MIA > Deutsch > J. Reed > Zehn Tage
Wo immer ein revolutionäres Volk einer schwachen Regierung gegenübersteht, kommt unausbleiblich früher oder später der Moment, da jede Handlung der Regierung die Massen erbittert und jede Unterlassung ihre Verachtung weckt.
Der Plan, Petrograd preiszugeben, beschwor einen Sturm herauf; Kerenskis öffentliche Erklärung, daß die Regierung eine derartige Absicht nie gehabt hätte, wurde mit einem Hohngelächter beantwortet.
„Durch den Vorstoß der Revolution an die Wand gedrückt“, so rief die Zeitung Rabotschi Put aus, „versucht sich die Regierung der bürgerlichen Favoriten mit Lügen und Ausflüchten aus der Affäre zu ziehen. Nie habe sie daran gedacht, aus Petrograd zu flüchten; niemals sei es ihr in den Sinn gekommen, die Hauptstadt preiszugeben.“
In Charkow [1] akzeptierte eine Versammlung von dreißigtausend organisierten Bergarbeitern den Grundsatz der IWW [2]: „Die arbeitenden und die besitzenden Klassen haben nichts miteinander gemein.“ Kosaken jagten die Bergarbeiter auseinander; einige wurden von den Bergwerksbesitzern ausgesperrt, der Rest rief den Generalstreik aus. Der Minister für Handel und Industrie, Konowalow, gab seinem Vertreter Orlow unbeschränkte Vollmacht, der Schwierigkeiten mit allen ihm gutdünkenden Mitteln Herr zu werden. Die Bergarbeiter haßten Orlow. Aber das Zentralexekutivkomitee der Sowjets bestätigte nicht nur seine Ernennung, sondern lehnte auch die Forderung ab, die Kosaken aus dem Donezbecken zurückzurufen.
Dazu kam die Sprengung des Sowjets in Kaluga. Die Bolschewiki hatten dort die Mehrheit erlangt und einige politische Gefangene freigesetzt. Die Stadtduma rief mit Zustimmung des Regierungskomissars Truppen aus Minsk herbei, die das Gebäude des Sowjets mit Artillerie beschossen. Die Bolschewiki kapitulierten. Während sie das Gebäude verließen, wurden sie plötzlich von Kosaken mit dem Ruf überfallen: „So werden wir es mit allen bolschewistischen Sowjets machen, die von Petrograd und Moskau nicht ausgenommen!“ Der Zwischenfall hatte eine durch ganz Rußland wogende zornige Erregung zur Folge.
In Petrograd ging gerade ein Bezirkssowjetkongreß für Nordrußland zu Ende, dem der Bolschewik Krylenko präsidierte. Der Kongreß sprach sich mit überwältigender Mehrheit für die Übernahme der Macht durch den Gesamtrussischen Sowjetkongreß aus. Er grüßte die in den Kerkern schmachtenden Bolschewiki, ihnen Mut zurufend, da die Stunde der Befreiung nahe sei. Zur selben Zeit erklärte sich der Erste Gesamtrussische Kongreß der Fabrik- und Werkstättenkomitees [1*] mit Entschiedenheit für die Sowjets. Ein Beschluß dieses Kongresses erklärte:
„..Nachdem die Selbstherrschaft auf politischen Gebiet gestürzt worden ist, strebt die Arbeiterklasse danach, auch auf dem Gebiet ihrer Produktionstätigkeit der demokratischen Ordnung zum Siege zu verhelfen. Ausdruck dieses Bestrebens ist die Idee der Arbeiterkontrolle, die in der bestehenden Situation der wirtschaftlichen Zerrüttung durch die verbrecherische Politik der herrschenden Klasse heraufbeschworen wurde...“
Der Verband der Eisenbahner forderte den Rücktritt Liwerowskis, des Verkehrsministers ...
Im Namen des Zentralexekutivkomitees bestand Skobelew darauf, daß der „Nakas„ der Konferenz der Alliierten vorgelegt werden müsse, und protestierte formell gegen die Entsendung Tereschtschenkos nach Paris. Tereschtschenko bot seinen Rücktritt an ...
General Werchowski, außerstande, seine Reorganisation der Armee durchzuführen, kam nur in langen Zwischenräumen in die Kabinettssitzungen ...
Am 3. November kam Burzews Obschtscheje Delo mit großen Schlagzeilen heraus:
Ich erfahre eben, daß gestern in einer Sitzung der Komission für Verteidigung im Rat der Russischen Republik der Kriegsminister, General Werchowski, einer der Hauptschuldigen für den Sturz Kornilows, den Vorschlag der Unterzeichnung eines Sonderfriedens, unabhängig von den Alliierten gemacht hat.
Das ist der Verrat Rußlands!
Tereschtschenko erklärte, daß die Provisorische Regierung es abgelehnt habe, den Vorschlag Werchowskis auch nur zu prüfen.
‚Man könnte meinen‘, erklärte Tereschtschenko, ‚wir wären in einem Irrenhause.‘
Die Mitglieder der Komission waren über die Worte des Generals erstaunt.
General Alexejew weinte.
Nein! Das ist nicht Wahnsinn! Das ist Schlimmeres. Das ist der direkte Verrat Rußlands!
Kerenski, Tereschtschenko und Nekrassow müssen unverzüglich auf die Worte Werchowskis antworten.
Bürger, wacht auf.
Rußland soll verkauft werden!
Rettet es!“
In Wirklichkeit hatte Werchowski darauf hingewiesen, daß man die Alliierten zwingen müsse, einen Friedensvorschlag zu machen, weil die russische Armee nicht länger kämpfen könne ...
Sowohl in Rußland wie im Auslande war die Sensation ungeheuer. Werchowski erhielt „unbeschränkten Krankenurlaub“ und trat aus der Regierung aus. Obschtscheje Delo wurde verboten.
Zum Sonntag, dem 4. November, war eine riesige Veranstaltung geplant, ein sogenannter Tag des Petrograder Sowjets, mit Massenversammlungen in der ganzen Stadt, nach außen hin zum Zwecke der Sammlung von Geld für die Organisation und die Presse, in Wahrheit eine Demonstration, bestimmt, die Macht der revolutionären Massen zu zeigen. Plötzlich wurde bekannt, daß am gleichen Tag auch die Kosaken einen „Krestni Chod„ (Kreuzprozession) zu veranstalten beabsichtigten, zu Ehren des Heiligen von 1912, dessen wunderbares Eingreifen die Vertreibung Napoleons aus Moskau ermöglicht haben soll. Eine ungeheure Spannung lag in der Luft. Ein Funke konnte den Bürgerkrieg entfachen.
Der Petrograder Sowjet veröffentlichte ein Manifest, betitelt:
Man will euch, Kosaken, gegen uns Arbeiter und Soldaten aufhetzen. Diese Kainsarbeit stammt von unseren gemeinsamen Feinden: von den Gewalttätern – den Adligen, Bankiers, Gutsbesitzern, alten Beamten und ehemaligen Lakaien des Zaren ... Sie hassen uns bitter, die Spekulanten, Kapitalisten, Fürsten, der Adel, die Generale, mit Einschluß eurer Kosakengenerale. Sie sind jeden Moment bereit, den Petrograder Sowjet auseinanderzujagen und die Revolution niederzuschlagen.
Irgend jemand hat zum 4. November eine Kirchenprozession für die Kosaken organisiert. Es ist eine persönliche Angelegenheit jedes einzelnen, ob er dorthin gehen will oder nicht. Wir werden uns da nicht einmischen oder jemanden hindern. Wir warnen euch aber, Kosaken! Seid achtsam, daß unter dem Vorwand einer Kreuzesprozession eure Kaledins euch nicht gegen die Arbeiter und Soldaten hetzen!“
Die Prozession wurde eiligst abgesagt.
In den Fabriken, in den Arbeitervierteln propagierten die Bolschewiki ihre Parole: „Alle Macht den Sowjets“, während die Agenten der Schwarzhunderter unaufhörlich zur Abschlachtung der Juden, Geschäftsinhaber und der sozialistische Führer hetzten.
Auf der einen Seite die monarchistische Presse, blutige Unterdrückungsmaßregeln fordernd, auf der anderen Lenins mächtige Stimme: „Aufstand! ... Man darf nicht länger warten!“
Auch der bürgerlichen Presse war nicht wohl. [2*] Die Birshewyje Wedomosti (Börsennachrichten) nannten die bolschewistische Propaganda einen Angriff auf die elementarsten Grundlagen der Gesellschaft: die persönliche Sicherheit und die Achtung vor dem Privateigentum.
Am wütendsten gebärdeten sich jedoch die „gemäßigten“ sozialistischen Blätter. [3*] „Die Bolschewiki sind die gefährlichsten Feinde der Revolution“, schimpften Delo Naroda und der menschewistische Den, „die Regierung muß sich und uns schützen.“ Das Blatt Plechanows, Jedinstwo (Einheit) [4*], wies die Regierung auf die Tatsache hin, daß die Petrograder Arbeiter bewaffnet wurden, und forderte die allerstrengsten Maßnahmen gegen die Bolschewiki.
