Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




IX. Der erste Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands


Die große Rückwirkung, die der Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte auf den weiteren Verlauf der Revolution gehabt hat, und der Einblick, den sein bewegter Verlauf in das Gewoge der Ideenkämpfe in der Revolution gewährt, lassen es für angezeigt erscheinen, bei ihm etwas länger zu verweilen.

Etwas über 500 Vertreter von Arbeiter- und Soldatenräten hatten sich zur Tagung des ersten Parlaments der deutschen Revolution, wie der Kongreß genannt worden war, am 16. Dezember 1918 in dem für ihn belegten preußischen Abgeordnetenhaus zu Berlin eingefunden. Doch wurden schließlich nur 442 Mandate für gültig anerkannt. Die erste Sitzung ward am genannten Tage Vormittags 10 Uhr mit Begrüßungsansprachen von Richard Müller für den Berliner Vollzugsrat und Fritz Ebert für den Rat der Volksbeauftragten eröffnet. Der Kongreß wählte ein aus einem Mehrheitssozialisten – Leinert-Hannover – einem unabhängigen Sozialisten – Seeger-Leipzig – und einem Soldatenvertreter – Gomolka – paritätisch zusammengesetztes Büro, – lehnte aber in zweimaliger Abstimmung den von einigen Delegierten gestellten Antrag, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg als Gäste mit beratender Stimme zu den Sitzungen hinzuzuziehen, mit erdrückender Mehrheit ab. Diese Mehrheit war augenscheinlich durch den Umstand hervorgerufen, daß die von Liebknecht und Rosa Luxemburg redigierte Rote Fahne am Morgen in fetten Buchstaben einen Aufruf an die Berliner Arbeiter gebracht hatte, der diese in irreführender Sprache zu einem Demonstrationsstreik aufforderte. Er lautete nämlich:

„Heute Montag große Massendemonstration! Arbeiter Berlins! Genossen! Heraus aus den Betrieben! Es gilt den Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands würdig zu begrüßen. Es gilt den entschlossenen revolutionären Willen des Berliner Proletariats zum Ausdruck zu bringen. Heraus auf die Straße!“

Während danach der mit den Verhältnissen unvertraute Arbeiter glauben konnte, es handle sich wirklich um eine Kundgebung für den Kongreß, war dem Kenner der Sachlage ohne weiteres klar, daß hier ganz etwas anderes im Schilde geführt wurde. Denn keine der großen politischen Organisationen der Arbeiter, keine Gewerkschaft hatte mit dieser Demonstration irgend etwas zu tun. Sie war hinter dem Rücken der berufenen Leiter dieser Organisationen verabredet – offenbar um eine möglichst große Zahl von Arbeitern für eine Sache ins Feld führen zu können, die ihnen fern lag.

Bis zu einem gewissen Grade ist das denn auch gelungen. Teils durch Überredung, teils aber schon durch Anwendung von Zwangsmitteln erreichten es die Spartakusleute, daß in einer Anzahl großer und mittlerer Betriebe die Arbeit am Vormittag des 16. Dezember 1918 eingestellt wurde und eine nach vielen Tausenden zählende Menge sich in der Siegesallee im Tiergarten zusammenfand, wo sie zum Zug durch die Stadt sich formierten, der auf dem Wege zum Abgeordnetenhaus noch allerhand Zuwachs erhielt, sodaß er schließlich zwar nicht 250.000 Personen, wie dann die Rote Fahne schrieb, wohl aber 50 bis 60.000 Personen gezählt haben mag. Von dem Gesims des Abgeordnetenhauses herab hielten Paul Levi und Karl Liebknecht Ansprachen an die Menge, nun mit offener Kriegserklärung gegen die „Scheidemänner“ und die Nationalversammlung.

„Vor dem Abgeordnetenhaus, als Liebknecht vom hohen Gesims an die Menge sprach,“ hieß es Tags darauf in der Roten Fahne, „wie jubelten da die Massen jedem seiner Worte zu, wie brausten da die Hochs auf die soziale Revolution, auf die Macht der Arbeiter- und Soldatenräte, wie dröhnten da die Rufe ‚Nieder mit den Scheidemännern!‘ Das war die Stimme des arbeitenden Volkes Berlins.“

Letzteres war, wie sich bald zeigen sollte, eine arge Übertreibung. Aus verschiedenen Fabriken liefen Verwahrungen der Arbeiter dagegen ein, daß sie gegen die Nationalversammlung hatten demonstrieren wollen.

Eine von den Leitern der Demonstranten an den Kongreß entsandte Deputation unterbreitete diesem, wie der Obmann der Deputation erklärte, „im Auftrage der revolutionären Arbeiterschaft Berlins, die heute demonstriert, und zwar in einer Anzahl von mindestens 250.000 Menschen (lebhafte Ohorufe) folgende Forderungen“:

  1. Deutschland eine freiheitliche, sozialistische Republik.

  2. Die ganze Macht den Arbeiter- und Soldatenräten.

  3. Der vom Zentralrat ernannte Vollzugsrat ist das rechte Organ der Gesetzgebung und Exekutivgewalt, so daß auch die Volksbeauftragtert vom Vollzugsrat zu ernennen und abzusetzen sind.

  4. Beseitigung der Volksbeauftragten Ebert–Haase.

  5. Energische Durchführung aller zum Schutze der Revolution erforderlichen Maßnahmen durch den Zentralrat, vor allem Entwaffnung der Gegenrevolution, Bildung der roten Garde.

  6. Aufruf des Zentralrats an die Proletarier aller Länder zur Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten und zur Weltrevolution,

Die Punkte 4 und 5 wurden von der Mehrheit des Kongresses mit stürmischen Protestrufen beantwortet, die sich am Schluß wiederholten.

Als sich der Lärm gelegt hatte, erklärte der Vorsitzende Leinert der Deputation, sie möge den Arbeitern draußen erklären, daß der Kongreß die Forderungen zur Kenntnis genommen habe und in seinen Verhandlungen darüber entscheiden werde.

Damit war dieser Zwischenfall im Saal erledigt. Draußen zog ein Teil der Demonstranten, nachdem ihnen Bericht über die Verlesung der Forderungen erstattet worden war, nach dem Friedrichshain zum Begräbnisplatz der Märzgefallenen von 1848.

So übertrieben der Jubelruf der Roten Fahne über den Umfang der Demonstration war, so war sie immerhin berechtigt, sich eines Erfolges des Spartakusbundes zu rühmen. Gleichviel, mit welchen Mitteln er erzielt und wie sein Wert für die Gesamtbewegung einzuschätzen war, so war es doch eine nicht abzuleugnende Tatsache, daß dem Rufe des Bundes Massen von Arbeitern gefolgt waren, wie man sie nicht erwartet hätte, und das konnte auf seine Anhänger nur ermutigend wirken. Die Mehrheit der Menschen unterliegen in Volksbewegungen einem Gravitationsgesetz, das sie dorthin zieht, wo die größte Masse sich ansammelt. Für viele Tausende gefühlsmäßig urteilender Arbeiter hatte der Spartakusbund an Ansehen gewonnen.

Er gab denn auch seine Sache durchaus noch nicht verloren. Am 18. Dezember erschien eine von ihm ausgehende, einige fünfzig Personen zählende Deputation von neuem im Abgeordnetenhaus und verlangte vom Kongreß Einlaß und Gehör, widrigenfalls 250 000 Arbeiter die Arbeit niederlegen würden. Obwohl der Kongreß mit mehr ais 400 gegen noch nicht ein Dutzend Stimmen beschloß, sie nicht zu empfangen, da er nicht bloß für Berlin, sondern für ganz Deutschland tage und seine Zeit nicht vergeuden wolle, drängte sie sich mit Fahnen und Schildern in den Sitzungssaal, und als der Vorsitzende Leinert nach einigem Wortwechsel sie unter Hinweis auf den gefaßten Beschluß ersuchte, im Interesse der gemeinsamen Sache der Arbeiterklasse den Saal zu verlassen, legte ihr Sprecher Haller, ohne von ihm das Wort erhalten zu haben, mit einer Ansprache an den Kongreß los, die von diesem mit stürmischen Zurufen um Ruhe beantwortet wurde, sodaß seine Stimme übertönt wurde, was er und einige seiner Begleiter mit um so lauteren Gegenrufen beantworteten. Um der peinlichen Szene ein Ende zu bereiten, schlug Leinert schließlich vor, noch einmal eine Ausnahme zu machen und dem Sprecher zum kurzen Vortrag des Anliegens der Deputation das Wort zu geben. Dieser begann mit der Erklärung, es handle sich hier um ein Revolutionsrecht, auch in der französischen Revolution haben wiederholt die Tribünen in die Beratungen des Konvents eingegriffen, und verlas dann von neuem die schon am 16ten überreichten Forderungen als die „von 250 000 Arbeitern“. Er fügte hinzu, das bedeute natürlich „Nieder mit der Nationalversammlung und alle Macht den Räten“, und wollte noch weiterreden, ward indes vom Vorsitzenden mit dem Bedeuten unterbrochen, der Kongreß werde die Forderungen zur Kenntnis nehmen und müsse nun darauf bestehen, daß seine Arbeiten nicht weiter gestört werden. Unter einem Wortwechsel mit den Delegierten Barth und Ledebour und mit Rufen wie „Auch hier herrscht die Reaktion“, „hier werden nicht die Arbeiterinteressen vertreten“, entfernte sich die Deputation, und wenn auch bei den außerhalb des Saales versammelten Spartakusleuten noch kräftigere Verwünschungen über den Kongreß ertönten und Karl Liebknecht nach einigen Berichten ausrief, es sei „Zeit mit dem ganzen Unfug des Kongresses ein Ende zu machen“, nahm man doch von einem erneuten Aufgebot der Massen Abstand. Nun, wo der Zweck von vornherein klar gewesen wäre, sprach alle Wahrscheinlichkeit für einen großen Mißerfolg.

