Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




X. Der Matrosenaufstand in Berlin von Weihnachten 1918


Es lag in der Natur der Sache, daß das Ergebnis des Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte in den Reihen derjenigen Sozialisten Berlins, welche der Regierung Ebert-Haase mißtrauisch oder entschieden oppositionell gegenüberstanden, mit großem Mißvergnügen aufgenommen wurde. Ganz besonders unangenehm mußte es die radikaleren Elemente des Berliner Vollzugsrates berühren. Denn dieser war nun seines Mandats als führendes Organ der auf dem Boden der Revolution stehenden Arbeiter und Soldaten Deutschlands entkleidet, in der Rgierung aber war die Position der gemäßigten Sozialisten ganz wesentlich gestärkt. Wohl unterwarf sich, wie anerkannt werden muß, der Vollzugsrat loyal dem seine Position ändernden Beschluß des Kongresses. In einer von Max Cohen und Hermann Müller im Auftrage des neugewählten Zentralrates und Brutus Molkenbuhr und Richard Müller im Auftrage des Vollzugsrates gezeichneten Bekanntmachung ward unter dem 21. Dezember 1918 der Wechsel der Funktionen mit dem Zusatz bekannt gegeben, daß alle vom Vollzugsrat ausgestellten Vollmachten und Legitimationen mit dem 28. Dezember ihre Gültigkeit verlieren und fortan Vollmachten für Angelegenheiten des Reiches und Preußens vom Zentralrat, Vollmachten für Berliner Angelegenheiten vom Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte Groß-Berlins ausgestellt . würden. Aber die Gährung in den Gemütern dauert fort und wird vom Spartakusbund und dessen Agenten in jeder Weise geschürt. Als am 21. Dezember die bei dem Zusammenstoß vom 6. Dezember gefallenen Arbeiter in feierlichem Zug zu Grabe getragen wurden, nahm Karl Liebknecht dreimal das Wort und beschuldigte jedesmal in schärfsten Ausdrücken die Männer der Regierung, daß sie allein die Schuld an der Schießerei und dem Tode der Gefallenen trügen. In seiner Nummer vom 22. Dezember weist der Vorwärts das zurück und schreibt:

„Wir wollen die freie demokratische Ordnung der Republik. Liebknecht hetzt mit Lügen zum Bügerkrieg und klagt dann über die Opfer, die doch nur die Opfer seines eigenen gewissenlosen Treibens sind. Er ist nicht zur Vernunft zu bringen. Auf die Vernunft, die Besonnenheit, den Gerechtigkeitssinn der Berliner Arbeiter aber hoffen wir!“

Diese Eigenschaften waren auch sicherlich in hohem Grade vorhanden. Aber es wirkten Faktoren der verschiedensten Art zusammen, das Vertrauen in den guten Willen und die Umsicht der vom Spartakusbund mit besonderem Eifer bekämpften Personen in der Regierung zu erschüttern. Auch geschah nicht alles, was nötig war, die Arbeiterschaft über die Bedeutung der in die Massen geworfenen Schlagworte aufzuklären.

Mitte Dezember 1918 hatte der Spartakusbund ein Manifest veröffentlicht, in dem er seine Politik und seine Ziele programmatisch darlegte. In einer, den lapidaren Sätzen des kommunistischen Manifests nachgebildeten Sprache mischt es Anklänge an dieses letztere mit rein blanquistischen Schlagworten und Stücken aus den Kundgebungen und Verordnungen der Bolschewisten in einander. Da heißt es zum Beispiel, nachdem der erstrebte Gesellschaftszustand kurz als Kommunismus skizziert worden war:

„Als Übergang zu diesem Gesellschaftszustande ist die bewaffnete Herrschaft der Arbeiterklasse notwendig.

Unter der Herrschaft der Arbeiterklasse liegt alle bestimmende und ausführende Gewalt in den Arbeiter- und Soldatenräten und ihren Vollzugsausschüssen. Die oberste Gewalt haben der Reichskongreß der Arbeiter- und Soldatenräte und sein Vollzugsausschuß.

Wahlrecht zu den Arbeiter- und Soldatenräten darf nur die arme arbeitende Bevölkerung haben. Wer nicht arbeitet, soll auch nicht regieren.

Unter der Herrschaft der Arbeiterklasse wird das Eigentum der Kapitalisten an den Produktionsund Verkehrsmitteln beseitigt. Alle Banken, die Herzen des kapitalistischen Wirtschaftssystems, und industriellen und Verkehrsbetriebe werden von der Arbeiterschaft in Besitz genommen.

