erhoben hatten. Die erste Etappe der russischen Revolution, die in ruhige Bahnen zu lenken sie sich so große Mühe gegeben hatten, war zu Ende. Ihre drei bedeutendsten Vertreter fehlten in der Versammlung. Kerenski auf der Flucht zur Front durch ein in Aufruhr geratenes Land. Der alte Adler Tscheidse, der sich in grimmiger Verachtung in seine georgischen Berge zurückgezogen hatte und dort an Schwindsucht darniederlag. Völlig geknickt sogar der immer optimistische Zereteli, aber doch entschlossen, zu erscheinen, um mit seiner glühenden Beredsamkeit für die verlorene Sache zu streiten. Goz war da. Neben ihm Dan, Liber, Bogdanow, Broido, Filippowski, bleich, hohläugig, schäumend vor Wut. Ihnen zu füßen kocht und brodelt die Masse der Delegierten des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses, über ihren Häuptern arbeitete das Revolutionäre Militärkomitee bis zur Weißglut. Hier laufen alle Fäden des Aufstandes zusammen, hier ist der starke Arm der überall zupackt. Es war 10:40 abends.
Dan – ein magerer Mann mit sanftem Gesicht, in schlechtsitzender Uniform eines Militärarztes – gab das Glockenzeichen. Plötzlich gespannte Stille, die nur durch das Zanken und Streiten der Leute an der Tür unterbrochen wurde.
„Die Macht ist in unseren Händen“, begann er, hielt einen Moment inne und fuhr mit leiser Stimme fort: „Genossen! Der Kongreß tritt unter so ungewöhnlichen Umständen und in einem so außerordentlichen Moment zusammen, daß Sie es verstehen werden, warum das Zentralexekutivkomitee es für unnötig erachtet, sich mit einer politischen Rede an Sie zu wenden. Das wird ihnen umso klarer werden, wenn Sie daran denken, daß ich ein Mitglied des Zentralexekutivkomitees bin und daß in diesem Moment im Winterpalast unsere Parteigenossen beschossen werden, die pflichttreu nur die Aufgaben erfüllen, die das Zentralexekutivkomitee ihnen aufgetragen hat,“ (Bewegung).
„Ich erkläre die erste Sitzung des Zweiten Gesamtrussischen Sowjetkongresses der Arbeiter- und Soldatendeputierten für eröffnet!“
Die Wahl des Präsidiums erfolgte unter allgemeiner Unruhe. Awanessow gab bekannt, daß die Bolschewiki, die linken Sozialrevolutionäre und die Menschewiki – Internationalisten sich auf eine proportionelle Besetzung des Präsidiums geeinigt hätten. Einige Menschewiki protestierten. Ein bärtiger Soldat rief ihnen zu: „Denkt daran, wie ihr mit uns Bolschewiki verfuhrt, als wir in der Minderheit waren!“ Resultat: 14 Bolschewiki, 7 Sozialrevolutionäre, 3 Menschewiki und 1 Internationalist (Gorki-Gruppe). Gendelman erklärte für den rechten Flügel und das Zentrum der Sozialrevolutionäre, daß sie es ablehnten, in das Präsidium einzutreten; dieselbe Erklärung gab Chintschuk im Namen der Menschewiki ab; die Menschewiki – Internationalisten erklärten, daß sie bis zur Prüfung gewisser Umstände am Präsidium nicht teilnehmen könnten. Vereinzelter Beifall und Zischen. Eine Stimme: „Renegaten, und ihr nennt euch Sozialisten!“ Ein Vertreter der ukrainischen Delegation verlangte einen Sitz, der ihm zugebilligt wurde. Die Männer des alten Zentralexekutivkomitees verließen die Tribüne. An ihre Stelle traten Trotzki, Kamenew, Lunatscharski, Frau Kollontai, Nogin. Im ganzen Saal stürmischer Beifall. Der Aufstieg der Bolschewiki war ungeheuer. Von der verachteten und gehetzten Sekte [2] noch vor kaum vier Monaten, bis zu ihrer jetzigen Stellung als Führer des großen, in vollem Aufstand begriffenen Rußlands.
Kamenew machte die Tagesordnung bekannt: 1. Übernahme der Macht, 2. Krieg und Friede, 3. Konstituierende Versammlung. Losowski erhob sich und teilte der Versammlung mit, daß sämtliche Fraktionen des Büros sich einig geworden waren, dem Kongreß vorzuschlagen, den Bericht des Petrograder Sowjets entgegenzunehmen und zu diskutieren, darauf den Mitgliedern des Zentralexekutivkomitees der Sowjets sowie den Vertretern der verschiedenen politischen Parteien das Wort zu geben und dann erst zur Tagesordnung überzugehen.
Da plötzlich ein ganz neuer Ton, tiefer als der Tumult der Menge, andauernd, beunruhigend – die scharfen Einschläge von Kanonen. Alles blickte ängstlich nach den Fenstern, fieberhaft erregt. Martow, sich zu Wort meldend, schrie heiser:
„Das ist der beginnende Bürgerkrieg, Genosse! Die allererste Frage muß sein: Wie können wir diese Krise friedlich überwinden? Wir müssen sofort prinzipiell und von einem politischen Standpunkt aus die Mittel und Wege diskutieren, durch die der Bürgerkrieg vermieden werden kann. In den Straßen erschießt man unsere Brüder. In diesem Moment, da noch vor der Eröffnung des Sowjetkongresses eine der revolutionären Parteien den Versuch macht, die Frage der macht durch eine militärische Verschwörung zu entscheiden ...“ (hier wurde seine Stimme einen Moment lang von rasenden Tumulten übertönt). „Es ist die Pflicht aller revolutionären Parteien, sich die Tatsachen vor Augen zu führen. Die erste dem Kongreß vorliegende Frage ist die Frage der Macht, und diese Frage wird eben in den Straßen mittels der Gewalt der Waffen entschieden.... Wir müssen eine Macht schaffen, die von der gesamten Demokratie anerkannt wird. Wenn der Kongreß die Stimme der revolutionären Demokratie sein will, so darf er nicht mit gefalteten Händen dasitzen angesichts des sich entwickelnden Bürgerkrieges, den wir mit dem gefährliche Ausbruch der Konterrevolution bezahlen werden ... Die Möglichkeit einer friedlichen Lösung liegt allein in der Errichtung einer gemeinsamen demokratischen Gewalt... Wir müssen eine Delegation wählen, um mit den andern sozialistischen Parteien und Organisationen zu verhandeln ...“
Und währenddem unaufhörlich das taktfeste dumpfe Dröhnen der Kanonen. Die Delegierten aufeinander einschreiend ... So, unter dem krachen der Geschütze, in dunkler Nacht, mit Haß, Furcht und sorglosem Wagen, kam das neue Rußland zur Welt.
