MIA > Deutsch > J. Reed > Zehn Tage
Donnerstag, 8. November. Der hereinbrechende Tag fand die Stadt in wildester Aufregung und Verwirrung, die ganze Nation gepeitscht von dem sich zu immer wilderen stößen erhebenden Sturm. Äußerlich war alles ruhig. Hunderttausende waren zeitig zu Bett gegangen, stande früh auf und gingen ihrer Arbeit nach. In Petrograd fuhren die Straßenbahnen, die Warenhäuser und Restaurants waren geöffnet, die Theater in vollem Betrieb. Sogar eine Gemäldeausstellung war angezeigt. Der Alltag – langweilig selbst in Kriegszeiten – ging seinen gewohnte Trott. Nichts ist erstaunlicher als die Lebenskraft des sozialen Organismus – wie er beharrt, sich nährend, sich kleidend, sich amüsierend, dem allerschrecklichsten Elend zum Trotz ...
Die Luft schwirrte von Gerüchten über Kerenski, der, wie es hieß, die Front aufgewiegelt habe und eine große Armee gegen die Hauptstadt führe.
Wolja Naroda veröffentlichte einen von ihm in Pskow erlassenen Befehl:
„Die Unordnung, verursacht durch den wahnsinnigen Versuch der Bolschewiki, treibt das Land dem Abgrund entgegen. Das erheischt die Anstrengung unseres ganzen Willens, unseres ganzen Mutes und die Hingabe jedes einzelnen von uns, damit wir die schreckliche Prüfung überstehen, die das Vaterland durchmacht ... Bis zur Bekanntgabe der Zusammensetzung der neuen Regierung – wenn eine solche gebildet sein wird – hat jeder auf seinem Poste zu bleiben und seine Pflicht dem blutenden Rußland gegenüber zu erfüllen. Niemand darf vergessen, daß der geringste Konflikt mit den bestehenden Armeeorganisationen nicht wiedergutzumachendes Unglück über das Land bringen kann, indem die Front dem Feinde geöffnet wird. Darum ist vor allem und unter jeder Bedingung dafür Sorge zu tragen, daß die Moral der Truppen erhalten bleibt durch Aufrechterhaltung völliger Ordnung und Bewahrung der Armee vor neuen zusammenstößen sowie durch Aufrechterhaltung des absoluten Vertrauens zwischen Offizieren und Untergebenen. Ich befehle allen Chefs und Kommissaren, um der Sicherheit des Landes willen auf ihren Posten zu bleiben, so wie ich selbst den Posten des Obersten Befehlshabers behalten werde, bis die Provisorische Regierung der Republik ihren Willen zum Ausdruck gebracht hat.“
All dem zu begegnen, das nachfolgende Plakat an allen Mauern:
Die Exminister Konowalow, Kischkin, Tereschtschenko, Maljantowitsch Nikitin und andere befinden sich in der Gewalt des Revolutionären Militärkomitees. Kerenski ist geflohen. Alle Armeeorganisationen haben Anweisungen, die notwendigen Maßnahmen für die sofortige Verhaftung Kerenskis und seine Überführung nach Petrograd zu treffen.
Jede Kerenski erwiesene Unterstützung wird als schweres Staatsverbrechen bestraft werden.“
Aller Hindernisse ledig, war das Revolutionäre Militärkomitee jetzt fieberhaft tätig, zahllose Befehle, aufrufe und Gesetze ins Land zu schleudern. [1*] Ein Befehl ordnete die Überführung Kornilows nach Petrograd an. Die von der Provisorischen Regierung eingekerkerten Bodenkomitees wurden für frei erklärt, die Todesstrafe in der Armee wurde abgeschafft. Die Beamten wurden aufgefordert, auf ihren Posten zu bleiben, und schwere Strafen waren ihnen angedroht für den Fall, daß sie sich dessen weigerten. Plünderung, Unruhen und Spekulation waren bei Todesstrafe verboten. In die verschiedenen Ministerien wurden provisorische Kommissare entsandt: Auswärtiges: Urizki und Trotzki, Inneres und Justiz: Rykow, Arbeit: Schljapnikow, Finanzen: Menshinski, Öffentliche Wohlfahrt: Frau Kollontai, Handel und Verkehr: Rjasanow, Flotte: der Matrose Korbir, Post und Telegraf: Spiro, Theater: Murawjow, Staatsdruckerei: Derbyschew, für die Stadt Petrograd: Leutnant Nesterow, für die Nordfront: Posern. [1]
Die Armee wurde aufgefordert, Revolutionäre Militärkomitees einzusetzen; die Eisenbahnarbeiter, die Ordnung aufrechtzuerhalten und vor allem den Lebensmitteltransport in die Städte und an die Front nicht zu hindern. Dafür waren ihnen besondere Vertreter im Verkehrsministerium zugesagt.
In einer Proklamation an die Kosaken hieß es:
„Brüder Kosaken!
Man will euch gegen Petrograd führen. Man will euch in einen Kampf mit den revolutionären Arbeitern und Soldaten der Hauptstadt zwingen. Ihr dürft unseren gemeinsamen Feinden, den Großgrundbesitzern und Kapitalisten, kein Wort glauben.
Auf unserem Kongreß sind alle organisierten Arbeiter, Soldaten und die bewußten Bauern Rußlands vertreten. Der Kongreß ist bereit, auch die werktätigen Kosaken in seiner Mitte willkommen zu heißen. Die Generale der Schwarzhundertschaften, die Lakaien der Großgrundbesitzer und Nikolaus’ des Grausamen, sind unsere Feinde.
Sie sagen euch, daß die Sowjets das Land der Kosaken konfiszieren wollen. Das ist eine Lüge. Die Revolution will nur das Land der kosakischen Großgrundbesitzer konfiszieren, um es dem Volke zu geben.
Organisiert Sowjets der Kosakendeputierten! Schließt euch den Sowjets der Arbeiter- und Soldatendeputierten an! Zeigt den Schwarzhundertleuten, daß ihr keine Verräter am Volke seid und daß ihr nicht gewillt seid, die Verachtung des gesamten revolutionäre Rußlands auf euch zu laden! ...
Brüder Kosaken, weigert euch, die Befehle der Feinde des Volkes auszuführen. Sendet eure Delegierten nach Petrograd, damit sie die Dinge mit uns besprechen... Die Kosaken der Petrograder Garnison haben, zu ihrer Ehre sei es gesagt, die Hoffnungen der Volksfeinde nicht gerechtfertigt....
Brüder Kosaken! Der Gesamtrussische Sowjetkongreß streckt euch seine brüderliche Hand entgegen. Es lebe der Bruderbund der Kosaken mit den Soldaten, Arbeitern und Bauern des ganzen Rußlands!“ [2]
Demgegenüber, welche Fülle angeschlagener Proklamationen, herumflatternder Handzettel, geifernder, schimpfender, dem Ganzen ein böses Ende verheißender Zeitungen! Die Schlacht der Druckerpresse tobte jetzt – alle anderen Waffen waren in den Händen der Sowjets.
An der Spitze der Aufruf des Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution.
Entgegen dem Willen der revolutionären Massen haben die Bolschewiki Petrograds am 7. November einen teil der Provisorischen Regierung verhaftet, den rat der russischen Republik auseinandergejagt und eine ungesetzliche Macht proklamiert. Diese gegen die Regierung des revolutionären Rußlands im Moment der größten äußeren Gefahr begangene Vergewaltigung ist ein unbeschreibliches Verbrechen gegen das Vaterland.
Der Aufstand der Bolschewiki versetzt der Sache der nationalen Verteidigung einen tödlichen Schlag und verzögert unübersehbar den so sehnlichst herbeigewünschten Augenblick des Friedensschlusses.
Der Bürgerkrieg, von den Bolschewiki begonnen, bedroht das Land mit den Schrecken der Anarchie und Konterrevolution. Er macht die Konstituierende Versammlung unmöglich, deren Aufgabe es sein sollte, die republikanische Ordnung zu bestätigen und dem Volke auf ewige Zeiten sein Recht auf das Land zu sichern.
Das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution, in der Nacht des 7. November gegründet, übernimmt die Initiative zur Bildung einer neuen Provisorischen Regierung, die, sich auf die Demokratie stützend, das Land zur Konstituierenden Versammlung hinführen und es vor der Anarchie und der Konterrevolution retten wird. Das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution ruft euch, Bürger, auf, der Macht der Gewalt die Anerkennung zu versagen. Gehorcht ihren Anordnungen nicht.
Erhebt euch für die Verteidigung des Landes und der Revolution!
Unterstützt das Komitee zur Verteidigung des Vaterlandes und der Revolution!
Gezeichnet: Rat der Russischen Republik,
Petrograder Stadtduma, Zentralexekutivkomitee
(I. Kongreß), Exekutivkomitee der Bauernsowjets
und vom II. Sowjetkongreß die Gruppe der
Frontsoldaten, die Sozialrevolutionäre,
Menschewiki, Volkssozialisten, Vereinigte
Sozialdemokraten und die Gruppe ‚Jedinstwo‘.“
Weitere Plakate von der sozialrevolutionären Partei, den menschewistischen Sozialpatrioten, den Bauernsowjets, dem Zentralen Armeekomitee, dem Zentroflot...
„... Der Hunger wird Petrograd zerschmettern! Die deutschen Armeen werden unsere Freiheit niedertrampeln. Die Schwarzhunderter werden Rußland mit Pogromen überziehen, wenn nicht alle bewußten Arbeiter, Soldaten und Bürger sich vereinigen ...
Glaubt nicht den Versprechungen der Bolschewiki. Das Versprechen des sofortigen Friedens ist eine Lüge! Das Versprechen von Brot ist ein Betrug! Das Versprechen von Land ein Märchen! ...“
Immer wieder die gleiche Tonart, bei allen Plakaten.
„Genossen! Man hat euch in niederträchtiger und grausamer Weise betrogen! Die Übernahme der Macht geschah durch die Bolschewiki allein ... Sie hielten ihre Verschwörung gegenüber den anderen sozialistischen Parteien im Sowjet geheim ... Sie haben euch Land und Freiheit versprochen, aber die Konterrevolution wird die von den Bolschewiki hervorgerufene Anarchie ausnutzen, und sie wird euch um Land und Freiheit betrügen ...“
Nicht weniger wild waren die Zeitungen.
