MIA > Deutsch > Bernstein > Die deutsche Revolution
So klar es für jeden Sozialisten sein mußte, daß der gute Fortgang der Revolution vom gefestigten Zusammenarbeiten der sozialistischen Fraktionen abhing, da auf sie die politische Macht übergegangen war, so schwer erwies es sich in der Praxis, dieses Zusammenarbeiten in dem erforderten Grade und auf die nötige Zeitdauer zur Wirklichkeit zu machen. Wohl darf man sagen, daß bei der großen Mehrheit der führenden Mitglieder der beiden sozialdemokratischen Fraktionen es am guten Willen hierzu nicht mangelte. Aber mit diesem guten Willen allein war es nicht getan, solange nicht auch wenigstens in bezug auf die wichtigsten Fragen der zu beobachtenden Haltung und der zu ergreifenden Maßnahmen grundsätzliche Übereinstimmung erzielt war. Hieran fehlte indes, wie sich bald zeigte, so mancherlei, und die erste Wirkung war, daß, ganz besonders im Reich, wie die Republik Deutschland noch hieß, die Arbeiten des Rats der Volksbeauftragten ungemein schleppend vonstatten gingen und den Persönlichkeiten, die ihn bildeten, wenig Befriedigung gewährten. Man stand sich drei gegen drei gegenüber, war also bei Meinungsverschiedenheiten von Gruppe gegen Gruppe auf sich lange hinziehendes Unterhandeln angewiesen, um überhaupt einen Beschluß zu erzielen, und mußte, wo ein solcher nicht zu erzielen war. manche zur Entscheidung stehende Angelegenheit aufs Unbestimmte hinaus unerledigt lassen.
Der Krieg und die Verschiedenheit der Stellungnahme in diesem hatten eben doch auf die Seelen so tiefe Eindrücke zurückgelassen, daß es manchmal scheinen mochte, als stünden sich die Vertreter grundverschiedener Lebens- und Gesellschaftsauffassungen gegenüber. Die Mehrheitssozialisten hatten in bezug auf die spezifisch nationalen Fragen, einschließlich der Frage des Heerwesens, sich der Auffassung der bürgerlichen Parteien ziemlich stark angenähert, die Unabhängigen wiederum einen intransigenteren Standpunkt gewonnen als vor dem Kriege. Die ersteren waren zu größeren Zugeständnissen an bürgerliche Interessen geneigt als vordem, die letzteren um so mehr veranlaßt, über solche sich hinwegzusetzen, als ihre mit spartakistischen Elementen durchsetzte Anhängerschaft im Lande ungeduldig auf radikale Maßnahmen drängte.
Indes wäre es, da man auf beiden Seiten sich der großen Verantwortungen durchaus bewußt war, doch wohl mit der Zeit zu einer ziemlichen Annäherung der Standpunkte gekommen, wenn nicht Agitationen von außen dafür gesorgt hätten, daß eines Tages die Gegensätze im Gegenteil sich zu verschärfen anfingen. Ganz besonders verhängnisvoll wurden der jungen Republik auf der einen Seite die Mißgriffe des auswärtigen Amtes und der deutschen Waffenstillstandskommission in der Behandlung der durch die harten Forderungen der Entente geschaffenen Sachlage, auf der anderen Seite die Streitigkeiten über die Aufgaben und Vollmachten der Arbeiter- und Soldatenräte, wie sie durch die wühlende Hetzarbeit der vom Bolschewismus erfaßten Elemente sich zu verhängnisvollen Zusammenstößen zuspitzten.
Bei Besetzung der Posten in der Republik hatte man das Amt des Staatssekretärs des Auswärtigen in den Händen des Ministers Solf gelassen, der sich unter der Regierung Wilhelms II. als tüchtiger und modernen Auffassungen nicht unzugänglicher Kolonialminister bewährt hatte und von dem man wußte, daß er Gegner der kaiserlichen Kriegspolitik gewesen war. Ebenso beließ man dem Zentrumspolitiker Mathias Erzberger das Amt des Unterstaatssekretärs im auswärtigen Amt und übertrug ihm die Vertretung der Regierung bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Spaa. Beide Persönlichkeiten begingen jedoch in der Behandlung dieser letzteren Frage zunächst große Fehler. Man wird es ihnen nicht zu hart anrechnen, daß sie im ersten Augenblick über die Schwere der Bedingungen der Entente die Fassung verloren, und konnte nichts dagegen einwenden, daß sie gegen diejenigen davon, die ihnen ungeheuerlich und mit den Ankündigungen der leitenden Staatsmänner der Allierten und insbesondere des Präsidenten Wilson in hellem Widerspruch stehend erschienen, Protest einlegten und das Urteil der öffentlichen Meinung der Kulturwelt anriefen. Aber sie überschritten darin wiederholt das Maß dessen, was vernünftigerweise vertreten werden konnte, und stellten Forderungen als unerhört und mörderisch hin, die zwar sehr drückend waren, aber, wie die Forderung der Auslieferung von 5000 Lokomotiven als Ersatz für die aus Belgien und Frankreich weggeführte gleiche Zahl, doch einer Berechtigung nicht entbehrten und innerhalb eines etwas verlängerten Termins auch ohne ernsthaften Schaden durchgeführt werden konnten. Außerdem begingen sie auch die Taktlosigkeit, immer wieder Wilson gegen seine Alliierten anzurufen, wodurch diese nur um so mehr gereizt wurden, Wilsons Stellung im Rat der Sieger aber sehr erschwert ward. Auch schwächten sie die Eindruckskraft ihrer Proteste dadurch selbst ab, daß sie kaum einen Tag verstreichen ließen, ohne deren Zahl um einen neuen zu vermehren. Alles das schuf eine sehr unangenehme, der Republik abträgliche Stimmung. Die Nationalisten höhnten, man sehe jetzt, wie verkehrt es gewesen sei, den Erklärungen der Politiker der Entente Glauben zu schenken, daß ihr Kampf nur dem deutschen Imperialismus, nicht aber dem deutschen Volk gelte. Im sozialistischen Lager aber forderten Wortführer der Unabhängigen einen Personenwechsel, während leitende Mitglieder der Mehrheitler vor einem solchen zurückschreckten, wobei sie sich hinsichtlich Erzbergers auf dessen unleugbar große Sachkunde berufen und schließlich auch auf einige von ihm erwirkte kleine Zugeständnisse hinweisen konnten.
Der Gegensatz kam öffentlich zur Sprache auf der Reichskonferenz der neuen Regierungen der jetzt Freistaaten genannten deutschen Einzel-Staaten, die am 25. November 1918 in der Reichskanzlei zu Berlin stattfand. Die Zusammenkunft wurde durch eine angemessene Ansprache Fritz Eberts eröffnet, worauf die Herren Solf und Erzberger Bericht gaben über die Waffenstillstandsbedingungen und die Aussichten des Friedensschlusses.
Ihre Darlegungen klangen überaus pessimistisch. Übereinstimmend erklärten sie, daß von Seiten der Entente das Schlimmste zu gewärtigen sei, wenn nicht bald eine von der Nation auf Grund von Wahlen anerkannte Regierung gebildet werde, die einen Präliminarfrieden schließen könne. Nachdem sie geendet, nahm der neben ihnen sitzende Kurt Eisner als Vertreter Bayerns das Wort und hielt eine auch im Ton außerordentlich scharfe Anklagerede gegen sie. Ihre Tätigkeit könne nur als gegenrevolutionär bezeichnet werden und schädige Deutschland schwer. Es zeige sich, daß die Verhandlungen mit den Alliierten nicht durch Leute geführt werden dürfen, die irgendwie zum alten System gehört hatten. Mit andern Worten, sie müßten unbedingt den Platz räumen. Die Rede wurde auf Seiten der Mehrheitler sehr unangenehm empfunden. Drei ihrer Redner, Fritz Ebert, Wolfgang Heine und Otto Landsberg, traten Eisner entgegen, wobei sie insbesondere Erzberger in Schutz nahmen, während Solf weniger Verteidigung fand. Er legte denn auch in der Tat bald darauf sein Amt nieder und wurde auf Vorschlag Hugo Haase’s durch den Grafen Brockdorff-Rantzau ersetzt, bis dahin deutscher Gesandter in Kopenhagen, aus dessen während des Krieges nach Berlin gesandten Berichten eine klare Erfassung der Situation und freimütige Kritik der Kriegspolitik sprachen.