Martows Vorschlag fand die Zustimmung der linken Sozialrevolutionäre und der vereinigten Sozialdemokraten und wurde angenommen. Ein Soldat teilte mit, daß der Gesamtrussische Bauernsowjet es abgelehnt habe, Delegierte zum Kongreß zu entsenden; er schlug vor, ein Komitee zu ihnen zu senden, das sie formell einladen sollte. „Einige Delegierte sind hier anwesend“, sagte er. „Ich stelle den Antrag, daß man ihnen Stimmrecht gibt.“ Das wurde angenommen.
Charrasch, in der Uniform eines Hauptmanns, ergriff hitzig das Wort:
„Die politischen Heuchler, die diesen Kongreß beherrschen, erzählen uns, wir seien hier, um die Frage der Macht zu entscheiden. Dabei wird diese Frage hinter unserm Rücken, noch ehe der Kongreß seine Arbeiten begonnen hat, erledigt. Die Schläge, die in diesem Moment auf den Winterpalast niederfallen, nageln den Sarg einer der politischen Partei, die diese Abenteuer gewagt hat!“ (Toben.)
Ihm folgte Garra [3]:
„Während wir hier Friedensvorschläge diskutieren, schlägt man sich in den Straßen. Die Sozialrevolutionäre und Menschewiki lehnen jede Verantwortung für die jetzigen Vorgänge ab, und sie fordern alle öffentlichen Gewalten zum entschiedenen Widerstand gegen jeden auf die gewaltsame Eroberung der Macht gerichteten Versuch auf.“
Kutschin, Delegierter der Zwölften Armee und Vertreter der Trudowiki:
„Ich bin hier nur zur Information. Ich kehre jetzt zur Front zurück, deren sämtliche Armeekomitees die Übernahme der Macht durch die Sowjets, knapp drei Wochen vor dem Zusammentritt der Konstituierenden Versammlung, als einen Dolchstoß in den Rücken der Armee und als ein Verbrechen gegen das Volk betrachten.“
Lärm und Rufe: „Lügner!“ Als man ihn wieder hört:
„Laßt uns Schluß machen mit diesem Petrograder Abenteuer! Ich fordere alle Delegierten auf, den Saal zu verlassen, um das Land und die Revolution zu retten.“
Ohrenbetäubender Lärm. Einige der Delegierten dringen drohend auf den die Tribüne verlassenden Redner ein. Dann sprach Chintschuk [4], ein Offizier mit langem braunen Knebelbart, verbindlich und überzeugend: „Ich rede im Namen der Delegierten von der Front. Die Armee ist auf diesem Kongreß unvollkommen vertreten, die Armee erachtet den Sowjetkongreß in diesem Moment für überflüssig angesichts der Tatsache, daß es nur noch drei Wochen bis zur Eröffnung der Konstituierenden Versammlung sind“ – Zurufe und Lärm, der immer heftiger anwuchs. „Die Armee bestreitet dem Sowjetkongreß jede Autorität!“ – Die Soldaten begannen sich im ganzen Saal zu erheben.
„Für wen sprechen Sie? Wen vertreten Sie?“ riefen sie.
„Das Zentralexekutivkomitee der Sowjets der Fünften Armee, das Zweite F-Regiment, das Erste N-Regiment, die Dritten S-Schützen ...“
„Wann sind Sie gewählt worden? Sie vertreten die Offiziere, nicht die Soldaten! Was sagen die Soldaten darüber?“ Beifall und toben.
„Wir Frontsoldaten lehnen jede Verantwortung ab für alles, was geschehen ist und was noch geschieht, und wir halten es für notwendig, alle selbstbewußten revolutionären Kräfte für die Rettung der Revolution zu mobilisieren! Die Frontsoldaten werden den Kongreß verlassen ... Kämpfen muß man draußen auf der Straße!“
Wilder Lärm. „Sie reden für den Stab – nicht für die Armee!“
„Ich fordere alle pflichtbewußten Soldaten auf, diesen Kongreß zu verlassen!“
„Kornilowbandit! Konterrevolutionär! Provokateur!“ wurde ihm zugerufen.
Für die Menschewiki erklärte Chintschuk, daß sie die einzige Möglichkeit für eine friedliche Lösung in der Einleitung von Verhandlungen mit der Provisorischen Regierung über die Bildung eines neuen Kabinetts sähen, das sich auf alle Klassen der Gesellschaft zu stützen hätte. Minutenlang war er außerstande, weiterzusprechen. Mit fast zum Schreien gesteigerter Stimme verlas er dann die menschewistische Erklärung:
„Die von den Bolschewiki mit Hilfe des Petrograder Sowjets ohne Konsultation der übrigen Fraktionen und Parteien angezettelte militärische Verschwörung macht es uns unmöglich, an dem Kongreß teilzunehmen. Wir ziehen unsere Delegationen darum zurück. Die anderen Gruppen fordern wir auf, unserem Beispiel zu folgen und in einer Besprechung zur Lage Stellung zu nehmen.“
„Deserteur!“ schallte es zu ihm hinauf. Wildes, fast ununterbrochenes toben, in dem der Sozialrevolutionär Gendelman nur zeitweilig zu hören war, als er gegen die Beschießung des Winterpalastes protestierte. „Wir sind entschieden gegen diese Art Anarchie.“
Er hatte kaum geendet, da schwang sich blitzenden Auges ein junger Soldat mit magerem Gesicht auf die Tribüne, mit einer Handbewegung Ruhe heischend.
„Genossen!“ rief er, und der Lärm legte sich: „Ich heiße Peterson. Ich spreche für die Zweiten Lettischen Schützen. Ihr habt die Ausführungen der Vertreter der Armeekomitees gehört. Diese Ausführungen würden einen Wert haben, wenn die Männer, die sie machten, berechtigt wären, sich die Vertreter der Armee zu nennen.“ (Stürmischer Beifall.) „Aber sie sind nicht die Vertreter der Soldaten.“ Mit erhobener Faust: „Seit langem schon fordert die Zwölfte Armee die Neuwahl des Sowjets und des Armeekomitees. Aber wie euer Zentralexekutivkomitee hat auch unser Komitee es abgelehnt, die Vertreter der Massen bis Ende September zusammenzuberufen, sodaß die Reaktionäre die Möglichkeit hatten, ihre eigenen falschen Delegierten zu diesem Kongreß zu entsenden. Laßt euch sagen, was die Meinung der lettischen Soldaten schon seit langem ist: Keine papiernen Resolutionen, keine Reden mehr, sondern taten! Wir müssen die Macht in unsere Hände nehmen! Mögen die falschen Delegierten nur den Kongreß verlassen. Die Armee ist nicht mit ihnen.“
Beifallssturm durchraste den Saal. In den ersten Augenblicken der Tagung, durch die sich überstürzenden Ereignisse betäubt und geängstigt durch den Kanonendonner, hatten die Delegierten geschwankt. Wohl eine Stunde lang waren Hammerschlag auf Hammerschlag von der Rednertribüne herniedergesaust, sie zwar zusammenschweißend, aber auch niederdrückend. Standen sie wirklich allein? Erhob sich Rußland gegen sie? War es wahr, daß die Armee gegen Petrograd marschierte? Dann war dieser hellhäutige junge Soldat gekommen und hatte gesprochen, und mit einemmal war ihnen die Wahrheit offenbar. Das war die Stimme der Soldaten. Die Millionen der Arbeiter und Bauern im Soldatenrock waren Männer wie sie, die fühlten und dachten wie sie.