Unter der Herrschaft der Arbeiterklasse wird bei der Verteilung der Lebensmittel zuerst die arbeitende Bevölkerung ausreichend versorgt.

Um die Preßfreiheit für die Arbeiterschaft unbedingt zu verwirklichen, werden Papierund Betriebsstoff beschlagnahmt und der Arbeitet schaft zur Verfügung gestellt.

Als militärische Stütze ihrer Herrschaft schafft sich die arbeitende Bevölkerung eine kommunistische Garde, bestehend aus Arbeitern und Soldaten.“

Und in einem Gebot der Stunde betitelten Abschnitt wird entwickelt:

„Die Herrschaft der Arbeiterklasse ist nur erreichbar auf dem Wege der bewaffneten Arbeiterrevolution. Die Kommunisten sind ihre Vorkämpfer.

Diese wird kommen, denn das Bürgertum setzt sich zur Wehr, und die Arbeiterklasse wird nur zu wählen haben zwischen Knechtung durch das Bürgertum und ihrer Herrschaft über das Bürgertum.

Die von der jetzigen Regierung vorbereitete Nationalversammlung würde ein Organ der Gegenrevolutionäre zur Erdrosselung der Arbeiterrevolution werden. Ihr Zustandekommen muß mit allen Mitteln verhindert werden.“

Damit war, wenn Worte noch einen Sinn haben, der gewalttätige Kampf zur Niederhaltung aller nichtspartakistischen Elemente, die Vergewaltigung der ausführenden Organe der Republik proklamiert. Zum Überfluß folgt auch bald darauf der dem literarischen Arsenal des Blanquismus entnommene Satz: „Das Bürgertum bereitet sich zum Bürgerkrieg vor. Es will ihn“, und wird an diese, in jenem Augenblick jeder tatsächlichen Unterlage entbehrende Behauptung der Aufruf geknüpft:

„Wir rufen daher der Arbeiterschaft zu: Haltet Euch bereit! Organisiert Euch, der Kampf für die Schaiiung des offenen Weges zum Kommunismus steht nahe bevor. Tragt den revolutionären Geist in. die Arbeitermassen!“

Allerdings heißt es dann weiterhin plötzlich:

„Die proletarische Revolution bedarf für ihre Ziele keines Terrors. Sie haßt und verabscheut den Menschenmord. Sie bedarf dieser Kampfmittel nicht, weil sie nicht Individuen, sondern Institutionen bekämpft.“

Schon der gleich darauf folgende Abschnitt Maßnahmen zur Sicherung der Revolution enthält jedoch Bestimmungen, die, wie die Verhinderung der eben erst von dem Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte beschlossenen Wahlen zur Nationalversammlung, nach Lage der Dinge ohne Terror und blutigen Kampf garnicht durchführbar waren. Gleich der erste Satz verkündet:

„Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere, sowie der nicht proletarischen Soldaten, Entwaffnung aller Angehörigen der herrschenden Klassen.“

Es wird einem schwer zu glauben, daß eine so geistig begabte und wissenschaftlich gebildete Person wie Rosa Luxemburg an diesem ebenso konfusen, wie demagogisch hetzerischen Machwerk mitgearbeitet haben kann. Zumal das Programm der wirtschaftlichen Maßnahmen eine hochgradige Unkenntnis der elementarsten Erfordernisse des Wirtschaftslebens eines Industriestaates wie Deutschland verrät. Eines freilich muß man ihr zugute halten: als Frau und obendrein Ausländerin hatte sie in Deutschland das Arbeiten von Gesetzgebung und Verwaltung immer nur von außen kennen gelernt, von deren Innenbetrieb dagegen keine klare Vorstellung, wie ihr auch das organische Triebwerk wirtschaftlicher Unternehmungen und seine funktionellen Lebensbedingungen gänzlich unbekannt sein mußten. Bei alledem hätte ihr doch nicht und noch weniger einem Karl Liebknecht, der in der Gesetzgebung und Verwaltung tätig gewesen war, die Tatsache entgehen können, daß der Versuch der Umsetzung dieses Manifestes in die Praxis Deutschland in den Zustand einer mörderischen und verheerenden Anarchie versetzen mußte. Nicht voraussetzen aber konnte man diese Einsicht bei den vielen politisch ungeschulten Elementen, die sich damals plötzlich in die politische Bewegung hineingezogen sahen, und da es immer deutlicher sich zeigte, daß große Teile dieser Elemente von der Dialektik des Manifestes bestochen wurden, war es nicht überflüssig, dessen inneren Widersprüche und die verderbliche Natur seiner Weisungen dem Volke in klarer, verständlicher Sprache in Flugschriften eindrucksvoll darzulegen. Das ist aber nicht geschehen. Man hat wohl in allgemeinen Bemerkungen die Tendenzen bekämpft, denen es Ausdruck gab, aber es für überflüssig gehalten, sich näher mit ihm zu befassen, offenbar, weil man sicher zu sein glaubte, daß die große Mehrheit der Arbeiter und Soldaten sich von ihm nicht zu Torheiten hinreißen lassen würden. Nichts pflegt sich aber in Zeiten allgemeiner Gährung schwerer zu rächen, als die Unterschätzung einer an die Leidenschaften appellierenden Minderheit. Man muß in solchen Zeiten stets gewärtig sein, daß Augenblicke eintreten, wo die besonnenen Elemente, wie das in ihrer Natur liegt, durch Passivität unzuverlässig werden und die von der Leidenschaft zur größeren Aktivität hingerissenen Elemente die Straße beherrschen und eine Stoßkraft erhalten, die ihre ziffernmäßige Stärke weit übersteigt.