Eine andere Störung erfuhr der Kongreß aus den Reihen der Soldaten. In der Sitzung vom 17. Dezember erschienen am Nachmittag etwa 30 Soldaten mit Schildern der nach ihrer Angabe von ihnen vertretenen Regimenter im Sitzungssaal, stellten sich hinter der Rednerbühne zu beiden Seiten des Präsidentensitzes auf, worauf ihr Sprecher vor das Rednerpult trat und als einstimmigen Beschluß einer Versammlung der Soldatenräte und militärischen Formationen von Berlin folgende Resolution verlas:

„Wir stehen nach wie vor der jetzigen Regierung, also der Regierung, auf deren Programm als endgültige Ziele die Ziele einer sozialistischen Republik stehen, zur Verfügung. Die Kameraden der Marine sind die ersten Träger und Schützer der Revolution, ihre Anwesenheit ist deshalb unbedingt erforderlich. Die Soldatenräte beantragen bei dem Kongreß, folgenden Dringlichkeitsantrag sofort zum Beschluß zu erheben:

  1. Der oberste Soldatenrat, zusammengesetzt aus gewählten Delegierten aller deutschen Soldatenräte, übt die Kommandogewalt über alle Truppen des Heeres aus, analog bei der Marine.

  2. Die Rangabzeichen aller Dienstgrade sind verboten. Alle Offiziere sind zu entwaffnen. Das Verbot der Rangabzeichen und aller Dienstgrade tritt für die heimgekehrten Truppen in Kraft, nachdem die Niederlegung der Waffen in den Kasernen erfolgt ist.

  3. Für die Zuverlässigkeit der Truppenteile und die Aufrechterhaltung der Disziplin sind die Soldatenräte verantwortlich.“

Die Abordnung bitte, über diese Resoiution als Dringlichkeitsantrag sofort zu beschließen. Der Vorsitzende Seeger (Unabhängiger) erklärt dies für untunlich, und auch ein Delegierter der Frontsoldaten, Dorrenbach, der im übrigen den Heimattruppen den freundlichen Gruß jener ausspricht und sie versichert, daß er und seine Kameraden nach Möglichkeit für ihre Interessen eintreten werden, bittet sie, von sofortiger Beschlußfassung über ihre Resolution Abstand zu nehmen, da sie Punkte enthalte, die reiflich überlegt werden müßten. Dem widersprechen die Unabhängigen Heckert und Ledebour, und die Bemerkung des Letzteren, es handle sich besonders darum, die Matrosen gegen die vom Volksbeauftragten Landsberg gegen sie in Szene gesetzte Hetze in Schutz zu nehmen, ruft stürmische Proteste der Mehrheitssozialisten hervor. Es entsteht ein minutenlanger Lärm, und eine ungeheure Erregung, die sich nicht legen will. Eine große Zahl von Mehrheitssozialisten verlassen auf Vorschlag ihres Fraktionsvorsitzenden Severing den Saal, um Sitzung abzuhalten, und werden beim Hinausgehen von Pfuirufen der Radikalen und lauten Verwünschungen der jeder Überlegung verlustig gegangenen Soldaten im Saal und auf den Tribünen begleitet. Nachdem der Lärm eine Weile gedauert, versucht der Vorsitzende der Unabhängigen Sozialdemokraten Hugo Haase durch vermittelnde Worte Ruhe zu schaffen. Er erklärt die beiderseitige Erregung für verständlich und verspricht den Soldaten, daß ihr Antrag schnellstens erledigt werden solle. Als er aber hinzufügt, daß dies doch nicht ohne vorherige Aussprache geschehen könne, ertönt sofort lärmender Widerspruch der Soldaten. Selbst ein Vorschlag, den Antrag im Hinblick auf die Unmöglichkeit der Weiterführung der Sitzung am nächsten Tage als ersten Punkt der Tagesordnung zu verhandeln, wird von ihnen für Verschleppung erklärt, die sie sich nicht gefallen lassen könnten, und auch von Georg Ledebour in großer Erregung bekämpft. Er wird aber vom Vorsitzenden Seeger unter andauernden Protesten der Soldaten zur Abstimmung gebracht und gegen eine kleine Minderheit angenommen, worauf wieder die äußerste Linke großen Lärm anstimmt, der Vorsitzende schnell die Sitzung schließt, die Soldaten teils die Fäuste ballen und teils die mitgebrachten langen Stöcke drohend schwingen und der Saal sich nur langsam leert.

Über Nacht beruhigten sich die Geister, und in der Sitzung vom 18. Dezember zeigte sich die Soldatenabordnung wesentlich nachgiebiger. Es war bekannt geworden, daß mindestens ein Teil ihrer Mitglieder das Regiment, das sie zu vertreten angaben, gar nicht hinter sich hatten, auch wandten sich verschiedene Delegierte der Frontsoldaten gegen ihr Auftreten und wiesen nach, daß ein Teil ihrer Forderungen in der Provinz schon durchgeführt, andere aber schon aus technischen Gründen nicht von heute auf morgen durchzuführen seien. So erklärten sie sich denn zum Verhandeln bereit, und eine zur Beratung ihres Antrags gewählte Kommission kam, wie ihr Berichterstatter, der Volksbeauftragte Hugo Haase, am Nachmittag mitteilen konnte, zu einstimmig angenommenen Beschlüssen, denen dann auch der Kongreß gleichfalls einstimmig beipflichtete. Die wichtigsten davon sind:

„1. Die oberste Kommandogewalt über Heer und Marine üben die Volksbeauftragten unter Kontrolle des Vollzugsrates aus.

2. Als Symbol der Zertrümmerung des Militarismus ... wird die Entfernung aller Rangabzeichen angeordnet und das außerdienstliche Waffentragen verboten.

3. Für die Zuverlässigkeit der Truppenteile und die Aufrechterhaltung der Disziplin sind die Soldatenräte verantwortlich. Vorgesetzte außer Dienst gibt es nicht mehr.

4. Die Soldaten wählen ihre Führer selbst. Frühere Offiziere, die das Vertrauen der Mehrheit ihres Truppenteils genießen, dürfen wiedergewählt werden.

5. Die Abschaffung des stehenden Heeres und die Errichtung dtr Volkswehr sind zu beschleunigen.“

Damit war diese Angelegenheit formell erledigt. Erwähnt sei hier nur noch, daß in der Diskussion auch Gustav Noske in seiner Eigenschaft als Beigeordneter das Wort hatte und sich gegen die aufgestellte Behauptung wandte, daß er mit den Plänen des sich oberster Marinerat nennenden 53er Ausschusses einverstanden sei. Der Ausschuß verwende einea großen Teil seiner Zeit mit politischen Fragen, und dabei komme die praktische Arbeit des Marineamts zu kurz. Unerträgliche Verschleppung wichtiger Angelegenheiten finde statt. Dinge, die die Waffenstillstandsverhandlungen zur See betrafen, seien tagelang unerledigt geblieben, weil ein Mitglied des Ausschusses, dessen Unterschrift erforderlich gewesen, drei Tage lang nicht im Amt erschien. Dem sekundierte der Delegierte Pfaff vom Soldatenrat Kiel. Auch er und seine Genossen, führte er aus, hielten den Apparat von 53 Köpfen für den Ausschuß als viel zu groß, sie hätten überhaupt von ihm noch keine Direktiven erhalten, sondern alles aus eigner Initiative gemacht. Sie haben die Offiziere als beratende Beiräte für die Soldaten hinzugezogen und stellten sie an die richtige Stelle.