Die Konferenz beschäftigte sich dann weiter mit der von einigen radikalen Mitgliedern (Geitner-Gotha, Merges-Braunschweig) verfochtenen Idee, unbekümmert um die Frage des Friedens an die Durchführung des Sozialismus heranzugehen und bis diese vollzogen sei, die Herrschaft der Arbeiter- und Soldätenräte aufrecht zu erhalten, bezw. von der Wahl einer Nationalversammlung abzusehen. Die Anwälte dieser Idee blieben jedoch mit ganz vereinzelten Stimmen in der Minderheit. Außer Vertretern der Mehrheitssozialisten sprachen auch die namhaftesten Vertreter der unabhängigen Sozialdemokratie – die Haase, Eisner, Crispien – gegen sie. Mit großer Mehrheit wurden vielmehr die folgenden von Ebert vorgeschlagenen Sätze als Zusammenfassung des Ergebnisses der Besprechung angenommen:
„1. Aufrechterhaltung der Einheit Deutschlands ist dringendes Gebot. Alle deutschen Stämme stehen geschlossen zur deutschen Republik. Sie verpflichten sich, entschieden im Sinne der Reichseinheit zu wirken und separatistische Bestrebungen zu bekämpfen.
2. Der Berufung der konstituierenden Nationalversammlung wird allgemein zugestimmt, ebenso der Absicht der Reichsleitung, die Vorbereitungen zur Nationalversammlung möglichst bald durchzuführen.
3. Bis zum Zusammentritt der Nationalversammlung sind die Arbeiter- und Soldatenräte die Repräsentanten des Volkswillens.
4. Die Reichsleitung wird ersucht, auf schleunige Herbeiführung des Präliminarfriedens hinzuarbeiten.“
Einstimmig nahm die Konferenz ferner nach sehr eindrucksvollen Referaten der Staatssekretäre Wurm vom Reichsernährungsamt, Dr. Koeth vom Demobilmachungsamt, August Müller vom Reichsarbeitsamt und Eugen Schiffer vom Reichsschatzamt folgende Resolution an:
„Um das wirtschaftliche Leben Deutschlands aufrechtzuerhalten, die ungestörte Versorgung des Landes mit Lebensmitteln und Rohstoffen aus dem Ausland zu sichern und die deutsche Volksrepublik im Inund Ausland kreditfähig zu erhalten, ist das Fortarbeiten aller Banken, Sparkassen und sonstigen Kreditinstitute auf der bisherigen Grundlage und in der bisherigen Form unbedingt erforderlich. In Übereinstimmung mit den Vertretern der deutschen Einzelstaaten erklärt daher die Reichsregierung, daß jeder Eingriff in die geschäftliche Tätigkeit der Kreditanstalten zu unterbleiben hat.“
Nicht ohne ein Gefühl der Wehmut liest man nachträglich die Darlegungen Schiffers über die Finanzlage der Republik. Was er dort als äußerst bedenklichen Stand der Finanzen hinstellte, mutet uns nun, noch nicht zwei Jahre später, fast als ein Idealzustand an. Indes zeigten sich doch damals schon deutlich genug die Gefahren an, welche den Haushalt der Republik bedrohten, und so forderte denn Schiffer noch mit stärkerem Nachdruck als seine Vorredner die schleunige Einberufung der Nationalversammlung. Er entwickelte ein Steuerprogramm, das in bezug auf radikales Anfassen der Gewinne und des Besitzes schon so ziemlich die ganze spätere Erzbergersche Steuergesetzgebung vorwegnahm und daher selbst auf der Linken der Konferenz Beifall erntete. Aber er setzte hinzu, daß die Durchführung dieses Programms auf tausend Schwierigkeiten stoßen werde, wenn für es nicht die gesetzliche Grundlage geschaffen sei. Ohne eine solche würde es namentlich ganz unmöglich sein, Wirksames gegen Kapitalsflucht und Steuerscheu auszurichten.
Ebenso klangen auch die Schlußworte Eberts, die auf die Notwendigkeit von Arbeit und Selbstzucht für die gedeihliche Entwicklung der Republik hinwiesen, in einen Ruf nach der Nationalversammlung aus.
In bezug auf diese Frage gingen jedoch die Meinungen der beiden sozialdemokratischen Fraktionen hinsichtlich des Termins noch ziemlich weit auseinander. Bei den Mehrheitlern war man für möglichst baldige Ausschreibung von Wahlen, ein bei der Masse der Berliner Unabhängigen einflußreicher Flügel, dessen entschiedenster Sprecher Georg Ledebour war, wollte dagegen den Termin möglichst weit hinausschieben. Gar nicht zu reden von den Anhängern des Spartakusbundes, die als gelehrige Schüler der russischen Bolschewisten Gegner jeder auf Grund allgemeiner Wahlen gebildeten Gesetzgebungsund Verwaltungskörper waren.
Der Spartakusbund bildete in jenem Zeitpunkt noch einen Flügel der Unabhängigen Sozialdemokratie. Er war während des Krieges aus Anhängern der äußersten Opposition der sozialdemokratischen Partei erstanden, der ein regelmäßig erscheinendes, geheim verbreitetes Blättchen mit Spartakus gezeichneten Artikeln als geistiges Verbindungsglied diente, und hatte nach diesen, zum großen Teil von Karl Liebknecht herrührenden Artikeln seinen Namen gewählt. Opposition innerhalb der von Hugo Haase, Wilhelm Dittmann, Georg Ledebour und andern geführten Opposition hatte er zuerst die Spaltung der sozialdemokratischen Partei propagiert, und unter seiner Mitwirkung war diese Ostern 1917 auf einer in Gotha abgehaltenen Konferenz von Gegnern der Kriegspolitik der Partei dadurch zustande gekommen, daß mit 76 gegen 44 Stimmen der Zusammenschluß der Opposition zu einer eigenen, sich Unabhängige Sozialdemokratie nennenden Partei bebeschlossen wurde.
Hugo Haase, der dieser Sonderbildung widerraten hatte, sich aber dann dem Mehrheitsbeschluß unterwarf, hatte am Schluß der Konferenz an die dem Spartakusbund angehörenden Delegierten die Mahnung gerichtet, die beschlossene Parteiorganisation nicht, wie vom Delegierten Heckert und anderen schon unter der Hand herumgegeben worden war, lediglich als „schützendes Dach für die bequemere Betreibung ihrer Sonderzwecke“ zu benutzen, sondern nun auch gute Parteigenossenschaft zu üben. Er hatte aber damit keine nachhaltige Wirkung erzielt. Die Spartakusleute suchten die Mitgliedschaften der neuen Partei im Sinne ihrer, auf revolutionäre Er hebungen abzielenden Agitation zu bearbeiten, und betrieben, wo ihnen das nicht gelang, nach wie vor ihre eigene Propaganda. Dies namentlich, nachdem in Rußland die Bolschewisten zur Herrschaft gekommen waren und, nach Abschluß des Friedens von Brest-Litowsk, in Berlin eine Gesandtschaft mit Joffe als Chef errichtet hatten. Unter den verschiedensten Formen flössen ihnen von Joffe Unterstützungen zu, mit Hilfe deren sie im größeren Stil systematisch die Vorarbeit für aufständische Bewegungen betreiben und schließlich zum Ankauf von Waffen übergehen konnten. Dem darüber im vierten Kapitel dieser Schrift (S. 22) Mitgeteilten sei noch folgendes Stück aus dem in der Freiheit vom 15. Dezember 1918 abgedruckten Funkspruch des nach Moskau zurückgekehrten Joffe wiedergegeben:
„Auf die Erklärung der Herren Volksbeauftragten Emil Barth und Hugo Haase erkläre ich zunächst, daß ich allerdings ein lächerlicher Konspirator und in der illegalen Organisation der russischen sozialdemokratischen Partei 15 Jahre lang umsonst tätig gewesen wäre, wenn ich in meiner streng illegalen revolutionären Tätigkeit in Berlin so gehandelt hätte, wie es den beiden Herren darzustellen beliebte.