„Unsere Pflicht“, erklärte Delo Naroda, „ist es, diese Verräter an der Arbeiterklasse zu demaskieren. Unsere Pflicht ist es, alle unsere Kräfte zu mobilisieren und die Sache der Revolution zu verteidigen! ...“
Iswestija, zum letztenmal im Namen des alten Zentralexekutivkomitees sprechend, drohte mit furchtbarer Rache.
„Was den Sowjetkongreß anbelangt, erklären wir, daß es keinen Sowjetkongreß gegeben hat! Wir erklären, daß er nichts anderes war als eine private Konferenz der bolschewistischen Fraktion! Und in dieser Eigenschaft hat er nicht das Recht, die Machtbefugnisse des Zentralexekutivkomitees aufzuheben ...“
Nowaja Shisn trat für eine neue Regierung ein, die alle sozialistischen Parteien umfassen sollte; sie kritisierte scharf die Haltung der Sozialrevolutionäre und der Menschewiki, die den Kongreß verlassen hatten, und wies darauf hin, daß die bolschewistische Erhebung eines klarmache: daß alle Illusionen über eine Koalition mit der Bourgeoisie in Zukunft sinnlos seien...
Rabotschi Put, der jetzt als Prawda herauskam, Lenins im Juli unterdrücktes Blatt, schrieb:
„Arbeiter, Soldaten, Bauern! Im März zerschlugt ihr die Tyrannei der Adelsclique. Gestern warft ihr die Tyrannei der Bourgeoisie nieder ...
Die erste Aufgabe ist jetzt, die Tore Petrograds zu bewachen. Die zweite, die konterrevolutionären Elemente Petrograds endgültig zu entwaffnen.
Die dritte, die endgültige Organisierung der revolutionären Macht und die Realisierung des Volksprogramms ...“
Die wenigen noch erscheinenden Kadettenorgane und die Bourgeoisie im allgemeinen nahmen zu den Vorgängen eine besondere, ironisierende Haltung, eine Art „ich hab‘s euch ja gleich gesagt“ gegenüber den anderen Parteien ein. Man konnte wohl einflußreiche Angehörige der Kadettenpartei um die Stadtduma streifen sehen und in den Vorzimmern des Komitees zur Rettung des Vaterlandes antreffen. Sonst aber hielt sich die Bourgeoisie zurück, sich auf ihre Stunde vorbereitend, die unmöglich lange auf sich warten lassen konnte. Daß die Bolschewiki sich länger als drei Tage an der Macht halten sollten, hielt niemand für möglich, ausgenommen vielleicht Lenin, Trotzki, die Petrograder Arbeiter und die einfachen Soldaten.
In dem hohen amphitheatermäßig gebauten Nikolaussaal sah ich an diesem Nachmittag die in Permanenz tagende Duma, stürmisch, alle Kräfte der Opposition um sich gruppierend. Der alte, in seinem weißen Haar und Bart würdevoll dreinschauende Bürgermeister Schrejder gab eine Schilderung seines Besuches im Smolny in der vergangenen Nacht, wo er im Namen der städtischen Selbstverwaltung Protest eingelegt hatte. „Die Duma als die einzige rechtmäßig existierende Regierung in der Stadt, hervorgegangen aus gleicher, direkter und geheimer Wahl, würde die neue Gewalt nicht anerkennen“, hatte er Trotzki mitgeteilt, worauf ihm Trotzki zur Antwort gegeben hatte, „daß es in diesem Falle ein kostitutionelles Mittel gebe: Die Auflösung und Neuwahl der Duma“. Der Bericht löste bei der Versammlung zornige Entrüstung aus.
„Wollte man eine sich auf Bajonette stützende Regierung anerkennen“, fuhr der alte Mann in seiner Rede an die Duma fort, „dann haben wir allerdings eine Regierung; aber für rechtmäßig erachte ich nur eine vom Volk, und zwar eine von seiner Mehrheit anerkannte Regierung, nicht aber eine durch die gewaltsame Besitzergreifung einer Minderheit geschaffene.“ Darauf wilder Beifall auf allen Bänken, die der Bolschewiki ausgenommen. Inmitten erneuten Tumultes teilte der Bürgermeister mit, daß die Bolschewiki durch die Entsendung von Kommissaren in zahlreich Stadtbezirke mit der Vergewaltigung der städtischen Selbsverwaltung bereits begonnen hätten.
Dann schrie der bolschewistische Redner, sich mit aller Kraft Gehör verschaffend: „Der Beschluß des Sowjetkongresses beweist, daß das ganze Rußland hinter der Aktion der Bolschewiki steht. Ihr seid nicht die wahren Vertreter des Petrograder Volkes.“
Rufe: „Das ist eine Beschimpfung!“ Würdevoll erinnerte der Bürgermeister daran, daß die Duma aus der denkbar freiesten Volkswahl hervorgegangen sei. „Jawohl“, antwortete der Bolschewik, „aber das ist schon lange her. Genau wie beim Zentralexekutivkomitee und beim Armeekomitee.“
„Es hat keinen neuen Sowjetkongreß gegeben“, schrien sie auf ihn ein.
„Die bolschewistische Partei lehnt es ab, noch weiter in diesem Nest der Konterrevolution zu bleiben“ (Tumult), „und wir verlangen die Neuwahl der Duma“. Die Bolschewiki verließen den Saal, und „Deutsche Agenten!“ und „Nieder mit den Verrätern!“ schallte es ihnen nach.
Schingarjow stellte für die Kadetten den Antrag, alle städtischen Beamten, die sich dem Revolutionären Militärkomitee zur Verfügung gestellt hatten, von ihrem Posten zu entheben und unter Anklage zu stellen. Schrejder brachte eine Resolution ein des Inhalts, daß die Duma gegen die Androhung der Bolschewiki, sie aufzulösen, protestiere und daß sie sich als die gesetzmäßige Volksvertretung weigere, ihren Posten zu verlassen.
Draußen, im Alexandersaal, tagte eine überfüllte Sitzung des Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution. Skobelew hatte wieder das Wort. „Noch niemals“, sagte er, „war das Schicksal der Revolution so auf des Messers Schneide, noch niemals verursachte die Frage der Existenz des russischen Staates so viel Besorgnis, noch niemals hat die Geschichte die Frage, ob Rußland leben oder untergehen wird, so scharf und kategorisch gestellt! Die große Stunde der Rettung der Revolution ist da, und im Bewußtsein dessen blicken wir auf das enge Bündnis der Lebenskräfte der Revolutionären Demokratie, deren organisierter Wille ein Zentrum für die Rettung der Revolution und des Vaterlandes bereits geschaffen hat ...“ Und noch vieles in dieser Art. „Wir werden eher sterben als unsere Stellung preisgeben!“
Unter stürmischem Beifall nahm die Versammlung von dem Beitritt des Eisenbahnverbandes zum Komitee Kenntnis. Wenige Minuten später trafen die Post- und Telegrafenangestellten ein, dann einige Menschewiki – Internationalisten. Die Eisenbahner erklärten, daß sie die Bolschewiki nicht anerkennen würden, daß sie den ganzen Eisenbahnapparat in eigene Hände genommen hätten und es entschieden ablehnten, ihn irgendeiner usurpatorischen Gewalt anzuvertrauen. Der Delegierte der Telegrafenbeamten schilderte, wie seine Kollegen sich geweigert hatten, in Anwesenheit des bolschewistischen Kommissares ihre Apparate zu bedienen. Die Postangestellten würden von dem Smolny weder Postsachen entgegennehmen noch solche an ihn ausliefern ... Alle Telefonapparate des Smolny seien aus dem allgemeinen Netz ausgeschaltet. Unter großer Belustigung wurde berichtet, wie Urizki ins Ministerium des Auswärtigen gekommen sei und die Geheimverträge verlangt habe und wie er von Neratow [3] an die frische Luft gesetzt worden sei. Sämtliche Regierungsangestellten hätten die Arbeit eingestellt.
Dies war der Krieg – ein Krieg nach vorbedachtem Plan, in russischer Manier. Die Waffen waren Streik und Sabotage. Wir hörten, wie der Vorsitzende eine Liste von Namen mit den jedem einzelnen zugewiesenen Aufgaben verlas. Der hatte eine Runde durch die Ministerien zu machen. Ein anderer sollte die Banken besuchen. Etwa zehn oder zwölf sollten in die Kasernen gehen, um die Soldaten zur Neutralität zu überreden – „Russische Soldaten, vergießt nicht das Blut eurer Brüder!“ Ein Komitee wurde eingesetzt zu Verhandlungen mit Kerenski. Andere wurden in die Provinzstädte entsandt, damit sie dort Zweigorganisationen des Komitees zur Rettung des Vaterlandes gründeten und den Zusammenschluß der antibolschewistischen Elemente betrieben.
Die Versammlung war aufs zuversichtlichste gestimmt. „Diese Bolschewiki wollen der Intelligenz Vorschriften machen. Wir werden es ihnen zeigen!“ Kein größerer Kontrast war denkbar als der zwischen dieser Versammlung und dem Kongreß der Sowjets. Dort große Massen armseligster Soldaten, schmutziger Arbeiter, Bauern – arme Menschen, gebeugt und zernarbt im brutalen Ringen um die Existenz; hier die Führer der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre – die Awxentjew, Dan, Liber, die ehemaligen sozialistischen Minister Skobelew, Tschernow, Schulter an Schulter mit Kadetten, wie dem öligen Schazki, dem glatten Winawer, mit Journalisten, Studenten, Intellektuellen aus fast allen Lagern. Alle gut genährt, gut gekleidet; ich habe unter ihnen kaum drei Proletarier gesehen.