Eine Probe davon lieferte der Matrosenaufstand in den Weihnachtstagen 1918, der kaum drei Tage nach dem Auseinandergehen des Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte ausbrach und zu einem blutigen Straßeukampf zwischen Regierungstruppen und Matrosen nebst Spartakusleuten führte. Angesichts der für die weitere Entwickelung der Republik so verhängnisvollen Rückwirkungen dieses Zusammenstoßes scheint eine ausführliche Darlegung seiner Ursachen und seines Verlaufs angezeigt.

Die Beziehungen zwischen der Regierung und der in Berlin stationierten sogenannten Volksmarinedivision hatten sich von Tag zu Tag unbefriedigender gestaltet. Zum Teil waren die Ursachen unpolitischer Natur. Über tausend Matrosen waren in den Räumen des großen, vordem kaiserlichen Marstall gegenüber dem alten Königsschloß untergebracht, und ein Teil davon übte Wachdienst in letzterem selbst, das in seinen Prunkgemächern allerhand Kunstgegenstände von großem Werte barg. Von diesen Wertsachen, deren Eigentumsverwaltung dem Finanzministerium unterstand, kamen bald eine ziemliche Anzahl abhanden, sei es, daß unter den Matrosen selbst Personen waren, die der Verführung zur Aneignung von öffentlichem Gut nicht Widerstand leisten konnten, sei es, daß von den vielen Besuchern, die nunmehr in den den Matrosen zugewiesenen Räumen aus und ein gingen, etliche die Gelegenheit zu wilden Requisitionen benutzten. Massen gestohlenen Guts wurden in Kähnen, die an der Wasserseite des Schlosses anlegten, verschleppt. Als die Diebstähle sich häuften, drang das Finanzministerium immer stärker auf Änderung. Die Vertrauensmänner der Matrosen zeigten auch den guten Willen, Abhilfe zu schaffen, doch erwiesen sich die nun getroffenen Schutzmaßnahmen als unzulänglich, es fanden trotz ihrer immer wieder Entwendungen statt. Unter dem 12. Dezember 1918 unterbreitete der Finanzminister Hugo Simon, Mitglied der Unabhängigen Sozialdemokratie, dem Staatsministerium eine Denkschrift, die ein unverzügliches Einschreiten, rasche und vollständige Entfernung der Matrosendivision aus Schloß und Marstall forderte. Der Abschub. heißt es da, müsse „unvermutet und plötzlich geschehen, damit keine Gelegenheit mehr bleibt, geraubte Gegenstände, die sich in den Quartieren sicher noch befinden, wegzuschaffen.“ (Elftes Aktenstück des Urkundenbandes der Untersuchung der preußischen Landesversammlung über die Januar-Unruhen 1919.) So ward denn von Seiten der Regierung der Beschluß gefaßt, die Marinedivision zunächst aus dem Schlosse zu entfernen. Da letztere nun in bezug auf Unterbringung und örtliche Bewegung der Stadtkommandantur unterstand, war es Aufgabe der letzteren, an deren Spitze der Mehrheitssozialist Otto Wels stand, über die Einzelheiten der Räumung des Schlosses mit den Matrosen in Verhandlung zu treten.