Es versteht sich von selbst, daß ich die zum Ankauf von Waffen bestimmten Geldbeträge nicht unmittelbar an Barth aushändigen konnte, da dieser Herr ein Neuling in der Arbeiterbewegung war und mir kein großes Vertrauen einflößte. Ich mußte vielmehr als Mittelsperson solche Genossen auswählen, die auf mein Vertrauen mehr Anspruch und deren Namen besseren Klang in der Arbeiterbewegung hatten. Es war jedoch Herrn Volksbeauftragten Barth ganz genau bekannt, daß die mehrere Hunderttausend Mark, die er, wie er selbst zugibt, von den deutschen Genossen erhalten hatte, letzten Endes von mir stammten. Mir gegenüber hat er dies bei unserer von ihm erwähnten Zusammenkunft, vierzehn Tage vor Ausbruch der Revolution, bestätigt, als er sagte, er wisse ganz genau, wo diese Gelder ihren Ursprung hätten.“
Ihrerseits nahmen die Spartakusleute mit der materiellen Hilfe schrittweise auch die politische Doktrin der Bolschewisten an. Auf einer am 7. Oktober 1918 in Gotha abgehaltenen Reichskonferenz beschloß der Spartakusbund überall in Deutschland die Bildung von Arbeiter- und Soldatenräten zu betreiben. Der Beschluß fand die rückhaltlose Zustimmung und Unterstützung Karl Liebknecht’s, der nach seiner am 21. Oktober 1918 durch Philipp Scheidemann erwirkten Freilassung aus dem Zuchthaus die Führung des Spartakusbundes übernahm. Wir haben gesehen, wie er am Abend des 9. November 1918 versuchte, die Fraktion der Unabhängigen Sozialdemokratie auf das bolschewistische Programm der Rätediktatur festzulegen, in der Die Rote Fahne betitelten Nummer des Berliner Lokal-Anzeiger vom 10. November 1918 die Arbeiter Berlins aufforderte, es zu ihrem Programm zu machen, und in der großen Versammlung der Arbeiter- und Soldatenräte Berlins vom Abend des 10. November 1918 in diesem Sinne auftrat, wie jedoch entgegen dem von seinen Anhängern gestellten Antrag, den Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte so zusammenzusetzen, daß auf eine Mehrheit im Rat für jenen Plan gehofft werden konnte, dieser vielmehr paritätisch aus Unabhängigen und Mehrheitssozialisten zusammengesetzt wurde, worauf Liebknecht für sich und die abwesende Rosa Luxemburg jede Wahl in den so zusammengesetzten Vollzugsrat ablehnte.
Dieser Verzicht sollte aber nicht heißen, daß die beiden und der Spartakusbund sich dem Mehrheitsbeschluß zu unterwerfen und bis auf weiteres passiv zu verhalten gedachten. Im Gegenteil, mit Eifer verlegten sie sich nun auf eine Agitation, die den Zweck hatte, die von jener Versammlung sanktionierte paritätische sozialistische Regierung der neuen Republik zu sprengen – die „Scheidemänner“, wie das Wort ging, das heißt die Mitglieder der Mehrheitssozialdemokratie, aus ihr hinauszutreiben. Daß, wenn der Plan in Berlin gelang, dies angesichts der Stärke der Mehrheitssozialisten im Lande Deutschland in den Zustand der Anarchie mit allen verheerenden Folgen einer solchen hätte stürzen müssen, kam für Karl Liebknecht und seine Parteigänger nicht in Betracht. Eine starke Unbekümmertheit um die Folgen seines politischen Tuns war ja auch sonst Liebknecht eigen. Sie war die psychologische Ursache der großen tragischen Schuld, die er in jenen Tagen auf sich lud.
Der Politiker, und insbesondere der Führer einer Massenbewegung, nimmt mit seinem Tun und Lassen eine Verantwortung auf sich, bei der die gute Absicht allein nicht genügt, jede Schuld für üble Wirkungen auszuschließen. Vom Führer kann und muß man verlangen, daß er sich ernsthaft und gründlich die Wirkungen von Aktionen überlegt, zu denen er oder seine Partei den Reiz verspüren, ehe er sie anordnet und gutheißt. Im Grunde kann man sogar den kategorischen Imperativ aufstellen: der Führer muß wissen – nämlich eben, welches die wahrscheinlichen Folgen seiner Anordnungen sein werden. Weiß er das nicht, so war er nicht zum Führer berufen und lud schon dadurch eine Schuld auf sich, daß er die so verantwortungsvolle Rolle des Führers übernahm, ohne ihr gewachesn zu sein. Treffend führt der Karl Liebknecht in dessen Wollen sehr nahestehende radikale Ethiker Magnus Schwantje in seiner Schrift Sollen wir jede sogenannte ehrliche Überzeugung achten? (Berlin 1920, Verlag Neues Vaterland) aus, daß selbst ein Mensch, der Gutes wollte und sich in dieser Absicht schwere Opfer auferlegte, aber tatsächlich, weil er falsche Mittel anwandte oder die Folgen seines Tuns nicht voraussah, Schaden bereitete, nicht auf den Irrtum hin von Schuld freizusprechen sei. „Denn“, schreibt Schwantje sehr richtig, „es ist ja möglich, daß er nur deshalb sich in der Wahl der Mittel irrte und die Folgen seines Tuns nicht erkannte, weil er sich nicht genügend bemühte, die richtigen Mittel zur Erreichung seines guten Zweckes zu finden, oder daß seine guten Absichten vermischt waren mit egoistischen Neigungen, welche die Unbefangenheit seines Nachdenkens trübten (a.a.O., S.4 und 5). Egoistische Neigungen brauchen aber nicht notwendig auf materielle Vorteile gerichtet sein, sie liegen auch vor, wo Menschen gewohnt sind, ohne Rücksicht auf die Wirkung auf andre wahllos ihren persönlichen Empfindungen und Eingebungen zu folgen.
Der Spartakusbund setzte sich vornehmlich aus jungen Leuten ohne Erfahrung und politisches Urteil zusammen, denen sich nach dem Sieg der Revolution exaltierte und unzufriedene Elemente der verschiedensten Art zugesellten. Er hatte in einer Anzahl von Fabriken Berlins seine Vertrauensleute, und diese nebst den Vertrauenspersonen seiner sonstigen Sektionen hielten gemeinsame Sitzungen ab und machten die in diesen Sitzungen gefaßten Beschlüsse mit der Unterschrift „die revolutionären Obleute“ bekannt, ohne daß die große Masse der Berliner Arbeiterschaft über die Mandate und die Zusammensetzung dieser revolutionären Obleute Genaueres erfuhr.