Der Stadtkommandant von Kiel tue nichts ohne ihre Zustimmung, und sie haben zu Noske das Vertrauen, daß er sich vom Admiral nicht über den Löffel barbieren lasse. In der Sitzung vom 19. Dezember wies dagegen ein Mitglied des 53er Ausschusses Noske’s Bemerkungen als unzutreffend zurück und erklärte, über die Verminderung des Ausschusses habe die Marine zu entscheiden und nicht dieser Kongreß. Eine eigenartige Auffassung, deren Logik die Selbstherrlichkeit des einzelnen Organs über den Gesamtkörper bedeutete, die aber die obwaltende Verwirrung der Geister erkennen läßt und anzeigt, wessen sich die Republik im Konfliktfall von dieser Seite gewärtigen mußte.

Dies die in den Kongreß von außen hineingetragenen Zwischenfälle. Die Debatten über seine die Tagesordnung bildenden Fragen standen fast durchweg unter dem Zeichen des Kampfes der vom Spartakusbund beeinflußten äußersten Linken der Sozialdemokratie wider die sozialdemokratische Regierungskoalition, bezw. der radikalen Mehrheit des Berliner Vollzugsrats wider das Kabinett der Republik. Vollzugsrat wider den Rat der Volksbeauftragten – das war die Signatur des Streites, der an die heftigen Kämpfe erinnert, die in Frankreich wiederholt zwischen dem Stadthaus von Paris und der Zentralregierung gespielt haben. Er wurde eingeleitet mit dem Bericht des Vorsitzenden des Vollzugsrates Richard Müller über dessen Tätigkeit. Müller, der lange Jahre Führer der Opposition in der Ortsgruppe Berlin des Deutschen Metallarbeiter-Verbands gegen dessen Leitung gewesen war, entwickelte in der Revolution einen Zug zum Fanatiker. In einer Sitzung des Vollzugsrats hatte er ausgerufen, nur über seine Leiche gehe der Weg zur Nationalversammlung, was ihm bei seinen Widersachern den Spottnamen Leichenmüller eintrug. Sein Referat, das er mit den Worten einleitete, es sei ihm unmöglich, den Bericht objektiv zu geben, war eine leidenschaftliche Anklage gegen den Rat der Beauftragten. Er beschuldigte diesen, dem Bestreben des Vollzugsrats, die Errungenschaften der Revolution sicherzustellen und in die Praxis zu überführen, bei jeder Gelegenheit Widerstand entgegengesetzt zu haben, und klagte ihn an, daß er nichts getan habe, das reaktionäre Element in den Reichsusw. ämtern durch auf dem Boden des Neuen stehende Personen zu ersetzen. Ebenso stehe es mit der Heeresleitung und Heeresverwaltung. Die zurückgekehrten Frontsoldaten habe man nicht auf die sozialistische Republik, sondern nur auf die Republik schlechthin, nicht auf den Vollzugsrat, der doch die Souveränität des Volks durch die Arbeiter- und Soldatenräte darstelle, sondern auf den Rat der Volksbeauftragten vereidigt. Des weiteren beschwerte er sich bitter über die heftigen Angriffe, die in Versammlungen und der Presse gegen den Vollzugsrat geschleudert worden seien, der sich durch Mitglieder aus dem ganzen Reich ergänzt habe, jetzt statt aus 26 aus 45 Mitgliedern bestehe, und sich als oberste Reichsbehörde konstituiert habe, um Putsche gegen die Errungenschaften der Revolution zu verhindern. Die besagten Angriffe gingen zum großen Teil von Militärs aus, die von Soldatenräten in den Vollzugsrat gewählt worden waren, von diesem aber, weil sie sich – insbesondere der Hauptmann Colin-Roß – durch Eigenmächtigkeiten und Umtriebe lästig machten, an die Luft gesetzt worden seien. Man habe die unsinnigsten Gerüchte über angebliche Vergeudung von Geldmitteln durch den Vollzugsrat in Umlauf gesetzt, von 800 Millionen Mark gefaselt, während seine ganzen Ausgaben in sechs Wochen sich auf 500.000 Mark beliefen, einschließlich der Kosten für Reisen, um Verschleuderung von Millionenwerten an Heeresgut usw. zu verhindern. Der Putsch vom 6. Dezember sei die Frucht dieser Verleumdungen gewesen, über ihn habe es erregte Auseinandersetzungen mit dem Rat der Volksbeauftragten wegen dessen Verhalten bei diesem Anlaß gegeben, denn der Putsch kam von rechts, der von links sei nicht so schlimm gewesen. Die Urheber des Putsches von rechts seien vom Vollzugsrat ermittelt und festgesetzt worden, aber man habe sie alle wieder in Freiheit gesetzt, den Hauptschuldigen, einen Hauptmann Lorenz, direkt auf Verlangen des Kriegsministers. Der Vollzugsrat habe wiederholt gefordert, daß Dr. Solf und Eduard David, die versucht haben, Deutschlands Unschuld am Weltkrieg nachzuweisen, aus dem Auswärtigen Amt entfernt würden, sei aber immer wieder auf den Widerstand des Rats der Volksbeauftragten gestoßen, so daß die komprommittierten Beamten den größten Teil des belastenden Materials verbrennen konnten. Mit natürlichen und unnatürlichen Gegnern hatte so der Vollzugsrat zu kämpfen gehabt, und nun übergebe er das Schicksal der Revolution dem Kongreß mit dem Wunsche, daß es diesem gelingen möge, die Errungenschaften der Revolution zu sichern und weiter auszubauen.

Noch während Müller sprach, waren die Abgesandten der SpartakusDemonstration erschienen und hatten sofortiges Anhören verlangt, wodurch die Rede eine Unterbrechung erfuhr und erst nach Abfertigung der Abgesandten fortgesetzt und zu Ende geführt werden konnte. Alsdann ward dem Mitglied des Vollzugsrats Maynz das Wort gegeben zur Erstattung von dessen Kassenbericht. Laut diesem waren dem Vollzugsrat insgesamt Mittel im Werte von rund 650.000 Mark zugeflossen, davon 450.000 Franken in Schweizer Banknoten, für die damals 620.000 Mark erlöst wurden. Die Gesamtausgaben für Tagegelder, sachliche Kosten, Agitation und Propaganda beliefen sich auf rund 614.000 Mark. Maynz bestätigte Richard Müllers Angabe, daß dieser für sich persönlich nichts beansprucht und entnommen habe, und bemerkte weiter, daß der Vollzugsrat gegen den umfangreichen Apparat, der zumeist von den soldatischen Mitgliedern verursacht worden sei, energische Maßnahmen ergriffen und bis zum 14. Dezember das Haus einigermaßen gesäubert habe.