Die Regierung wurde von Tag zu Tag hilfloser. Selbst die Stadtverwaltung hörte auf zu funktionieren. Die Spalten der Morgenzeitungen waren voll von Nachrichten über verwegene Raubüberfälle und Morde. Den Banditen geschah absolut nichts.
Andrerseits begannen die Arbeiter einen Sicherheitsdienst zu organisieren. Bewaffnete Patrouillen durchstreiften die Stadt, die den Kampf mit dem Verbrechertum aufnahmen und Waffen beschlagnahmten, wo sie welche fanden.
Am 1. November erließ der General Polkownikow, der Petrograder Stadtkommandant, folgenden Befehl:
„Ungeachtet der für das Vaterland angebrochenen schweren Tage hören die unverantwortlichen Aufrufe zu bewaffneten Demonstrationen nicht auf, in Petrograd zu zirkulieren, und Räuberei und Anarchie nehmen täglich zu. Dieser Zustand der Dinge desorganisiert das Leben der Bürger und hindert die Arbeit der Regierung und der Stadtverwaltung. Im vollen Bewußtsein meiner Verantwortung und Pflicht gegenüber dem Vaterlande befehle ich:
An alle Armeekomitees und Organisationen richte ich die Aufforderung, die Kommandeure bei der Ausführung der ihnen aufgetragenen Aufgaben zu unterstützen.“
Im Rat der Russischen Republik gab Kerenski die Erklärung ab, daß die Regierung die bolschewistischen Vorbereitungen mit Aufmerksamkeit verfolge, daß sie aber stark genug sei, um keinerlei Demonstrationen fürchten zu müssen. [5*] Er klagte Nowaja Rus und Rabotschi Put an, die gleiche Wühlarbeit zu leisten.
„Sie sind“, sagte er, „nur die zwei Seiten derselben Propaganda, deren Endzweck die von den reaktionären Mächten so heiß ersehnte Konterrevolution ist. Aber“, fügte er hinzu, „die Regierung ist durch die bestehende Freiheit der Presse gehindert, gegen die gedruckten Lügen ihrer Feinde vorzugehen.“ [A]
Am 2. November waren erst fünfzehn Kongreßdelegierte angekommen. Am nächsten Tag waren es hundert und am übernächsten hundertfünfundsiebzig, davon hundertdrei Bolschewiki. Vierhundert Delegierte mußten mindestens zusammenkommen, und bis zum Eröffnungstermin waren es nur noch drei Tage.
Revolutionäres Militärkomitee |
Passierschein Der Kommandant: |
Ich habe einen großen Teil dieser Zeit im Smolny zugebracht. Dort hineinzugelangen war nicht mehr leicht. Die Tore waren von doppelten Postenketten bewacht, und auch, wenn man das Hauptportal hinter sich hatte, war man noch nicht drinnen, sondern mußte sich einer langen Reihe schon wartender Leute anschließen, die, nachdem sie einem peinlich genauen Verhör über ihre Identität und ihre Geschäfte unterzogen worden waren, immer vier auf einmal, eingelassen wurden. Ausweise wurden ausgestellt und das Ausweissystem alle paar Stunden geändert, um den zahllosen Spionen das Durchschlüpfen unmöglich zu machen.
Eines Tages kam ich gerade dazu, als Trotzki und seine Frau von einem Soldaten angehalten wurden. Trotzki suchte in allen seinen Taschen, fand aber seinen Ausweis nicht. „Macht nichts“, sagte er endlich, „Sie kennen mich ja. Mein Name ist Trotzki.“
„Wenn Sie keinen Ausweis haben, kommen Sie nicht hinein“, versetzte hartnäckig der Soldat. „Namen bedeuten mir gar nichts.“
„Aber ich bin der Vorsitzende des Petrograder Sowjets.“
„Wenn Sie eine so wichtige Persönlichkeit sind, dann müssen Sie doch auch irgendein Papier bei sich haben.“
Trotzki verlor die Ruhe nicht. „Lassen Sie mich den Kommandanten sehen“, sagte er. Der Soldat zögerte und brummte, er könne nicht wegen jedes x-beliebigen den Kommandanten behelligen. Schließlich rief er den Wachhabenden herbei.
Dem setzte Trotzki seinen Fall auseinander und wiederholte, daß er Trotzki sei.
„Trotzki?“ Der Soldat kratzte sich am Kopf. „Den Namen habe ich schon einmal gehört“, meinte er endlich. „Ich denke, es wird seine Richtigkeit haben, Sie können hineingehen, Genosse.“
Im Korridor traf ich Karachan vom bolschewistischen Zentralkomitee [3], der mir erklärte, was die neue Regierung sein wird:
„Eine lockere Organisation, die in vollem Einklang mit dem Willen des Volkes handelt, wie er in den Sowjets seinen Ausdruck findet, und den lokalen Kräften volle Aktionsfreiheit läßt. Zur Zeit sind die lokalen Kräfte in der Betätigung ihres demokratischen Willens durch die Provisorische Regierung genauso behindert wie früher durch die Zarenregierung. Die Initiative der neuen Gesellschaft muß von unten kommen. Die Form der Regierung wird dem Statut der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei Rußlands entsprechen. Das neue Zentralexekutivkomitee der Sowjets wird das Parlament sein und den häufig zusammentretenden Gesamtrussischen Sowjetkongressen Rechenschaft abzulegen haben, An der Spitze der verschiedenen Ministerien werden nicht, wie bisher, einzelne Minister, sondern Kollegien stehen. Die Ministerien sollen den Sowjets direkt verantwortlich sein.“
Am 30. Oktober hatte ich eine Unterredung mit Trotzki. Ich traf ihn in einem im Dachgeschoß des Smolny gelegenen kleinen, völlig kahlen Zimmer, in dem sich nur ein einfacher Tisch und ein paar Stühle befanden. Ich stellte einige wenige Fragen, und Trotzki sprach schnell und ununterbrochen länger als eine Stunde. Den wesentlichen Inhalt dessen, was er sagte, führe ich hier mit seinen eigenen Worten an:
„Die Provisorische Regierung ist absolut machtlos. Es herrscht die Bourgeoisie; nur wird diese Herrschaft von einer Scheinkoalition mit den Sozialpatrioten verdeckt. Jetzt, während der Revolution, häufen sich die Aufstände der Bauern, die es müde sind, auf das ihnen versprochene Land zu warten, und auch bei den übrigen werktätigen Klassen des ganzen Landes zeigt sich die gleiche tiefe Unzufriedenheit. Die Bourgeoisie kann ihre Herrschaft nur mittels des Bürgerkrieges aufrechterhalten. Die Kornilowmethode ist die einzige, deren sie sich bedienen kann. Aber ihr geht die Kraft aus. Die Armee ist mit uns. Die Kompromißler und Pazifisten, Sozialrevolutionäre und Menschewiki, haben allen Kredit bei den Volksmassen verloren; denn der Kampf zwischen Bauern und Gutsbesitzern, Arbeitern und Kapitalisten, Soldaten und Offizieren ist heute schärfer und unversöhnlicher denn je. Nur die vereinte Aktion der Volksmassen, der Sieg der proletarischen Diktatur, kann die Revolution vollenden und das Volk retten.
Die Sowjets sind die denkbar vollkommenste Vertretung des Volkes, vollkommen in ihrer revolutionären Erfahrung wie in ihren Ideen und Zielen. Direkt basierend auf der Armee in den Schützengräben, den Arbeitern in den Fabriken, den Bauern auf ihren Feldern ‚ sind sie das Rückgrat der Revolution.