Nachrichten begannen einzulaufen. Kornilows getreue Tekinzy [A] schlugen in Bychow die Wachen nieder, und Kornilow, der dort gefangengehalten wurde, konnte entkommen. Von dem Moskauer Sowjet war ein Revolutionäres Militärkomitee eingesetzt worden, das mit dem Stadtkommandanten wegen Übergabe des Arsenals verhandelte, so daß die Möglichkeit bestand, die Arbeiter zu bewaffnen.
Mit diesen Tatsachen war ein erstaunliches Durcheinander von Gerüchten, Übertreibungen und offenbaren Lügen vermengt. So nahm uns ein sonst intelligenter Kadett, der nacheinander der Privatsekretär erst Miljukows und dann Tereschtschenkos gewesen war, beiseite, um uns die Einnahme des Winterpalastes zu schildern.
„Die Bolschewiki standen unter Führung deutscher und österreichischer Offiziere“, behauptete er allen Ernstes.
„So?“ erwiderten wir höflich. „Woher wissen Sie das?“
„Einer meiner Freunde war dort und hat sie gesehen.“
„Woher wußte er, daß es deutsche Offiziere waren?“
„Oh, weil sie deutsche Uniformen trugen.“
Solcher ganz unsinniger Geschichten waren Hunderte im Umlauf, und sie wurden nicht nur in der feierlichsten Aufmachung in der antibolschewistischen Presse veröffentlicht, sondern auch geglaubt – und von Leuten, denen man ein derartiges Maß von Leichtgläubigkeit nie zugetraut hätte, darunter solche Menschewiki und Sozialrevolutionäre, deren nüchterne Sachlichkeit notorisch war.
Ernster aber war, was über die angeblichen Greueltaten und den Terror der Bolschewiki im Umlauf war. So wurde erzählt, und man las es auch gedruckt, daß die Rotgardisten nicht nur den Winterpalast völlig ausgeplündert und die Offiziersschüler nach ihrer Entwaffnung niedergemacht, sondern daß sie auch einige der Minister kalten Blutes ermordet hätten. Was die Frauenbataillone betraf, so waren die meisten dieser Frauen angeblich vergewaltigt worden, während viele infolge der erlittenen Mißhandlungen Selbstmord verübt haben sollten. Und die Dumaleute nahmen all diese Geschichten für bare Münze. Was Wunder, wenn auch die Mütter und Väter der Offiziersschüler und Frauen, die die oft von namentlicher Aufführung der angeblichen Opfer begleiteten Details lasen, ihnen Glauben schenkten. Als die Nacht hereinbrach, war die Duma von einer Menge wütender Bürger umlagert.
Ein typischer Fall ist der des Fürsten Tumanow, dessen Leichnam nach den Meldungen zahlreicher Zeitungen im Moika-Kanal treibend aufgefunden worden war. Als wenige Stunden später die Familie des Fürsten diese Nachricht dementierte und hinzufügte, daß der Fürst gefangengehalten werde, identifizierte die Presse den Leichnam als den des Generals Denissow. Als aber auch dieser wieder zum Leben kam, stellte wir Nachforschungen an und konnten überhaupt keine Spur von irgendeinem unter den bezeichneten Umständen aufgefundenen Leichnam entdecken.
Als wir die Duma verließen, sahen wir zwei Pfadfinder, die Handzettel [2*] an die riesige Volksmenge verteilten, die sich auf dem Newski gegenüber dem Tor angesammelt hatte, fast durchweg Unternehmer, Kaufleute, Beamte und Angestellte. Auf einem der Handzettel las ich:
Angesichts der Ereignisse des heutigen Tages proklamiert die Stadtduma in ihrer Sitzung vom 26. Oktober [4] die Unverletzlichkeit der Privatwohnungen. Durch die Hauskomitees fordert sie die Bevölkerung der Stadt Petrograd auf, alle Versuche, in Privatwohnungen mit Gewalt einzudringen, mit Entschiedenheit zurückzuweisen und im Interesse der Selbstverteidigung der Bürger evtl. auch von der Waffe Gebrauch zu machen.“
An der Ecke des Litejny-Prospekts hatten fünf oder sechs Rotgardisten und ein paar Matrosen einen Zeitungsverkäufer umringt und forderten von ihm die Aushändigung der menschewistischen Rabotschaja Gaseta. Der Zeitungsverkäufer überhäufte sie mit wütenden Schimpfworten, die Faust erhebend, als einer der Matrosen die Zeitungen von seinem Stand riß. Eine drohende Volksmenge hatte sich angesammelt, die die Patrouille wütend beschimpfte. Ein kleiner Arbeiter gab sich Mühe, der Volksmenge und dem Zeitungsverkäufer die Notwendigkeit dieser Maßnahme immer wieder zu erklären. „Die Zeitung bringt die Proklamation Kerenskis, die behauptet, daß wir Russen ermordet hätten. Das würde zu Blutvergießen führen ...“
Im Smolny schien die Spannung größer denn je. Die gleichen im Dämmer der Korridore hin und her eilenden Männer. Trupps von Arbeitern mit Gewehren. Führer mit mächtigen Aktenbündeln, diskutierend, erklärend, Befehle erteilend, während sie mit besorgten Mienen vorübereilten, umgeben von Freunden und Mitarbeitern, Männer, buchstäblich außer sich; lebende Wunder von Schlaflosigkeit und Arbeit, unrasiert und schmutzig, mit brennenden Augen. So viel hatten sie zu tun, so unendlich viel. Die Regierung mußte übernommen, das Leben der Stadt organisiert, die Loyalität der Garnison gesichert werden. Es galt, den Kampf gegen die Duma und das Komitee zur Rettung des Vaterlandes zu führen, die Deutschen fernzuhalten, den Kampf gegen Kerenski vorzubereiten, die Provinzen zu unterrichten, eine von Archangelsk bis Wladiwostok reichende Propaganda zu betreiben. Und all dies angesichts der Weigerung der Regierungs- und städtischen angestellten, sich den Anordnungen der Kommissare zu fügen, angesichts der den Dienst verweigernden Post- und Telegrafenbeamten, der allen Anforderungen von Zügen gegenüber taub bleibenden Eisenbahner. Kerenski im Anmarsch, die Garnison teilweise eine zweifelhafte Haltung einnehmend, die Kosaken auf das Signal zum Losschlagen wartend. Gegen sich nicht nur die organisierte Bourgeoisie, sondern auch alle anderen sozialistischen Parteien mit Ausnahme der linken Sozialrevolutionäre, einiger Menschewiki – Internationalisten und der Sozialdemokraten-Internationalisten. Und selbst diese unentschlossen, ob sie neutral bleiben sollten oder nicht. Mit ihnen, es ist richtig, die Arbeiter- und Soldatenmassen – die Bauern noch eine unbekannte Größe-; aber alles in allem genommen waren sie, die Bolschewiki, eine noch junge Partei, arm an erfahrenen und durchgebildeten Kräften.
Auf der Vordertreppe traf ich Rjasanow, der mir halb belustigt, halb entsetzt erklärte, daß er, der Kommissar für Handel, nicht das geringste von Geschäften verstehe. In dem in der oberen Etage gelegenen Cafe saß in eine Ecke für sich ein Mann in einem Umhang aus Ziegenfell und Kleidern – in denen er geschlafen hatte, hätte ich fast gesagt, aber natürlich hatte er nicht geschlafen – und mit drei Tage alten Bartstoppeln im Gesicht. Mit eifriger Geschäftigkeit kritzelte er auf einen schmutzigen Briefumschlag, kaute hin und wieder an seinem Bleistift. Dies war Menshinski, der Kommissar für das Finanzwesen, dessen Qualifikation für sein Amt darin bestand, daß er einmal Buchhalter in einer französischen Bank gewesen war ... Und diese vier, die aus dem Büro des Revolutionären Militärkomitees herauskamen, den Korridor fast im Laufschritt durcheilten und noch im Laufen auf kleine Stücke Papier kritzelten, das waren Kommissare, in alle vier Himmelsrichtungen Rußlands entsandt, das Land zu unterrichten, die Gegner zu überzeugen oder sie zu zwingen, mit Argumenten oder Waffen, wie sie ihnen immer zur Hand kämen ...
Der Kongreß sollte um vier Uhr wieder zusammentreten, und der große Saal hatte sich lange vordem gefüllt. Aber noch gegen sieben Uhr war niemand von der Kongreßleitung zu sehen. Die Bolschewiki und Sozialrevolutionäre tagten in ihren Fraktionszimmern. Den ganzen Nachmittag hatten Lenin und Trotzki gegen die Kompromißler zu kämpfen gehabt. Ein großer Teil der Bolschewiki war zu einer Einigung mit allen sozialistischen Parteien auf der Grundlage der Bildung einer rein sozialistischen Regierung bereit. „Wir können es nicht schaffen; zu viele sind gegen uns. Es fehlen uns die Männer. Wir werden isoliert sein, und alles wird verloren sein.“ So Kamenew, Rjasanow und andere.
Aber Lenin und ihm zur Seite Trotzki standen wie ein Fels.
„Die Kompromißler sollen unser Programm akzeptieren, dann werden wir sie hereinkommen lassen. Nicht einen Zoll breit werden wir nachgeben. Wenn unter uns Genossen sind, die nicht den Mut und den Willen haben zu wagen, was wir wagen, so mögen sie mit dem Rest der Feiglinge und Kompromißler gehen! Wir aber werden, gestützt auf Arbeiter und Soldaten, vorwärtsgehen!“
Fünf Minuten nach sieben traf die Mitteilung der linken Sozialrevolutionäre ein, daß sie im Revolutionären Militärkomitee verbleiben werden.
„Da seht ihr, sie kommen schon“, sagte Lenin.
Ein wenig später, als wir in dem großen Saal am Pressetisch saßen, machte mir ein Anarchist, Berichterstatter bürgerlicher Blätter, den Vorschlag, zu sehen, was aus dem Präsidium geworden war. Im Büro des Zentralexekutivkomitees war kein Mensch, leer war auch das Büro des Petrograder Sowjets.