Für den Rat der Volksbeauftragten sprach zunächst dessen Mitglied W. Dittmann von der Unabhängigen Sozialdemokratie. Er wies von einigen der Behauptungen Müllers nach, daß sie teils unrichtig und teils unbegründet waren. Dem Minister Solf sei das Entlassungsgesuch genehmigt worden, nicht Ed. David, sondern Karl Kautsky und Max Quarck seien mit der Prüfung der Akten im Auswärtigen Amt beauftragt und Kautsky habe keinerlei Anzeichen entdeckt, die auf Vernichtung von Akten schließen ließen, er erkläre vielmehr, weit mehr gefunden zu haben, als er erwartet hatte. Der Hauptmann Lorenz sei freigelassen worden, nachdem eine vom Vollzugsrat selbst eingesetzte Untersuchungskommission von drei Juristen einstimmig auf Freilassung erkannt hatte. Auf das Sachliche der Polemik übergehend, legte Dittmann dar, daß der Rat der Volkbeauftragten zumeist unter dem Zwange unerbittlicher Notwendigkeiten, den Folgen des Krieges und der durch diesen geschaffenen Lage gehandelt habe. Deutschland brauche so bald wie nur möglich den Vorfrieden und dann einen schnellen endgültigen Frieden. Das sei die erste Voraussetzung der Wiederherstellung des durch den Krieg zerrütteten, ganz auf ihn eingestellt gewesenen Wirtschaftslebens. Die Umstellung der Wirtschaft auf den Frieden sei aber eine äußerst schwierige und unproduktive Arbeit, es fehle an den nötigsten Rohstoffen, in den Eingeweiden des Volkes wühle der Hunger, nie sei für eis Volk und seine Regierung eine verzweifeltere Situation vorhanden gewesen. Daher könne die Sozialisierung nur mit Vorsicht ins Werk gesetzt werden, sie werde aber dort in Angriff genommen werden, wo Industrie und Betriebe dafür reif seien. Eine Kommission namhafter Volkswirtschaftler sei mit dem Auftrage eingesetzt worden, die Frage zu prüfen und entsprechende Vorschläge zu machen. Dann entwickelte Redner das Steuerprogramm der Regierung, verwies auf ihre sozialpolitischen Verordnungen, die Festsetzung des Achtstundenarbeitstags, der Erwerbslosenfürsorge usw. und setzte hinzu, erst nach der Übergangszeit werde der Sozialismus sich voll entwickeln können. Die Reichtümer, die die Arbeiter geschaffen, seien zum größten Teil nicht mehr da, die Arbeiter seien bisher die Enterbten gewesen und seien es auch jetzt, sie müßten erst wieder neue Werte schaffen, ehe sie zu Wohlstand kommen würden. Daran könne keine Regierung etwas ändern. Die Arbeiter müßten alles tun, die Produktion in Gang zu halten. Jeder Streik richte seine Spitze gegen sie seibst. Große Schwierigkeiten mache die Entmobilisierung, bis sie aber durchgeführt sei, müsse die oberste Heeresleitung im Amte bleiben und Disziplin gehalten werden, die aber nicht mü Kadavergehorsam zu verwechseln sei. So sei das darauf bezügliche Telegramm der Regierung an die oberste Heeresleitung, das Müller gerügt hatte, zu verstehen. Gewiß herrsche noch bei vielen Offizieren ein reaktionärer Geist und gar manche seien konterrevolutionär gesinnt. Aber die überwältigende Mehrheit der Soldaten wolle keine Konterrevolution. Die Regierung sei daher zwar wachsam in bezug auf Putschversuche, jedoch nicht überängstlich. Der Belagerungszustand sei aufgehoben, volle Preßfreiheit sei verkündet, mögen die Gegner von rechts und links die Regierung noch so sehr angreifen, sie werde darum doch sich gegen jede Unterbindung der Preßfreiheit wenden. Die Regierung habe das freieste Wahlrecht der Welt eingeführt, um dem Proletariat seinen Einfluß auf die Geschicke der Republik dauernd zu sichern. Einstimmig habe sie schon am 12. November die Einberufung einer konstituierenden Nationalversammlung in Aussicht gesteht, wenn jetzt der Ruf der Reaktionäre nach einer solchen viele Arbeiter in bezug auf sie kopfscheu mache, so müsse sie aus einer ganzen Reihe von Gründe“ darum doch kommen. Gewichtige Gründe sprächen gegen eine zu frühe Einberufung der Nationalversammlung, ebenso gewichtige gegen ein zu langes Hinausschieben. Die Regierung habe sie alle ernstlich erwogen und sich schließlich auf den 16. Februar 1919 als den Wahltermin geeinigt, über den der Kongreß nun endgültig zu befinden habe. Jetzt gelte es für das Proletariat, zu gemeinsamem Kampf gegen die bürgerlichen Parteien Schulter an Schulter zusammenzustehen und kein Atom von Kraft im Bruderkampf zu vergeuden.

Die durchgängig im versöhnlichen Ton gehaltene Rede erntete namentlich bei den Mehrheitssozialisten stürmischen Beifall, während ein Teil der eigenen Parteigenossen des Redners sich jeder solchen Kundgebung enthielt.

In der Diskussion über die Berichte sprachen sich die meisten Redner gegen den Berliner Vollzugsrat aus. Er fand lebhafte Verteidiger nur in den Delegiertenn Braß (Remscheid), Wegmann (Berlin), Heckert (Chemnitz) und Georg Ledebour (Berlin), welch letzterer in seinen Angriffen gegen den Rat der Volksbeauftragten Müllers Kritik noch in den Schatten stellte. Einen unbeschreiblichen Lärm rief er dadurch hervor, daß er das Regierungsmitglied Ebert wegen der Antwort, die dieser am 6. Dezember den demonstrierenden Soldaten gegeben hatte, ein Schandmal der Regierung nannte. Gegen eine Bemerkung Dittmanns, daß man Revolutionen nicht machen könne, stellte er fest, daß er und ein Teil seiner Freunde schon seit 1916 die Revolution vorbereitet hatten, und teilte mit, daß am 2. November 1918 in einer Sitzung ihres Revolutionsausschusses alle Teilnehmer bis auf Haase und noch einen der Meinung gewesen seien, daß man am 4. November losschlagen müsse. Am Abend des gleichen Tages sei in einer neuen Sitzung dann noch Dittmann an Haase’s Seite getreten, während Karl Liebknecht seine Putschtaktik empfahl, die wiederum er, Ledebour, bekämpft habe. So sei die Sache infolge der von den Flaumachern ausgehenden Hemmungen auf mehrere Tage verschleppt und den Ebert-Scheidemann Gelegenheit gegeben worden, nun ihrerseits die Sache in die Hand zu nehmen. Bis zum Ausbruch der Revolution seien Scheidemann und dessen Freunde die Nutznießer des Belagerungszustandes gewesen und jetzt seien sie die Nutznießer der Revolution.

Vom Rat der Volkbeauftragten nahmen in dieser Diskussion noch Otto Landsberg, Emil Barth und Fritz Ebert das Wort. Ersterer verteidigte den Rat gegen eine Reihe der Anklagen Müllers und begründete die Beanstandung der Geldforderungen des Berliner Vollzugsrats, Barth überraschte seine Kollegen im Rat der Volksbeauftragten durch eine gegen sie gerichtete Philippika. Er warf ihnen vor, daß sie in Fragen der Entmilitarisierung Deutschlands viel zu zaghaft vorgingen, in Fragen des angeblich notwendigen Grenzschutzes im Osten und im Westen den Militaristen viel zu sehr freie Hand, sich von ihnen viel zu willkürlich mitspielen ließen. Er stellte den Antrag, wonach jetzt energisch eingegriffen, jeder Grenzschutz, der nicht zur Emmobilisierung notwendig sei, sofort im Osten und im Westen aufgehoben werden müsse. Alle Offizere müßten sofort bei der Ankunft in die Garnison entlassen, die älteren und kranken gegen Ruhegehalt, die jungen gegen Gewährung von Mitteln zur Erlernung eines bürgerlichen Berufs. Ebert erwiderte, wenn Barth geglaubt habe, seine Kollegen im Kabinett zum Gegenstand von Angriffen machen zu sollen, dann sei es wohl seine Pflicht gewesen, sich vorher mit ihnen ins Benehmen zu setzen. Was er vorgetragen habe, seien zum Teil Dinge, über die im Kabinett einstimmig Beschluß gefaßt worden sei, über andere stehe die Entscheidung noch aus. Die Regierung habe für schnellste Zurückführung der Truppen und für die Sicherung großer Lebensmitteltransporte Sorge zu tragen gehabt, und das habe bestimmte militärische Schutzmaßnahmen unvermeidlich gemacht. In der Frage von Sicherheitsmaßnahmen im Westen, die vielfach von Genossen und Soldaten verlangt würden, liegen nur erst Vorschläge der Heeresleitung vor, betreffs deren die Regierung diese um genauere Auskünfte ersucht habe und der Antwort entgegensehe. Ein Beschluß sei überhaupt noch nicht gefaßt. Könne man da Barth’s Vorgehen als gerechtfertigt erachten? Es gefährde das Zusammenarbeiten im höchsten Grade, und er, Ebert, müsse seinen engeren Freunden vorbehalten, zu entscheiden, ob sie, wenn nicht Bürgschaften gegen solche Vorgänge geschaffen werden, überhaupt noch in der Lage seien, weiter mitzuarbeiten.

Ebert hatte mit zurückgehaltener Bitterkeit gesprochen, aber seine Schlußbemerkung rief um so größere Erregung hervor, von allen Seiten meldeten sich Redner zum Wort, was den Vorsitzenden Leinert zu der Aufforderung an die Delegierten veranlaßte, sich in Fraktionen zu gruppieren, damit eine systematische Anordnung der Rednerliste stattfinden könne. Zur Zeit gebe es neben den zwei sozialdemokratischen Fraktionen noch die Fraktion der Soldaten und die Fraktion der Demokraten.

Hier setzte die oben beschriebene Unterbrechung durch die Soldatendeputation ein, die zur Verlegung der Sitzung auf den folgenden Tag führte. An diesem, dem 18. Dezember, wurden zunächst die Anträge der Soldaten diskutiert, die erneute Abordnung der Spartakusleute abgefertigt und die Schlußreden von Müller und Dittmann entgegengenommen. Müller verteidigte den Berliner Vollzugsrat gegen die Angriffe, die in der Diskussion gegen ihn erhoben worden waren, und hielt seine Angriffe auf den Rat der Volksbeauftragten aufrecht, Dittmann wies diese Angriffe zurück, betonte gegenüber Ledebour, daß dessen Vorwürfe gegen Ebert schon in einer gemeinsamen Sitzung von Vollzugsrat und Rat der Volksbeauftragten zurückgewiesen worden seien, in der von 35 Mitgliedern des Vollzugsrats nur 5 für Ledebours Antrag auf Amtsentsetzung Eberts gestimmt hätten, erklärte mit Bezug auf Barth’s Vorwürfe, daß die Regierung den Militärs genau auf die Finger sehe, und befürwortete dann von neuem und mit Nachdruck den festen Zusammenhalt der Sozialisten über alle ParteidifTerenzen hinweg.