Das Resultat des Versuchs, eine Macht im Lande ohne die Sowjets zu schaffen, war nur die absolute Machtlosigkeit. In den Korridoren des Rates der Russischen Republik werden zur Zeit alle möglichen konterrevolutionären Pläne ausgeheckt. Der Vorkämpfer der Konterrevolution ist die Kadettenpartei, während die Sache des Volkes von den Sowjets vertreten wird. Zwischen diesen beiden Gruppen gibt es ernstzunehmende politische Gruppen nicht. Es ist der Endkampf. Die bürgerliche Konterrevolution sammelt alle ihre Kräfte und wartet auf den Moment, um gegen uns loszuschlagen. Unsere Antwort wird entscheidend sein. Wir werden das im März begonnene und während der Kornilow -Affäre fortgesetzte Werk vollenden.“
Über die auswärtige Politik der neuen Regierung sagte er:
„Unsere erste Handlung wird ein Aufruf zum sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes an allen Fronten sein. Wir werden sofort eine Völkerkonferenz vorschlagen, deren Aufgabe es sein wird, über einen Friedensschluß auf demokratische Grundlage zu diskutieren. Wie demokratisch dieser Friedensschluß sein wird, hängt von der Stärke des revolutionären Widerhalls in Europa ab. Die Errichtung einer Sowjetregierung hier in Rußland wird ein mächtiger Faktor für die Beschleunigung des Friedensschlusses in Europa sein; denn diese Regierung wird sich mit ihrem Waffenstillstandsvorschlag an die Völker unmittelbar und direkt, über die Köpfe ihrer Regierungen hinweg, wenden. Im Moment des Friedensschlusses wird der Druck der russischen Revolution sich gegen Annexionen und Kriegsentschädigungen, für die Selbstbestimmung der Völker und für die Errichtung einer föderativen Republik von Europa auswirken. Ich sehe Europa am Ende dieses Krieges neugeschaffen, nicht von Diplomaten, sondern vom Proletariat. Eine föderative Republik von Europa, die Vereinigten Staaten von Europa – das ist es, was es werden muß. Nationale Autonomie genügt nicht mehr. Die wirtschaftliche Entwicklung erheischt die Beseitigung der nationalen Grenzen. Bleibt Europa auch weiterhin in nationale Gruppen zersplittert, dann beginnt der Imperialismus sein Werk von neuem. Nur eine föderative Republik von Europa kann der Welt den Frieden geben. Im Augenblick jedoch, ohne das aktive Eingreifen der Massen in Europa, sind diese Ziele nicht zu verwirklichen.“
Während alle Welt erwartete, die Bolschewiki eines Morgens auf der Straße erscheinen zu sehen, um jeden niederzuschießen, der einen weißen Kragen umhatte, ging der Aufstand in Wirklichkeit ganz anders, sehr natürlich und in aller Öffentlichkeit vor sich.
Die Provisorische Regierung plante die Entsendung der Petrograder Garnison an die Front.
Derselben Petrograder Garnison von zirka sechzigtausend Mann, die einen so großen Anteil an dem Siege der Revolution gehabt hatte. Die Petrograder Truppen waren es gewesen, die die Kämpfe der Märztage entschieden, die die Sowjets der Soldatendeputierten geschaffen und Kornilow von den Toren der Stadt verjagt hatten.
Jetzt waren sie zum großen Teil Bolschewiki. Als die Provisorische Regierung sich mit dem Gedanken trug, Petrograd preiszugeben, war es die Petrograder Garnison, die erklärte:
„Wenn ihr unfähig seid, die Hauptstadt zu verteidigen, so schließt Frieden. Könnt ihr den Frieden nicht schließen, dann tretet zurück und macht einer Volksregierung Platz, die beides vermag.“
Es lag auf der Hand, daß das Schicksal jedes Aufstandsversuchs von der Haltung der Petrograder Truppen abhing. Der Plan der Regierung war, die bisherigen Garnisonregimenter durch ihr ergebene Truppen, Kosaken, Todesbataillone usw., zu ersetzen. Die Armeekomitees, die „gemäßigten“ Sozialisten, das Zentralexekutivkomitee der Sowjets unterstützten dieses Vorhaben der Regierung. Eine ausgedehnte Agitation wurde an der Front und in Petrograd in Szene gesetzt, die vor allem mit der Behauptung arbeitete, daß die Petrograder Truppen seit nun schon acht Monaten in den Kasernen der Hauptstadt ein gemächliches Leben führten, während ihre Kameraden in den Schützengräben starben und hungerten.
Bis zu einem gewissen Grade traf es sicher zu, daß die Garnisonregimenter nur geringe Lust verspürten, ihr verhältnismäßig angenehmes Leben gegen die Mühsalen eines Winterfeldzuges zu vertauschen. Aber es waren andere Gefühle, weshalb sie sich weigerten zu gehen. Der Petrograder Sowjet mißtraute der Regierung, und von der Front kamen hunderte Delegierte der breiten Soldatenmassen, die erklärten:
„Es ist wahr, wir brauchen Verstärkung; wichtiger aber ist uns, Petrograd und die Revolution in guten Händen zu wissen. Hütet ihr die Heimat, Genossen! Wir werden die Front halten.“
Am 25. Oktober diskutierte das Exekutivkomitee des Petrograder Sowjets in geschlossener Sitzung die Errichtung eines besonderen Militärkomitees, um die ganze Frage zur Entscheidung zu bringen. Am nächsten tag nahm die Soldatensektion des Petrograder Sowjets die Wahl des Komitees vor, das sofort den Boykott der Bourgeoisiezeitungen aussprach und das Zentralexekutivkomitee der Sowjets aufs schärfste verurteilte, weil es sich dem Sowjetkongreß widersetzte. Am 29. Schlug in öffentlicher Sitzung des Petrograder Sowjets Trotzki die formelle Anerkennung des Revolutionären Militärkomitees durch den Sowjet vor. „Wir müssen“,sagte er, „unsere besondere Organisation schaffen, um weiterzukämpfen und, wenn notwendig, zu sterben.“ Es wurde ein Beschluß gefaßt, zwei Delegationen an die Front zu entsenden, und zwar eine vom Sowjet und eine von der Garnison, die mit den Soldatenkomitees und dem Generalstab unterhandeln sollten.
In Psowk wurde die Sowjetdelegation von dem Kommandeur der Nordfront, General Tscheremissow, empfangen, der kurz und bündig erklärte, daß er die Petrograder Garnison an die Front kommandiert und dem nichts hinzuzufügen habe. Das Garnisonkomitee durfte Petrograd nicht verlassen.
Eine Delegation der Soldatensektion des Petrograder Sowjets forderte die Zulassung eines Vertreters der Sektion in den Petrograder Bezirksstab. Das wurde abgelehnt. Das gleiche Schicksal hatte ein antrag des Petrograder Sowjets, der verlangte, daß alle herausgehenden Befehle die Gegenzeichnung der Soldatensektion zu tragen hätten. Man erklärte den Delegierten schroff:
„Für uns existiert nur das Zentralexekutivkomitee der Sowjets. Euch erkennen wir nicht an. Wir werden euch einsperren, sobald ihr euch gegen die Gesetze vergeht.“
Am 30. beschloß eine Delegiertenversammlung [4] sämtlicher Petrograder Regimenter folgende Resolution:
„Die Petrograder Garnison erkennt die Provisorische Regierung nicht mehr an. Unsere Regierung ist der Petrograder Sowjet. Wir folgen nur den Befehlen des im Auftrage des Petrograder Sowjets handelnden Revolutionären Militärkomitees.“
Den lokalen Truppeneinheiten wurde befohlen, auf Instruktionen der Soldatensektion des Petrograder Sowjets zu warten.
Am nächsten Tag berief das Zentralexekutivkomitee eine eigene Versammlung ein, die hauptsächlich von Offizieren besucht war. Ein Komitee wurde gewählt, zur Zusammenarbeit mit dem Stab, und für sämtliche Quartiere der Stadt wurden besondere Kommissare ernannt.
Ein am 3. im Smolny abgehaltenes großes Soldatenmeeting erklärte:
„Die Petrograder Garnison begrüßt die Errichtung des Revolutionären Militärkomitees und ist gewillt, dasselbe in allen seinen Aktionen rückhaltlos zu unterstützen und nichts zu unterlassen, um Front und Heimat im Interesse der Revolution aufs engste zusammenzuschließen. Die Garnison erklärt weiter, daß sie zusammen mit dem Petrograder Proletariat die revolutionäre Ordnung in Petrograd aufrechterhalten wird. Jeder Versuch einer Provokation seitens der Kornilowleute oder der Bourgeoisie wird erbarmungslos niedergeschlagen werden.“
Seiner Macht bewußt, richtete jetzt das Revolutionäre Militärkomitee an den Petrograder Stab die schroffe Aufforderung, sich seinem Befehl zu unterstellen. Sämtlichen Druckereien wurde verboten, Aufrufe und Proklamationen irgendwelcher Art zu drucken, die nicht die Autorisation des Komitees hätten. Bewaffnete Kommissare beschlagnahmten im Kronberg-Arsenal große Mengen Waffen und Munition und hielten einen Schiffstransport von zehntausend Bajonetten an, die für Nowotscherkassk, das Hauptquartier Kaledins, bestimmt waren.
Die Regierung, ihre gefährliche Lage endlich erkennend, versprach Straflosigkeit, wenn das Komitee sich auflösen würde. Es war zu spät. Am 5. November erschien Malewski, von Kerenski selbst geschickt, um dem Petrograder Sowjet eine Vertretung im Stab anzubieten. Das Revolutionäre Militärkomitee nahm an. Eine Stunde später wurde das Angebot von dem amtierenden Kriegsminister, General Manikowski, widerrufen.
Am Dienstagmorgen wurde die Stadt durch das Erscheinen eines Plakates in Aufregung versetzt, das die Unterschrift trug: „Revolutionäres Militärkomitee beim Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten.“
Bürger!
Die Konterrevolution hat ihr verbrecherisches Haupt erhoben. Die Kornilowleute mobilisieren ihre Kräfte, um den Gesamtrussischen Sowjetkongreß zu sprengen und die Konstituierende Versammlung zum Scheitern zu bringen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß die Pogromhelden gleichzeitig versuchen werden, in den Straßen Petrograds Wirren und ein Gemetzel hervorzurufen.