Wir wanderten von Zimmer zu Zimmer, durch den ganzen Smolny. Kein Mensch schien auch nur die leiseste Idee zu haben, wo man das Präsidium des Kongresses finden könne. Im Gehen schilderte mir mein Begleiter seine frühere revolutionäre Tätigkeit, sein langes und angenehmes Exil in Frankreich. .. Die Bolschewiki, so vertraute er mir an, seien gewöhnliche, rohe, unwissende Leute ohne ästhetisches Empfinden. Er war ein echter Vertreter der russischen Intelligenz ... So kamen wir schließlich nach dem Zimmer Nr.17, dem Büro des Revolutionären Militärkomitees, und standen dort inmitten des ungestümen Kommens und Gehens. Die Tür wurde aufgerissen, und ein untersetzter Mann in einer Uniform ohne Abzeichen stürzte heraus. Er schien zu lächeln – bald sah man jedoch, daß dieses scheinbare Lächeln in Wirklichkeit das gespannte Grinsen äußerster Ermüdung war. Dieser Mann war Krylenko.
Mein Bekannter, ein flotter, zivilisiert aussehender junger Mann, stieß einen Freudenruf aus und stürzte vorwärts.
„Nikolai Wassiljewitsch!“ rief er, seine Hand ausstreckend. „Erinnern Sie sich nicht meiner, Genosse? Wir waren miteinander im Gefängnis.“
Krylenko machte eine Anstrengung, dachte nach und musterte ihn. „Richtig“, sagte er endlich, den anderen mit einem Ausdruck großer Freundlichkeit ansehend. „Sie sind S.... Guten tag!“ Sie umarmten einander. „Was tun Sie hier?“
„Oh, ich schaue nur so herum ... Sie scheinen sehr erfolgreich zu sein.“
„Ja!“ erwiderte Krylenko. „Die proletarische Revolution ist ein großer Erfolg.“ Er lachte. „Vielleicht – vielleicht werde wir uns wieder im Gefängnis treffen!“
Als wir in den Korridor hinaustraten, fuhr mein Bekannter in seinen Erklärungen fort. „Ich bin nämlich ein Anhänger Kropotkins. In unseren Augen ist die Revolution ein großer Mißerfolg; sie hat nicht vermocht, den Patriotismus der Massen zu erwecken. Das allein beweist, daß das Volk für die Revolution nicht reif ist ...“
Es war genau 8 Uhr 40, als ein Ausbruch jubelnder Begeisterung den Eintritt des Präsidiums, mit Lenin – dem großen Lenin – in seiner Mitte ankündigte. Eine untersetzte Gestalt, mit großem, auf stämmigem Hals sitzenden Kopf, ziemlich kahl. Kleine bewegliche Augen, großer sympathischer Mund und kräftiges Kinn; jetzt rasiert, der bekannte Bart jedoch, den er fortan wieder tragen würde, schon wieder sprossend. In abgetragenem Anzug, mit Hosen, viel zu lang für ihn. Zu unauffällig, um das Idol eines Mobs zu sein, aber doch geliebt und verehrt wie selten ein Führer in der Geschichte. Ein Volksführer eigner Art – Führer nur dank der Überlegenheit seines Intellekts; nüchtern, kompromißlos und über den Dingen stehend, ohne Effekthascherei – aber mit der Fähigkeit, tiefe Gedanken in einfachste Worte zu kleiden und konkrete Situationen zu analysieren. Sein Scharfsinn ist verbunden mit der größten Kühnheit des Denkens.
Kamenew gab den Bericht über die Aktionen des Revolutionären Militärkomitees: Abschaffung der Todesstrafe in der Armee, Wiederherstellung der Propagandafreiheit, Freilassung der wegen politischer Vergehen verhaftet gewesenen Offiziere und Soldaten, Erlaß eines Haftbefehls gegen Kerenski, Beschlagnahme der Lebensmittelvorräte in den privaten Warenhäusern ... Ungeheurer Beifall.
Noch einmal ein Vertreter vom „Bund“: „Die unnachgiebige Haltung der Bolschewiki wird den Zusammenbruch der Revolution zur Folge haben. Die Delegierten des Bundes sehen sich daher gezwungen, aus dem Kongreß auszuscheiden“ Zurufe aus der Versammlung: „Wir meinten, ihr seiet schon gestern gegangen. Wie oft gedenkt ihr uns noch zu verlassen?“
Darauf der Vertreter der Menschewiki – Internationalisten, von erstaunten zurufen empfangen: „Auch ihr noch hier?“ Der Redner erklärte, daß nur ein Teil der Menschewiki – Internationalisten den Kongreß verlassen habe, der Rest würde bleiben.
„Wir erachten die Übernahme der Macht durch die Sowjets für gefährlich, ja sogar für tödlich für die Revolution.“ (Lebhafte Zurufe.) „Aber wir bleiben im Kongreß, um hier gegen diese Übernahme zu stimmen.“
Andere Redner folgten, offenbar ohne bestimmte Anweisungen, welche Stellung sie einnehmen sollten. Ein Delegierter der Kohlenbergwerke des Donezbeckens forderte von dem Kongreß Maßnahmen gegen Kaledin, der möglicherweise versuchen würde, die Hauptstadt von der Kohle- und Lebensmittelversorgung abzuschneiden. Einige von der Front angekommene Soldaten überbrachten begeisterte Grüße ihrer Regimenter. Und nun stand Lenin vorn, die Hände fest an den Rand des Rednerpultes gekrampft, seine kleinen blinzelnden Augen über die Menge schweifen lassend, wartend, bis der minutenlange, ihm offensichtlich gleichgültige Beifallssturm sich gelegt haben würde. Als er endlich beginnen konnte, sagte er einfach: „Wir werden jetzt mit dem Aufbau der sozialistischen Ordnung beginnen.“ Und wieder raste wilder Begeisterungssturm durch den Saal.
„Das erste ist die Durchführung praktischer Maßregeln zur Verwirklichung des Friedens. Wir werden den Völkern aller kriegführenden Länder den Frieden auf der Grundlage der Sowjetbedingungen anbieten: Keine Annexionen, keine Kriegsentschädigungen, Selbstbestimmungsrecht der Völker. Gleichzeitig werden wir unserm Versprechen gemäß die Geheimverträge veröffentlichen und für ungültig erklären. Die Frage ‚Krieg und Frieden‘ ist so einfach, daß ich glaube, die beabsichtigte Formulierung eines Aufrufes an die Völker aller kriegführenden Staaten hier ohne Vorrede vorlesen zu können:
Die Arbeiter- und Bauernregierung, die durch die Revolution vom 6. Und 7. November (24. Und 25. Oktober) geschaffen wurde und sich auf die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten stützt, schlägt allen kriegführenden Völkern und ihren Regierungen vor, sofort Verhandlungen über einen gerechten demokratischen Frieden zu beginnen.
Ein gerechter oder demokratischer Friede, den die überwältigende Mehrheit der durch den Krieg erschöpften, gepeinigten und gemarterten Klassen der Arbeiter und der Werktätigen aller kriegführenden Länder ersehnt und den die russischen Arbeiter und Bauern nach dem Sturz der Zarenmonarchie auf das entschiedenste und beharrlichste forderten – ein solcher Friede ist nach der Auffassung der Regierung ein sofortiger Friede ohne Annexionen (Das heißt ohne Aneignung fremder Territorien, ohne gewaltsame Angliederung fremder Völkerschaften) und ohne Kontributionen.
Die Regierung Rußlands schlägt allen kriegführenden Völkern vor, unverzüglich einen solchen Frieden zu schließen, wobei sie sich bereit erklärt, sofort, ohne die geringste Verzögerung, alle entscheidenden Schritte zu unternehmen – bis zur endgültigen Bestätigung aller Bedingungen eines solchen Friedens durch die bevollmächtigten Versammlungen der Volksvertreter aller Länder und aller Nationen.
Unter Annexion und Aneignung fremder Territorien versteht die Regierung, im Einklang mit dem Rechtsbewußtsein der Demokratie im allgemeinen und der werktätigen Klassen im besonderen, jede Angliederung einer kleinen und schwachen Völkerschaft an einen großen und mächtigen Staat, ohne daß diese Völkerschaft ihr Einverständnis und ihren Wunsch genau, klar und freiwillig zum Ausdruck gebracht hat, unabhängig davon, wann diese gewaltsame Angliederung erfolgt ist, sowie unabhängig davon, wie entwickelt oder rückständig eine solche mit Gewalt angegliederte oder mit Gewalt innerhalb der Grenzen eines gegebenen Staates festgehaltene Nation ist, und schließlich unabhängig davon, ob diese Nation in Europa oder in fernen, überseeischen Ländern lebt.
Wenn irgendeine Nation mit Gewalt in den Grenzen eines gegebenen Staates festgehalten wird, wenn dieser Nation entgegen ihrem zum Ausdruck gebrachten Wunsche – gleichviel, ob dieser Wunsch in der Presse oder in Volksversammlungen, in Beschlüssen der Parteien oder in Empörungen und Aufständen gegen die nationale Unterdrückung geäußert wurde – das Recht vorenthalten wird, nach vollständiger Zurückziehung der Truppen der die Angliederung vornehmenden oder überhaupt der stärkeren Nation, in freier Abstimmung über die Formen ihrer staatliche Existenz, ohne den mindesten Zwang selbst zu entscheiden, so ist eine solche Angliederung eine Annexion, das heißt eine Eroberung und Vergewaltigung.
Diesen Krieg fortzusetzen, um die Frage zu entscheiden, wie die starken und reichen Nationen die von ihnen annektierten schwachen Völkerschaften unter sich aufteilen sollen, hält die Regierung für das größte Verbrechen an der Menschheit, und sie verkündet feierlich ihre Entschlossenheit, unverzüglich die Bedingungen eines Friedens zu unterzeichnen, der diesem Krieg unter den obengenannten, für ausnahmslos alle Völkerschaften gleich gerechten Bedingungen ein Ende mach ...