Bei der Abstimmung wurde ein Antrag des links-radikalen Sozialisten Braß-Remscheid, sofort alle Maßregeln zur Entwaffnung der Gegenrevolution zu ergreifen, angenommen, die andern von radikaler Seite gestellten Anträge, darunter der Antrag Barth, aber abgelehnt. Zu erwähnen ist, daß einer dieser Anträge unter dem Namen Leviné-Essen eingebracht war, das heißt den Bolschewisten Leviné zum Urheber hatte, der später in dem Kommunistenaufstand in München eine Rolle spielte. Der Antrag erklärte, daß die Tätigkeit der Volksbeauftragten auf die systematische Vernichtung der Macht der Räte hinauslaufe und dadurch der Stärkung der Gegenrevolution diene.

Mit großer Mehrheit wurde gegen die Anträge der Radikalen folgender Antrag der Mehrheitssozialisten Lüdemann und Genossen angenommen:

„Die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, die die gesamte politische Macht in Deutschfand repräsentiert, überträgt bis zur anderweitigen Regelung durch die Nationalversammlung die gesetzgebende und die vollziehende Gewalt dem Rat der Volksbeauftragten. Der Kongreß bestellt ferner einen Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte, der die Ueberwachung des deutschen und des preußischen Kabinetts ausübt. Ihm steht das Recht der Berufung und Abberufung der Volksbeauftragten des Reiches und, bis zur endgültigen Regelung der staatlichen Verhältnisse, auch der Volksbeauftragten Preußens zu. Zur Ueberwachung der Geschäftsführung in den Reichsämtern werden von dem Rat der Volksbeauftragten Beigeordnete der Staatssekretäre bestellt. In jedes Reichsamt werden zwei Beigeordnete entsandt, die aus den beiden sozialdemokratischen Parteien zu entnehmvn sind. Vor Berufung der Fachminister und der Beigeordneten ist der Zentralrat zu hören.“

Obwohl der Beschluß dem Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte damit ein sehr weitgehendes Kontrollrecht über die Volksbeauftragten zusprach, erblickten die radikalen Unabhängigen und Kommunisten doch in ihm eine so große Verkürzung der Machtbefugnisse der Räte, daß sie wiederholt Versuche machten, das nach ihrer Ansicht Verlorene durch Anträge auf genauere Interpretation seines Sinnes und neue Anträge zurückzugewinnen. Die Handhabe dazu bot ihnen der zweite Punkt der Tagesordnung: Erörterung der Frage Nationalversammlung oder Rätesystem.

Sie wurde durch das Referat des Mehrheitssozialiten Max Cohen-Reuß und das Gegenreferat Ernst Däumigs eingeleitet. Das erstere war außerordentlich sorgfältig durchgearbeitet und machte einen tiefen Eindruck. Es begann mit einer umfassenden Schilderung all der Schwierigkeiten im Innern und nach außen, mit denen die deutsche Republik zu kämpfen habe und derer sie nicht Herr werden könne, wenn sie nicht schleunigst der eingerissenen Desorganisation ein Ende mache. Das aber sei nur möglich durch die Nationalversammlung. Im Augenblick sei „die Politik die Voraussetzung für die Ökonomie“ geworden, eine geregelte Produktion in Deutschland nur möglich durch die Nationalversammlung, die dem Lande eine Verfassung gebe und das Reich zusammenhalte. Die Arbeiter- und Soldatenräte drückten immer nur einen Teiiwillen des Volkes aus, niemals den Willen des ganzen Volkes. Wer sich für die Diktaturtheorie auf Karl Marx berufe, verkenne den Geist seiner Lehre. Der Sozialismus könne nicht durch Gewalt dekretiert werden, er sei ein organischer Entwicklungsund Umbildungsprozeß. In Rußland habe man das Pferd am Schwanz aufgezäuni. Die Furcht, daß die Nationalversammlung keine sozialistische Mehrheit erhalten werde, wenn nicht vorher sozialisiert worden sei, sei durchaus unbegründet, je eher die Wahlen zur Nationalversammlung stattfänden, um so günstiger würden sie für den Sozialismus ausfallen. Die Sozialdemokratie brauche auch die Unterstützung nennenswerter bürgerlicher und intellektueller Kreise, deren Einfluß man nicht unterschätzen dürfe. Ein Streik dieser Elemente würde den Zusammenbruch und den Einmarsch der Ententetruppen bringen, auf eine Revolution in den Ententeländern sei vorläufig ganz und gar nicht zu rechnen. Die Arbeiter- und Soldatenräte seien besser als ihr Ruf, sie mögen mehr Geld als nötig ausgegeben haben, aber sie habe„ dafür Milliardenwerte gerettet. Die Aufgaben der Nationalversammlung könnten sie dagegen nicht erfüllen, indes neben ihr fortbestehen und gute Arbeit leisten. Unter stürmischem Beifall und Händeklatschen bittet Redner die Versammlung, seinem Antrag zuzustimmen, der die Ansetzung der Wahlen zur Nationalversammlung schon auf den 19. Januar 1919 fordere. Mit der Mahnung, bis zum Wahltag unermüdlich für den Sozialismus zu werben, schloß die Rede, der erneuter und lang andauernder Beifall folgte.

Der von ihr geschaffenen Stimmung gegenüber hatte der Gegenreferent Däumig keinen leichten Stand. Einleitend drückte er sein Bedauern aus über den philiströsen Verlauf der Versammlung und erklärte, daß diese durch ihre jubelnde Zustimmung zur Forderung der Nationalversammlung ein Todesurteil gegen das Rätesystem gefällt habe, das aber trotzdem leben werde, denn es sei die gegebene Organisationsform der modernen Revolution. Zwar stoße es noch auf viele Vorurteile bei den eigenen Klassengenossen der revolutionären Arbeiterschaft, aber ihm gehöre die Zukunft. Wie das parlamentarische System historische Notwendigkeit der bürgerlichen Demokratie gewesen sei, so sei das Rätesystem die gegebene Ausdrucksform der sozialistischen Gesellschaft. „Als Sie Cohen so lebhaft applaudierten, der die Nationalversammlung und den nahen Wahltermin forderte, da haben Sie Ihr eignes Todesurteil gesprochen“, rief Redner der Versammlung zu und erging sich in Ausmalung der üblen Wirkungen, welche die Einberufung der Nationalversammlung zur Folge haben werde. Sein Gegenantrag forderte, unter allen Umständen an dem Rätesystem als Grundlage der sozialistischen Republik festzuhalten, „und zwar derart, daß den Räten die höchste gesetzgebende und Vollzugsgewalt zusteht“, die Ausarbeitung eines allgemein gültigen Wahlsystems für die Arbeiter- und Soldatenräte und Bauernräte Deutschlands, die Ausschreibung auf Grund dieses Systems von Wahlen zu einem Nationalkongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, der die Entscheidung über die künftige Verfassung Deutschlands zu fällen habe. Bis dahin solle ein Zentralrat von 53 allen Teilen Deutschlands zu entnehmenden Delegierten von Arbeiter- und Soldatenräten die höchste Kontrollinstanz des Rats der Volksbeauftragten und der Reichsämter bilden. Nachdem in der Debatte Redner für und gegen die Einberufung der Nationalversammlung gesprochen hatten, forderte Lipinski von der Unabhängigen Sozialdemokratie zur Geschäftsordnung genaue Aufklärung, was in dem beschlossenen Antrag Lüdemann, der eigentlich zu diesem Punkt der Tagesordnung gehöre, unter parlamentarischer Überwachung der Volksbeauftragten durch den Zentralrat zu verstehen sei. Namens der Volksbeauftragten gibt Hugo Haase (unabhängig) folgende Erklärung ab:

„Unter parlamentarischer Bewachung versteht der Rat der Volksbeauftragten, daß alle Gesetzentwürfe dem Zentralrat vorgelegt, und alle wichtigen Gesetzesvorlagen mit ihm beraten werden. Er hält es für ganz ausgeschlossen, daß bei dieser Regelung Zerwürfnisse zwischen ihm und dem Zentralrat entstehen können. Es muß in dieser revolutionären Periode rasch auf gesetzgeberischem Wege gearbeitet werden. Sollte in irgend einem Falle es nicht zu einer Übereinstimmung kommen, dann darf ein Vakuum nicht entstehen, sondern es muß dann der Rat der Volksbeauftragten selbst entscheiden können, solange er das Vertrauen des Vollzugsrats hat, der ihn ja jederzeit abberufen kann.“

Geyer (unabhängig) fordert Unterbrechung der Sitzung, da diese Auskunft ihm und Freunden nicht genüge; sie müßten Gelegenheit haben, sick in der Fraktion über die veränderte Situation auszusprechen. Der Antrag wird jedoch abgelehnt, worauf Braß-Remscheid seine Gesinnungsgenossen auffordert, den Saal zu verlassen und sich darüber schlüssig zu machen, ob sie noch weiter an den Verhandlungen teilnehmen könnten. Während die Spartakusleute und der größere Teil der Unabhängigen den Saal verlassen, nimmt Hugo Haase noch einmal das Wort zur Sache selbst.