Der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten übernimmt den Schutz der revolutionären Ordnung gegen konterrevolutionäre Anschläge und Pogrome.
Die Garnison Petrograds wird keine Gewalttaten und Ausschreitungen dulden. Die Bevölkerung wird dazu aufgerufen, die Gewalttäter und die Agitatoren der Schwarzhunderter festzunehmen und sie den Kommissaren des Sowjets bei der nächsten Heereseinheit vorzuführen. Beim ersten Versuch dunkler Elemente, auf den Straßen Petrograds Unruhen, Plünderungen, Messerstechereien und Schießereien hervorzurufen, werden die Verbrecher vom Antlitz der Erde getilgt.
Bürger! Wir rufen euch auf, völlige Ruhe und Selbstbeherrschung zu wahren. Die Sache der Ordnung und der Revolution ist in festen Händen.“
Das Plakat enthielt außerdem eine Liste der Regimenter, bei denen sich Kommissare des Revolutionären Militärkomitees befanden.
Am 3. fand, ebenfalls hinter verschlossenen Türen, eine weitere, historisch bedeutungsvolle Sitzung der bolschewistischen Führer statt. Von Salkind [5] in Kenntnis gesetzt, wartete ich im Korridor an der Tür, und als Wolodarski kam, hörte ich von ihm, was vorging.
Lenin sprach:
„Der 6. November ist zu zeitig. Wir benötigen für die Erhebung eine Gesamtrussische Basis, und am 6. November werden noch nicht alle Delegierten auf dem Kongreß erschienen sein. Der 8. November wäre dagegen zu spät. Bis dahin wird sich der Kongreß konstituiert haben, und für eine umfangreich Körperschaft ist es schwer, schnell und entscheidend zu handeln. Wir müssen am 7. in Aktion treten, wenn der Kongreß zusammentritt, damit wir sagen können: ‚Hier ist die Macht. Was denkt ihr damit zu tun?‘“
Währenddem saß in einem der oberen Zimmer ein Mensch mit langem Haar und hagerem Gesicht, ein ehemaliger Zarenoffizier und späterer Revolutionär, der lange in der Verbannung gelebt hatte: ein gewisser Owsejenko, allgemein Antonow gerufen, Mathematiker und Schachkünstler, damit beschäftigt, sorgfältig ausgearbeitete Pläne für die Einnahme der Hauptstadt zu entwerfen.
Aber auch die Regierung traf ihre Vorbereitungen. In aller Stille beorderte sie aus den allerverschiedensten Divisionen die ihr am meisten ergebenen Regimenter nach Petrograd. Der Winterpalast wurde von der Artillerie der Offiziersschüler besetzt, und in den Straßen Petrograds zeigten sich – zum ersten Male seit den Julitagen – Kosakenpatrouillen. Polkownikow erließ einen Befehl nach dem anderen, die unbarmherzigste Ahndung jeder Widersetzlichkeit androhend. Der Minister für Volksbildung Kischkin, das meistgehaßte Mitglied der Regierung, wurde zum Außerordentlichen Kommissar ernannt, um in Petrograd die Ordnung aufrechtzuerhalten; er nahm sich zwei nicht weniger unbeliebte Männer, Rutenberg und Paltschinski, zu Hilfe. Über Petrograd, Kronstadt und Finnland wurde der Belagerungszustand verhängt. Die bürgerliche Zeitung Nowoje Wremja (Neue Zeit) bemerkte dazu ironisch:
„Warum Belagerungszustand? Die Regierung hat aufgehört, eine Macht zu sein. Sie hat weder moralische Autorität noch den erforderlichen Apparat, um Gewalt anzuwenden ... Im besten Fall kann sie verhandeln, wenn sich jemand findet, der mit ihr verhandeln will. Eine andere Macht hat sie nicht ...“
Am Montagmorgen – es war der 5. November – ging ich zum Marienpalast, um zu sehen, was im Rat der Russischen Republik vor sich gehe. Hitzige Debatten über Tereschtschenkos Außenpolitik. Diskussionen über die Affäre Burzew – Werchowski. Sämtliche Diplomaten waren anwesend mit Ausnahme des italienischen Gesandten, der, wie allgemein gesagt wurde, durch die Katastrophe im Karst [6] völlig niedergeschlagen war.
Als ich eintrat, verlas gerade der linke Sozialrevolutionär Karelin einen Leitartikel aus der Londoner Times, in dem es hieß, daß es gegen den Bolschewismus nur ein Mittel gebe: die Kugel. Zu den Kadetten gewandt, rief er: „Genauso denken auch Sie.“
„Sehr richtig, sehr richtig!“ schallte es ihm von rechts entgegen. „
Ich kenne ihre Meinung“, replizierte Karelin hitzig, „nur fehlt ihnen der Mut, es zu versuchen.“
Dann sprach Skobelew, der mit seinem gepflegten Bart und dem welligen blonden Haar wie der Liebhaber in einem Bühnenstück aussah, und verteidigte den Sowjet-„Nakas“ mit halbem Herzen. Ihm folgte Tereschtschenko, von der Linken mit dem heftigen Ruf „Abdanken, abdanken!“ empfangen. Er meinte, daß die Delegierten der Regierung und des Zentralexekutivkomitees der Sowjets in Paris einen gemeinsamen Standpunkt vertreten müßten – der natürlich sein eigener sein sollte. Zum Schluß einige wenige Worte über die Wiederherstellung der Disziplin in der Armee, über die Weiterführung des Krieges bis zum Siege ... Allgemeiner Tumult ... und dann, gegen den Widerspruch der lärmenden Linken, Übergang zur Tagesordnung.
Leer gähnten die Bänke der Bolschewiki, die mit ihrem Austritt aus dem Rat der Russischen Republik soviel Leben mit sich genommen hatten. Und während ich die Stufen des Palastes hinunterschritt, konnte ich mich trotz des mitangehörten hitzigen Streitens des Eindrucks nicht erwehren, daß keine wirkliche Stimme aus der Außenwelt diese hohen und kalten Mauern zu durchdringen vermochte, daß die Provisorische Regierung an derselben Klippe „Krieg oder Friede“ zu scheitern verurteilt war, die schon dem Kabinett Miljukow den Untergang gebracht hatte. Während mir der Pförtner meinen Mantel umhing, brummte er vor sich hin:
„Ich möchte wissen, was aus dem armen Rußland noch werden soll – Menschewiki, Bolschewiki, Trudowiki, Ukraine, Finnland, deutsche Imperialisten, englische Imperialisten! In meinem ganzen fünfundvierzigjährigen Leben habe ich nicht soviel Worte gehört wie hier an diesem Ort.“
Im Korridor traf ich Professor Schazki, einen Menschen mit rattenähnlichem Gesicht, in elegantem Überrock, sehr einflußreich in den Beratungen der Kadettenpartei. Ich befragte ihn um seine Meinung über die vielbesprochenen Demonstrationen der Bolschewiki. Geringschätzig lächelnd zuckte er die Achseln:
„Das ist ja Rindvieh – Kanaille. Sie werden es nicht wagen, und – wenn sie es sollten, werden wir sie schnell heimschicken. Von unserem Standpunkt aus wäre dies gar nicht ungünstig; denn sie würden sich dabei zugrunde richten und in der Konstituierenden Versammlung machtlos sein.
Wenn es Sie übrigens interessiert, will ich ihnen den Plan einer Regierungsform schildern, den wir in der Konstituierenden Versammlung vorzulegen gedenken. Ich bin, wie Sie ja wissen, der Vorsitzende eine Kommission, die, in Gemeinschaft mit der Provisorischen Regierung, ein Verfassungsprojekt ausarbeiten soll. Wir werden, wie Sie in den Vereinigten Staaten, eine aus zwei Kammern bestehende gesetzgebende Versammlung haben. Die untere Kammer wird nach dem Grundsatz der Territorialvertretung zusammengesetzt sein, während sich das Oberhaus aus den Vertretern der freien Berufe, der Semstwos, der Genossenschaften und Gewerkschaften zusammensetzen wird.“
Draußen war es kalt, ein feuchter Westwind wehte, und der kalte Straßenschmutz durchnäßte meine Schuhe. Langbemäntelt und steif zogen zwei Kompanien Offiziersschüler vorüber und schwenkten in die Morskaja ein, in rauhem Chor eines der alten Soldatenlieder singend, wie sie unter dem Zaren üblich waren. An der nächsten Straßenkreuzung fiel mir auf, daß die Leute der Stadtmiliz beritten waren. Um sie herum standen Gruppen von Passanten, sie stumm anstarrend. An der Ecke des Newski kaufte ich eine Flugschrift von Lenin: Werden die Bolschewiki die Staatsmacht behaupten? und zahlte mit einer der Briefmarken, deren man sich zu der Zeit zum Wechseln bediente. Schwerfällig krochen die gewohnten Straßenbahnwagen vorbei, brechend voll, sogar an den Außenseiten an den unmöglichsten Stellen klammerten sich Bürger und Soldaten fest. Längs des Bürgersteiges verkauften uniformierte Deserteure Zigaretten und Sonnenblumenkerne.