Die Regierung schafft die Geheimdiplomatie ab, sie erklärt, daß sie ihrerseits fest entschlossen ist, alle Verhandlungen völlig offen vor dem ganzen Volke zu führen, und geht unverzüglich dazu über, alle Geheimverträge zu veröffentlichen, die von der Regierung der Gutsbesitzer und Kapitalisten in der Zeit vom Februar bis zum 7. November (25.Oktober) 1917 bestätigt oder abgeschlossen wurden. Der ganze Inhalt dieser Geheimverträge, soweit er, wie es zumeist der Fall war, den Zweck hatte, den russischen Gutsbesitzern und Kapitalisten Vorteile und Privilegien zu verschaffen, die Annexionen der Großrussen aufrechtzuerhalten oder zu erweitern, wird von der Regierung bedingungslos und sofort für ungültig erklärt.
Indem sich die Regierung an die Regierungen und Völker aller Länder mit dem Vorschlag wendet, sofort offene Verhandlungen über den Friedensschluß aufzunehmen, gibt sie ihrerseits ihrer Bereitschaft Ausdruck, diese Verhandlungen sowohl schriftlich, telegrafisch als auch durch mündliche Unterhandlungen mit Vertretern der verschiedenen Länder oder auf Konferenzen dieser Vertreter zu führen. Um solche Unterhandlungen zu erleichtern, entsendet die Regierung ihren bevollmächtigten Vertretern in die neutralen Länder.
Die Regierung schlägt allen Regierungen und Völkern aller kriegführenden Länder vor, sofort eine Waffenstillstand abzuschließen, wobei sie es ihrerseits für wünschenswert hält, daß dieser Waffenstillstand auf mindestens drei Monate abgeschlossen werde, das heißt auf eine Frist, die völlig ausreicht sowohl für den Abschluß von Friedensverhandlungen ‚ an denen Vertreter ausnahmslos aller Völkerschaften oder Nationen teilnehmen sollen, die in den Krieg hineingezogen oder hineingezwungen wurden, als auch für die Einberufung bevollmächtigter Versammlungen der Volksvertreter aller Länder zur endgültigen Bestätigung der Friedensbedingungen.
Die Provisorische Arbeiter- und Bauernregierung Rußlands, die dieses Friedensangebot an die Regierungen und an die Völker aller kriegführenden Länder richtet, wendet sich gleichzeitig insbesondere an die klassenbewußten Arbeiter der drei fortgeschrittensten Nationen der Menschheit und der größten am gegenwärtigen Kriege beteiligten Staaten: Englands, Frankreichs und Deutschlands. Die Arbeiter dieser Länder haben der Sache des Fortschritts und des Sozialismus die größten Dienste erwiesen – in den großen Vorbildern der Chartistenbewegung in England, in der Reihe der Revolutionen von weltgeschichtlicher Bedeutung, die das französische Proletariat vollbracht hat, und schließlich im heroischen Kampf gegen das Sozialistengesetz sowie in der für die Arbeiter der ganzen Welt mustergültigen, langwierigen und beharrlichen disziplinierten Arbeit an der Schaffung von proletarischen Massenorganisationen in Deutschland. Alle diese Vorbilder proletarischen Heldentums und geschichtlicher Schöpferkraft sind für uns eine Bürgschaft, daß die Arbeiter der genannten Länder die ihnen jetzt gestellte Aufgabe der Befreiung der Menschheit von den Schrecken des Krieges und seinen Folgen begreifen werden, daß diese Arbeiter uns durch ihre allseitige, entschiedene ‚ rückhaltlos energische Tätigkeit helfen werden, die Sache des Friedens und zugleich damit die Sache der Befreiung der werktätigen und ausgebeuteten Volksmassen von jeder Sklaverei und jeder Ausbeutung erfolgreich zu Ende zu führen‘“
Nachdem der Beifallssturm verrauscht war, fuhr Lenin fort:
„Wir schlagen dem Kongreß die Ratifikation unserer Erklärung vor. Wir wenden uns sowohl an die Regierungen als auch an die Völker der kriegführenden Staaten, weil eine nur an die Völker gerichtete Erklärung den Abschluß des Friedens hinauszuzögern geeignet sein könnte. Die im Verlauf des Waffenstillstandes ausgearbeiteten Friedensbedingungen werden durch die Konstituierende Versammlung ratifiziert werden. Mit der Festsetzung eines dreimonatigen Waffenstillstandes wünschen wir den Völkern nach dieser blutigen Menschenvernichtung eine so lange wie möglich währende Ruhepause zu geben und genügend Zeit, ihre Vertreter zu wählen. Der Friedensvorschlag wird auf den Widerstand der imperialistischen Regierungen stoßen. Wir machen uns darüber keine Illusionen; Aber wir hoffen auf den baldigen Ausbruch der Revolution in allen kriegführenden Ländern. Das ist der Grund, weswegen wir uns an die Arbeiter Frankreichs, Englands und Deutschlands im besonderen wenden ...
Die Revolution vom 6. und 7. November hat die Ära der sozialistischen Revolution eröffnet ... Die Arbeiterbewegung wird, im Namen des Friedens und des Sozialismus, den Sieg davontragen und ihre Mission vollenden ...“
Damit endete er.
In seiner Art zu sprechen lag etwas Ruhiges und Machtvolles, das die Seelen der Männer aufwühlte. Man begriff, warum die Menschen felsenfest glaubten, wenn Lenin sprach.
Durch Handaufheben wurde schnell beschlossen, daß nur Vertreter der politischen Parteien zur Resolution sprechen sollten und das die Redezeit nicht länger als fünfzehn Minuten dauern dürfe. Als erstes sprach Karelin für die linken Sozialrevolutionäre:
„Unsere Partei hatte keine Gelegenheit, Abänderungen zum Text des Aufrufes vorzuschlagen; es ist ein privates Dokument der Bolschewiki. Wir werden jedoch dafür stimmen, weil wir mit dem Geist einverstanden sind ...“
Für die Sozialdemokraten-Internationalisten sprach Kmarow, lang aufgeschossen, mit hängenden Schultern und kurzsichtig – ausersehen, die traurige Rolle des Clowns in der Opposition zu spielen. Nur eine Regierung, gebildet aus allen sozialistischen Parteien, sagte er, wäre autorisiert, eine derart wichtige Aktion zu unternehmen. Wenn eine sozialistische Koalition gebildet würde, so würde seine Partei das gesamte Programm unterstützen; wenn nicht, dann nur Teile davon. Was die Proklamation anbelange, so seien die Internationalisten mit ihren Hauptpunkten durchaus einverstanden ...
Ein Redner folgte dem anderen, unter steigender Begeisterung; für die ukrainische Sozialdemokratie – Zustimmung; für die litauische Sozialdemokratie – Zustimmung; für die Volkssozialisten – Zustimmung; für die polnische Sozialdemokratie – Zustimmung; für die polnischen Sozialisten – Zustimmung, obwohl sie eine sozialistische Koalition vorziehen würden; für die lettische Sozialdemokratie – Zustimmung ... Etwas war in allen diesen Männern entzündet worden. Einer sprach von der „kommenden Weltrevolution, deren Avantgarde wir sind“; ein anderer von dem „neuen Zeitalter der Brüderlichkeit, wo alle Völker eine einzige große Familie sein werden ...“
Jemand verlangte das Wort: „Ich sehe hier einen Widerspruch. Erst sprechen sie von einem Frieden ohne Annexionen und Kriegsentschädigungen, und dann erklären sie sich bereit, alle Friedensbedingungen zu prüfen. Prüfen heißt annehmen ...“
Sofort erhob sich Lenin:
„Wir wünschen einen gerechten Frieden. Aber wir fürchten nicht den revolutionären Krieg. Es ist möglich, daß die imperialistischen Regierungen unsern Appell unbeantwortet lassen. Wir werden ihnen kein Ultimatum stellen, das abzulehnen ihnen leichtfallen sollte. Wenn das deutsche Proletariat hören wird, daß wir bereit sind, alle Friedensbedingungen zu prüfen, dann wird das vielleicht der letzte Tropfen sein, der den Krug zum Überlaufen bringt, und in Deutschland wird die Revolution ausbrechen.
Wir sind bereit, alle Friedensbedingungen zu prüfen. Das heißt nicht, daß wir sie unbedingt annehmen werden. Für einige unserer Bedingungen werden wir bis zum Ende kämpfen; aber für andere wird es vielleicht unmöglich sein, den Krieg fortzusetzen. Vor allem aber: Wir wünschen, den Krieg zu beenden...“
Um zehn Uhr fünfunddreißig Minuten forderte Kamenew alle, die mit der Proklamation einverstanden waren, auf, ihre Karten in die Höhe zu heben. Ein Delegierter wagte es, dagegen zu stimmen; aber der plötzliche Ausbruch des Zornes um ihn herum ließ ihn die Hand schnell wieder herunternehmen.
Und plötzlich, einem gemeinsamen Impuls folgend, hatten wir uns erhoben und sangen die Internationale. Ein alter graubärtiger Soldat schluchzte wie ein Kind. Alexandra Kollontai unterdrückte rasch die Tränen. Mächtig brauste der Gesang durch den Saal, durch Fenster und Türen zum stillen Nachthimmel empor. „Der Krieg ist zu Ende, der Krieg ist zu Ende“, jubelte leuchtenden Antlitzes ein junger Arbeiter neben mir. Der Gesang war vorüber, und wir standen da in einer Art linkischen Schweigens. Plötzlich ertönte im Hintergrund des Saales der Ruf: „Genossen! Gedenken wir derer, die für die Freiheit gestorben sind!“ Und so sangen wir den Trauermarsch, jene echt russische, schwermütige und doch so siegesgewisse Weise. Die Internationale ist schließlich trotz allem eine ausländische Melodie. Der Trauermarsch aber kam offenbar aus der Seele jener dunklen Massen, deren Vertreter hier im Saale saßen, in deren Vision ein neues Rußland, ja vielleicht mehr als das entstand.
„Unsterbliche Opfer, ihr sanket dahin; Einst aber, wenn Freiheit den Menschen erstand, |
Das war es, wofür sie dort lagen, in ihrem kalten Massengrab auf dem Marsfeld, die Märtyrer der Märzrevolution. Das war es, wofür Tausende und Zehntausende in finstern Kerkern, in der Verbannung, in den sibirischen Bergwerken starben. Es ist nicht gekommen, wie sie es sich vielleicht gedacht hatten noch wie es sich die Intelligenz gewünscht haben mag. Aber es ist gekommen, rauh und mächtig, aller Formeln spottend, jede Art Empfindsamkeit mißachtend: wirklich ... Lenin verlas das Dekret über Grund und Boden:
„1. Das Eigentum der Grundbesitzer an Grund und Boden wird unverzüglich ohne jede Entschädigung aufgehoben.