Bei diesen herrschten aber ganz andere Anschauungen und Wünsche vor. Die Volksmarinedivision hatte vielmehr bei der Regierung den Antrag gestellt, ihre Stärke zu erhöhen, sie aus dem Verband der Marine auszuscheiden und als ständige Truppe der unter Leitung von Wels in Bildung begriffenen und etwas höher gelöhnten Republikanischen Soldatenwehr in Berlin anzugliedern. Als die Matrosen nun erfuhren, daß im Gegenteil die Stärke der Division auf 600 Mann verringert werden und sie das Schloß ganz räumen solle, rief das bei einem Teil von ihnen nicht geringe Mißstimmung hervor, die von radikalen Elementen weidlich geschürt wurde. Zwar hatte Wels, nachdem ihm vom Volksbeauftragten Ebert, der in der Regierung die militärischen Angelegenheiten besorgte, der Auftrag geworden war, sich behufs Ausführung des erwähnten Beschlusses mit der Volksmarinedivision in Verbindung zu setzen, von dieser das Versprechen erwirkt, dem Beschlüsse gemäß zu verfahren, und es waren auch an zwei aufeinander folgenden Tagen zusammen 90 Mann entlassen worden. Dann aber machten sich andere Einflüsse geltend. Es wurden keine weiteren Entlassungen gemeldet, und die Matrosen blieben im Schloß. Wie sich später herausstellte, war bei ihnen die Meinung verbreitet worden, die maßgebende Entscheidung über ihr Verbleiben liege nicht bei dem Volksbeauftragten, sondern beim Berliner Vollzugsrat der Arbeiter- und Soldatenräte, dessen Zusammensetzung sich nach der radikaleren Seite hin entwickelt hatte. So erklärt sich das Auftreten der Matrosendeputation auf dem Kongreß der Arbeiter- und Soldatenräte (siehe voriges Kapitel), wie überhaupt die willige Aufnahme der spartakistischen Schlagworte auch bei den Matrosen. Inzwischen wurde deren Löhnung fällig und Wels erhielt am 21. Dezember von der Regierung den Auftrag, ihnen 80 000 Mark auszuzahlen, aber erst, nachdem sie das Schloß geräumt und ihm sämtliche Schlüssel übergeben haben würden. Anstatt der Räume im Schloß wurden ihnen Räume in dem diesem östlich gegenüber gelegenen Marstall angewiesen, gleichzeitig aber verfügt, daß, entsprechend einer am 13. Dezember zwischen der Kommandantur und der Volksmarinedivision getroffenen Abmachung, vom 1. Januar 1919 ab nur noch für 600 Mann Löhnung gezahlt werden würde.

Der Zahlungsbefehl der Regierung lautete wörtlich:

Berlin, den 21. Dezember 1918.

Der Rat der Volksbeauftragten weist die Stadtkommandantur an, dem Volksmarinerat den Betrag von 80.000 (achtzigtausend) Mark zu zahlen, indessen erst nach Räumung des Schlosses und Herausgabe aller Schlüssel an die Stadtkommandantur. Vom 1. Januar 1919 ab werden die Zahlungen nur noch für 600 Mann geleistet gemäß der Vereinbarung zwischen der Stadtkommandantur und dem Vorsitzenden des Zentralrats (53er Ausschuß) der Marine vom 13. d. Mts.

gez.: Ebert, Haase, Landsberg, Barth, Dittmann, Scheidemann.“ [1]

Wels ließ das die Führer der Matrosen wissen, und sein Adjutant, Leutnant Anton Fischer, bestellte sie auf Sonntag, den 22. Dezember Vormittags 11 Uhr behufs näherer Rücksprache auf die Kommandantur. Sie kamen aber nicht, sondern beschlossen, unter Umgehung von Wels noch einmal an den Rat der Volksbeauftragten heranzutreten.