Auf dem Newski rauften sich die Menschen in dem trüben Zwielicht um die neuesten Zeitungen, und ganze Menschenknäuel waren bemüht, die zahllosen Aufrufe [6*] und Proklamationen zu entziffern, mit denen jedes irgendwie geeignete Plätzchen beklebt war: vom Zentralexekutivkomitee der Sowjets, vom Bauernsowjet, von den „gemäßigten“ sozialistischen Parteien, den Armeekomitees – alle baten, drohten, und beschworen die Arbeiter und Bauern, zu Hause zu bleiben und die Regierung zu unterstützen.
Ein Panzerauto fuhr langsam auf und nieder, unaufhörlich hupend. An jeder Straßenecke, auf jedem Platz waren undurchdringliche Menschenmassen versammelt, diskutierende Soldaten und Studenten. Die Dunkelheit senkte sich mit großer Schnelligkeit herab, in weiten Zwischenräumen flammten Straßenlaternen auf, und immer noch fluteten in endlosen Wogen die Menschenmassen. So ist es immer in Petrograd, wenn etwas in der Luft liegt.
Die Stadt war in höchster nervöser Spannung. Jeder scharfe Laut ließ sie auffahren. Aber noch immer kein Zeichen von den Bolschewiki; die Soldaten blieben in ihren Kasernen, die Arbeiter in ihren Fabriken. Wir gingen in ein Kino in der Nähe der Kasaner Kathedrale, wo ein blutrünstiger italienischer Film von Leidenschaft und Intrige gezeigt wurde. In den vorderen Reihen saßen einige Soldaten und Matrosen, die in kindlicher Verwunderung auf die Leinwand starrten, unfähig, den Sinn und die Notwendigkeit von soviel Aufregung und Blutvergießen zu begreifen.
Von hier aus eilte ich zum Smolny. Im Zimmer Nr.10 tagte in Permanenz das Revolutionäre Militärkomitee, unter dem Vorsitz eines achtzehnjährigen jungen Menschen, Lasimir mit Namen. Er drückte mir im Vorbeigehen, fast schüchtern, die Hand.
„Eben ist die Besatzung der Peter-Pauls-Festung zu uns übergegangen“, erzählte er mit einem vergnügten Grinsen, „und vor kaum einer Minute erhielten wir von einem Regiment, das von der Regierung nach Petrograd beordert war, die Nachricht, daß es zu uns stehe. Die Soldaten hatten Verdacht geschöpft. Sie hielten ihren Zug in Gattschina an und Sandten eine Delegation aus, um zu hören, was los sei. ‚Was habt ihr uns zu sagen‘, fragten sie, ‚wir haben soeben eine Resolution beschlossen, die sich für die Übergabe der ganzen Macht an die Sowjets erklärt.‘ Die Antwort des Revolutionären Militärkomitees lautete: ‚Brüder! Wir grüßen euch im Namen der Revolution. Bleibt, wo ihr seid, bis ihr weitere Instruktionen erhaltet!‘“
Sämtliche Telefonleitungen waren, wie er mir sagte, zerschnitten. Aber mit den Kasernen und Fabriken war vermittels Feldtelefonen eine provisorische Verbindung hergestellt worden.
Ununterbrochen kamen und gingen Kuriere und Kommissare. Vor der Tür warteten wohl ein Dutzend Freiwillige, bereit, die Anordnungen des Komitees sofort in die entferntesten Stadtviertel zu tragen. Einer von ihnen, in der Uniform eines Leutnants, sagte zu mir auf französisch: „Alles ist bereit. Ein Druck auf den Knopf und wir marschieren.“
Ich sah Podwoiski, einen mageren, bärtigen Zivilisten, den Strategen des Aufstandes, dann Antonow, unrasiert, mit schmierigem Kragen und wie betrunken von allzulangem Wachen, den untersetzten Soldaten Krylenko mit seinem stets lächelnden, breiten Gesicht, heftig gestikulierend und ununterbrochen redend, und endlich die Riesengestalt des Matrosen Dybenko, bärtig und gelassen. Das waren die Männer jener Stunden und der, die noch in der Zukunft lagen.
Unten, in dem Büro der Fabrikkomitees, unterzeichnete Seratow unermüdlich Anweisungen für das Staatsarsenal auf Lieferung von Waffen an die Arbeiter – je Fabrik hundertfünfzig Gewehre. In einer Reihe warteten etwa vierzig Delegierte, um die Anweisungen sofort in Empfang zu nehmen.
Im Saal stieß ich auf einige der unteren Führer der Bolschewiki. Einer wies auf seinen Revolver. „das Spiel beginnt“, sagte er bleichen Antlitzes, „ob wir wollen oder nicht. Die andere Seite weiß, daß sie mit uns Schluß machen muß oder selber unterzugehen hat.“
Der Petrograder Sowjet tagte ununterbrochen Tag und Nacht. Als ich in den großen Saal eintrat, hörte ich noch den Schluß einer Rede Trotzkis.
„Man stellt uns die Frage“, sagte er, „ob wir eine Demonstration beabsichtigen. Ich kann auf diese Frage eine klare Antwort geben. Der Petrograder Sowjet fühlt, daß die Stunde gekommen ist, wo die Macht in die Hände der Sowjets überzugehen hat. Die Übergabe der Regierungsgewalt wird der Gesamtrussische Sowjetkongreß besorgen. Ob eine bewaffnete Demonstration notwendig sein wird, hängt ... von denen ab, die sich dem Willen des Gesamtrussischen Kongresses widersetzen wollen.
Wir wissen, daß unsere den Leuten des Provisorischen Kabinetts anvertraute Regierung eine erbärmliche und hilflose Regierung ist, die es so schnell wie möglich hinwegzufegen gilt, um Platz zu machen für eine wirkliche Volksregierung. Aber wir sind bemüht – auch jetzt noch, heute noch, Gewalt zu vermeiden. Wir hoffen, daß der Gesamtrussische Sowjetkongreß die Macht und Autorität, die auf der organisierten Freiheit des Volkes beruht, in seine Hände nehmen wird, Sollte indes die Regierung die kurze Zeit – die vierundzwanzig, achtundvierzig oder zweiundsiebzig Stunden –, die sie noch zu leben hat, zu einem Angriff gegen uns verwenden, dann werden wir mit dem Gegenangriff antworten, und dann gilt für uns: Hieb für Hieb und Stahl für Eisen.“
Unter lebhaftem Beifall teilte er dann mit, daß sich die linken Sozialrevolutionäre bereit erklärt hätte, eine Vertretung in das Revolutionäre Militärkomitee zu entsenden.
Als ich um drei Uhr morgens den Smolny verließ, bemerkte ich, daß das Haupttor von zwei Schnellfeuergeschützen flankiert war. Die Eingänge und die nächsten Straßenecken wurden von starken Soldatenpatrouillen bewacht. Bill Schatow [B] kam die Stufen heraufgestürmt:
„Es geht los. Kerenski hat Offiziersschüler geschickt, um unsere Zeitungen Soldat und Rabotschi Put zu schließen. Aber unsere Truppen sind bereits hinunter, um die Regierungssiegel abzureißen, und jetzt sind wir dabei, Abteilungen loszuschicken, die die Büros der bürgerlichen Zeitungen besetzen sollen.“
Er klopfte mir vergnügt auf die Schulter und rannte ins Haus.
Am 6. morgens hatte ich mit dem Zensor zu tun, der sein Büro im Ministerium des Auswärtigen hatte. Überall, an allen Wänden, hysterische Aufrufe an das Volk, „ruhig“ zu bleiben. Polkownikow erließ Befehl um Befehl:
„Ich befehle allen Einheiten und Mannschaften, bis zum Erhalt eines Befehls des Bezirksstabes in ihren Kasernen zu bleiben ... Alle Offiziere, die dem Befehl ihres Vorgesetzten zuwiderhandeln, werden wegen bewaffneten Aufruhrs vor Gericht gestellt. Kategorisch verbiete ich, daß Truppen irgendwelchen ‚Befehlen`, die von verschiedenen Organisationen ausgehen, Folge leisten ...“
Am Morgen berichteten die Blätter, daß die Regierung die Zeitungen Nowaja Rus, Shiwoje Slowo, Rabotschi Put und Soldat verboten und die Verhaftung der Führer des Petrograder Sowjets und des Revolutionären Militärkomitees angeordnet habe.