Weitere Soldaten ... Gsheltschak, für die Frontdelegierten, teilte mit, daß nur eine kleine Mehrheit von ihnen den Beschluß gefaßt habe, den Kongreß zu verlassen, und daß die bolschewistischen Mitglieder an der Abstimmung nicht einmal teilgenommen hätten. „Hunderte von Frontdelegierten“, erklärte er, „wurden ohne Teilnahme der Soldaten gewählt, weil die Armeekomitees aufgehört haben, die wirklichen Vertreter der Soldatenmassen zu sein ...“ Ein anderer, Lukjanow, rief, daß Offiziere, wie Charrasch und Chintschuk, nicht berechtigt seien, die Armee auf diesem Kongreß zu vertreten – sie vertreten allein das Oberkommando. „Die wirklichen Bewohner der Schützengräben wünschen aufrichtig den Übergang der Macht in die Hände der Sowjets, und sie erhoffen sich davon sehr viel!“ Das Blatt wendete sich.
Dann sprach Abramowitsch für den Bund, das Organ der jüdischen Sozialdemokraten – mit funkelnden Augen hinter dicken Brillengläsern, schäumend vor Wut [5]:
„Was hier in Petrograd vor sich geht, ist schändlich! Die Vertreter des Bundes schließen sich der Erklärung der Menschewiki und Sozialrevolutionäre an und werden den Kongreß verlassen.“ Mit lauter Stimme und erhobener Faust: „Unsere Pflicht gegenüber dem russischen Proletariat gestattet es uns nicht, hier zu bleiben und die Verantwortung für diese verbrechen zu übernehmen. Da die Beschießung des Winterpalastes nicht aufhört, hat die Stadtduma zusammen mit den Menschewiki und Sozialrevolutionären und dem Exekutivkomitee des Bauernsowjets den Beschluß gefaßt, mit der Provisorischen Regierung unterzugehen, und wir werden uns jetzt zu ihnen begeben! Unbewaffnet werden wir unsere Brust den Maschinengewehren der Terroristen darbieten ... Wir fordern alle Delegierten dieses Kongresses auf...“ (der Rest ging in einem Sturm von zurufen und Drohungen unter, die sich zu einem Höllenlärm steigerten, als fünfzig Delegierte aufstanden und den Kongreßsaal verließen ...)
Kamenew schwang die Glocke: „Sitzen bleiben! Wir fahren in unseren Geschäften fort!“ Und dann Trotzki, mit blassem, hartem Gesicht, voller Verachtung, mit schneidender Stimme:
„Mögen sie gehen, die Sozialkompromißler, diese Menschewiki, Sozialrevolutionäre, diese Herrschaften vom ‚Bund‘. Was sind sie anderes wert, als auf den Kehrichthaufen der Geschichte gefegt zu werden!“
Rjasanow stellte im Namen der Bolschewiki fest, daß auf Ersuchen der Stadtduma das Revolutionäre Militärkomitee eine Delegation nach dem Winterpalast geschickt habe, um Verhandlungen anzubieten. „Wir haben alles getan, was in unseren Kräften stand, um Blutvergießen zu verhindern ...“
Wir eilten hinweg, blieben aber doch eine Moment lang vor dem Zimmer stehen, in dem in fieberhafter Eile das Revolutionäre Militärkomitee arbeitete. Keuchend kamen und gingen Kuriere. Nach allen Richtungen der Stadt eilten Kommissare davon, ausgerüstet mit Vollmacht über Leben und Tod der Bürger. Die Tür öffnete sich. Eine Wolke verbrauchter Luft und Zigarettenqualms drang heraus. Drinnen, beim Schein einer abgeblendeten elektrischen Lampe, beugten sich aufgelöste Gesichter über eine große Karte. Genosse Josefow-Duchwinski, ein lächelnder junger Bursche mit hellblondem Haarschopf, stellte uns Passierscheine aus.
Als wir in die kalte Nacht hinaustraten, fanden wir die Frontseite des Smolny in einen riesigen Park ankommender und abfahrender Automobile verwandelt, deren Lärm von dumpfen Kanonenschüssen übertönt wurde, die in gemessenen abständen aufeinander folgten. Vom Dröhnen seines Motors geschüttelt, stand dort ein großes Lastauto. Männer mit Gewehren verstauten mächtige Bündel, die ihnen von unten zugeworfen wurden.
„Wohin fahren Sie?“ schrie ich hinauf.
„Überall hin! Durch die ganze Stadt!“ antwortete frohlockend ein kleiner Arbeiter.
Wir zeigten unsere Passierscheine. „Fahren Sie mit uns!“ luden Sie uns ein. „Aber es wird vielleicht geschossen werden!“ Wir kletterten hinauf. Knarrend ging der Hebel herum. Der Wagen ruckte vorwärts, und wir fielen nach hinten auf die noch während des Fahrens Nachkletternden. Vorbei ging es an dem inneren, dann an dem äußeren Tor des Smolny, mit den riesigen Feuern, die einen roten Schein über die Gesichter der herumstehenden bewaffneten Arbeiter gossen, in immer schnellerem Tempo den Suworowski-Prospekt entlang. Ein Genosse riß von einem Bündel die Umhüllung ab und begann Händevoll Zeitungen aus dem Wagen hinauszuwerfen. Wir taten es ihm nach, auf diese Weise einen dicken Schweif flatternder weißer Blätter hinter uns herziehend, während wir durch die dunklen Straßen ratterten. Verspätete Passanten bückten sich nach den Blättern, um sie aufzuheben, und von den Wachtfeuern an den Straßenecken liefen die Wachen herbei, bemüht, die in der Luft herumflatternden Blätter mit ihren Bajonetten aufzufangen. Dann und wann tauchten aus dem Dunkel Bewaffnete auf, hoben das Gewehr und riefen „Stoi“. Aber unser Fahrer rief ihnen etwas Unverständliches zu und wir rasten weiter. Bei dem Scheine der vorbeihuschenden Straßenlaternen las ich eines der Blätter:
Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die Staatsmacht ist in die Hände des Organs des Petrograder Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten, des Revolutionären Militärkomitees, übergegangen, das an der Spitze des Petrograder Proletariats und der Petrograder Garnison steht. Die Sache, für die das Volk gekämpft hat: das sofortige Angebot eines demokratischen Friedens, die Aufhebung des Eigentums der Gutsbesitzer an Grund und Boden, die Arbeiterkontrolle über die Produktion, die Bildung einer Sowjetregierung – diese Sache ist gesichert.