Das taten sie am Montag, den 23. Dezember. Das Mitglied des Vollzugsrates Thost und 2 Mitglieder des Marineausschusses erchienen gegen 12 Uhr in der Reichskanzlei und erklärten, als ihnen ein Protokoll der von Wels mit ihren Vertretern über die Räumung des Schlosses und die Verringerung der Division gepflogenen Verhandlungen vorgelegt, es sei dies kein gemeinsam aufgesetztes Schriftstück, sondern eine einseitige und zum Teil unzutreffende Darstellung der Besprechungen, erhoben aber in der Hauptsache keine ernsthaften Einwände mehr, sondern gaben sich, nachdem Ebert in aller Ruhe die Differenzpunkte mit ihnen durchgesprochen hatte, anscheinend mit der Zusicherung zufrieden, daß diejenigen Matrosen, die die Entlassung treffen würde, nach Möglichkeit der Republikanischen Sicherheitswehr eingereiht werden sollten, und versprachen dafür zu wirken, daß nunmehr die Matrosen gutwillig das Schloß räumen und gegen Ablieferung der Schlüssel die Löhnung in Empfang nehmen sollten. Alle sonstigen Differenzpunkte sollten nach dem Fest „am 27. Dezember“ in gemeinsamer Sitzung durchberaten werden. Thost und seine Begleiter richteten das aus. Statt aber nun, wie es dem Reglement entsprach, in der nur fünf Minuten von dem Schloß entfernten Kommandantur die Sache abzuwickeln, brachte der von den Matrosen zu ihrem „Kommandanten“ gewählte sehr radikal auftretende ehemalige Leutnant Dorrenbach mit einem Trupp bewaffneter Matrosen die große Kassette, welche die Schlüssel enthielt, unter Umgehung der Kommandantur zur Reichskanzlei in das Zimmer des ihm gleichgesinnten Volksbeauftragten Emil Barth. Da laut der Verteilung der Funktionen im Kabinett nicht dieser, sondern Fritz Ebert die militärischen Angelegenheiten zu besorgen hatte, hätte Barth zum mindesten die Matrosen an jenen verweisen müssen. Statt dessen läutete er Wels an, teilte ihm mit, daß die Kassette mit den Schlüsseln bei ihm abgeliefert worden sei, und forderte ihn auf, nunmehr den Vertretern der Matrosen die Löhnung auszuzahlen. Wels antwortete, in dieser Weise sei die Sache nicht zu erledigen, die Schlüssel seien laut Verfügung der Volksbeauftragten bei ihm abzuliefern. Darüber gab es zwischen ihm und Barth einen Wortwechsel am Fernsprecher, wobei die Matrosen in Barths Zimmer hörten, was dieser Wels sagte, aber nicht, was Wels ihm antwortete. Barth schildert in seiner Schrift Aus der Werkstatt der Revolution die Unterhaltung wie folgt:

Wels: „Nein, das geht nicht! Die müssen mir die Schlüssel selbst bringen, sonst gibts keinen Pfennig. Jetzt habe ich sie in der Hand.“

Ich: „Menschenskind, mach doch keinen Unsinn und rede kein Blech, die Schlüssel sind hier, und Du kannst sie ja, wenn wir entschieden haben, wer sie aufbewahrt, abholen. Die Matrosen sagen, sie hätten sie hierher gebracht, weil, wenn sie nach der Kommandantur gegangen wären, es leicht zu unliebsamen Zusammenstößen hätte führen können. Du weist doch selbst, welcher Beliebtheit Du Dich bei ihnen erfreust, und es wäre doch jedenfalls das denkbar Bedauerlichste, wenn es 24 Stunden vor Weihnachten durch den einen oder anderen Unbesonnenen zu irgendwelchen unliebsamen Zusammenstößen käme!“

Wels: „Das ist mir ganz gleich. Ich muß die Schlüssel haben, ehe ich das Geld herausgebe. Ich habe die Verantwortung.“

Ich: „Aber nun erlaube einmal, wenn ich Dir sage, ich übernehme die Verantwortung, dann muß Dir das doch genügen. Also zahle, ja?“

Wels: „Nein. Deine Verantwortung genügt mir nicht, wenn es Ebert sagt, dann ja.“

Ich: „Zum Donnerwetter nochmal! Jetzt kann ich wirklich verstehen, daß kein Mensch mit Dir verhandeln kann, ohne sich mit Dir in den Haaren zu liegen! Du sprichst mir nolens volens die Vertrauenswürdigkeit ab. Wenn die Matrosen nicht hier ständen, würde ich Dir etwas anderes sagen. Doch das eine merke Dir. Ebert ist kein Jota mehr und keine Jota weniger als ich. Wir sind sechs Volksbeauftragte mit völlig gleichen Rechten. Ich habe mir wahrlich noch keine Sekunde etwas darauf eingebildet, Volksbeauftragter zu sein. Aber hier hört es denn doch auf. Also ich übernehme die Verantwortung, und Du gibst das Geld!“

Wels: „Ich wollte Dich nicht beleidigen. Aber Ebert hat das Militärische. Wenn er mir also sagt: Zahle, dann kann ich zahlen, aber wenn Du es sagst, dann bleibt mir immer die Verantwortung.“

Ich: „Na gut! Ich schicke jetzt die Matrosen zu Ebert, dann mag doch er, wenn es mir nicht möglich ist, die Sache zu regeln, weil Du mir die Berechtigung absprichst, sie regeln.“ Schluß.