Als ich den Schloßplatz überquerte, kamen in scharfem Trab mehrere Batterien der Offiziersschüler durch das Rote Tor gezogen und nahmen vor dem Palast Aufstellung. Das mächtige rote Gebäude des Generalstabs war ungewöhnlich belebt. Vor dem Tor hielten Panzerautos, und Automobile mit Offizieren fuhren an und ab. Der Zensor war aufgeregt wie ein kleiner Junge in einer Zirkusvorstellung. Wie er mir sagte, war Kerenski zum Rat der Russischen Republik gegangen, um seinen Rücktritt anzubieten. Ich stürmte nach dem Marienpalast und kam noch gerade zurecht, um den Schluß der leidenschaftlichen und ziemlich konfusen Rede Kerenskis zu hören, mit der er seine eigene Politik zu verteidigen suchte und die heftigsten Anklagen gegen seine Gegner schleuderte:
„Ich zitiere hier die charakteristischsten Stellen aus einer ganzen Reihe von Artikeln, die im Rabotschi Put Uljanow-Lenin veröffentlicht hat, ein Hochverräter, der sich gegenwärtig verborgen hält und den aufzufinden wir uns bemühen ... Dieser Hochverräter hört nicht auf, das Proletariat und die Petrograder Garnison zur Wiederholung der Versuche vom 16. bis 18. Juli aufzuhetzen, und ist der hartnäckigste Befürworter eines sofortigen bewaffneten Aufstandes ... Neben ihm haben andere bolschewistische Führer in zahlreichen Versammlungen zur sofortigen bewaffneten Erhebung aufgefordert. Insbesondere ist der Tätigkeit des derzeitigen Vorsitzenden des Petrograder Sowjets, Bronstein-Trotzki, Beachtung zu schenken.
Ich muß feststellen ..., daß die Schreibweise einer ganzen Reihe von Artikeln im Rabotschi Put und Soldat sich absolut nicht unterscheidet von der der Nowaja Rus ... Wir haben es hier nicht mit der Bewegung einer politischen Partei zu tun, sondern mit der Ausbeutung der politischen Unwissenheit und verbrecherischen Instinkte eines Teiles der Bevölkerung, mit einer Organisation, deren Ziel es ist, in Rußland um jeden Preis Zerstörung und Plünderung zu provozieren; denn angesichts des gegebenen geistigen Zustandes der Massen wird jede Aktion in Petrograd die schrecklichsten Metzeleien auslösen, die den Namen des freien Rußlands mit ewiger Schande bedecken werden...
... Nach dem Eingeständnis Uljanow-Lenins selbst befindet sich der extrem-linke Flügel der Sozialdemokraten in Rußland in einer sehr günstigen Lage.“
(Kerenski zitiert hier den folgenden Auszug aus einem Leninschen Artikel):
„‚Man bedenke nur: die Deutschen haben ... mit nur einem Liebknecht ... ohne Presse, ohne Versammlungsfreiheit, ohne Sowjets, trotz der ungeheuren Feindseligkeit aller Bevölkerungsklassen ... einen Aufstand ... begonnen. Wir aber, die wir Dutzende von Zeitungen, die wir Versammlungsfreiheit haben, über die Mehrheit in den Sowjets verfügen, wir, die bestgestellten proletarischen Internationalisten in der ganzen Welt, wir sollen darauf verzichten, die deutschen Revolutionäre durch unseren Aufstand zu unterstützen.‘“
Kerenski fuhr fort:
„Die Organisatoren des Aufstandes erkennen also ausdrücklich an, daß wir jetzt die vollkommensten Bedingungen für die Freiheit des Handelns für jede politische Partei haben, in diesem Rußland, das von einer Provisorischen Regierung regiert wird, an deren Spitze nach der Meinung dieser Partei ‚ein Usurpator steht, ein Mann der sich an die Bourgeoisie verkauft hat‘, mit einem Wort – der Ministerpräsident Kerenski ...
... Die Organisatoren des Aufstandes kommen nicht dem deutschen Proletariat zu Hilfe, sondern den deutschen herrschenden Klassen, und sie öffnen die russische Front den Eisenfäusten Wilhelms und seiner Freunde ... Für die Provisorische Regierung ist es gleichgültig, was für Motive diese Leute leiten, ob sie bewußt handeln oder unbewußt. In vollem Bewußtsein nenne ich dieses Vorgehen einer russischen politischen Partei den Verrat an Rußland!
Ich stelle mich entschieden auf den Rechtsstandpunkt und fordere die sofortige Einleitung einer Untersuchung und die Vornahme der notwendigen Verhaftungen“ (Stürmische Unterbrechungen auf der Linken.) „Hören Sie mir zu“ – rief er mit mächtiger Stimme – „in dem Moment, da bewußter oder unbewußter Verrat die Sicherheit des Staates gefährdet, sind die Mitglieder der Provisorischen Regierung -und ich mit ihnen – entschlossen, eher zu sterben, als das Leben, die Ehre und Unabhängigkeit Rußlands zu verraten.“
In diesem Augenblick wurde Kerenski ein Flugblatt gereicht. [8]
„Soeben erhalte ich den Befehl, den sie an die Regimenter verteilen. Hören Sie den Inhalt.“
Er liest:
„,Der Petrograder Sowjet ist bedroht. Wir befehlen die sofortige kriegsmäßige Mobilisierung der Regimenter. Sie haben sich bereit zu halten und neue Befehle abzuwarten. Jede Verzögerung oder Verweigerung dieses Befehls wird als Verrat an der russischen Revolution gewertet. Das Revolutionäre Militärkomitee. Für den Vorsitzenden, Podwoiski. Der Sekretär, Antonow.‘
Das ist wahrlich ein Versuch, den Pöbel gegen die bestehende Ordnung aufzuwiegeln, die Konstituierende Versammlung zu vereiteln und den mit der eisernen Faust Wilhelms zusammengeschweißten Regimentern die russische Front zu öffnen.
Ich sage absichtlich ‚Pöbel‘, weil die bewußte Demokratie und ihr Zentralexekutivkomitee der Sowjets, weil alle Armeeorganisationen, alles, worauf das freie Rußland stolz ist und stolz sein darf, die Vernunft, die Ehre und das Gewissen der großen russischen Demokratie, gegen dergleichen protestieren.
Ich bin nicht hierhergekommen, um zu bitten, sondern um meiner festen Überzeugung Ausdruck zu geben, daß die unsere junge Freiheit verteidigende Provisorische Regierung – daß der neue, einer herrlichen Zukunft entgegengehende russische Staat die einmütige Unterstützung aller finden wird, mit Ausnahme höchstens jener, die nie gewagt haben, der Wahrheit ins Antlitz zu schauen ...
... Die Provisorische Regierung hat niemals die Freiheit der Staatsbürger, von ihren politischen Rechten Gebrauch zu machen, angetastet ... Jetzt aber, in dieser Stunde, erklärt die Provisorische Regierung: Jene Gruppen und Parteien, die es gewagt haben, ihre Hand gegen den freien Willen des russischen Volkes zu erheben, und die damit drohen, die Front den Deutschen zu öffnen, müssen mit Entschlossenheit liquidiert werden.
Möge Petrograds Bevölkerung wissen, daß sie eine feste Gewalt finden wird. Vielleicht werden noch in letzter Stunde Vernunft, Bewußtsein und Ehre in dem Herzen derer den Sieg davontragen, die sie noch nicht völlig verloren haben....“
Während dieser ganzen Rede herrschte in dem Saal ohrenbetäubender Lärm. Nachdem der Ministerpräsident geendet und blassen Gesichts und von Schweiß durchnäßt mit seinem Offiziersgefolge den Saal verlassen hatte, traten die Redner der Linken und des Zentrums auf, einer nach dem andern heftige Angriffe gegen die vor Wut schäumende Rechte schleudernd. Sogar die Sozialrevolutionäre, durch den Mund von Goz:
„Die Politik der Bolschewiki ist gewiß demagogisch und verbrecherisch, sie beutet die Unzufriedenheit der Volksmassen aus. Aber es gibt eine ganze Reihe Forderungen der Volksmassen, die bis heute noch nicht erfüllt sind ... die Frage des Friedens, die Landfrage und die Frage der Demokratisierung der Armee sollten in einer Wiese gestellt werden, daß kein Soldat, Bauer oder Arbeiter den geringsten Zweifel hätte, daß die Regierung fest und unerschütterlich daran arbeitet, alle diese Fragen zu lösen ...
Wir und die Menschewiki denken nicht daran, eine Regierungskrise herbeizuführen, und wir sind bereit, die Provisorische Regierung mit unserer ganzen Energie zu verteidigen, bis zu unserm letzten Blutstropfen – wenn nur die Provisorische Regierung auf alle diese brennenden Fragen die klaren und präzisen Worte finden wird, die das Volk mit Ungeduld erwartet ...“
Dann Martow, empört:
„Die Worte des Ministerpräsidenten, der sich erlaubte, vom Pöbel zu sprechen gegenüber einer Bewegung von, wenn auch irregeleiteten Teilen des Proletariats und der Armee, sind eine einzige Aufforderung zum Bürgerkrieg.“
Die Abstimmung ergab die Annahme der von der Linken vorgeschlagenen Tagesordnung. Das bedeutete praktisch ein Mißtrauensvotum.