Es lebe die Revolution der Arbeiter, Soldaten und Bauern!
Das Revolutionäre Militärkomitee
des Petrograder Sowjets der
Arbeiter- und Soldatendeputierten“
Faksimile der von dem Revolutionären Militärkomitee erlassenen |
Ein neben mir sitzender schlitzäugiger Mann mit einem Mongolengesicht, in einen kaukasischen Mantel aus Ziegenfell gehüllt, warnte: „Vorsicht! Hier sind die Fenster aus denen die Provokateure geschossen haben.“ Wir bogen an dem dunkel und fast menschenleer daliegenden Snamenskiplatz ein, und dann ging es den breiten Newski hinunter, während drei unserer Genossen mit schußbereitem Gewehr die Fenster im Auge behielten. Hinter uns eilten Menschen, sich nach unseren Blättern bückend. Kanonendonner war nicht mehr zu hören, und je mehr wir uns dem Viertel des Winterpalastes näherten, um so stiller und menschenleerer wurden die Straßen. Die Stadtduma war hell erleuchtet. Weiter hinten sahen wir eine dunkle Volksmasse. Matrosen, die eine Kette bildeten, schrien uns ein wütendes Halt zu. Unser Motor stoppte, und wir kletterten hinunter.
Eine erstaunliche Szene bot sich uns dar. An der Ecke des Jekaterina-Kanals, unter einer Bogenlampe, zog sich ein Kordon bewaffneter Matrosen quer über den Newski und versperrte einem in Viererreihen marschierenden Zug den Weg. Es mochten drei- oder vierhundert Menschen sein, Männer in Fräcken, elegant gekleidete Frauen, Offiziere. Unter ihnen erkannten wir viele Delegierte vom Kongreß, Führer der Menschewiki und Sozialrevolutionäre: Awxentjew, der rotbärtige Vorsitzende des Bauernsowjets, Sorokin, Kerenskis Sprecher, Chintschuk, Abramowitsch. An der Spitze marschierte weißbärtig der alte Schrejder, der Bürgermeister von Petrograd, und Prokopowitsch, der Ernährungsminister in der Provisorischen Regierung, den man am Morgen verhaftet, aber wieder freigelassen hatte. Ich sah Malkin, den Berichterstatter der Russian Daily News. [6] „Wir gehen zum Winterpalast, um zu sterben“, rief er, anscheinend ganz vergnügt. Der Zug stockte, aber von der Spitze kam lautes Streiten. Schrejder und Prokopowitsch redeten auf den langen Matrosen ein, der das Kommando zu haben schien.
„Wir verlangen, durchgelassen zu werden!“ schrien sie. „Diese Genossen kommen aus dem Sowjetkongreß! Schaut ihre Mandate an! Wir wollen zum Winterpalast!“
Der Matrose schien im unklaren zu sein, was er tun sollte. Er kratzte sich den Kopf: „Ich habe ausdrücklich Befehl vom Komitee, niemand zum Winterpalast zu lassen“, brummte er. „Ich will aber einen Kameraden schicken, damit er beim Smolny antelefoniert ...“
„Wir bestehen darauf, durchgelassen zu werden! Wir sind ohne Waffen! Wir werden gehen, ob Sie es erlauben oder nicht!“ schrie der alte Schrejder, der sehr aufgeregt war.
„Ich habe Befehl ...“, wiederholte der Matrose verdrießlich.
„Schießt auf uns, wenn ihr wollt! Wir werden trotzdem gehen! Vorwärts!“ – kam es von allen Seiten. „Wir sind bereit zu sterben, wenn ihr den Mut habt, auf Russen und auf Genossen zu schießen! Wir bieten unsere Brust euren Gewehren dar!“
„Nein“, sagte der Matrose mürrisch, „ich kann nicht gestatten, daß Sie weitergehen.“
„Was werden sie tun, wenn wir doch gehen? Werden Sie schießen?“
„Nein, ich schieße nicht auf Menschen, die keine Gewehre haben. Wir werden unbewaffnete Russen nicht niederschießen ...“
„Wir gehen weiter. Wie wollen Sie uns aufhalten?“
„Wir werden Sie schon irgendwie aufhalten“, antwortete der Matrose, der anscheinend nicht mehr weiter wußte. „Wir dürfen Sie nicht durchlassen. Etwas werden wir schon tun.“
„Was werden Sie tun, was?“
Ein anderer Matrose kam jetzt heran, aufs höchste aufgebracht.
„Wir werden euch das Fell versohlen!“ schrie er grob. „Und wenn nötig, werden wir euch zusammenschießen. Jetzt marsch nach Hause und laßt uns in Frieden!“
Wütender Lärm und Schimpfen war die Antwort. Prokopowitsch war auf eine Art Kiste gestiegen, und seinen Regenschirm schwingend, hielt er eine Rede. „Genossen und Bürger!“ – sagte er. „Gegen uns wird grobe Gewalt angewandt! ... Wir können unser unschuldiges Blut nicht der Gewalt dieser dummen Menschen ausliefern ... Es ist unter unserer Würde, uns hier auf der Straße von Weichenstellern niederschießen zu lassen ...“ (Was er mit „Weichenstellern“ meinte, ist mir ein Rätsel geblieben.) „Laßt uns zur Duma zurückkehren und beraten, wie man das Land und die Revolution am Besten retten kann!“
Worauf der Zug in würdevollem Schweigen umschwenkte und zum Newski zurückmarschierte, immer in Viererreihen.
Wir nützten die allgemeine Verwirrung aus, um an dem Posten vorbeizuschlüpfen und in der Richtung des Winterpalastes weiterzugehen.
Hier war alles dunkel, nichts regte sich außer den Posten der Soldaten und Rotgardisten. Der Kasaner Kathedrale gegenüber lag ein dreizölliges Feldgeschütz in der Mitte der Straße, vom Rückschlag des letzten Schusses herumgeschleudert. In jedem Torweg standen Soldaten, die sich leise unterhielten und zur Polizeibrücke hinunterlugten. Jemand sagte: „Vielleicht haben wir Unrecht getan ...“ An den Ecken hielten Patrouillen alle Vorübergehenden an. Die Zusammensetzung dieser Patrouillen war interessant. Das Kommando über die regulären Truppen hatte immer ein Rotgardist ... Das Schießen hatte aufgehört.
Gerade als wir die Morskaja erreichten, hörten wir jemand schreien: „Die Offiziersschüler lassen sagen, wir möchten nur kommen und sie herausholen.“ Kommandorufe wurden laut, und in der Dämmerung sahen wir, wie die Masse sich vorwärts schob. Man hörte nichts als Schritte und das Klirren der Waffen. Wir schlossen uns den ersten Reihen an.