„Ihr habt ja gehört, was ich sagte“, erklärte nach seiner Darstellung Barth den Matrosen, „geht zu Ebert, der klingelt bei Wels an, dann ist die Sache erledigt.“

Und er fährt fort:

„Die Matrosen waren nun begreiflicherweise ärgerlich, schimpften und fluchten und zogen mit ihrer Bundeslade ab.“

Von Unabhängigen und Spartakisten ist Wels für das nun Folgende verantwortlich gemacht worden. Man sprach von bürokratisch-starrem Eigensinn, ohne den es nicht zur Zuspitzung des Konfliktes und dem daran sich anschließenden Blutvergießen gekommen wäre. Aber bei Berücksichtigung der damaligen Umstände wird man das Verhalten von Wels begreiflich genug finden. Er hatte die von allen Volksbeauftragten unterzeichnete Weisung erhalten, die Löhnung nur nach Ablieferung der Schlüssel an die Kommandantur auszuzahlen. Davon auf einen Anruf von Barth hin abzuweichen, mußte ihm um so weniger angezeigt erscheinen, als nur wenige Tage erst verstrichen waren, seit dieser durch sein Auftreten auf dem Rätekongreß sogar seine Kollegen aus der Unabhängigen Sozialdemokratie im Rat der Volksbeauftragten auf das Peinlichste überrascht hatte. Er gehörte zum linken, spartakistisch gerichteten Flügel der Unabhängigen, ebenso der obengenannte Dorrenbach. Von dieser Seite aber wurde schon in Versammlungen laut der Austritt der Unabhängigen aus dem Rat der Voiksbeauftragten gefordert, während im Organ der Spartakisten selbst immer rückhaltloser die gewaltsame Beseitigung der Regierung Ebert-Haase gepredigt ward. Wenn also Dorrenbach in Widerspruch mit der von der Regierung getroffenen Verfügung Wels geflissentlich überging und die Schlüssel bei Barth abgab, der amtlich mit der Sache nichts zu tun hatte, so mußte das den Ersteren stutzig machen, und Barths Aufgabe als Regierungsmitglied, das die Verfügung mit unterzeichnet hatte, wäre es gewesen, Dorrenbach das Ungehörige seines Verhaltens klar zu legen und ihn zu ermahnen, ordnungsgemäß zu verfahren. Ohne Einhaltung einer gewissen Ordnung und Disziplin kann kein Gemeinwesen bestehen, sie sind in der Revolution nicht weniger notwendig als im gewöhnlichen Verlauf der Dinge.

Barth handelte anders. Daß er es in keiner schlimmen Absicht tat, kann man ihm ruhig glauben. Aber kein Leser seines Buches kann sich des Eindruckes erwehren, daß er von einem hochgradigen Selbstgefühl besessen war, das krankhaft genannt werden muß, und ihn der Fähigkeit beraubte, Andersdenkende objektiv zu beurteilen, über die Möglichkeiten der Revolution aber sich in verhängnisvollen Illusionen wiegte. Nach einem, im Vorwärts am 28. Dezember 1918 gegebenen Bericht von Wels über diese Vorgänge, hat letzterer am Schluß des Gespräches Barth aufgefordert, die Matrosen zu Ebert zu begleiten. Weshalb Barth das nicht tat, ist schwer ersichtlich. Nachdem er einmal die Matrosen empfangen und gesehen hatte, in welche Erbitterung sie seine, vor ihnen am Fernsprecher geäußerten Bemerkungen versetzt hatten, mußte es ihm nahe genug liegen, die aufgeregten Leute nicht schlechthin sich selbst zu überlassen. Nach seiner eigenen Darstellung hatte er sich so ausgedrückt, daß sie annehmen mußten, es liege eine bloße Schikane von Wels vor. Darin und daß er nichts tat, selbst die Sache ins richtige Geleise zu bringen, liegt die größere Verantwortung für das nun Folgende und seine schlimmen Nachwirkungen.

Wie Barth die Dinge weiterhin schildert, sind die Matrosen von ihm zu Ebert gegangen, hatten diesen nicht in seinem Amtszimmer noch sonst im Hause gefunden und, schreibt er,

„das bedeutet für die Matrosen, daß sie das Geld nicht bekomme„ konnten. Da sagten sie sich, nun sind wir seit 3 Tagen von Pontius zu Pilatus gelaufen, jetzt haben wir es satt. Gingen munter zur Wache – das waren ebenfalls Matrosen, die noch keine Löhnung erhalten hatten – und sagten: besetzt die Reichskanzlei und die Telefonzentrale, bis ihr von uns weitere Nachricht bekommt. Die Volksbeauftragten zu verhaften, war nicht ihre Absicht, sondern nur die Absperrung, bis sie auf der Kommandantur ihr Geld geholt hätten. Aber daß es zur Absperrung der Reichskanzlei, zum Blutvergießen vor der Kommandantur usw. kam, das war lediglich die Schuld Eberts und Landsbergs.“