Der Vorsitzende der Fraktion der Unabhängigen führt aus, es sei zwar im Rat der Volksbeauftragten Einstimmigkeit darüber, daß die Nationalversammlung einzuberufen sei, aber über ihren Zweck herrschen noch Meinungsverschiedenheiten. Die Fragestellung Nationalversammlung oder Rätesystem sei falsch, denn die Räte würden auch nach Einberufung der Nationalversammlung ihre Bedeutung behalten. Die Gründe, die man für die sofortige Einberufung der Nationalversammlung ins Feld geführt habe, seien schon durch die Tatsachen als irrig widerlegt worden, überaus triftige Gründe sprächen vielmehr dagegen, daß man den Termin sehr früh ansetze. In den besetzten Gebieten könne nicht gewählt werden, ein großer Teil der Soldaten könne noch nicht wählen, ein andrer großer Teil wisse noch gar nicht, worum es sich bei der Wahl handle. „Das Schicksal der jungen Republik darf nicht in den Händen unaufgeklärter Wähler ruhen.“ Ein großes Aufklärungswerk sei noch zu verrichten – vor allem bei den Frauen, die nun zum ersten Mal wählen. Im Verlauf der vielfach mit Beifall aufgenommenen Rede legte Haase scharfen Protest dagegen ein, daß die Polen, ehe noch die Entscheidung über die Gebietsabgrenzung gefallen sei, in Gebieten wählen ließen, die noch zu Deutschland gehörten.

Von den nach Haase sprechenden Delegierten traten namentlich Vertreter von Soldatenräten für baldmöglichste Vornahme der Wahlen ein. Desgleichen der Volksbeauftragte Scheidemann. Er erklärte sich gegen ein dauerndes Bestehen der Arbeiter- und Soldatenräte, es würde „den absolut sicheren Untergang von Handel und Industrie, den Ruin des Reichs und unabsehbares Elend für unser Volk“ bedeuten. Wenn das ganze Volk die Verantwortung mittragen soll, dann müsse es auch mitbestimmen können. In einer so verzweifelten Lage könne eine Klasse gar nicht allein die Verantwortung tragen. Übrigens seien selbst in Berlin diejenigen, welche die Wahlen verschieben wollen, in der Minderheit, sie machten nur mehr Spektakel als die andern.

„Wir bedanken uns für die täglichen Spazierfahrten mit Maschinengewehren, wir wollen keinen Bürgerkrieg, wir wollen Arbeit, Frieden und Brot unserem Volk sichern und damit auch die Errungenschaften der Revolution.“

Die letzten Worte, die auf die Umzüge anspielten, die von den Spartakusleuten unter Karl Liebknechts Führung alltäglich den Bewohnern der Hauptstadt dargeboten wurden, wurden wieder von der Mehrheit mit stürmischem Beifall aufgenommen. Dann wurden, nachdem noch die Referenten in Schlußworten ihren Kritikern geantwortet hatten, in der Abstimmung der Antrag Geyer und Genossen, den Wahltermin auf den 16. März 1919 anzusetzen, mit allen gegen 50 Stimmen, der Satz im Wahlgesetzentwurf der Volksbeauftragten, der als Wahltermin den 16. Febr. 1919 einsetzte, mit allen gegen eine etwas größere Minderheit abgelehnt, dagegen der Antrag Cohen, die Wahlen schon am 19. Januar 1919 vorzunehmen, mit rund 400 gegen etwa 50 Stimmen angenommen. Über den Antrag Däumig fand auf Antrag der Unabhängigen namentliche Abstimmung statt. Sie ergab 98 Stimmen für und 344 dagegen, der Antrag war abgelehnt.

Ein Antrag Geyer, der den von Haase interpretierten Satz in der Resolution Lüdemann so fassen wollte: „Der Zentralrat hat das volle Recht der Zustimmung oder Ablehnung von Gesetzen vor ihrer Verkündung“, wird von Ebert mit folgenden Worten als für die Volksbeauftragten unannehmbar bezeichnet:

„Wir stehen vor Schwierigkeiten, wie sie noch kein hochentwickeltes Land vor sich gesehen hat. Sollen Sie überwunden werden, so muß der Regierung ein gewisses Maß von Bewegungsfreiheit bleiben Es muß ein einheitlicher Wille durch das ganze Land gehen, vor allem muß die Zentralinstanz schnell arbeiten können. Das dem Zentralrat eingeräumte Recht, die Mitglieder der Regierung abzuberufen, schließt jede Willkür der Regierung aus und gibt ihm die absolute Sicherheit, daß alle Träger der Regierungsgewalt das Vertrauen ihrer Beauftragten besitzen müssen. Damit können Sie sich genügen lassen ... Uns fehlen die Rohstoffe und Nahrungsmittel. Nur schnellstes Handeln kann beim Auftreten wichtiger Fragen uns retten. Müßten wir zu jedem Gesetz die Zustimmung des Zentralrates einholen, so wäre das um so unmöglicher, als heute alles, was sonst durch Verordnung des Bundesrats oder der Reichsämter bestimmt wurde, durch ein Gesetz gemacht werden muß. Wir müssen z.B. auf telefonische Anfragen der Waffenstillstandskommission sofort die schwierigsten Entscheidungen fällen. Unsere Freunde von den Unabhängigen erklären gleich mir, daß wir, wenn der Kongreß dem Antrag Geyer zustimmt, die Verantwortung unmöglich weiter tragen können. Was auf dem Gebiet des Zusammenarbeitens mit dem Zentralrat geschehen kann, das soll geschehen, aber die Exekutive und Legislative muß in den Händen der Volksbeauftragten liegen.“

Das habe der Kongreß Tags vorher beschlossen, und die Volksbeauftragten seien, wenn er dies jetzt umkehre, nicht willens, die auf ihnen ruhende Verantwortung zu tragen. Es sei das keine Drohung, sondern lediglich Ausdruck ihrer ihnen durch die Erfahrung eingeprägten Überzeugung, und zwar auch die der Vertrauensleute der unabhängigen Sozialdemokratie.

Trotz dieser mit großem Ernst abgegebenen Erklärung traten die radikalen Unabhängigen Rechtsanwalt Obuch und Volksbeauftragter Barth noch scharf für den Antrag Geyer ein. Obuch’s Rede schloß mit den Worten:

„Hinter der Argumentation von der Erschwerung der Gesetzgebung und Verwaltung steckt etwas anderes. Proletarier seid auf der Hut! Haltet fest an Eurem Recht!“

Barth führte aus, daß der Antrag Geyer angenommen werden müsse, um das Vertrauen der Massen wieder zu gewinnen. Dem gegenüber beantragt Lüdemann namens der sozialdemokratischen Fraktion, es bei der Erklärung Haase’s bewenden zu lassen, worauf Volksbeauftragter Landsberg noch einmal auseinandersetzt, daß, wenn der Rat der Volksbeauftragten arbeitsfähig sein solle, der Antrag Geyer unannehmbar sei.

Auf Antrag von unabhängiger Seite, der große Lärmszenen verursacht, wird namentliche Abstimmung über die Anträge Geyer und Lüdemann beschlossen. Ihr Ergebnis, das am folgenden Tage bekannt gegeben wird, ist 290 Stimmen für den Antrag Lüdemann, 115 Stimmen für den Antrag Geyer. Es verbleibt demnach bei der Interpretation Haase’s über das Verhältnis von Vollzugsrat und Volksbeauftragten.

Inzwischen ist in der Fraktion der Unabhängigen auf Betreiben Ledebours und entgegen dem dringenden Rat Haase’s der Beschluß gefaßt worden, sich an der Wahl der Mitglieder des beschlossenen Zentralrats der Arbeiter- und Soldatenräte überhaupt nicht zu beteiligen, und der Unabhängige Braß teilt dies dem Kongreß mit. Es werden infolgedessen nur die auf der Liste der Sozialdemokratischen Partei verzeichneten Personen in den auf 27 Mitglieder normierten Zentralrat gewählt, nämlich:

Robert Leinert (Hannover), Georg Mayer (Ostfront), Hermann Wäger (Ostfront), Hugo Struve (Westfront), Emil Pörschmann (Westfront), Max Cohen (Heimat), Max Pfaff (Marine), Müller (Berlin), Heinrich Zwesta (Nürnberg), Heinrich Schäfer (Köln), Hermann Kahmann (Dresden), Fritz Herbert (Stettin), Walter Lampel (Hamburg), Albert Stuber (Eßlingen), Richard Kater (Karlsruhe), Wilhelm Knoblauch (Darmstadt), Gustav Heller (Berlin), Karl Prokesch (Münden), Karl Zörgiebel (Köln), Karl Bethge (Freiburg), Fritz Voigt (Breslau), Heinrich Kürbig (Hamburg), Otto Sydow (Brandenburg), Albert Grzesinski (Kassel), Max König (Dortmund), Fritz Faß (Westfront), Robert Kohl (Ostfront).