Einem schwarzen Strome gleich die ganze Breite der Straße füllend, ohne Gesang, ohne Rufen, fluteten wir durch das Rote Tor, wo mein Vordermann uns leise zurief: „Achtung ‚ Genossen, traut ihnen nicht, sie werden sicher schießen.“ Im Freien begannen wir zu rennen, uns tief hinunterbückend und zusammendrängend. Hinter dem Fuße der Alexandersäule stockten wir plötzlich.
„Wie viele von euch sind gefallen?“ fragte ich.
„Ich weiß nicht. Vielleicht zehn ...“
Nach einigen Minuten der Verwirrung hatten die Massen ihre Sicherheit wiedererlangt, und ohne Befehl ging es weiter. In dem Lichtschein, der aus den Fenstern des Winterpalastes fiel, konnte ich sehen, daß die ersten zwei- bis dreihundert Mann Rotgardisten waren, zwischen ihnen nur einige wenige Soldaten. Wir erkletterten die aus Brennholz errichtete Barrikade, und auf der Innenseite herunterspringend, brachen wir in Siegesjubel aus, als wir auf einen Haufen Gewehre stießen, die die Offiziersschüler im Stich gelassen hatten. Die Türen zu beiden Seiten des Hauptportals standen offen, hellen Lichtschein auf die Straße werfend. Kein Laut drang aus dem riesigen Gebäude.
Von der Masse geschoben, kamen wir zu dem rechten Eingang, der in einen großen, nackten, gewölbten Raum mündete, den Keller des Ostflügels, von dem ein Irrgarten von Korridoren und Treppen ausging. Große Kisten standen dort, auf die sich die Rotgardisten und Soldaten gierig stürzten, sie mit ihren Gewehren aufbrachen und den Inhalt: Teppiche, Vorhänge, Leinenzeug, Porzellanteller, Glassachen usw. herausrissen. Einer stolzierte mit einer Bronzeuhr auf der Schulter davon, ein anderer griff sich eine Straußenfeder und steckte sie an seinen Hut, Doch kaum hatte das Plündern begonnen, als auch schon der Ruf ertönte: „Genossen! Nichts anrühren, nichts nehmen, Eigentum des Volkes!“ Und zwanzig Kehlen griffen den Ruf auf: „Halt! Alles zurücklegen, nichts nehmen, Volkseigentum!“ Die Plünderer wurden gepackt, Damast und Teppiche wurden ihnen abgenommen, und zwei Männer trugen die Bronzeuhr wieder zurück. Ungestüm und hastig wurde alles wieder in die Kisten gepackt und durch freiwillige Posten bewacht. Das alles spielte sich völlig spontan ab. Durch die Korridore, die Treppen hinauf, immer leiser, tönte der Ruf: „Revolutionäre Disziplin! Eigentum des Volkes ...“
Wir gingen zum linken Eingang im Westflügel. Auch dort war man dabei, wieder Ordnung zu schaffen. „Räumt den Palast!“ schrie ein Rotgardist aus einer der inneren Türen heraus. „Kommt, Genossen, wir wollen zeigen, daß wir keine Diebe und Räuber sind. Alles verläßt den Palast außer den Kommissaren, bis wir Posten aufgestellt haben.“
Zwei Rotgardisten, ein Soldat und ein Offizier, standen dort mit Revolvern in den Händen; ein anderer Soldat saß hinter ihnen am Tisch, mit Feder und Papier. Überall waren Rufe: „Alles heraus, alles heraus!“ von nah und fern zu hören, und schreiend, schimpfend und sich stoßend begannen die Massen durch die Tür zu drängen. Jeder einzelne wurde, als er herauskam, festgehalten und von einem Komitee, das sich rasch gebildet hatte, peinlich genau durchsucht. Was er nicht ganz einwandfrei als sein Eigentum nachweisen konnte, wurde ihm erbarmungslos abgenommen. Der Mann am Tisch schrieb alles auf, und die Sachen wurden in einen kleinen Raum gebracht. Die wunderlichsten Dinge wurden Da zusammengetragen: Bronzen, Tintenflaschen, Bettdecken mit dem kaiserlichen Monogramm, Kerzen, kleine Ölgemälde, Schreibunterlagen, Säbel mit goldenem Griff, Seife, die verschiedenartigsten Kleidungsstücke, Decken. Ein Rotgardist trug drei Gewehre, zwei davon hatte er den Offiziersschülern abgenommen; ein anderer vier mit Dokumenten vollgestopfte Aktentaschen. Die Sünder gaben entweder ihre Beute mürrisch preis, oder sie baten wie Kinder. Die Mitglieder des Komitees, alle gleichzeitig redend, erklärten immer wieder, stehlen sei eines Vorkämpfers des Volkes unwürdig. Solche, die erwischt worden waren, blieben oft zurück und halfen, ihre Kameraden zu durchsuchen. [3*]
Auch die Offiziersschüler kamen heraus, in Gruppen zu dreien und vieren. Die Komiteemitglieder packten mit einigem Übermaß an Eifer die sowieso schon verängstigten Menschen und durchsuchten sie ebenfalls, wobei sie sie mit Bemerkungen wie: Provokateure, Kornilowleute, Konterrevolutionäre, Volksmörder usw. überschütteten, sie im übrigen aber ungeschoren ließen. Auch die Offiziersschüler hatten die Taschen mit allem möglichen unbedeutenden Plunder gefüllt. Der Schreiber nahm ein Protokoll auf, und die gefundenen Sachen wurden in dem kleinen Zimmer angehäuft. Die Offiziersschüler wurden entwaffnet. Man fragte sie, ob sie je wieder die Waffen gegen das Volk erheben würden. Einer nach dem anderen antwortete: „Nein.“ Dann ließ man sie laufen.
Wir fragten, ob wir hinein könnten. Das Komitee war sich darüber nicht klar, aber der Rotgardist erklärte entschieden, daß es verboten sei.
„Wer sind Sie überhaupt? Wie kann ich wissen, ob Sie nicht alle miteinander Kerenskileute sind?“ (Wir waren fünf Personen, darunter zwei Frauen.)
„Platz, Genosse!“ Ein Soldat und ein Rotgardist erschienen in der Tür, die Menge zur Seite drängend, und andere Rotgardisten folgten mit aufgepflanzten Bajonetten. Hinter ihnen kamen einer nach dem anderen ein halbes Dutzend Zivilisten – die Mitglieder der Provisorischen Regierung. Zuerst Kischkin, das Gesicht müde und blaß. Dann Rutenberg, der finster zu Boden starrte; der nächste war Tereschtschenko, der scharf um sich blickte; er sah uns kalt an ... Sie gingen schweigend vorüber; die siegreichen Aufständischen drängten heran, um zu sehen, man hörte jedoch nur wenige wütende Zurufe. Erst später erfuhren wir, daß die Massen auf der Straße sie lynchen wollten; Schüsse waren abgefeuert worden – die Matrosen hatten sie jedoch heil nach der Peter-Pauls-Festung gebracht ...