2. Die Güter der Gutsbesitzer sowie alle Kron-, Kloster- und Kirchenländereien mit ihrem gesamten lebenden und toten Inventar, ihren Wirtschaftsgebäuden und allem Zubehör gehen bis zur Konstituierenden Versammlung in die Verfügungsgewalt der Bezirksbodenkomitees und der Kreissowjets der Bauerndeputierten über
3. Jegliche Beschädigung des beschlagnahmten Besitzes, der von nun an dem ganzen Volke gehört, wird als schweres Verbrechen erachtet, das vom Revolutionsgericht zu ahnden ist. Die Kreissowjets der Bauerndeputierten ergreifen alle erforderlichen Maßnahmen zur Wahrung der strengsten Ordnung bei der Beschlagnahme der Güter der Gutsbesitzer, zur Feststellung, welche Grundstücke und Grundstücke welchen Umfangs der Beschlagnahme unterliegen, zur Aufstellung eines genauen Verzeichnisses des gesamten der Beschlagnahme unterliegenden Besitzes und zur strengsten revolutionären Bewachung der ganzen ins Eigentum des Volkes übergehenden Wirtschaft mit allen Baulichkeiten, Geräten, Vieh, Lebensmittelvorräten und so weiter.
4. Als Richtschnur für die Durchführung der großen Agrarumgestaltungen muß überall bis zur endgültigen Entscheidung dieser Frage durch die Konstituierende Versammlung der bäuerliche Wählerauftrag [3*] dienen, der unter Zugrundelegung von 242 Aufträgen der örtlichen bäuerlichen Wähler von der Redaktion der Iswestija Wserossiskowo Sowjeta Krestjanskich Deputatow zusammengestellt und in der Nr.88 dieser Iswestija (Petrograd, Nr.88 vom 1.September [19.August]1917) veröffentlicht wurde.
5. Der Boden der einfachen Bauern und einfachen Kosaken unterliegt nicht der Beschlagnahme.“
„Das ist nicht“, erklärte Lenin, „das Projekt des ehemaligen Ministers Tschernow, der sich auf Reformen von oben beschränkte. Die Fragen der Aufteilung des Landes werden vielmehr von unten, an Ort und Stelle entschieden werden. Die Menge von Land, die jeder Bauer erhält, wird entsprechend den örtlichen Bedingungen verschieden sein ...
Unter der Provisorischen Regierung weigerten sich die Großgrundbesitzer entschieden, den Anordnungen der Bodenkomitees Folge zu leisten, jener Bodenkomitees, die Lwow geplant hatte, die unter Schingarjow ins Leben getreten waren und die von Kerenski dirigiert wurden!“
Die Debatten hatten noch nicht begonnen, als sich ein Mann nach vorn drängte und auf die Bühne kletterte. Es war Pjanych, ein Mitglied des Exekutivkomitees der Bauernsowjets, und er schäumte vor Wut.
„Das Exekutivkomitee des Gesamtrussischen Sowjets der Bauerndeputierten protestiert gegen die Verhaftung unserer Genossen, der Minister Salaskin und Maslow! Wir verlangen ihre sofortige Freilassung! Sie sind zur Zeit in der Peter-Pauls-Festung. Wir müssen eine unverzügliche Aktion unternehmen! Keine Sekunde ist zu verlieren!“
Ihm folgte ein anderer, ein Soldat mit struppigem Bart und flammenden Augen.
„Ihr sitzt hier und redet von der Übergabe des Landes an die Bauern, während ihr gleichzeitig einen Akt der Tyrannei und Usurpation gegen die gewählten Vertreter der Bauern verübt!“ Mit erhobener Faust: „Ich erkläre euch, wenn ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wird, so werden wir einen Aufstand machen!“
Trotzki erhob sich. Ruhig, sarkastisch, im Bewußtsein seiner Macht, von Beifallssturm begrüßt.
„Das Revolutionäre Militärkomitee hat gestern beschlossen, die sozialrevolutionären und menschewistischen Minister Maslow, Salaskin, Gwosdew und Maljantowitsch freizulassen. Daß sie noch immer in der Peter-Pauls-Festung sind, hat seinen Grund darin, daß wir zuviel zu tun haben ... Sie werden jedoch in ihren Wohnungen bleiben müssen und überwacht werden, bis die Untersuchung über ihre Teilnahme an den verräterischen Handlungen Kerenskis während der Kornilow-Affäre abgeschlossen ist!“
„Niemals“, schrie Pjanych, „in keiner Revolution hatte man derartiges gesehen!“
„Sie irren“, antwortete Trotzki. „Wir haben solche Dinge sogar in dieser Revolution gesehen. Hunderte unserer Genossen sind in den Julitagen verhaftet worden ... Als unsere Genossin Kollontai auf Anordnung des Arztes aus dem Gefängnis entlassen wurde, stellte Awxentjew vor ihre Tür zwei ehemalige Agenten der zaristischen Geheimpolizei!“ Die Bauern traten ab, von höhnischen Zurufen begleitet.
Der Vertreter der linken Sozialrevolutionäre sprach über das Landdekret. Obgleich im Prinzip einverstanden, könne seine Partei ihre Zustimmung nicht geben, ohne vorher die Frage diskutiert zu haben. Die Bauernsowjets müßten gehört werden.
Auch die Menschewiki – Internationalisten bestanden darauf, erst eine Parteibesprechung abzuhalten.
Dann sprach der Führer der Maximalisten, des anarchistischen Flügels der Bauern: „Wir können einer politischen Partei, die ein solches Gesetz, am ersten Tag und ohne langes Schwätzen durchführt, die Anerkennung nicht versagen!“
Ein typisch russischer Bauer war auf der Tribüne, langhaarig, mit Stiefeln, im Schaffellmantel: „Ich habe nichts gegen euch, Genossen und Bürger“, sagte er. „Überall treiben sich Kadetten herum. Ihr habt unsere sozialistischen Bauern verhaftet. Warum verhaftet man sie nicht auch?“
Dies war das Signal zu einer erhitzten Debatte unter den Bauern. Es war genau wie bei den Auseinandersetzungen zwischen den Soldaten am Abend vorher. Die wirklichen Landproletarier gaben hier ihrem Fühlen Ausdruck.
„Diese Mitglieder unseres Exekutivkomitees, die Awxentjew und all die anderen, die wir als Beschützer der Bauern angesehen haben – was sind die anders als Kadetten! Verhaften! Verhaften!“
Ein anderer: „Was sind diese Pjanychs, diese Awxentjews? Das sind gar keine Bauern! Sie wedeln nur mit dem Schwanz!“
Die linken Sozialrevolutionäre schlugen vor, die Verhandlungen auf eine halbe Stunde zu unterbrechen. Als die Delegierten hinausströmten, erhob sich Lenin:
„Wir dürfen keine Zeit verlieren, Genossen! Nachrichten, von höchster Wichtigkeit für Rußland, müssen morgen früh noch in die Presse. Keine Verzögerung!“
Und die hitzigen Debatten übertönend, hörte man die Stimme eines Vertreters des Revolutionären Militärkomitees: „Sofort fünfzehn Agitatoren nach Zimmer 17 für die Front!“
Es dauerte fast zweieinhalb Stunden, bis die Delegierten wieder nach und nach in den Saal zurückkehrten, das Präsidium seine Plätze einnahm und die Sitzung mit der Verlesung der Telegramme fortgesetzt wurde, in denen ein Regiment nach dem anderen erklärte, zum Revolutionären Militärkomitee zu stehen.
Ein Delegierter der russischen Truppen an der mazedonischen Front schilderte in bitteren Worten die Lage der Soldaten. „Wir leiden mehr unter der Freundschaft unserer Verbündeten als durch den Feind.“ In Hast angekommene Vertreter der Zehnten und Zwölften Armee berichteten:“ Wir stehen zu euch mit unserer ganzen Kraft.“ Ein Bauernsoldat protestierte gegen die Freilassung der Sozialverräter Maslow und Salaskin. Die Verhaftung des gesamten Exekutivkomitees der Bauernsowjets wurde verlangt. Das war die wirkliche Sprache der Revolution. Ein delegierter der russischen Armee in Persien erklärte, daß er beauftragt sei, die Übernahme der ganzen Macht durch die Sowjets zu verlangen. Ein ukrainischer Offizier sprach in seiner Muttersprache: „In dieser Krise kann es keinen Nationalismus geben. Es lebe die Diktatur des Proletariats in allen Ländern.“ Nie wieder, davon war ich angesichts dieser machtvollen Flut himmelanstürmender und glühender Gedanken überzeugt, würde Rußland in seine alte Stummheit zurücksinken.
Kamenew teilte mit, daß die Gegner der Bolschewiki überall Unruhen zu stiften bemüht seien. Er verlas einen Appell des Kongresses an alle Sowjets Rußlands:
„Der Gesamtrussische Sowjetkongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten mit Einschluß einiger Bauerndeputierten richtet an alle lokalen Sowjets die Aufforderung zur sofortigen Durchführung energischer Maßnahmen im Interesse der Verhinderung aller konterrevolutionären und antijüdischen Aktionen und aller Arten Pogrome.
Die Ehre der Arbeiter-, Bauern- und Soldatenrevolution erheischt, daß keinerlei Pogrome geduldet werden.
Die Petrograder Rote Garde, die revolutionäre Garnison und die Matrosen sorgen für absolute Aufrechterhaltung der Ordnung in der Hauptstadt.
Arbeiter, Soldaten und Bauern! Folgt überall dem Beispiel der Arbeiter und Soldaten Petrograds.
Genossen, Soldaten und Kosaken! Auf uns entfällt die Pflicht der Sicherung einer wirklichen revolutionären Ordnung.