„1. Die seit einigen Tagen vorbereitete bewaffnete Demonstration hat den Staatsstreich zum Ziel, sie droht den Bürgerkrieg zu provozieren, sie schafft Bedingungen, die Pogrome und die Konterrevolution sowie die Mobilisierung konterrevolutionärer Kräfte, wie der Schwarzhunderter, begünstigen; sie wird die Einberufung der Konstituierenden Versammlung unmöglich machen, wird eine militärische Katastrophe, den Untergang der Revolution herbeiführen, sie wird das ökonomische Leben des Landes lähmen und Rußland zugrunde richten.
2. Die Bedingungen, die diese Agitation begünstigen, wurden durch die Verzögerung dringender Maßnahmen wie durch objektive Bedingungen geschaffen, die der Krieg und die allgemeine Unordnung verursachten. Es ist daher vor allem notwendig, sofort ein Dekret zu erlassen, das das Land den bäuerlichen Bodenkomitees übergibt; in den Fragen der Außenpolitik ist ein energisches Vorgehen vonnöten, indem den Alliierten der Vorschlag gemacht wird, ihre Friedensbedingungen bekanntzugeben und Friedensverhandlungen zu beginnen.
3. Zum Kampf gegen die anarchistischen Manifestationen und Pogrome ist es unerläßlich, sofort Maßnahmen zu ergreifen, um diese Bestrebungen zu unterdrücken, und zu diesem Zwecke in Petrograd ein Komitee für öffentliche Sicherheit zu schaffen, das aus Vertretern der Stadtverwaltung und den Organen der revolutionären Demokratie zusammengesetzt ist und im Einvernehmen mit der Provisorischen Regierung handelt...“
Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre stimmten dieser Resolution zu.
Kerenski ließ Awxentjew zum Winterpalast kommen, um von ihm zu hören, wie die Abstimmung gemeint war. Für den Fall, daß es ein Mißtrauensvotum sein sollte, bat er Awxentjew, die Bildung eines neuen Kabinetts in die Hand zu nehmen. Dan, Goz und Awxentjew spielten hier ihre Kompromißlerrolle zum letzten Male. Sie erklärten Kerenski, daß die Abstimmung nicht als eine Kritik der Regierung gedacht war.
An der Ecke der Morskaja und des Newski hielten Trupps von Soldaten mit aufgepflanztem Bajonett sämtliche passierenden Privatautomobile an, setzten die Insassen auf die Straße und dirigierten die Wagen nach dem Winterpalast. Eine große Menschenmenge hatte sich angesammelt und sah dabei zu. Niemand wußte, zu wem die Soldaten gehörten, ob es Regierungstruppen waren oder Truppen des Revolutionären Militärkomitees. Die gleichen Vorgänge spielten sich vor der Kasaner Kathedrale ab. Hier wurden die Wagen den Newski hinaufdirigiert. Fünf oder sechs Matrosen kamen daher, mit Gewehren bewaffnet, Übermütig lachend, und begannen eine Unterhaltung mit zwei von den Soldaten. An den Mützen hatten sie Bänder mit den Namen der Zwei führenden bolschewistischen Kreuzer Aurora und Sarja Swobody (Morgenröte der Freiheit.) Ich hörte, wie einer von ihnen sagte: „Die Kronstädter kommen.“ Das war dasselbe, als wenn 1792 in den Straßen von Paris jemand gesagt hätte: „Die Marseiller kommen.“ In Kronstadt befanden sich fünfundzwanzigtausend Matrosen, alles überzeugte Bolschewiki, die den Tod nicht scheuten.
Rabotschi i Soldat war eben heraus, die ganze Vorderseite füllte eine Proklamation:
Die Volksfeinde sind in der Nacht zum Angriff übergegangen. Die zum Stab gehörenden Kornilowanhänger versuchen, aus der Umgebung Offiziersschüler und Stoßbataillone zusammenzuziehen. Die Offiziersschüler von Oranienbaum und die Angehörigen des Stoßbataillons in Zarskoje Selo haben sich geweigert auszurücken. Man plant einen verräterischen Anschlag gegen den Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten ... Das Vorgehen der konterrevolutionären Verschwörer richtet sich gegen den Gesamtrussischen Sowjetkongreß am Vorabend seiner Eröffnung, gegen die Konstituierende Versammlung, gegen das Volk. Der Petrograder Sowjet der Arbeiter- und Soldatendeputierten steht für die Revolution auf der Wacht. Das Revolutionäre Militärkomitee leitet den Widerstand gegen den Ansturm der Verschwörer. Die gesamte Garnison und das gesamte Proletariat von Petrograd sind bereit, Den Volksfeinden einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Das Revolutionäre Militärkomitee ordnet an:
Die Konterrevolution hat ihr verbrecherisches Haupt erhoben. Allen Errungenschaften und Hoffnungen der Soldaten, Arbeiter und Bauern droht große Gefahr. Aber die Kräfte der Revolution sind den Kräften ihrer Gegner unermeßlich überlegen. Die Sache des Volkes ist in festen Händen Die Verschwörer werden vernichtet. Keine Schwankungen, keine Zweifel! Festigkeit, Standhaftigkeit, Ausdauer und Entschlossenheit sind vonnöten. Es lebe die Revolution!
Das Revolutionäre Militärkomitee
Im Smolny tagte ununterbrochen der Petrograder Sowjet. Die Delegierten waren zum Umfallen müde, sie schliefen während der Tagung ein, um sich dann plötzlich wieder aufzuraffen und erneut an der Debatte teilzunehmen. Trotzki, Kamenew, Wolodarski sprachen sechs, acht und zwölf Stunden am Tag.
In dem im ersten Stock gelegenen Zimmer Nr.18 hielten die bolschewistischen Delegierten ihre Besprechungen. Eine rauhe Stimme – den Redner selbst konnte ich in der Menge nicht sehen – sagte:
„Die Kompromißler meinen, wir seien isoliert. Laßt euch nichts einreden. Wenn es losgehen wird, werden wir sie mit uns mitreißen, und wenn sie nicht wollen, dann werden sie selber ihre Anhänger verlieren und isoliert dastehen.“
Ein Blatt Papier in die Höhe haltend, rief er:
„Da seht, sie kommen schon. Soeben ist ein schreiben der Menschewiki und Sozialrevolutionäre eingelaufen, in dem diese erklären, daß sie unsere Aktion zwar verurteilen, daß sie sich aber der Sache des Proletariats nicht widersetzen wollen, falls die Regierung uns angreift.“ (Jubelnder Beifall.)
Als der Abend kam, füllte sich der große Saal mit Soldaten und Arbeitern. Das Zentralexekutivkomitee der Sowjets hatte sich endlich entschlossen, die Delegierten des neuen Sowjetkongresses offiziell zu empfangen, obwohl dieser Kongreß seinen Sturz und möglicherweise den Zusammenbruch der von ihm errichteten Ordnung bedeutete. Indessen hatten in dieser Versammlung nur die Mitglieder des Zentralexekutivkomitees Stimmrecht.
Es war schon Mitternacht, als Goz die Versammlung eröffnete und Dan unter allgemeiner Spannung und bedrohlicher Stille das Wort ergriff:
„Tragische Stunden sind es, die wir durchleben. Vor den Toren Petrograds steht der Feind, und während die demokratischen Mächte bemüht sind, die Verteidigung zu organisieren, erwarten uns blutige Kämpfe in den Straßen Petrograds selbst, droht der Hunger nicht nur unsere einheitliche Regierung, sondern die Revolution zu vernichten. Die Massen sind krank und erschöpft. Die Revolution interessiert sie nicht. Schlagen die Bolschewiki los, so wird dies das Ende der Revolution sein....(Zurufe: „Das ist eine Lüge.“) „die Konterrevolution wartet nur darauf, um gleichzeitig mit den Bolschewiki den Aufruhr ins Land zu tragen und ein großes Blutbad anzurichten. Kommt es zu bewaffneten Demonstrationen, dann ade, Konstituierende Versammlung!“ (Zurufe: „Lügner! Schämen Sie sich!“)
„Es ist unerträglich, daß die Petrograder Garnison sich den Befehlen des Stabes nicht unterordnet ... Ihr müßt den Befehlen des Stabes und des von euch gewählten Zentralexekutivkomitees gehorchen. Alle Macht den Sowjets – das würde den Tod bedeuten! Räuber und Diebe warten nur auf den Augenblick, wo sie ungehindert plündern und mordbrennen können ... Die Parole ‚Hinein in die Häuser, nehmt euch die Stiefel und Kleider der Bourgeoisie‘ ...“ (Tumult. Rufe: „Niemals wurde eine solche Parole ausgegeben. Lüge! Lüge!) „Nun, es mag in anderer Weise beginnen, das Ende würde aber bestimmt so sein!