Nicht wenige Arbeiter wurden auf diese Weise irregeführt. An ihre so gemischte Anhängerschaft aber richteten Karl Liebknecht und andere Führer des Spartakusbundes in der nach Räumung des Lokal-Anzeigers von ihnen herausgegebenen Zeitung Die Rote Fahne in überaus heftigen Artikeln den Ruf, sich zum Kampf wider die eben geschaffene Regierung der Republik zu rüsten. An ihrer Spitze zog Liebknecht unter Rufen, die zum Sturz der mehrheitssozialistischen Mitglieder der Regierung aufforderten, durch die Straßen, wo die Regierungsgebäude liegen, und an sie teilten er und Freunde schließlich Waffen aus. Wohin sollte, wohin mußte das führen? Konnte es anderes als blutige Kämpfe zwischen Sozialisten zum Schaden für die Republik zur Folge haben? Diese Frage stellte am 24. November 1918 Kurt Eisner an Liebknecht, als er zur Reichskonferenz der einzelstaatlichen Regierungen nach Berlin gekommen war, und hielt ihm in zwei Stunden währender eindringlichen Unterredung vor, wie schwer er sich an der großen Sache, die auf dem Spiele stehe, versündige, wenn er fortfahre, in der geschilderten Weise zu agitieren. Aber so wenig wie andere konnte Eisner Liebknecht bewegen, von der Art seiner Agitation Abstand zu nehmen.
So trat denn eines Tages die unvermeidliche Folgewirkung ein. Schon in der Nacht vom 21. Nov. 1918 versuchten nach einer Versammlung, in der Liebknecht gesprochen hatte, einige von dieser kommende Hitzköpfe, denen selbst der linksunabhängige Polizeipräsident Eichhorn nicht radikal genug erschien, einen Angriff auf das Polizeipräsidium, wobei sie einen Polizisten erschossen, doch konnte der Versuch ohne sonstiges Blutvergießen abgewehrt werden. Blut floß dagegen am Abend des 6. Dezember 1918. Es ist der Tag, an dem Nachmittags ein konfuses Mitglied des Soldatenrats, der Feldwebel Fischer, angestachelt durch einen als Skandaljournalisten bekannten Deutsch-Amerikaner, namens Martens, und zwei jüngere Aristokraten aus dem Auswärtigen Amt, mit Bewaffneten in eine Sitzung des Vollzugsrats der Arbeiterräte eindrang und ihn, der sich allerhand Gegner gemacht hatte, für verhaftet erklärte, während ein Feldwebel Spiro an der Spitze von Soldaten vor die Reichskanzlei zog, Fritz Ebert herausrufen ließ und ihn im Namen der inzwischen angesammelten Menge aufforderte, sich zum Präsidenten der Republik ausrufen zu lassen. Ebert gab im Angesicht der in allerhand Zurufen sich ergehenden Menge die hinhaltende Antwort, er müsse die Sache doch erst mit seinen Kollegen vom Rat der Volksbeauftragten besprechen, und ordnete die sofortige Freisetzung des Vollzugsrats an, womit der durch seine Hirnlosigkeit harmlose „Putsch“ sein Ende nahm. Aber er hatte sein böses Nachspiel.
Vielleicht nicht ganz zufällig war er zur gleichen Zeit in Szene gesetzt worden, wo im Norden und Nordosten Berlins vom Spartakusbund veranstaltete Versammlungen von Deserteuren, Kriegsbeschädigten, Urlaubern und Arbeitslosen stattfanden. In diesen Versammlungen besonders leicht zu unüberlegten Aktionen erregbarer Elemente, für die eigene Organisationen und „Räte“ geschaffen worden waren, ward die Nachricht von der vermeintlichen Aufhebung des Vollzugsrates verkündet und versetzte, durch die Redner entsprechend kommentiert, die Teilnehmer in nicht geringe Wut. Man beschloß, sofort zu Gegendemonstrationen überzugehen, erwirkte sich vom Polizeipräsidenten Emil Eichhorn die Erlaubnis zu, wie behauptet wird, unbewaffneten Umzügen und setzte diese ins Werk. Noch ehe aber die Trupps sich formiert hatten, war dem Soldaten Krebs, Mitglied des Soldatenrats der Kommandantur, von einem Mitglied des Soldatenrats Berlin telefonisch gemeldet worden, die Teilnehmer an den Deserteurversammlungen beabsichtigten nach Schluß der Versammlungen Demonstrationen zu veranstalten, „um ihre Forderungen mit Waffengewalt durchzusetzen“. Krebs berichtete dies pflichtgemäß der Kommandantur, an deren Spitze der Mehrheitssozialist Otto Wels stand, und diese, an die kurz vorher die Nachricht von der versuchten Aufhebung des Vollzugsrat gelangt war, so daß sie glauben mußte, es gleichzeitig mit einem Putschversuch von rechts und von links zu tun zu haben, gab, da ihr von der Abmachung mit dem Polizeipräsidenten nichts mitgeteilt worden war, den Befehl, die Straßen nach dem Regierungsviertel, durch welche die Züge der Demonstranten gehen wollten, abzusperren. Da die Hauptversammlung der Spartakusleute in den Germaniasälen in der Chausseestraße im Norden Berlins stattfand, wurden Truppen des in der gleichen Straße kasernierten Regiments der Gardefüsiliere (im Berliner Volksmund Maikäfer genannt) mit der Ausführung des Befehls beauftragt.
Der aus den Germaniasälen ausrückende Zug, der sich durch die, die Chausseestraße kreuzende Invalidenstraße nach dem Westen zu bewegen wollte, ließ sich ohne ernsthaften Widerstand zum Auseinandergehen bewegen. Anders dagegen ein Zug, der von einer in den Sophiensälen in der dem nördlichen Zentrum zugehörenden Sophienstraße abegehaltenen Versammlung vom Oranienburger Tor her durch das südliche Stück der Chausseestraße gegen die Invalidenstraße hin vorrückte. Er wurde, an dieser angelangt, ebenfalls von Gardefüsilieren angehalten und zum Auseinandergehen aufgefordert, widersetzte sich jedoch, und so kam es zu einer Schießerei, der nicht weniger als 16 Tote, 12 Schwerverwundete und eine Anzahl Leichtverwundeter zum Opfer fielen. Wer den Befehl zum Schießen gegeben hat, beziehungsweise auf welcher Seite zuerst zum tätlichen Angriff übergegangen wurde, ist nicht festgestellt worden. Die Soldaten, die strengen Befehl hatten, nur im Fall äußerster Notwehr von der Waffe Gebrauch zu machen, behaupteten, es sei zuerst aus den Reihen der Demonstranten auf sie geschossen worden, und da auch sie Verwundete hatten, liegt das nicht außer dem Bereich der Möglichkeit. Tatsächlich hatte Polizeipräsident Eichhorn diesen Demonstranten Waffen aushändigen lassen. Natürlich ist es auch möglich, daß im Wortwechsel mit den Demonstranten einer der Soldaten den ersten Schuß abgegeben hat.