Das revolutionäre Rußland und die ganze Welt blicken auf uns ...“
Punkt zwei erfolgte die Abstimmung über das Landdekret. Nur eine Stimme war dagegen ... Die Bauerndelegierten waren außer sich vor Freude. So stürmten die Bolschewiki vorwärts, unwiderstehlich, ohne Zögern, alle Oppositionen niederwerfend; die einzigen in Rußland, die ein klar umrissenes Aktionsprogramm besaßen, während die anderen Parteien acht Monate nur geredet hatten.
Jetzt erhob sich ein Soldat, mager, zerlumpt, leidenschaftlich gegen eine Klausel in den Instruktionen [5] protestierend, die die Deserteure von der Landverteilung in den Dörfern ausschloß. Anfangs versucht man ihn niederzuschreien, aber seine einfache, zu Herzen dringende Sprache verschaffte ihm schließlich Gehör.
„Gegen seinen Willen in die Metzelei der Schützengräben gezwungen“, rief er, „die ihr selber in dem Friedensdekret als schrecklich bezeichnet habt, grüßte er die Revolution mit der Hoffnung auf Friede und Freiheit. Friede? Die Kerenskiregierung zwang ihn erneut, nach Galizien zu gehen, um zu morden und gemordet zu werden; auf seine Wünsche nach Frieden hatte Kerenski nur ein Lachen ... Freiheit? Unter Kerenski wurden seine Komitees unterdrückt, seine Zeitungen verboten, die Redner seiner Partei eingekerkert ... Zu Hause in seinem Dorf führten die Großgrundbesitzer den Kampf gegen seine Bodenkomitees und warfen seine Genossen ins Gefängnis. In Petrograd sabotierte die Bourgeoisie, im Bündnis mit den Deutschen, die Versorgung der Armee mit Lebensmitteln und Munition...Er hatte keine Kleider, keine Stiefel...Wer zwang ihn zu desertieren? Die Kerenskiregierung, die ihr gestürzt habt!“
Am Ende seiner Rede erntete er Beifall.
Doch ein anderer Soldat erhob sich:
„Die Kerenskiregierung ist kein Schirm, hinter dem sich die Deserteure verstecken können! Die Deserteure sind Schufte, die nach Hause gelaufen sind und ihre Kameraden in den Schützengräben im Stich gelassen haben! Jeder Deserteur ist ein Verräter, der Strafe verdient ...“
Heftige Bewegung. Rufe: „Dowolno! Tiesche!„ Kamenew schlug vor, die Beschlußfassung über die Frage der Regierung zu überlassen. [4*]
Um halb drei Uhr verlas Kamenew unter gespannter Aufmerksamkeit des ganzen Kongresses das Dekret über die Konstituierung der Regierung.
„Zur Verwaltung des Landes wird bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung eine provisorische Arbeiter-und-Bauern-Regierung gebildet, die den Namen Rat der Volkskommissare führt. [5*] Die Leitung der einzelnen Zweige des staatlichen Lebens wird Kommissionen übertragen, deren Zusammensetzung die Durchführung des vom Kongreß verkündeten Programms ermöglichen muß, in engster Zusammenarbeit mit den Massenorganisationen der Arbeiter, Arbeiterinnen, Matrosen, Soldaten, Bauern und Angestellten. Die Regierungsgewalt wird von dem Kollegium der Vorsitzenden dieser Kommissionen ausgeübt, das heißt von dem Rat der Volkskommissare.
Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare sowie das Recht der Absetzung der Volkskommissare steht dem Gesamtrussischen Kongreß der Sowjets der Arbeiter-, Bauern- und Soldatendeputierten und seinem Zentralexekutivkomitee zu.“
Noch immer tiefe Stille. Und dann, als Kamenew die Liste der Kommissare verlas, stürmischer Jubel nach jedem Namen, vor allem nach Lenins und Trotzkis.
Überall Bajonette, an den Eingängen des Saales und zwischen den Delegierten. Das Revolutionäre Militärkomitee gab jedem eine Waffe, der sie zu tragen vermochte. Die Bolschewiki rüsteten zur Entscheidungsschlacht gegen Kerenski, dessen Trompetensignale der Südwestwind herübertrug. Niemand dachte daran, nach Hause zu gehen. Im Gegenteil; Hinderte Neuankommende fluteten herein, den riesigen Saal bis zum letzten Platz füllend, entschlossen blickende Arbeiter und Soldaten, die ausharrten, stundenlang, unermüdlich und eifrig. Die Luft war dick von Zigarettenqualm und menschlichen Ausdünstungen.
Awilow, von der Redaktion der Nowaja Shisn, sprach im Namen der Sozialdemokraten-Internationalisten und der im Kongreß verbliebenen Menschewiki – Internationalisten. Mit seinem jungen Intellektuellengesicht und dem eleganten Gehrock paßte er nicht zu seiner Umgebung.
„Wir müssen uns unbedingt darüber klarwerden, wohin die Reise geht. Die Leichtigkeit, mit der die Koalitionsregierung gestürzt wurde, erklärt sich nicht aus der Kraft der linken Demokratie, sondern aus der bewiesenen Unfähigkeit jener Regierung, dem Volke Brot und Frieden zu geben. Auch der linke Flügel wird sich nicht an der Macht halten können, wenn er diese Fragen nicht zu lösen vermag.
Werdet ihr dem Volk Brot geben können? Getreide ist knapp. Die Mehrheit der Bauern wird nicht mit euch sein; denn ihr könntet ihnen nicht die Maschinen geben, die sie brauchen. Brennmaterial und sonstige Rohstoffe herbeizuschaffen ist nahezu unmöglich.
Was den Frieden anbetrifft, so ist die Lösung dieser Frage sogar noch schwieriger als die der anderen. Die Alliierten haben es abgelehnt, mit Skobelew auch nur ein Wort zu reden. Sie werde niemals eine von euch vorgeschlagene Friedenskonferenz akzeptieren. Man wird euch weder in Paris und London noch in Berlin anerkennen.
Ihr könnt auch nicht auf die wirksame Unterstützung des Proletariats der alliierten Länder rechnen, denn in den meisten dieser Länder sind die Arbeiter weit entfernt von jeder Art revolutionärem Kampf. Denkt doch nur daran, daß die Demokratie der alliierten Länder nicht einmal imstande war, den Zusammentritt der Stockholmer Konferenz zu ermöglichen. Und die Deutschen? Ich habe soeben mit dem Genossen Goldenberg gesprochen, einem unserer Delegierten auf der Stockholmer Konferenz. Dem ist von Vertretern der äußersten Linken der deutschen sozialdemokratischen Bewegung gesagt worden, daß, solange der krieg währe, in Deutschland eine Revolution unmöglich sei.“
Ein wahrer Hagel von Zwischenrufen setzte hier ein, aber Awilow redete unbeirrt weiter.
„Das unabwendbare Resultat der Isolierung Rußlands wird sein: entweder der Zusammenbruch der russischen Armee unter den Schlägen der Deutschen und das Zustandekommen eines Friedens zwischen der österreichisch-deutschen und der französisch-britischen Koalition auf Kosten Rußlands oder ein Sonderfrieden mit Deutschland.
Wie ich eben höre, bereiten die diplomatischen Vertreter der Alliierten ihre Abreise vor und in allen Städten Rußlands ist die Bildung von Komitees zur Rettung des Vaterlandes im Gange.
Es gibt keine Partei, die allein dieser enormen Schwierigkeiten Herr werden könnte. Die Revolution kann nur von einer sozialistischen Koalitionsregierung zu Ende geführt werden.“
Er verlas die Resolution der zwei Parteien:
„In der Erwägung, daß zur Sicherung der Errungenschaften der Revolution sofort eine Regierung gebildet werden muß, die auf der in den Sowjets der Arbeiter-, Soldaten- und Bauerndeputierten organisierten revolutionäre Demokratie basiert; in der weiteren Erwägung, daß die Aufgabe dieser Regierung die schnellstmögliche Verwirklichung des Friedens ist, die Übergabe des Landes an die Agrarkomitees, die Organisierung der Kontrolle über die industrielle Produktion sowie die Einberufung der Konstituierenden Versammlung an dem festgesetzten Datum – ernennt der Kongreß ein Exekutivkomitee, dessen Aufgabe es ist, eine solche Regierung nach Verständigung mit den Gruppen der Demokratie zu bilden, die an dem Kongreß teilnehmen.“
Awilows kühle und konziliante Art zu argumentieren hatte die Versammlung trotz des Überschwanges ihrer revolutionären Begeisterung nicht unberührt gelassen. Gegen den Schluß seiner Rede waren die Zwischenrufe allmählich verstummt, und als er schloß hatte er sogar einigen Beifall.
Nach ihm sprach Karelin, gleichfalls jung, furchtlos, von unzweifelhafter Aufrichtigkeit, im Namen der linken Sozialrevolutionäre, der Partei Maria Spiridonowas, die fast als einzige Partei den Bolschewiki gefolgt war und die revolutionären Bauern repräsentierte. [6]
„Unsere Partei hat den Eintritt in den Rat der Volkskommissare abgelehnt, weil wir nicht wünschen, uns von dem Teil der revolutionären Armee zu trennen, der den Kongreß verlassen hat. Es wäre uns sonst unmöglich, unsere Vermittlertätigkeit zwischen den Bolschewiki und den anderen demokratischen Parteien auszuüben, die uns im gegenwärtigen Moment unsere wichtigste Aufgabe zu sein scheint. Wir können keine Regierung unterstützen, die nicht eine Regierung der sozialistischen Koalition ist.
Weiter protestieren wir gegen die von den Bolschewiki geübte Despotie. Man hat unsere Kommissare von ihren Posten verjagt, und gestern ist unser einziges Organ, Snamja Truda (Das Banner der Arbeit), verboten worden.