Es ist nicht die Aufgabe dieser Arbeit, Schriften, wie die Barthsche, im einzelnen polemisch zu behandeln. Der vorstehende Satz und namentlich die Schlußzeilen lassen die Folgerungsweise Barths und die tendenziöse Art. wie der ehemalige Volksbeauftragte die Beweggründe von Leuten auslegt, mit denen er Streit hatte, zur Genüge erkennen. Daß die Matrosen und ihr Führer Dorrenbach Ebert im ganzen Haus gesucht haben sollen, bevor sie den geschilderten Gewaltakt begingen, klingt schon deshalb höchst unwahrscheinlich, weil sie Ebert sofort fanden, nachdem sie die Telefonzentrale besetzt und die Wache, wie angegeben, instruiert hatten. Er war in seinem, nur 50 Schritt von seinem Amtszimmer entfernten Wohnzimmer, wo er und Landsberg ihr Mittagsmahl einnahmen, als sehr bald nach dem Vorgang in Barths Zimmer zwei voll ausgerüstete Matrosen bei ihnen eintraten und den beiden Volksbeauftragten eröffneten, sie und Kameraden hätten von ihrem Kommandanten Dorrenbach den Befehl erhalten, die Tore der Reichskanzlei zu schließen, niemand in das Gebäude hinein und keinen aus ihm heraus zu lassen, sowie die Telefonzentrale der Kanzlei besetzt zu halten, bis die anderen Kameraden bei der Kommandantur angelangt sein würden, um dort die Erfüllung ihrer berechtigten Forderungen durchzusetzen. Mit anderen Worten, daß die Regierungsmitglieder in der Reichskanzlei eingesperrt und vom Telefonverkehr mit der Außenwelt abgeschlossen seien. Ebert veranlaßte nun seinen Sekretär nachzusehen, welche Volksbeauftragten sonst noch im Hause seien. Der einzige davon, den dieser antraf, war Emil Barth. Dieser schreibt, daß der Beamte, als er zu ihm kam, ihn gebeten habe, sogleich zu Ebert zu kommen. Er, Barth, habe daraufhin mit dem gerade bei ihm weilenden Unterstaatssekretär von Möllendorf eine neue Zusammenkunft verabredet und dann Ebert aufgesucht, in dessen Zimmer außer Landsberg nun auch Scheidemann und der Unterstaatssekretär Baake, der Chef der Reichskanzlei, saßen. Ebert sei, als Barth eintrat, im Zimmer hin und her gelaufen. Hören wir Barth weiter:

„Sie schauten mich alle vier ganz perplex an, ich sie auch.“

„Sie ließen mich doch rufen“, sagte ich zu Ebert.

Ebert: „Ich? Nein!“

Ich: „Nanu, machen Sie doch keine Witze! Krüger war doch bei mir!“

Landsberg: „Ja, Kollege Barth, wir wollten nur sehen, ob Sie uns Gesellschaft leisten.“

Ich: „Gesellschaft leisten?“

Landsberg: „Ja, wissen Sie denn von nichts? Von garnichts?“

Ich: „Na, sprechen Sie doch nicht in Rätseln!“

Landsberg: „Na, dann will ich Ihnen die Mitteilung machen, daß wir außerordentlich erfreut sind, daß Sie uns in unserer Gefangenschaft Gesellschaft leisten.“

Ich: „Was? Gefangenschaft? Seit wann machen denn Sie Witze?“

Landsberg: „Ich sehe, Sie wissen wirklich von nichts, ich werde es Ihnen also erklären. Wir sind von den Matrosen verhaftet. Von unserer eigenen Wache. Kein Mensch darf das Haus verlassen und die Telefonzentrale ist gesperrt. Sie sind also unser Schicksalsgenosse.“

Ich: „Machen Sie doch keinen Unsinn. Haben Sie Telefon hier? Nein? Na, da will ich mal von meinem Zimmer telefonieren. Davon muß ich mich selbst überzeugen, bevor ich es glaube.“

„Ich ging nun in mein Zimmer, nahm den Hörer, und auf die Erklärung, die Leitung ist gesperrt, sagte ich dem Betreffenden, er solle keinen Unsinn machen, ich müsse Verbindung haben. Darauf wurde ich verbunden.“