Das traurige Ereignis rief nicht geringe Erregung hervor. Alle diejenigen, denen an der Festigung und fortschreitenden Entwicklung der demokratischen Republik lag, konnten es nur auf das Tiefste beklagen. Dieses Empfinden brachten denn auch die Presse der bürgerlich-republikanischen Parteien und die Organe der Sozialdemokratischen Partei zum Ausdruck. Die bürgerlichen Blätter fügten hinzu, daß es zu diesem Schießen wahrscheinlich nicht gekommen wäre, wenn die Regierung eine wohlorganisierte Schutzmacht hinter sich hätte und unzweideutig zu erkennen gäbe, daß sie fest entschlossen sei, Krawallen mit ihr zu begegnen. Umgekehrt schoben die Führer der Spartakuspartei sofort alle Schuld für den Zusammenstoß auf die Sozialdemokraten in der Regierung. So schrieb die Rote Fahne vom 7. Dezember 1918:
„Arbeiter! Soldaten! Genossen! Vierzehn Leichen liegen auf dem Pflaster Berlins! Wehrlose, friedliche Soldaten, durch feigen Meuchelmord niedergemacht! Zieht zur Verantwortung die Schuldigen dieses blutigen Verbrechens! Fegt hinweg von der Regierung die wahren Schuldigen, die infamen Hetzer, die Verführer der unaufgeklärten Soldatenmasse, die Wels, Ebert und Scheidemann mit Genossen! Ihre Namen sind jetzt zum Schlachtruf der Gegenrevolution, zum Feldzeichen der Anarchie und des Brudermordes, zum Banner des Hochverrats an der Revolution geworden! Energie! Geschlossenheit, Festigkeit! Es gilt zu handeln! Das blutige Verbrechen muß geahndet, die Verschwörung der Wels– Ebert – Scheidemann muß mit eiserner Faust niedergemacht, die Revolution gerettet werden. Nieder mit den Wels–Ebert–Scheidemann und Genossen! Die ganze Macht an die Arbeiter- und Soldatenräte! Ans Werk! Auf die Schanzen! Zum Kampf! Nieder mit den blutbesudelten, feigen Veranstaltern des Putsches! Hoch die Revolution!“
Umgekehrt machte der Vorwärts das „gewissenlose Treiben der Spartakusleute“ und die „ungeheure Erbitterung von neun Zehnteln der Berliner Soldaten gegen dieses Treiben“ für den blutigen Zusammenstoß verantwortlich. Die Behauptung, die Regierung lasse auf das Volk schießen, lehnte er im voraus mit der Bemerkung ab, in der Chauseestraße habe „Volk auf Volk“ geschossen, denn die Soldaten, die versicherten, daß sie sich tatsächlich in der Notwehr befunden hatten, seien „schließlich doch auch Volk“. Das Organ der Unabhängigen, die Freiheit, schrieb zuerst mehr im Sinne der Roten Fahne, daß die Militärbehörden, welche die Soldaten auf die Straße geschickt hatten, vor allem für das Blutvergießen verantwortlich zu machen seien, und forderte „rücksichtslose, schleunige Untersuchung und exemplarische Bestrafung der Schuldigen, aller Schuldigen“. Daneben schob sie einen Teil der Schuld auf die vom Vorwärts und der bürgerlichen Presse gegen Liebknecht und dessen Anhänger angeblich betriebene „Hetze“. Eine arge Umkehrung des Sachverhalts. Denn soweit hier Hetze vorlag, war sie zumeist nur das Echo der unablässig in der Roten Fahne betriebenen Aufstachelung der Arbeiter zum gewaltsamen Sturz der Regierung. Aber die Freiheit befand sich in einer Zwischenstellung, in der sie glaubte, sich den Einfluß der rabiateren Elemente dadurch sichern zu können, daß sie ihre Sprache möglichst der der äußersten Linken anpaßte. Tatsächlich förderte sie jedoch dadurch um so mehr, die Arbeit dieser letzteren, während sie von ihnen selbst nur Hohn erntete.
Diesmal blieb es jedoch nicht dabei. In der Abendausgabe ihrer Nummer vom Montag, den 9. Dezember 1918 brachte die Freiheit eine Notiz, in der sie mit Genugtuung feststellt, daß die Spekulation der bürgerlichen Presse auf einen, aus Anlaß der Vorgänge vom 6. Dezember sich einstellenden Konflikt zwischen dem Kabinett, d. h. dem Rat der Volksbeauftragten, und dem Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte sich als trügerisch erwiesen habe. In der am Sonnabend, dem 7ten stattgehabten Aussprache seien „alle schwebenden Fragen geklärt“ worden.
„Insbesondere sei festgestellt worden,“ sagt die Notiz, „daß Ebert und Scheidemann von dem Putschversuch nichts gewußt haben und durch ihn überrascht worden sind. Man darf erwarten, daß durch diese Aussprache eine gemeinsame Basis gefunden worden ist, auf der ein ersprießliches Zusammenarbeiten der revolutionären Behörden, der Regierung und des Vollzugsrats, erfolgen wird.“
Diese Richtigstellung war selbstverständlich nicht nach dem Geschmack der Roten Fahne. In ihrer Nummer vom 10. Dezember schrieb sie:
„Das unabhängige Organ triumphiert also und jubelt, daß die angebliche Hoffnung der Bourgeoisie auf den Konflikt zwischen dem Kabinett und dem Vollzugsrat, lies: zwischen den Scheidemännern und den Unabhängigen, schnöde enttäuscht worden sei. Die Freiheit triumphiert darüber, daß die Scheidemänner und die Unabhängigen sich wieder ausgesöhnt haben!
Die 14 Leichen in der Chausseestraße, der Freitagsputsch, war nur ein vorübergehendes Wölklein auf dem blauen Himmel der Harmonie zwischen den Haase-Leuten und den Organisatoren des gegenrevolutionären Umsturzes und des Blutbades. In den Armen liegen sich beide, und die Freiheit verkündet freudestrahlend, daß ‚eine gemeinsame Basis gefunden worden sei‘, auf der ‚ein ersprießliches Zusammenarbeiten‘ zwischen den Unabhängigen und den Scheidemännern erfolgen werde!
Und das sagt dieselbe Freiheit, die jene Zuschrift des Mitglieds des Soldatenrats Hermann Gräber abgedruckt hat, worin protokollarisch nachgewiesen ist, daß Ebert von A bis Z über den Putsch informiert war und daß er das betreffende Protokoll seinem Haase unterschlagen hat.
Das sagt dieselbe Freiheit, die die Erklärung von Wels über die Abriegelung der Chausseestraße abgedruckt hat, worin Wels geständig ist, den Befehl zum Blutbad gegeben zu haben.
Das sagt dieselbe Freiheit, die das weitverzweigte gegenrevolutionäre Komplott der Wels–Marten geschildert hat.
Das sagt sie in dem Moment, wo gegenrevolutionäre Offiziere an der Spitze aufgehetzter Fronttruppen nach Berlin einmarschieren, um ‚Ordnung zu machen‘.
Nach alledem können wir die ‚gemeinsame Basis‘, die für das ‚ersprießliche Zusammenarbeiten‘ zwischen den Unabhängigen und den Scheidemännern ‚gefunden‘ sei, klipp und klar formulieren.
Diese ‚gemeinsame Basis‘ heißt:
geflissentliche Vertuschung der eigentliche Quelle gegenrevolutionärer Verschwörungen,
bewußte Irreführung der Massen über die wahren Schuldigen des Blutbades vom 6. Dezember,
systematische Betreibung der politischen Korruption und der weiteren Hetze gegen den Spartakusbund,
mit der schließlichen Erdrosselung der Revolution als Endergebnis. Dies die ‚gemeinsame Basis‘. Sie steht auf einem blutigen Fundament. Die Haase–Ebert reichen sich jetzt die Hand über den vierzehn Leichen in der Chausseestraße.
Wir wiederholen: was vor dem 6. Dezember politische Prinzipienlosigkeit war, ist nach dem 6. Dezember politische Ehrlosigkeit.“
So wenig Otto Wels, wie aus dem Vorhergesagten ersichtlich ist, den Befehl zu einem Blutbad gegeben hatte, so wenig besagt der Bericht des Soldatenratsmitglied Hermann Gräber, auf den die Rote Fahne sich beruft, daß Ebert überhaupt von dem Putschversuch unterrichtet war. Gräber erzählte da nur, daß, nachdem die Marine-Landwehr-Abteilung, der er angehörte, am 6. Dezember von einem gewissen Echtmann aufgefordert worden war, sich an einer bewaffneten Aktion zur Verhaftung des Vollzugsrats, Beseitigung der Regierung Haase und Ausruf Eberts zum Präsidenten zu beteiligen, er und einer seiner Kameraden sich im Auftrage der Abteilung in die Reichskanzlei begeben hatten, um dem Rat der Volksbeauftragten von dem Plan Mitteilung zu machen. Sie hatten aber, da gerade Kabinettssitzung war, nicht vorgelassen werden können.