Mit der Wahlenthaltung der Unabhängigen war die Stellung ihrer Parteimitglieder im Rat der Volksbeauftragten auf das Schwerste kompromittiert. Sie legte es den Haase und Genossen sehr nahe, nun ihrerseits zurückzutreten. Wenn sie das nicht taten, so brachten sie damit der Sache der Republik ein Opfer, was der neugewählte Zentralrat auch dadurch anerkannte, daß er ihr Mandat gar nicht erst in Frage stellte.

Von unabhängiger Seite – Geyer-Leipzig – ward noch beantragt, da der Kongreß sich gegen alle separatistischen Bestrebungen erklärt und die Wahl zur Nationalversammlung schon auf den 19. Januar angesetzt habe, möge beschlossen werden, daß Wahlen zu den Landtagen überhaupt nicht mehr erfolgen sollen. Gegen ihn wird jedoch darauf hingewiesen, daß in einigen Staaten solche Wahlen schon stattgefunden haben, auch würde seine Annahme nur die Wirkung haben, den Wahlkampf zu zersplittern und den bürgerlichen Parteien eine in breiten Volkskreisen zugkräftige Parole zu liefern. Er wird dann auch gegen eine kleine Minderheit abgelehnt.

Das Referat Rudolf Hilferdings über die Sozialisierung des Wirtschaftslebens, das den nächsten Gegenstand der Tagesordnung bildete, läßt sich kennzeichnen als eine sachkundige Darlegung des Weges, den die Sozialisierung rationellerweise gehen müsse, nämlich bei der schon monopolistischen Charakter tragenden Produldion der Kohle und der Massenartikel der Schwerindustrie anfangen und dann schrittweise weitergehen. Dadurch gewinne man auch starken Einfluß auf das Bankkapital, während die sofortige Sozialisierung der Banken bei der zerrütteten Lage des deutschen Wirtschaftslebens, das erst wieder aufzubauen sei, sich nicht empfehle. Nur einzelne Zweige des Bankwesens seien dazu geeignet. Wenn man aber nur einzelne Gruppen von Unternehmungen sozialisiere, sei die Entschädigung der Unternehmer nicht zu umgehen, was durch Gewährung von Staatsrenten geschehen könne. Auf dem Lande sei nur der Großgrundbesitz zur Sozialisierung geeignet, an die übrige Landwirtschaft komme man durch das Getreidemonopol heran. Jedenfalls brauche das Sozialisieren Zeit, eine politische Revolution mache sich verhältnismäßig leicht, die Ersetzung einer Wirtschaftsform durch eine andere sei dagegen ein langwieriger Prozeß, die Revolution könne da keine Wunder wirken. Indes sei ja auch das deutsche Proletariat in der Lage, warten zu können, da es den Achtstundentag habe und sich in einer Periode steigender Löhne befinde. Inzwischen sollen die Arbeiter die Sozialisierungsfrage nicht als eine Lohnfrage betrachten, sondern als die Verwirklichung eines sozialen Ideals, die das systematische Zusammenwirken aller Sozialisten erfordere. Mit dem Geist dieses Ideals müssen die Sozialisten die Menschheit erfüllen.

Der Vortrag erntete lebhaften Beifall, an dem sich namentlich die Fraktion der Mehrheitssozialisten beteiligte. Aus ihren Reihen ward auch in der anschließenden Diskussion vorwiegend in seinem Sinne gesprochen. Die Delegierten Möhlich-Dortmund, Berten-Düsseldorf, Schreck-Bielefeld und andere betonten energisch, daß es sich bei der Sozialisierung um ein Werk handle, das ein organisches Vorgehen erfordere, zunächst also durch Betriebskontroüe und ähnliche Maßnahmen vorzubereiten sei. Im Gegensatz dazu forderten Emil Barth und andere unverzügliche Sozialisierung, die schon aus dem Grunde nötig sei. daß es sonst unmöglich sein werde, die Arbeiter in den Betrieben zu halten.

Nach einem kurzen Schlußwort Hilferdings, worin dieser noch einmal vor der Annahme warnt, daß die Sozialisierung nun auch sofort eine Besserung der materiellen Lage der Arbeiter bringen werde, und hinzufügt, daß sie sogar unter Umständen von den Arbeitern Opfer verlangen werde, da man heruntergewirtschaftete Betriebe würde übernehmen müssen, die nicht sofort hohe Löhne zahlen könnten, wird mit großer Mehrheit ein Antrag LüdemannSevering angenommen, der die Regierung beauftragt, unverzüglich mit der Sozialisierung aller dazu reifen Industrien, insbesondere im Bergbau zu beginnen. Ebenso findet ein von unabhängiger Seite gestellter Antrag Annahme, der für den Bergbau Mindestlöhne und den Achtstundentag mit Errechnung von Einfahrt und Ausfahrt forderte. Desgleichen ein Antrag der Soldatenfraktion auf baldigen Erlaß eines Heimstättengesetzes und Förderung der Heimstättenbewegung durch eine Notverordnung.

Ein ganz anderes Schicksal hatte dagegen ein Autrag der Soldateifraktion, der einen Zusammenschluß der beiden sozialdemokratischen Fraktionen und insbesondere die Bildung einer gemeinsamen sozialdemokratischen Kampffront im Wahlkampf forderte. Er führt zu Sturmszenen, die alles in dieser Beziehung auf dem Kongreß schon Vorgefallene in Schatten stellen.

Zunächst empfiehlt der Unabhängige Seeger-Leipzig, den Antrag überhaupt nicht zur Abstimmung zu bringen, da der Kongreß nicht für ihn zuständig sei, und der Mehrheitler Severing-Bielefeld erklärt sich damit einverstanden. Dem widerspricht der Mehrheitler Sicker (Frankfurt), und das Mitglied der Soldatenfraktion Heitmann-Königsberg begründet nun deren Antrag. Folgendes nach dem Bericht des Vorwärts vom 21. Dezember 1918 seine Aufnahme.

Heitmann (Soldatenfraktion) tritt in lebhafter Rede für den Antrag ein.

Die Soldaten haben kein Verständnis für den Bruderkampf, auch soweit sie die Kriegspolitik Scheidemanns verurteilen. Jetzt nach Beendigung des Krieges liegt gar kein Grund mehr zu einer Spaltung wegen der Kriegspolitik vor. So denken Millionen von Soldaten. Die Unterschiede sind gar nicht mehr so groß. Not und Elend müssen so schnell wie möglich beseitigt werden. Im Kampf gegen den Kapitalismus können wir uns den Luxus des Bruderkampfes nicht mehr erlauben. In diesem historischen Augenblick sollten sich die beiden Parteien wieder zusammenschließen. (Lebhafter Beifall. – Lärmende Kundgebungen gegen die Mehrheitssozialisten bei den Linksradikalen und den Tribünenbesuchern.) Das ist die Folge, wenn wir nicht einheitlich in den Wahlkampf ziehen. (Demonstrativer Beifall bei der Mehrheit.)

Dem Soldatenredner, der unter anderem noch bemerkt hatte, daß der Gegensatz zwischen Haase und Liebknecht größer sei als der zwischen Haase und Ebert, stimmt der Mehrheitler Kahmann-Dresden zu, anders Georg Ledebour. Er erklärt das, was der Antrag wolle, für gut und schön, es sei aber nicht in der vorgeschlagenen Weise zu erzielen.

„Im Zusammenarbeiten mit den Arbeitern müssen wir sie für den von uns betriebenen entschiedensten Sozialrevolutionären Kampf gewinnen, aber nicht Verschmelzung oder gemeinsame Listen, wie auch Dittmann empfohlen hat. (Dittmann: „Nein, das habe ich nicht, ich habe nur die Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes des Proletariats betont.“ – Gegenruf aus der radikalen Ecke: „Mit Scheidemann?“) Mit Ebert, Scheidemann und Landsberg, den Hauptschuldigen daran, daß der Kapitalismus den Krieg überleben konnte, in ein Kabinett einzutreten, war der schwerste Fehler unserer Freunde von der USP. (Stürmischer Beifall bei den Radikalen. Lebhafter Widerspruch der Mehrheit.) Die Überrumpelung durch Lüdemann und die Vergewaltigung durch diese unaufgeklärten Leute (Redner weist auf die Soldaten, neue stürmische Beifalls- und Widerspruchskundgebungen), die noch unter der Verhetzungspsychose leiden, beweisen, daß die Zeit für die Einigung erst da ist, wenn auch diese unaufgeklärten Leute den Sinn der Revolution erkannt haben.“ (Stürmischer Widerspruch der Mehrheit, großer Beifall bei den Radikalen, Rufe von dort und von den Tribünen: man muß die Volksverräter hinausschmeißen.)