Die Stadtduma ist im begriff, ein machtvolles Komitee zur Rettung des Vaterlandes zu bilden, dessen Aufgabe der Kampf gegen euch sein wird. Schon jetzt seid ihr isoliert, und nicht eine der anderen Parteien wird euch zu Hilfe kommen.“
Und dann stand Trotzki auf der Tribüne, selbstsicher, faszinierend, das ihm eigene sarkastische Lächeln um den Mund. Er sprach mit weithin schallender Stimme, die Masse zu sich emporreißend:
„Die Hinweise auf die Gefahren der Isolierung unserer Partei sind nicht neu. Schon am Vorabend des Aufstandes hat man die unvermeidbare Niederlage unserer Partei vorausgesagt. Alle waren sie gegen uns. Im Revolutionären Militärkomitee stand nur ein kleiner Teil der linken Sozialrevolutionäre zu uns. Wie konnten wir es da fertigbringen, die Regierung fast ohne Blutvergießen zu stürzen? Die Tatsache unseres Sieges ist der sicherste Beweis dafür, daß wir nicht isoliert waren. Isoliert war vielmehr die Provisorische Regierung, waren die demokratischen Parteien, die gegen uns marschierten. Und die sind es noch und werden für immer losgelöst sein vom Proletariat!
Sie reden von der Notwendigkeit einer Koalition. Die einzig mögliche Koalition, das ist die Koalition der Arbeiter, Soldaten und armen Bauern. Und die Ehre unserer Partei ist, diese Koalition verwirklicht zu haben. Was für eine Koalition aber meinte Awilow? Eine Koalition mit jenen, die die Regierung des Volksverrates unterstützen? Nicht immer ist die Koalition gleichbedeutend mit Kräftesteigerung. Hätten wir vielleicht den Aufstand organisieren können mit Dan und Awxentjew in unsern Reihen?“ Lachende Zustimmung.
„Awxentjew gab euch wenig Brot. Wird eine Koalition mit den Sozialpatrioten mehr liefern? Zwischen den Bauern und Awxentjew, der die Verhaftung der Bodenkomitees anordnete, haben wir die Bauern gewählt! Unsere Revolution wird die klassische Revolution der Geschichte bleiben ...
Sie erheben gegen uns den Vorwurf, die Verständigung mit den anderen demokratischen Parteien zurückgewiesen zu haben. Aber liegt die Schuld wirklich bei uns oder müssen wir, wie Karelin es tat, alles auf ein Mißverständnis zurückführen? Ach nein, Genossen! Wenn eine Partei noch im schwersten revolutionären Kampfe, geblendet vom Pulverdampf, daherkommt und erklärt: ‚Da ist die politische Macht, nehmt sie‘, und die, denen sie angeboten wird, gehen zum Feinde über, so ist das kein Mißverständnis mehr, sondern es ist die offene brutale Kriegserklärung. Nicht wir waren es, die den Krieg erklärt haben.
Awilow glaubt uns schrecken zu können, wenn er das Scheitern unserer Friedensbemühungen voraussagt für den Fall, daß wir weiter isoliert bleiben. Ich muß hier wiederholen, daß ich nicht einzusehen vermag, inwieweit eine Koalition mit Skobelew oder selbst mit Tereschtschenko uns irgendwie dem Frieden näherbringen könnte. Awilow droht uns mit einem Frieden auf Rußlands Kosten. Darauf habe ich zu antworten, daß wir wohl wissen, daß ‚ wenn auch weiterhin in Europa die imperialistische Bourgeoisie herrschen wird, das revolutionäre Rußland sich allein nicht zu halten vermag.
Es gibt nur die Alternative: Entweder die russische Revolution wird eine revolutionäre Bewegung in Europa auslösen, oder die reaktionären Mächte Europas werden das revolutionäre Rußland zerstören!“
Und die Massen jubelten ihm zu, zu kühnem Wagen entflammt bei dem Gedanken, daß sie berufen sein sollten, die Vorkämpfer der Menschheit zu sein. Und von dem Augenblick an lebte in den aufständischen Massen, in all ihren Aktionen, etwas Bewußtes und Entschlossenes, was sie nie wieder verließ.
Andererseits begann aber auch der Kampf bestimmte Formen anzunehmen. Kamenew gab einem Delegierten vom Eisenbahnerverband das Wort, einem stämmigen Menschen mit dem Ausdruck unversöhnlicher Feindschaft in seinen grobknochigen Zügen. Was er sagte, wirkte wie eine Bombe:
„Ich spreche hier im Namen der stärksten Organisation Rußlands und habe den Auftrag, euch die Beschlüsse des Wikshel [7] zur Frage der Konstituierung der Macht bekanntzugeben. Wir lehnen es ab, die Bolschewiki zu unterstützen, solange sie fortfahren, sich von der gesamten Demokratie Rußlands zu isolieren!“ Ungeheurer Tumult im ganzen Saal.
„1905 und in den Kornilowtagen waren die Eisenbahner die energischsten Verteidiger der Revolution. Aber ihr habt uns zu eurem Kongreß nicht eingeladen.“ Zurufe: „Das alte Zentralexekutivkomitee war es, das euch nicht eingeladen hat.“
Der Redner schenkte den Zurufen keine Beachtung.
„Wir erkennen die Rechtmäßigkeit dieses Kongresses nicht an. Seit dem Ausscheiden der Menschewiki und der Sozialrevolutionäre bestehen die Voraussetzungen für die Legalität der hier gefaßten Beschlüsse nicht mehr. Der Verband unterstützt das alte Zentralexekutivkomitee und erklärt, daß der Kongreß kein Recht hat, ein neues Komitee zu wählen.
Die Staatsmacht muß eine sozialistische und revolutionäre Macht sein, verantwortlich den autorisierten Organen der gesamten revolutionären Demokratie. Bis zur Bildung einer solchen Macht verbietet der Verband der Eisenbahner, der den Transport konterrevolutionärer Truppen nach Petrograd verweigert, gleichzeitig die Ausführung jeglicher Befehle, die, von wem auch immer, ohne Zustimmung des Wikshel erlassen werden.
Der Wikshel nimmt die Verwaltung der gesamten Eisenbahnen Rußlands in eigene Hände.“
Ein wilder Entrüstungssturm setzte ein, in dem die Schlußbemerkungen des Redners fast gänzlich untergingen. Aber die Rede war ein schwerer Schlag. Das zeigten die besorgten Mienen im Präsidium. Kamenew antwortete kurz, daß die Rechtmäßigkeit des Kongresses nicht bezweifelt werden könne, da sogar nach Ausscheiden der Menschewiki und Sozialrevolutionäre die Zahl der anwesenden Delegierten die vom alten Zentralexekutivkomitee vorgesehene Mindestzahl überschreite.
Darauf erfolgte die Abstimmung über die Konstituierung der Regierung, die mit ungeheurer Mehrheit den Rat der Volkskommissare bestätigte.
Die Wahl des neuen Zentralexekutivkomitees, des neuen russischen Parlaments, nahm kaum fünfzehn Minuten in Anspruch. Trotzki teilte seine Zusammensetzung mit: Hundert Mitglieder, davon siebzig Bolschewiki. Die Sitze der Bauern und der ausgeschiedenen Parteien sollten diesen reserviert bleiben. „Der Regierung sind alle Parteien und Gruppen angenehm, die bereit sind, unser Programm zu akzeptieren.“ Mit diesen Worten schloß Trotzki.
Der Zweite Gesamtrussische Sowjetkongreß wurde geschlossen. Die Delegierten eilten nach Hause, in alle Windrichtungen Rußlands, um zu berichten, was sich Gewaltiges abgespielt hatte.
Es war fast sieben Uhr, als wir die Schaffner und Wagenführer vom verbande der Straßenbahner weckten, von denen während der ganzen Dauer des Kongresses immer einige mit ihren Wagen am Smolny warteten, um die Delegierten in ihre Wohnungen zu bringen. Die Stimmung in dem überfüllten Wagen schien mir etwas weniger sorglos und heiter als am Abend vorher. Viele sahen besorgt aus, als sagten sie sich: „Nun sind wir die Herren. Wie können wir durchführen, was wir uns vorgenommen haben?“
Vor unserem Hause wurden wir in der Dunkelheit von einer Patrouille bewaffneter Bürger angehalten und sorgfältig durchsucht. Es war die Proklamation der Duma, die zu wirken begann.
Unsere Wirtin hörte uns kommen und stolperte heraus, in einen rosaseidenen Schal gehüllt.
„Das Hauskomitee ist noch einmal hier gewesen und läßt Ihnen sagen, daß auch Sie ihrer Wachpflicht nachkommen müssen, wie die übrigen Männer im Hause.“ „Warum wachen?“ „Um das Haus und die Frauen und Kinder zu schützen.“
„Gegen wen?“
„Gegen Räuber und Mörder.“
„Wenn nun aber ein Kommissar vom Revolutionären Militärkomitee kommt, um nach Waffen zu suchen?“
„Oh, alle werden behaupten, daß sie vom Revolutionären Militärkomitee kommen. Und dann, was ist eigentlich der Unterschied?“
Ich versicherte feierlich, daß der Konsul allen amerikanischen Bürgern das Waffentragen verboten habe, im besonderen in der Nachbarschaft der russischen Intelligenz.
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A. Siehe Einführende Bemerkungen und Erklärungen – J.R.
1. Die im Buch gemachten Angaben über die Entsendung von provisorischen Kommissaren in die Ministerien sind nicht genau: in das Ministerium füßr Auswärtige Angelegenheiten wurde nur Urizki entsandt. Die Leitung des Flottenministeriums das als Vertreter aller Flotten auf dem Gesamtrussischen Sowjetkongreß gewählte Revolutionäre Komitee der Kriegsmarine.
2. Den Aufruf unterzeichnete der Gesamtrussische Sowjetkongreß der Arbeiter- und Soldatendeputierten.
3. Neratow, stellvertretender Außenminister der Provisorischen Regierung, ehemaliger zaristischer Diplomat.
4. 9. November (neuen Stils).
5. Gemeint sind die Instruktionen, die auf dem Kongreß gleichzeitig mit dem Landdekret angenommen wurden.
6. Den linken Sozialrevolutionären folgte nur ein Teil der revolutionären Bauern.
7. Wikshel = Gesamtrussisches Exekutivkomitee des Eisenbahnerverbandes.
Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008