„Wir gaben da“, heißt es in Gräbers Bericht, „den ganzen Plan den Privatsekretären Moser und Brecht zu Protokoll, worauf Moser erwiderte, zu dem Volksbeauftragten Ebert zu gehen. Wir hatten da noch ungefähr eine Stunde gewartet, als der Bescheid kam, anscheinend von Ebert, daß eine friedliche Demonstration geplant sei, geschlossen für die Regierung Ebert–Haase einzutreten, und man legte uns dort nahe, daß es auch erwünscht sei, daß wir Landflieger uns daran beteiligen.“
Gräber erzählt weiter, er habe darauf auf telefonischem Wege noch einmal sich zu vergewissern gesucht, ob die Demonstration, von der Echtmann ihnen gesagt, bewaffnet oder unbewaffnet sein solle, und als er eine Anwort erhielt, die auf das Erstere schließen ließ, dies dem vorerwähnten Sekretär Moser mitgeteilt, der ihm dann sein Ehrenwort gab, er würde veranlassen, daß auch die Garde-Pioniere unbewaffnet kämen. Tags darauf habe er, Gräber, über alle diese Dinge mit dem Volksbeauftragten Haase verhandelt, und diesem habe Ebert auf dessen Anfrage bekundet, von dem allen nichts gewußt zu haben.
Danach geht aus dem Bericht des Gräber hervor, daß dieser vermutete, der Bescheid, den ihm der Sekretär Moser gab, rühre von Ebert her. Er weiß nichts Genaues, von wem der Bescheid ausging, er weiß auch nicht einmal, ob Moser überhaupt den durch eine Kabinettssitzung gebundenen Ebert habe sprechen und ihm das Protokoll habe vorlegen können. Und diese, vorsichtig jeder bestimmten Anschuldigung Eberts sich enthaltende Aussage wird von der Roten Fahne umgedeutet in den „protokollarischen Nachweis, daß Ebert von A bis Z über den Putsch informiert war“ und seinem Kollegen Haase das betreffende Protokoll „unterschlagen“ habe. Damit noch nicht zufrieden, bekam das Blatt es fertig, in der gleichen Nummer weiterhin zu schreiben: „Ebert, der Gewaltmensch, die Hände noch triefend vom Blutbad in der Chausseestraße“ ...
Die Rote Fahne trug am Titel die Angabe: „Schriftleitung Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg“. Beide Genannten verfügten über die Bildung, die uns genau die Tragweite unserer Worte beurteilen läßt, und Liebknecht als geschulter Jurist konnte unmöglich darüber im Unklaren sein, daß jene Deutung der Erzählung des Fliegers Gräber der schlimmsten Sophistik gleichkommt, die von der Rechtslehre als unehrenhaft verworfen wird. Es ist um so weniger möglich, hier gutgläubigen Irrtum anzunehmen, als kein auch nur leidlich vernünftiger Zweck auszufinden ist, um dessentwillen Ebert hätte veranlaßt sein können, den „Putsch“ der Spiro und Genossen zu begünstigen. Dieser Putsch mußte, auch wenn er zunächst glückte, womit aber noch gar nichts außerhalb Berlins erreicht war, Ebert in die denkbar unangenehmste Lage bringen. Indes hatte selbst nach der Erzählung des Gräber in der Reichskanzlei der Sekretär Moser ihn aufgefordert, samt Kameraden die Regierung Ebert–Haase leben zu lassen. Die Darstellung der Roten Fahne war ein Gewebe von Unwahrheiten, von der Absicht diktiert, einen möglichst großen Teil der Arbeiterschaft Berlins gegen die Vertreter der Sozialdemokratischen Partei in der Regierung aufzustacheln.
Leider blieb diese Art des politischen Kampfes nicht ohne Erfolg. Durch fortgesetzte Wiederholung der Anschuldigung gelang es, einer wachsenden Zahl von Angehörigen der Arbeiterschaft die Meinung beizubringen. es habe wirklich ein mit Vorwissen Eberts unternommener Putschversuch gegen die radikalen Sozialisten vorgelegen und Wels habe gewissenlos, wenn nicht mit Vorbedacht, auf unbewaffnete Demonstranten schießen lassen. Immer mehr Unzufriedene liefen der „Partei Liebknecht“ zu, m deren Versammlungen die wildesten Verwünschungen der „verräterischen Scheidemänner“ ertönten.
Es geschah zu jener Zeit, daß der Schreiber dieses einer ihm bekannten russischen Sozialistin, die sich Liebknechts Gruppe zugesellt hatte, beim zufälligen Treffen auf der Straßenbahn bittere Vorbehalte über deren Treiben machte, das nach allem politischen Ermessen nur Unheil stiften könne. Die Angeredete begegnete meinem Vorhalten mit dem Hinweis auf das tägliche Wachstum der Anhängerschaft Liebknechts, worauf ich ihr zurückgab, der Zulauf beweise in Zeiten so starker Gärung gar nichts für die Richtigkeit einer Agitation. Ohne uns verständigt zu haben, hatten wir uns schon getrennt, als die Genossin noch einmal auf mich zutrat und leise mit bewegter Stimme zu mir sagte: „Sie wissen gar nicht, was für Vorschläge uns alles gemacht werden, wir sind oft selbst entsetzt!“
Sie sagte mir damit nichts, was mich überraschen konnte. Jede extreme Agitation zieht alle Arten von Menschen an, die aus irgend einem Grunde ihr seelisches Gleichgewicht verloren haben und nun je nachdem in den phantastischsten oder den brutalsten Plänen sich ergehen. Es war der Stolz der Gründer der Sozialdemokatie, diese mit dem geistigen Rüstzeug ausgestattet zu haben, das sie gegen den Einfluß solcher Desperados wetterfest mache. Jedes Heraustreten einer Gruppe aus den von ihnen vorgezeichneten Bahnen mußte aber jenen Elementen ein zunehmend stärkeres Gewicht in deren Rat verleihen. Wenn also immerhin nicht alle auf Unschädlichmachung der Mehrheitssozialisten abzielenden Vorschläge von Fanatikern und Abenteurern die Zustimmung von Liebknecht und Genossen fanden, so blieb darum doch das Leitmotiv ihrer Agitationsarbeit, aus den mit dem Gang der Revolution Unzufriedenen ein Heer von Exaltierten heranzubilden, das imstande sein würde, in einem gegebenen Zeitpunkt der Verwirrung durch Anwendung von Gewalt sich in den Besitz der politischen Macht zu versetzen. Für eine auf diese Bahn gelenkte Bewegung gibt es aber, sobald es zur Aktion kommt, keinen Halt.
Dazu ist es nun freilich in Berlin nicht gekommen. Wie sehr man dieser Möglichkeit aber sich näherte, sollte sich bald zeigen. Am 14. Dezember 1918 fanden in Berlin die Delegiertenwahlen zu dem auf den 16. Dezember angesetzten allgemeinen Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands statt. Von Seiten der Gegner des Fortbestandes der sozialdemokratischen Koalition und der von dieser eingeschlagenen Politik war begreiflicherweise alles mögliche aufgeboten worden, die Wahl von Oppositionsleuten zu erwirken, wobei sie sich aber weniger an Tatsachen hielten, als daß sie die von ihnen Bekämpften der schnödesten Absichten bezieh teten. Ein Beispiel ist der Kommentar, mit dem die Rote Fahne die Bekanntgabe der vorläufigen Tagesordnung des Kongresses begleitete. Diese Tagesordnung lautete:
1. Berichte
a) des Vollzugsrates. Referent: Richard Müller;
b) des Rats der Volksbeauftragten. (Referent wurde W. Dittmann.)
2. Nationalversammlung oder Räteverfassung? Referent: Cohen-Reuß, Korreferent: Däumig.
3. Sozialisierung des Wirtschaftslebens. Referent: Hilferding; (Korreferent sollte Rosa Luxemburg sein, sie lehnte aber mit der Begründung ab, wenn vorher schon die Frage der Nationalversammlung erledigt sei, würde ihr Referat keinen Zweck mehr haben.)