Der nächste Redner ist der Volksbeauftragte Scheidemann. Kaum erscheint er auf der Tribüne, so erhebt sich ein furchtbarer Lärm. Radikale Delegierte brechen in unaufhörliche Beschimpfungen, wie Lump, Schuft, Kriegshetzer usw. gegen ihn aus und werden dabei von den Besuchern auf der Tribüne unterstützt, die teils dazwischen schreien, teils auf Hausschlüsseln, einige sogar auf mitgebrachten Straßenjungenpfeifen ein Pfeifenkonzert anstimmen, was die Mehrheitssozialisten mit entrüsteten Gegenrufen und mit stürmischen Begrüßungen Scheidemanns sowie anhaltendem Händeklatschen beantworten. Nur mühsam kann Redner sich verständlich machen, denn kaum daß er einige Worte gesprochen, so beginnt auch schon der Lärm von neuem. Er anerkennt die guten Absichten des Antrags der Soldatenfraktion, stellt aber die Unmöglichkeit fest, auf diesem Kongreß in eine rein parteipolitische Auseinandersetzung einzutreten; hier sei objektives Urteil unmöglich. Alle Bemühungen nach dieser Richtung haben nur das Gegenteil von dem erzielt, was sie wollten.

Rufe der Radikalen im Saal und auf den Tribünen: „Erst muß Scheidemann weg, weg mit Scheidemann!“

Scheidemann: „In einer halben Stunde gehe ich ohnehin zum Essen, (Große Heiterkeit und neuer Lärm.) Der Erfolg des Einigungsantrags war diese Auseinandersetzung und die letzte Rede Ledebours. Herausgekommen ist höchstens eine neue Zuspitzung der gegenseitigen Abneigung. Es zeigt sich nur wieder, daß so manche Genossen, statt den Kapitalismus zu bekämpfen, lieber die Arbeiterschaft auseinandersprengen “

Der Lärm steigert sich jetzt durch Auseinandersetzungen im Saal zwischen Mehrheitlern und Unabhängigen zu unbeschreiblicher Intensität, so daß Scheidemann nach einigem Warten erklärt, trotz seines guten Organs auf den Kampf mit den Schreiern zu verzichten. Er tritt mit den Worten von der Tribüne ab:

„Die Antwort, die Sie von mir nicht hören wollen, werden Ihnen am 19. Januar die deutschen Arbeiter geben.“

Erneuter Sturm, worauf der Soldatendelegierte Lampel namens seiner Fraktion deren Resolution mit der Erklärung zurückzieht, er bitte seine Freunde von der Westund Südwestfront, das, was sie in Berlin gesehen, dort bekannt zu geben, damit die Kameraden die Antwort darauf geben können, und eine weibliche Delegierte, Frau Lau, fordert in bewegten Worten die Delegierten auf, die Zeit bis zum Wahltag zur unablässigen Agitation für den Sozialismus auszunutzen, und endet mit einer erneuten Mahnung zur Einigkeit. Doch wird eine Anregung der revolutionären Fraktion Lauffenberg und Genossen, wieder in die Diskussion über den Einigungsantrag einzutreten, vom Kongreß abgelehnt. Ein Antrag der Unabhängigen Fraktion, die diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland unverzüglich wieder aufzunehmen, wird mit großer Mehrheit dem Rat der Volksbeauftragten überwiesen. Es kommen noch zwei dem Kongreß übersandte Proteste entgegengesetzter Tendenz zur Verlesung, und dann wird dieser vom Vorsitzenden Leinert mit einer kurzen Ansprache geschlossen, die in die Worte ausläuft:

„Nicht Auflösung, sondern Hinaufführung des deutschen Volkes und Deutschlands zur höchsten Kultur, zu Glück und Freude wollen wir, damit es auch die Liebe zur Arbeit, zur Arbeit nicht für Kapitalisten, sondern für sich selbst gewinnt. Das revolutionäre sozialistische Deutschland, die geeinte sozialistische Republik Deutschland lebe hoch!“

Und mit Ausnahme eines Teils der Radikalen stimmen die Delegierten in ein dreimaliges Hoch ein.

Noch am gleichen Tage konstituiert sich der vom Kongreß gewählte Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte und wählt zu seinen Vorsitzenden Leinert-Hannover, Cohen-Reuß, Hermann Müller-Berlin, zu Schriftführern Wäger-Ostfront und zum Kassierer Schäfer-Köln. Eine Besprechung mit dem Rat der Volksbeauftragten über die Durchführung der vom Kongreß angenommenen Anträge ergibt Übereinstimmung in allen wesentlichen Punkten. Die Zusammensetzung des Rates wird unverändert belassen.

Aber das betraf nur die Personen. Die Position der zwei Gruppen, aus denen er sich zusammensetzte, zu einander hatte sich bedeutsam verschoben. Während den drei Mitgliedern aus der Mehrheitssozialdemokratie nun der ganze Zentralrat Deckung bot, war den drei Mitgliedern aus der Unabhängigen Sozialdemokratie durch die von Ledebour und Gleichgesinnten erwirkte Enthaltung der Unabhängigen bei der Wahl des Zentralrats die parteigenössische Deckung in diesem entzogen, sodaß sie gewärtigen mußten, nunmehr bei der ersten ernsthaften Meinungsverschiedenheit überstimmt zu werden.

Einstweilen freilich herrschte in beiden Gruppen der gute Wille vor, solange es irgend angehe, an der Zusammenarbeit im Rat festzuhalten. Die Mitglieder der Mehrheitssozialdemokratie im Rat begriffen, von welchem Wert es für die Sache der Republik sei, daß ihre Leitung sich den Massen nicht als die Vertretung einer einzelnen Fraktion darstelle, und das loyale Verhalten der Haase und Dittmann auf dem Kongreß ließ erhoffen, daß die kollegialische Verbindung zum mindesten doch vielleicht bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung vorhalten werde. Die genannten Unabhängigen und auch Emil Barth aber hielten es für ihre Pflicht, im Rat der Volksbeauftragten solange auszuharren, als es ihnen möglich blieb, ihre Auffassung dort mit Erfolg geltend zu machen.

„Indem man auf die Wahlbeteiligung verzichtete“, schrieb das Organ der Unabhängigen, die Freiheit, in ihrem Artikel über den Kongreß mit Bezug auf die Haltung der Unabhängigen, „begab man sich eines wichtigen Mittels ... auf die künftige Politik einzuwirken und brachte überdies die der Unabhängigen Partei zugehörigen Volksbeauftragten in eine schwierige Lage. Sie werden es künftighin sehr viel schwerer haben als bisher, ihren Einfluß geltend zu machen und die Politik der Regierung in sozialistischem Sinne vorwärts zu treiben. Ganz auf eine Einwirkung innerhalb der Regierung zu verzichten, auch die Mitarbeit im Rat der Volksbeauftragten einzustellen, wie von dem linken Flügel des Kongresses auf eine Mitwirkung im Zentralvollzugsrat verzichtet wurde, kann aber nicht als Ziel erscheinen. Die bisherige Entwicklung hat gezeigt, daß unsere Genossen im Rat der Volksbeauftragten wohl mit Hemmungen zu kämpfen haben und nicht alle ihre Wünsche durchzusetzen vermochten, daß aber ihr Einfluß doch auch nicht wirkungslos blieb. Ein Hinausgehen könnte nur dazu beitragen, die revolutionäre Energie der Regierung noch weiter zu schwächen und bürgerlichem Einfluß Tür und Tor zu öffnen.“

Der Vorwärts aber hatte schon Abends vorher von den Unabhängigen geschrieben:

„Sie sagen, sie seien nötig, um die Sozialdemokratie vorwärts zu treiben. Wir bezweifeln das, wollen uns aber das Vorwärtstreiben gern gefallen lassen, wenn es von innen heraus geschieht, und so allein kann es, soweit es überhaupt nötig sein sollte, wirksam sein.“

Und in seiner Nummer vom 21. Dezember schrieb er mit Bezug auf den letzten Tag des Kongresses:

„Auch dieser Tag hat gezeigt, wie wenig heute noch Sozialdemokraten verschiedener Gruppen von einander trennt. Hilferdings kluges Referat über die Sozialisierung hätte auch von einem ‚Rechtssozialisten‘, ebenso gehalten werden können. Wo in der Debatte von einander abweichende Aleinungen zutage traten, zeigte sich doch, daß man sich auf einer gemeinsamen sachlichen Grundlage befand.“

Das klang alles recht hoffnungsvoll, doch sollte in Wirklichkeit das Zusammenarbeiten im Rat der Volksbeauftragten keine zehn Tage mehr andauern.


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008