Das Zentralexekutivkomitee hat absolute Vollmacht, zu handeln ... Wir fürchtenden Kampf nicht ... Das Zentralexekutivkomitee wird die Revolution bis zum letzten Blutstropfen verteidigen ...“ (Rufe: „Es ist ja selbst schon lange tot!“)
Wilder, anhaltender Tumult, den Dan, mit der Faust aufs Pult schlagend, mit aller Kraft zu überschreien versucht: „Die dazu auffordern, begehen ein Verbrechen!“
Eine Stimme: „Das Verbrechen begingt ihr, als ihr die Macht nahmt und sie an die Bourgeoisie ausliefertet!“
Goz, heftig die Präsidentenglocke schwingend: „Ruhe, oder ich lasse Sie hinaussetzen!“
Die Stimme: „Das versuchen Sie nur!“ (Beifall und Zischen.)
„Nun zu unserer Politik in der Frage des Friedens.“ (Gelächter.) „Leider kann Rußland die Fortsetzung des Krieges nicht unterstützen. Der Friede wird geschlossen werden, aber nicht ein dauernder Friede – nicht ein demokratischer Friede ... Wir haben heute im Rate der Russischen Republik, um Blutvergießen zu vermeiden, eine Tagesordnung angenommen, die die Übergabe des Bodens an die Bodenkomitees und sofortige Friedensverhandlungen fordert ...“ (Gelächter und Rufe: „Zu spät!“)
Dann bestieg, von minutenlangem tosendem Beifallssturm begrüßt, für die Bolschewiki Trotzki die Tribüne. Mit boshafter Ironie:
„Dans Taktik zeigt in der Tat, daß die Massen – die großen, stumpfen, indifferenten Massen – mit ihm sind.“ (Große Heiterkeit.) Zum Präsidenten gewendet, dramatisch: „Als wir erklärten, daß das Land den Bauern gegeben werden müsse, da waren Sie dagegen. Wir sagten den Bauern: ‚Wenn sie euch das Land nicht geben wollen, nehmt es euch selbst.‘ Die Bauern sind unserm Rat gefolgt, und jetzt wollen Sie sich einsetzen für Dinge, die wir vor sechs Monaten schon taten. Kerenskis neuer Befehl über die Aufhebung der Todesstrafe in der Armee ist ihm nicht von seinen eigenen Idealen diktiert worden. Es war die Petrograder Garnison, die ihn überzeugte, indem sie sich weigerte, ihm weiter zu gehorchen. Heute beschuldigt man Dan, er habe im Rat der Russischen Republik eine Rede gehalten, die ihn als heimlichen Bolschewiken entlarvt ...
Es wird de Tag kommen, wo Dan selbst sagen wird, daß am Aufstand vom 16. bis 18. Juli die Elite der Revolution teilgenommen habe ... In Dans heutiger Resolution im Rat der Russischen Republik war nicht mehr die Rede davon, daß die Disziplin in der Armee erhöht werden muß, obwohl die Propaganda seiner Partei dies mit Nachdruck fordert. Die Geschichte der letzten sieben Monate zeigt, daß die Massen den Menschewiki nicht mehr folgen. Die Menschewiki und die Sozialrevolutionäre besiegten die Kadetten; aber als sie die Macht erobert hatten, haben sie sie an die Kadetten ausgeliefert. Dan meint, ihr hättet kein Recht, einen Aufstand zu machen. Nun, ich sage euch: Die Revolte ist das Recht aller Revolutionäre. Wenn sich die niedergedrückten Massen erheben, so ist das ihr Recht.“
Auf Trotzki folgte Liber, mit Ach-Rufen und ironischem Lachen empfangen:
„Marx und Engels haben gesagt, daß das Proletariat kein Recht habe, die Macht zu ergreifen, solange es nicht reif ist. In einer bürgerlichen Revolution, wie die jetzige eine ist, bedeutet die Machtergreifung durch das Proletariat das tragische Ende der Revolution. Trotzki muß als sozialdemokratischer Theoretiker selbst bekämpfen, was er hier verteidigt.“ (Rufe: „Schluß! Herunter mit ihm!“)
Der nächste war Martow, durch fortgesetzte Zwischenrufe unterbrochen:
„Die Internationalisten sind nicht gegen die Übergabe der Macht an die Demokratie; aber sie verwerfen die Methoden der Bolschewiki. Der jetzige Moment ist für die Machtergreifung nicht geeignet.“
Wieder ergriff Dan das Wort, heftig protestierend gegen das Vorgehen des Revolutionären Militärkomitees, das einen Kommissar in die Redaktion der Iswestija entsandt hatte, der die Zeitung zensieren sollte. Allgemeine wilde Erregung, in der Martow vergebens versuchte, sich Gehör zu verschaffen. Im ganzen Saal hatten sich die Delegierten der Armee und der Baltischen Flotte von ihren Sitzen erhoben und schrien, daß ihre Regierung der Sowjet sei.
Inmitten dieser Konfusion wurde von Erlich (Sozialrevolutionär) [9] eine Resolution eingebracht, die 1. die Arbeiter und Soldaten beschwor, die Ruhe zu bewahren und den Aufforderungen zu Demonstrationen keine Folge zu leisten, 2. die sofortige Bildung eines Sicherheitsausschusses für notwendig erklärte und 3. die sofortige Einbringung eines Gesetzes für die Übergabe des Landes an die Bauern und die unverzügliche Einleitung von Friedensverhandlungen verlangte.
Da aber sprang Wolodarski von seinem Platz auf und erklärte schroff, daß am Vorabend des Sowjetkongresses das Zentralexekutivkomitee nicht befugt sei, sich die Funktionen dieses Kongresses anzumaßen. Das Komitee sei in Wirklichkeit erledigt und die Resolution nur ein Trick, ihm die entglittene Macht wieder in die Hände zu spielen.
„Wir werden“, sagte er, „uns an dieser Abstimmung nicht beteiligen.“ Die Bolschewiki verließen hierauf den Saal, und die Resolution wurde angenommen.
Gegen vier Uhr früh traf ich in der Vorhalle Sorin [10] mit einem Gewehr.
„Wir marschieren“ [7*], sagte er ernst, aber augenscheinlich befriedigt. „Wir haben den Vizejustizminister und den Kulturminister festgesetzt; sie sind unten im Keller. Ein Regiment ist weg, um die Telefonzentrale zu besetzen, ein anderes ist zur Telegrafenagentur und ein drittes zur Staatsbank. Auch die Rote Garde ist unterwegs.“
Als wir auf die Treppe hinaustraten, sahen wir die Rote Garde vorbeiziehen: junge Burschen in Arbeitskleidung, mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten, aufgeregt miteinander sprechend.
Plötzlich, die Stille unterbrechend, ertönte westwärts fernes Gewehrfeuer. Das waren die Offiziersschüler, die die Zugbrücken der Newa zu öffnen versuchten, um den Arbeitern und Soldaten des Wiborgviertels die Vereinigung mit den Sowjetkräften im Zentrum der Stadt unmöglich zu machen. Die Kronstädter Matrosen waren jetzt dabei, sie wieder zu schließen.
Hinter uns lag der Smolny, hell erleuchtet und summend wie ein riesiger Bienenkorb.
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A. Das war nicht ganz aufrichtig. Die Provisorische Regierung hatte schon vorher, im Juli, die bolschewistischen Zeitungen verboten und plante dies auch jetzt wieder. – J.R.
B. Bill Schatow war in der amerikanischen Arbeiterbewegung gut bekannt. – J.R. [7]
1. Anscheinend meint der Autor das Steinkohlenrevier des Donezbeckens.
2. „Industriearbeiter der Welt (Industrial Workers of the World – IWW) war eine revolutionäre gewerkschaftliche Massenorganisation in den USA. Sie entstand 1905 unter dem Eindruck der revolutionären Ereignisse in Rußland. Faktisch aufgehört zu existieren hat sie in den 1930er Jahren, nachdem sie die einstigen Verbindungen zu den Massen verloren hatte. In der Blütezeit dieser Organisation hat John Reed an ihrer Tätigkeit aktiv teilgenommen.
3. Karachan ist nicht Mitglied des ZK gewesen.
4. Diese Versammlung fand am 31. (18.) Oktober statt.
5. I.A. Salkind, ein aktiver Teilnehmer an der Oktoberrevolution, Mitglied der Petrograder Organisation der Bolschewiki.
6. Militärische Erfolge der Deutschen und der Österreicher am Isonzo.
7. John Reed meinte Wladimir Sergejewitsch Schatow, der im Juni 1917 aus Amerika zurückgekehrt war. Er war dort einer der Organisatoren der IWW. 1917 Mitglied des Revolutionären Militärkomitees und Mitglied des Zentralrats der Fabrikkomitees, später Kommunist.
8. Das Flugblatt übergab Konowalow Kerenski.
9. Erlich war ein Führer der Menschewiki.
10. D.F. Sorin, ein aktiver Teilnehmer der Oktoberrevolution, Bolschewik.
Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008