Inzwischen waren wir ungehindert in den Palast gegangen. Dort war ein fortwährendes Kommen und Gehen, ein Bestaunen der neuentdeckten Zimmer in dem riesigen Gebäude, ein Suchen nach verborgenen Offiziersschülern, die indes nicht existierten. Wir gingen nach oben und durchwanderten Zimmer nach Zimmer. Dieser Teil des Palastes war auch von andern Abteilungen betreten worden, die von der anderen Seite der Newa kamen. Die Gemälde, Statuen, die Wandbehänge und Teppiche der großen Staatssäle waren unversehrt; in den Büros aber waren Pulte und Schränke durchwühlt, die Papiere auf dem Boden verstreut, und in den Wohnräumen die Bezüge von den Betten gerissen; die Kleiderschränke standen weit offen. Die am meisten geschätzte Beute waren Kleider, die das arbeitende Volk vor allem benötigte. In einem Zimmer, in dem Möbel aufgespeichert waren, kamen wir dazu, als zwei Soldaten die kostbare spanische Lederpolsterung von den Stühlen abschnitten. Sie erklärten uns, daß sie sich davon Stiefel machen wollten ...
Die alten Palastdiener in ihren blauen und roten, goldgestickten Uniformen standen nervös herum, gewohnheitsmäßig immer und immer wiederholend: „Sie können da nicht hineingehen, Herr! Es ist verboten ...“ Wir gelangten endlich zu dem Saal, in dem die Minister vor kurzem noch den ganzen Tag und die ganze Nacht getagt und die Diener sie an die Rotgardisten verraten hatten. Die lange, mit grünem Tuch überzogene Tafel war noch so, wie sie sie verlassen hatten, als man sie verhaftete. Vor jedem jetzt leeren Sitz Feder, Tinte und Papier; die Blätter bekritzelt mit den Anfängen von Aktionsplänen, flüchtigen Skizzen von Proklamationen und Manifesten, die meisten davon wieder ausgestrichen, nachdem ihre Zwecklosigkeit sich herausgestellt hatte, der Rest des Blattes mit verstreuten geometrischen Zeichnungen bedeckt, von den Schreibern hingemalt, während sie verzweifelt zuhörten, wie Minister nach Minister ihre zwecklosen Pläne entwickelten. Ich nahm eines dieser bekritzelten Blätter, auf dem ich die Handschrift Konowalows erkannte, das folgendermaßen begann: „Die Provisorische Regierung fordert alle Klassen auf, die Provisorische Regierung zu unterstützen ...“
Während dieser ganzen Zeit, das darf nicht vergessen werden, war die Regierung, obgleich der Palast umzingelt war, in ständiger Verbindung mit de Front und dem übrigen Rußland. Die Bolschewiki hatten am frühen Morgen das Kriegsministerium eingenommen, aber sie wußten weder etwas von der Telegrafenstation in den Bodenräumen, noch wußten sie etwas von der geheimen Telefonverbindung, die es mit dem Winterpalast verband. In diesen Bodenräumen hatte ein junger Offizier den ganzen Tag gesessen und eine Flut von Aufrufen und Proklamationen ins Land hinausgesandt; als er hörte, daß der Palast gefallen war, hatte er einfach die Mütze aufgesetzt und war seelenruhig hinausspaziert ...
In interessiertes Schauen versunken, hatten wir geraume Zeit nicht bemerkt, daß sich die Haltung der Soldaten und Rotgardisten um uns herum uns gegenüber verändert hatte. Als wir so von Zimmer zu Zimmer wanderten, blieb uns eine kleine Gruppe ständig auf den Fersen; als wir die große Gemäldegalerie erreichten, in der wir am Nachmittag mit den Offiziersschülern zusammengewesen waren, war diese Gruppe auf etwa hundert Mann angewachsen. Ein Riese von Soldat trat uns entgegen, mit finsterem Argwohn:
„Wer sind Sie?“ brummte er. „Was tun sie hier?“ Die anderen drängten heran, starrten uns an und fingen an zu murren. „Provokateure!“ hörte ich jemand sagen. „Plünderer!“ Ich zeigte unsere Ausweise vom Revolutionären Militärkomitee. Der Soldat nahm sie behutsam, drehte sie hin und her, verständnislos. Augenscheinlich konnte er nicht lesen. Sie zurückgebend, spie er auf den Fußboden. „Papiere“, sagte er verächtlich. Der Haufe begann näher zu rücken. Ich erkannte plötzlich einen Offizier, der hilflos dreinschaute, ich rief ihn an. Er drängte sich durch die Menge zu uns heran.
„Ich bin der Kommissar“, sagte er mir. „Wer sind Sie? Was ist los?“ Ich zeigte unsere Papiere. „Sie sind Ausländer?“ fragte er in fließendem Französisch. „Es ist hier sehr gefährlich ...“ Dann wandte er sich zu der Menge, unsere Papiere emporhaltend. „Genossen“, rief er, „diese Leute hier sind ausländische Genossen – von Amerika. Sie sind hierhergekommen, um ihren Landsleuten von dem Mut und der revolutionären Disziplin der proletarischen Armee zu berichten!“
„Woher wissen Sie das?“ erwiderte der riesenhafte Soldat. „Ich sage ihnen, es sind Provokateure! Sie erzählen uns, daß sie hergekommen sind, um die revolutionäre Disziplin der proletarischen Armee zu sehen. Aber sie sind durch den ganzen Palast gewandert, woher wissen wir, ob sie nicht ihre Taschen voll haben?“
„Richtig!“ brüllten die anderen, vorwärtsdrängend.
„Genossen! Genossen!“ mahnte der Offizier, dem der Schweiß auf der Stirn stand. „Ich bin der Kommissar des Revolutionären Militärkomitees. Vertraut ihr mir? Nun gut, ich sage euch, daß diese Ausweise mit denselben Namen gezeichnet sind wie mein eigener Ausweis!“
Er führte uns durch den Palast und durch eine Tür hinaus zum Newa-Ufer. Beim Ausgang wurden uns vom Komitee die Taschen durchsucht ... „Sie sind mit knapper Not davongekommen“, sagte er, indem er sich das Gesicht abwischte.
„Was ist mit dem Frauenbataillon geschehen?“ fragten wir.