4. Wirkung des Friedensschlusses auf die innere Lage der Republik. Referent: Ledebour.
5. Wahl des Vollzugsrats der Arbeiter- und Soldatenräte.
Dazu schrieb die Rote Fahne in ihrer Nummer vom 10. Dezember:
„Bezeichnend an dieser Tagesordnung ist zweierlei: Erstens die Formulierung des Zentralproblems der Revolution als einer Alternative: Nationalversammlung oder Räteverfassung. Hier wird wenigstens offen zugestanden, daß die Nationalversammlung mit der Vernichtung der A- und S-Räte und ihrer politischen Rolle gleichbedeutend ist.
Zweitens die Tatsache, daß nur der Vollzugsrat einer Neuwahl durch das Reichsparlament der A- und S-Räte unterzogen werden soll. Das politische Kabinett, die Herren Ebert–Haase, die ihre Macht genau aus derselben Quelle empfangen haben, wie der Vollzugsrat, nämlich vom Berliner A- und S-Rat, denken nicht daran, sich der Bestätigung oder Neuwahl durch das Organ der A- und S-Räte des ganzen Reiches zu unterziehen! Ebert–Haase dünken sich über dem Reichsparlament der Arbeiter und Soldaten Deutschlands stehend! Der Zentralrat der A- und S-Räte wird von den Scheidemännern seiner obersten entscheidenden Macht beraubt, ehe er noch zusammengetreten ist. Und diese Leute reden von ‚Demokratie‘!
Wollen sich die A- und S-Räte ganz Deutschlands diesen Anschlag auf ihre politische Macht gefallen lassen?“
In Wirklichkeit war die Tagesordnung nicht von der Regierung Haase–Ebert, sondern von dem Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte aufgestellt worden, in dem die Unabhängigen das Übergewicht erlangt hatten. Daher denn auch von den bestimmten Referenten nur einer – Cohen-Reuß – der sozialdemokratischen Partei, alle andern aber der Partei der Unabhängigen entnommen waren. Die Wahl eines Vollzugsrats hatte auf die Tagesordnung gesetzt werden müssen, da der Berliner Vollzugsrat nur vorläufig auch das Amt des Vollzugsrats für die Arbeiter- und Soldatenräte von ganz Deutschland ausgeübt hatte, ein solcher überhaupt erst zu wählen war. Und drittens hieß die Fragestellung Nationalversammlung oder Räteverfassung nicht, ob überhaupt Arbeiter- und Soldatenräte sein, sondern ob sie ausschließlich Deutschland regieren sollten. Nichts anderes konnte das Wort Räteverfassung bedeuten. In jeder Hinsicht besteht der Kommentar der Roten Fahne aus der Wahrheit widersprechenden Verdächtigungen. Der genauer Zusehende mußte das ohne weiteres herausfinden, es gab aber genug Leute, die sich durch diese Dialektik beeinflussen ließen.
Trotzdem verhinderte sie nicht, daß die Delegiertenwahlen in Berlin noch eine Mehrheit für die Sozialdemokratische Partei ergaben. Es wurde auf Grund von Listen nach dem Verhältniswahlsystem gewählt, und es erhielten Stimmen bei den Arbeiterräten
die Liste der sozialdemokratischen Partei |
|
349 |
die Liste der Unabhängigen |
281 |
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die Liste der freien Berufe |
79 |
Noch etwas günstiger für die alte Sozialdemokratie fielen die Wahlen bei den Soldatenräten Berlins aus. Dort erhielt ihre Liste 204, die der Unabhängigen aber nur 121 Stimmen.
Das war indes immer noch wenig gegen den Ausfall der Wahlen im übrigen Deutschland. Sie ergaben dort, wie sich auf dem Kongreß zeigen sollte, insgesamt eine Mehrheit für die alte Partei gegenüber den Unabhängigen von mehr als 8 zu 1.
Am Tage vor dem Zusammentritt des Kongresses fand in Berlin in den Pharussälen die Generalversammlung des Verbands der Unabhängigen Sozialdemokraten Berlins statt. Sie hatte zu den Fragen Stellung zu nehmen, die dem Kongreß zur Entscheidung vorlagen und in deren Mitte die Frage der Einberufung einer Nationalversammlung stand. Daß Meinungsverschiedenheiten in bezug auf sie im Lager dieser Partei obwalteten, ist schon weiter oben (S.68) entwickelt worden. Es war über sie in der Fraktion der Unabhängigen zu keinem Ausgleich gekommen, so daß man sich schließlich auf den Rat des Verfassers dieser Schrift dahin geeinigt hatte, den Entscheid dem Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte zu überlassen. Das legte Hugo Haase, der das einleitende Referat über die politische Lage hatte, der Versammlung dar. Er bekannte sich selbst zur Ansicht derer, die mit den Wahlen bis zum Monat März 1919 warten wollten, drückte aber die Befürchtung aus, daß der Kongreß sich für den Vorschlag entscheiden werde, den Wahltermin schon auf den 19. Januar anzusetzen, was er für zu früh hielte. Sollte es geschehen, so werde man sich jedoch dem fügen müssen, denn die Nationalversammlung sei eine unabweisbare Notwendigkeit und die Partei müsse alles tun, möglichst stark in ihr vertreten zu sein. Wie viel in Berlin noch daran fehle, habe das Ergebnis der Wahl der Delegierten der Arbeiterräte zum Kongreß gezeigt, das in erschreckendem Maße hinter den Erwartungen zurückgeblieben sei. Die Partei könne unmöglich die Politik der Spartakusleute mitmachen, und energisch müsse sie sich dagegen auflehnen, daß die Spartakusleute eine Organisation in der Partei bildeten, um diese von innen heraus zu bekämpfen. Er habe schon 1917 auf der Konferenz von Gotha – siehe S.8 – dagegen protestiert und wiederhole jetzt, daß er es für besser halte, wenn Unabhängige und Spartakusleute sich trennten.
Ihm trat Rosa Luxemburg, die das Gegenreferat hatte, mit scharfen Angriffen auf seine Politik entgegen, die nach ihrer Darstellung die Niederlage in Berlin verschuldet hatte. Sie erklärte es für unerhört, daß die Unabhängigen nicht unmittelbar nach den Vorgängen des 6. Dezember aus der Regierung ausgetreten seien, und legte der Versammlung eine Resolution vor, welche diesen sofortigen Austritt und die sofortige Übernahme der ganzen politischen Macht durch die Arbeiter- und Soldatenräte, die Ausstattung des Vollzugsrats dieser mit der höchsten Staatsgewalt forderte und die Einberufung der Nationalversammlung als gegenrevolutionär ablehnte. Nachdem verschiedene Redner für und gegen gesprochen hatten, unterlag diese Resolution mit 195 gegen 485 Stimmen, die auf eine Resolution entfielen, welche die Organisation der Wahlen für die Nationalversammlung für die wichtigste politische Aufgabe der Partei erklärte, die sich als die Trägerin der Revolution und ihre vorwärtstreibende Kraft betrachte und gewillt sei, alle sich daraus ergebenden Pflichten zu erfüllen.
Eine fast einstimmig angenommene Zusatzresolution sprach sich gegen jedes Zusammengehen bei der Wahl mit den Mehrheitssozialisten aus.
Die Auseinandersetzung Haase-Luxemburg war das Vorspiel zu einem noch schärferen Zusammenstoß zwischen Unabhängigen und Spartakisten auf dem Tags darauf eröffneten Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte. Zum Verständnis der sich dort abspielenden Kämpfe sei noch folgendes bemerkt.
Zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und dem Berliner Vollzugsrat hatten sich allmählich starke Reibungen eingestellt. Der Vollzugsrat, der laut Übereinkunft aus den ersten Tagen der Revolution als vorläufiger Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands amtieren sollte, hatte diesem Amt eine sehr weitgehende Deutung hinsichtlich seiner Rolle als Instanz für die politische Kontrolle des Rats der Volksbeauftragten gegeben. Durch Hinzuziehung von Vertretern aus andern Teilen Deutschlands hatte er seine Mitgliederzahl von 26 auf 45 erhöht und eine Zusammensetzung erfahren, in der die Parteigänger der äußersten Linken zu immer stärkerer Geltung kamen. Er glaubte eine Art Zensur über die einzelnen Maßnahmen des Rats der Volksbeauftragten ausüben zu sollen und das Recht zu haben, seinerseits über dessen Köpfe hinweg Verfügungen treffen zu dürfen, die nach Ansicht der Volksbeauftragten deren Aufgabenkreis zugehörten. Das hätte selbst bei Übereinstimmung in den Hauptfragen der Politik zu Mißhelligkeiten führen müssen, hatte aber, da an dieser vieles fehlte, um so mehr gegenseitige Gereiztheit zur Folge.
Einen Streitgegenstand bildete unter anderem die Frage der Aufsicht über das wirtschaftliche Gebahren der örtlichen Arbeiter- und Soldatenräte. Diese bewährten sich keineswegs gleichmäßig. An einer ganzen Reihe von Orten haben sie der Republik durch Ausübung einer wohlorganisierten Kontrolle über öffentliches Gut (Läger von Kriegsmaterial und dergleichen) höchst wertvolle Dienste geleistet. An andern Orten aber arteten sie in kostspielige Klubs aus, in denen vielerlei geredet, aber wenig Vernünftiges getan wurde, vielmehr durch Einmischung in Angelegenheiten der örtlichen Verwaltung, von denen man nichts Rechtes verstand, allerhand Schaden angerichtet wurde. So gab es denn viele Klagen über die Vergeudung öffentlicher Mittel und ruinöse Eingriffe in die Gemeindeverwaltungen durch die Arbeiter- und Soldatenräte, und wenn es dabei auch an bösartigen Übertreibungen nicht fehlte, die dann von der Presse der Feinde der Republik geflissentlich verallgemeinert wurden, so beruhen doch nicht alle Anklagen auf Unwahrheit und mußte sich die Regierung und insbesondere die Finanzverwaltung veranlaßt sehen, die Finanzgebarung der Räte genauer unter die Lupe zu nehmen und nicht jeder von dieser Seite an sie gelangenden Geldforderung ohne weiteres Folge zu geben. Das schuf bei den Räten vielfach eine Oppositionsstimmung gegen die Regierung, die dem Vollzugsrat, der jener gegenüber als Anwalt der Räte agierte, sehr zugute kommen mußte.
Unliebsame Reibungen. hatten sich auch zwischen der Regierung und den in Berlin weilenden Abteilungen und Vertretern der Marinetruppen eingestellt. Abgesehen von den Matrosen und Seesoldaten, die in den Tagen der Novembererhebung nach Berlin gekommen waren, waren auch Mitte November auf Wunsch des Berliner Stadtkommandanten Otto Wels 600 Mann Marinemannschaft von Cuxhaven nach Berlin entsandt worden und zum Teil im alten Königsschloß, in der Hauptsache aber im früher kgl. Marstall untergebracht worden. Sie nahmen den Titel Volksmarinedivision an und sollten eine Art Reservetruppe der Republik bilden, da man sich auf Grund der in Kiel gemachten guten Erfahrungen auf sie besonders verlassen zu können glaubte. Es kam aber umgekehrt. Da das Schloß große Werte barg, mußten sich die dort hausenden Mannschaften einschränkenden Vorschriften unterwerfen, die von ihnen unangenehm empfunden wurden und sie um so mehr der Bearbeitung durch Oppositionselemente zugängig machten, als sie in ihrer Mehrheit politische Neulinge und den konfusesten Vorstellungen über den Sinn der ihnen gepredigten revolutionären Schlagworte ausgesetzt waren. Ungenügende politische Durchbildung beherrschte auch eine etwas später in Wilhelmshafen abgehaltene Konferenz von Delegierten der verschiedenen Soldatenräte der Marine, die damit endete, daß ein aus 53 Mitgliedern bestehender Zentralrat ernannt wurde, der den Namen „Oberster Marinerat“ annahm und den Auftrag hatte, die Kontrolle über die Vorgänge in der Marine zu üben und die einheitliche Leitung sowie die Reform der Marine in die Hand zu nehmen. Er siedelte nach Berlin über, richtete sich im Reichsmarineamt ein, bildete dort aus seiner Mitte Unterabteilungen für die verschiedenen Arbeitsgebiete des Amts und griff wiederholt selbstherrlich in dessen Verwaltung ein, was naturgemäß in den Reihen der eingeschulten Beamtenschaft nicht geringe Erregung hervorrief und allerhand Verwirrung im Betrieb des Amts zur Folge hatte.
Als Gustav Noske, damals noch Gouverneur von Kiel, Anfang Dezember 1918 vorübergehend von Kiel nach Berlin kam und in seiner Eigenschaft als Beigeordneter des Marineministeriums an einer Sitzung dieses obersten Marinerats teilnehmen wollte, ließ der Vorsitzende erst darüber abstimmen, ob Noske überhaupt der Sitzung beiwohnen dürfe, was genehmigt wurde. Man verhandelte über die Machtbefugnisse des Rats, und es wurde vorgeschlagen, der Rat solle als „Parlament der Marine“ tagen, das selbstständig alle Marineangelegenheiten regle, nach eignem Ermessen seine Beschlüsse fasse und es der Regierung überlasse, sich mit ihnen abzufinden oder nicht. Dem Einwand Noskes, daß dem Rat kein Recht zustehe, in die Vollziehungsgewalt der Regierung einzugreifen, ward von einem Mitglied entgegengehalten, der Rat handle aus eigenem, revolutionärem Recht als oberste Instanz der Marine. Noske, der dies in seiner Schrift Von Kiel bis Kapp (Berlin, Verlag für Politik und Wirtschaft) erzählt, fügt hinzu, daß er in der Minderheit geblieben sei und darauf die Sitzung verlassen habe.
Unzweifelhaft hatte er in der Sache Recht, in dieser Weise war die Demokratisierung der Verwaltung nicht durchzuführen. Auch hatte, wie Noske an anderer Stelle der Schrift anführt, der Rat der Volksbeauftragten vorher ihm erklärt, daß er von dem Wirken des 53er Rats nichts wisse, die Schaffung einer solchen Körperschaft keineswegs billige und ihm anheimgegeben, danach zu verfahren. (A.a.O., S.49.)
Eine andere Frage ist es jedoch, ob Noske in der Auseinandersetzung mit dem 53er Rat denjenigen Ton angeschlagen hat, den die allgemeine Lage erforderte. Er schreibt selbst, daß ein Teil der Mitglieder verständige Leute waren, andern mußte man die politische Unerfahrenheit zugute halten, und so kam es darauf an, weniger auf das politische Recht zu pochen, als auf die politische Notwendigkeit zu verweisen, was stets ermöglicht, in die Zurückweisung unberechtigter Ansprüche ein versöhnendes Moment hineinzutragen. Daran scheint es aber Noske fehlen gelassen zu haben, sodaß diese Auseinandersetzung dazu beitrug, der regierungsfeindlichen Agitation unter den Marinemannschaften neuen Zündstoff zuzuführen. Gelang es dieser Agitation auch nicht, den Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte, von dem man nach dem Ergebnis der Delegiertenwahlen im Lande draußen voraussehen konnte, daß die Oppositionselemente in der Minderheit sein werden, auseinanderzusprengen, so erreichte sie doch soviel, ein größeres Aufgebot von Demonstranten gegen ihn aufzubringen, als man ihr zugetraut hatte und auch der Stärke ihrer grundsätzlichen Anhängerschaft entsprach.
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Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008