„Oh – die Frauen!“ er lachte. „Die hatten sich alle in einem der hinteren Räume zusammengedrängt. Wir wußten nicht, was mit ihnen anfangen. Viele hatten hysterische Anfälle, es war furchtbar. Wir haben sie schließlich zum Finnischen Bahnhof gebracht und in einen Zug nach Lewaschowo gesetzt, dort haben sie ein Lager ...“ [4*]
Wir kamen hinaus in die kalte Nacht voller verhaltener Erregung, in der sich schattenhaft die Truppen bewegten und Wachposten laut die Passanten anriefen. Vom gegenüberliegenden Ufer, wo sich die dunkle Masse der Peter-Pauls-Festung erhob, kam heiseres Rufen ... Zu unseren Füßen war der Bürgersteig mit herabgefallenem Stuck vom Gesims des Winterpalastes übersät. Dort waren zwei Geschosse vom Kreuzer Aurora eingeschlagen. Weiteren Schaden hatte das Artilleriefeuer nicht verursacht ...
Es war mittlerweile drei Uhr morgens vorbei. Auf dem Newski brannten wieder alle Straßenlaternen. Der Kanonendonner war verstummt. Nur die um die Feuer hockenden Soldaten und Rotgardisten erinnerten an den Krieg. Sonst war die Stadt ruhig, so ruhig wie vielleicht nie in ihrer ganzen Geschichte. In dieser Nacht gab es keinen einzigen Überfall oder Diebstahl.
Das Gebäude der Stadtduma war vollständig erleuchtet. Wir stiegen zu dem mit einer Galerie versehenen Alexandersaal hinauf, wo rotverhüllt die großen goldumrahmten Kaiserbilder hingen. Etwa hundert Menschen waren um die Rednertribüne versammelt. Skobelew sprach gerade. Er forderte die Erweiterung des Komitees für die öffentliche Sicherheit, die Zusammenfassung aller antibolschewistischen Elemente in einer großen Organisation, die den Namen „Komitee zu Rettung des Vaterlandes und der Revolution“ tragen sollte. Die Bildung dieses Komitees – das zu einem der gefährlichsten Gegner der Bolschewiki werden sollte und in der folgenden Woche an die Öffentlichkeit trat, zeitweise unter seinem eigenen Parteinamen, dann wider als das absolut unparteiische Komitee für die öffentliche Sicherheit – erfolgte in unserem Beisein.
Dan, Goz, Awxentjew waren da, einige der rebellierenden Sowjetdelegierten, Mitglieder des Exekutivkomitees der Bauernsowjets, der alte Prokopowitsch und sogar Mitglieder des Rates der Russischen Republik, unter ihnen Winawer und andere Angehörige der Kadettenpartei. Liber erklärte, daß die Einberufung der Sowjets unrechtmäßig sei und daß das alte Zentralexekutivkomitee der Sowjets seine Funktion immer noch ausübe. Ein Aufruf an das Land wurde beraten.
Wir bemühten uns um eine Droschke. „Wohin?“ Als der Kutscher hörte, daß wir zum Smolny wollten, schüttelte er den Kopf. „Nein“, sagte er, „da ist der Teufel los!“ Erst nach vielem Umhersuchen fanden wir einen Kutscher, der bereit war, uns zu fahren. Er verlangte dreißig Rubel und hielt zwei Straßen vom Smolny entfernt.
Die Fenster des Smolny waren noch erleuchtet. Autos fuhren an und ab. Um die Wachfeuer drängten sich Posten, jeden Ankommenden gierig nach den letzten Neuigkeiten ausfragend. In den Korridoren war ein Gewimmel eilender, hohläugiger und schmutziger Männer. In einigen Räumen lagen Menschen schlafend auf dem Fußboden, ihre Gewehre neben sich. Trotz de ausgeschiedenen Delegierten war der Sitzungssaal gedrängt voll. Als wir hereinkamen, verlas Kamenew gerade die Liste der verhafteten Minister. Als der Name Tereschtschenko genannt wurde, erfolgte donnernder Applaus, Ausrufe der Zufriedenheit, Gelächter; Rutenberg wurde weniger beachtet; und bei der Nennung Paltschinskis brach ein wilder Sturm los, wütende Rufe ... Es wurde mitgeteilt, daß Tschudnowski zum Kommissar des Winterpalastes ernannt worden war.
Eine dramatische Unterbrechung folgte jetzt. Ein riesenhafter Bauer, das bärtige Gesicht vor Wut verzerrt, stieg auf die Bühne und schlug mit der Faust auf den Tisch des Präsidiums:
„Wir Sozialrevolutionäre verlangen die sofortige Freilassung der im Winterpalast verhafteten sozialistischen Minister! Genossen! Wißt ihr, daß unsere vier Genossen, die ihr Leben und ihre Freiheit im Kampfe gegen die Tyrannei des Zaren aufs Spiel gesetzt haben, in die Peter-Pauls-Festung geworfen wurden, das historische Grab der Freiheit?“
Seine weiteren Ausführungen gingen im Lärm unter. Ein anderer Delegierter kletterte neben ihn auf die Bühne, zum Präsidium gewendet:
„Werden die Vertreter der revolutionären Massen hier ruhig tagen, während die Ochrana der Bolschewiki ihre Führer foltert?“
Trotzki bot mit einer Geste Ruhe:
„Sollen wir diese sogenannten Genossen, die wir dabei erwischt haben, als sie mit dem Abenteurer Kerenski die Vernichtung der Sowjets vorbereiteten – sollen wir sie vielleicht mit Glacéhandschuhen anfassen? Sie waren nach dem 16. und 18. Juli uns gegenüber auch nicht sehr höflich! In diesem Moment, wo die Sozialpatrioten und die Schwachherzigen uns verlassen haben, wo die ganze Aufgabe der Verteidigung und der Rettung der Revolution auf unsern schultern ruht, heißt es vor allem: arbeiten, arbeiten, arbeiten! Wir sind entschlossen, lieber zu sterben als nachzugeben.“
Von Zarskoje Selo kam ein Kommissar, keuchen und kotbedeckt vom schnellen Ritt:
„Die Garnison von Zarskoje Selo wacht an den Toren Petrograds, bereit, die Sowjets und das Revolutionäre Militärkomitee zu verteidigen.“
Wilder Jubel.
„Das von der Front abgesandte Radfahrerkorps ist in Zarskoje angekommen. Die Soldaten sind mit uns. Sie erkennen die Macht der Sowjets an, die Notwendigkeit der Sofortigen Übergabe des Landes an die Bauern und die Durchführung der Arbeiterkontrolle über die Industrie. Das in Zarskoje stationierte 5. Radfahrerbataillon steht zu uns.“
Danach sprach der Delegierte des 3. Radfahrerbataillons. Inmitten tobender Begeisterung erzählte er, wie vor drei Tagen das Radfahrerkorps von der Südwestfront zur „Verteidigung Petrograds“ abkommandiert worden war. Die Soldaten ahnten aber, was dieser Befehl bedeutete. Auf der Station Peredolsk trafen sie mit Vertretern des in Zarskoje stationierten 5. Bataillons zusammen. Eine gemeinsame Versammlung fand statt, und es zeigte sich, daß „unter den Radfahrern nicht einer gewillt war, das Blut seiner Brüder zu vergießen oder eine Regierung der Kapitalisten und Gutsbesitzer zu verteidigen“!
Im Namen der Menschewiki – Internationalisten schlug Kapelinski die Wahl eines Komitees vor, das eine friedliche Lösung des Bürgerkrieges finden sollte. „Es gibt keine friedliche Lösung!“ schrie die Menge. „Sieg ist die einzige Lösung.“ Der Vorschlag wurde mit überwältigender Mehrheit abgelehnt, und die Menschewiki – Internationalisten verließen unter einem Hagel ironischer Zurufe den Kongreß. Die Delegierten hatten ihre anfängliche Ängstlichkeit endgültig überwunden. Kamenew rief von der Tribüne herab hinter ihnen her:
„Die Menschewiki – Internationalisten behaupten, für eine ‚friedliche Lösung‘ zu sein, aber sie haben immer gegen die Tagesordnung und für die Erklärung jener Gruppen gestimmt, die den Kongreß verlassen wollten. Es ist offensichtlich, daß sich all diese Renegaten schon vorher geeinigt hatten, den Kongreß zu verlassen.“
Die Versammlung beschloß, das Ausscheiden der Parteien unbeachtet zu lassen, und wandte sich der Ausarbeitung des Aufrufes an die Arbeiter, Soldaten und Bauern Rußlands zu.
Der Zweite Gesamtrussische Kongreß der Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten ist eröffnet. Auf diesem Kongreß ist die gewaltige Mehrheit der Sowjets vertreten. Auf dem Kongreß ist auch eine Reihe von Delegierten der Bauernsowjets anwesend. Die Vollmachten des paktiererischen Zentralexekutivkomitees sind abgelaufen. Gestützt auf den Willen der gewaltigen Mehrheit der Arbeiter, Soldaten und Bauern, gestützt auf den in Petrograd vollzogenen siegreichen Aufstand der Arbeiter und der Garnison, nimmt der Kongreß die Macht in seine Hände.
Die Provisorische Regierung ist gestürzt. Die meisten Mitglieder der Provisorischen Regierung sind bereits verhaftet.
Die Sowjetmacht wird sofort allen Völkern einen demokratischen Frieden und den sofortigen Waffenstillstand an allen Fronten anbieten. Sie wird die entschädigungslose Übergabe der Gutsbesitzer-, Kron- und Klosterländereien in die Verfügungsgewalt des Bauernkomitees sichern, sie wird die Rechte der Soldaten schützen, indem sie die volle Demokratisierung der Armee durchführt, sie wird die Arbeiterkontrolle über die Produktion einführen und die rechtzeitige Einberufung der Konstituierenden Versammlung gewährleisten, sie wird dafür sorgen, daß die Städte und Dörfer mit Gegenständen des dringendsten Bedarfs beliefert werden, sie wird allen in Rußland lebenden Völkern das wirkliche recht auf Selbstbestimmung sichern.
Der Kongreß beschließt: Die ganze Macht geht allerorts an die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten über, die eine wirkliche revolutionäre Ordnung zu gewährleisten haben.
Der Kongreß ruft die Soldaten in den Schützengräben zur Wachsamkeit und Standhaftigkeit auf. Der Sowjetkongreß ist überzeugt, daß die revolutionäre Armee es verstehen wird, die Revolution gegen jegliche Anschläge des Imperialismus zu verteidigen, bis die neue Regierung den Abschluß eines demokratischen Friedens erzielt hat, den sie unmittelbar allen Völkern anbieten wird. Die neue Regierung wird alle Maßnahmen treffen, um durch eine entschlossene Politik von Requisitionen und Besteuerungen der besitzenden Klassen die revolutionäre Armee mit allem Nötigen zu versorgen, und wird auch die Lage der Soldatenfamilien verbessern.
Die Kornilowleute – Kerenski, Kaledin u.a. – versuchen, Truppen gegen Petrograd zu führen. Einige Truppenteile, die Kerenski auf betrügerische Weise in Bewegung gesetzt hatte, sind auf die Seite des aufständischen Volkes übergegangen.
Soldaten, setzt dem Kornilowmann Kerenski aktiven Widerstand entgegen! Seid auf der Hut!
Eisenbahner, haltet die Truppentransporte an, die Kerenski gegen Petrograd schickt!
Soldaten, Arbeiter, Angestellte! Das Schicksal der Revolution und das Schicksal des demokratischen Friedens liegt in euren Händen!
Es lebe die Revolution!
Der Gesamtrussische Kongreß der Sowjets
der Arbeiter- und Soldatendeputierten
Die Delegierten der Bauernsowjets.“ [7]
Es war genau 5 Uhr 17 morgens, als, vor Müdigkeit schwankend, Krylenko auf die Bühne trat, ein Telegramm in der Hand:
„Genossen! Ein Telegramm der Nordfront. Die Zwölfte Armee entbietet dem Sowjetkongreß ihre Grüße und meldet die Bildung eines Revolutionären Militärkomitees, das das Kommando über die Nordfront übernommen hat.“ Stürmischer Jubel. Weinende Männer, einander umarmend. „General Tscheremissow erkennt das Komitee an. Der Kommissar der Provisorischen Regierung, Woitinski, ist zurückgetreten.“
So hatten sich Lenin und die Petrograder Arbeiter für den Aufstand entschieden. Der Petrograder Sowjet hatte die Provisorische Regierung niedergezwungen und dem Sowjetkongreß den Staatsstreich aufgedrängt. Nun hieß es: Rußland gewinnen und dann – die Welt! Würde Rußland folgen und sich erheben? Und die übrige Welt, was würde sie tun? Würden die Völker dem Rufe folgen und aufstehen zu einem roten Weltsturm?
Obgleich schon sechs Uhr früh, war es noch ganz dunkel und ziemlich kalt. Nur ein schwaches, kaum merkliches Dämmern stahl sich über die stillen Straßen, ließ die Wachtfeuer matter erscheinen. Der Vorbote eines drohenden, sich grau über Rußland erhebenden Tages.
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A. Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands – J.R.
1. Der erwähnte Artikel vom 7. November (24. Oktober) im Rabotschi Put war ohne Unterschrift veröffentlicht. Sein Verfasser ist nicht festgestellt.
3. Laut Bericht der Prawda sagte das Folgende Charrasch.
4. Die folgende Rede schreibt John Reed Chintschuk zu. Nach allen Zeitungsberichten war das die Fortsetzung der Rede von Kutschin.
5. Im folgenden Absatz hat John Reed offenbar zwei Reden vereinigt, die von Abramowitsch und Erlich.
6. Russian Daily News, eine Zeitung, die 1917 in Petrograd in englischer Sprache erschien.
7. Die Unterschrift „Die Delegierten des Bauernsowjets“ wurde nach entsprechender Erklärung der Vertreter der Bauern hinzugefügt.
Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008