Gleichzeitig, erzählt Barth weiter, habe auf dem zweiten der in seinem Amtszimmer befindlichen Fernsprecher der Vorsitzende des Soldatenrates Potsdam, Klawunde, angeläutet und ihm mitgeteilt, daß soeben einige Regimenter Infanterie und Kavallerie, die schon seit dem Morgen alarmbereit lagen, nach Berlin verladen worden seien, wie es heiße, auf Veranlassung der Regierung, um einen Spartakistenputsch niederzuschlagen. Ob das richtig sei? Barth habe es für Unsinn erklärt, wer an Blutvergießen am Weihnachtsabend denke, sei verrückt. Er habe sodann Klawunde aufgefordert, sein Möglichstes zu tun, um die Abfahrt von Truppen nach Berlin zu verhindern, sei darauf zu Ebert zurückgegangen und habe gefragt, wer diese Anweisungen in Potsdam gegeben habe. Die Antwort sei. gewesen: „Wir wissen von nichts!“ Als er aber Ebert aufgefordert habe, sofort bei allen militärischen Stellen anzurufen, Auskunft zu erbitten und Gegenbefehle anzuordnen, habe dieser geantwortet, es ginge nicht an, dauernd einer Handvoll Elemente preisgegeben zu werden, sie können nicht dauernd auf einem Pulverfaß sitzen. Mit diesen Zuständen müsse ein Ende gemacht werden. Er, Barth, habe dagegen protestiert, und nach einigem Wortwechsel habe Ebert ihm versprochen zu veranlassen, daß keine Truppen mehr von Potsdam kämen und ankommende zurückgeschickt würden. Von 6 Uhr Abends ab sei dann Kabinettssitzung gewesen, in der Ebert und Genossen jedes Zurückkommen auf die Matrosenangelegenheit mit der Begründung bekämpft hätten, daß diese erledigt sei, Arbeitsminister Bauer habe die Verordnung über Tarifverträge, Arbeiter- und Angestelltenausschüsse und Schlichtung von Arbeitsstreitigkeiten vorgelegt und begründet, alle Gegenanträge Barths seien mit fünf gegen seine Stimme abgelehnt und dann sei mit der gleichen Mehrheit die endgültige Berufung des Grafen Brockdorff-Rantzau zum Leiter des Auswärtigen Amtes beschlossen worden. Obwohl Ebert und Genossen mittlerweile erfahren hätten, was inzwischen auf der Kommandantur vorgegangen sei, hätten sie in der Sitzung kein Wort davon gesagt, und auch Dittmann und Haase seien – obwohl Barth sie auf den Ernst der Situation aufmerksam gemacht und ihnen seine Bedenken dargelegt habe, sofort nach Beendigung der Sitzung fortgegangen, ohne ihm zu sagen, wohin. Freilich habe er sie auch nicht darnach gefragt.

Diese Erzählung ist zum größten Teil unrichtig. Weder war Scheidemann an jenem Nachmittag in der Reichskanzlei gewesen, noch hat am genannten Tage die geschilderte Kabinettssitzung stattgefunden. Auch Haase und Dittmann waren den ganzen Nachmittag und Abend außer dem Hause, das erst ganz spät von der Matrosenwache freigegeben wurde. Freilich waren die zwei Volksbeauftragten der Sozialdemokratischen Partei nicht so von der Außenwelt abgeschlossen, wie Dorrenbach und Genossen vermeinten. Es gab eine diesen unbekannt gebliebene direkte telefonische Verbindung mit der in Kassel sitzenden Obersten Heeresleitung. Dem General Gröner, der dieser damals vorstand, hatte Ebert daher mitgeteilt, daß er und Landsberg gefangen gehalten würden, und ihn ersucht, Anordnungen zu treffen, um nötigenfalls ihre Befreiung militärisch zu erzwingen.

Vorher hatte er, was Barth und die andern Schilderer jener Vorgänge aus dem Lager der halben oder ganzen Spartakisten verschweigen, noch einen Versuch gemacht, eine gütliche Beilegung zu erzielen. Durch die Matrosenwache hatte er die Matrosen im Schloß aufgefordert, noch einmal Vertreter zu ihm zu entsenden. Dem war entsprochen worden. Dorrenbach erschien mit zwei Begleitern, und es ward von neuem verhandelt. Die begleitenden Matrosen zeigten starke Geneigtheit, den eindringlichen Ermahnungen Eberts Folge zu geben. Dorrenbach aber blieb störrisch, und so verlief die Unterredung ergebnislos, das aber hieß unter den gegebenen Umständen Verschlimmerung der Situation. Daher die Aufforderung Eberts an Gröner. Noch auf eine andere Weise hatte ersterer mit der Außenwelt in telefonische Verbindung treten können. Man erinnerte sich, daß von der Reichskanzlei über verschiedene Höfe ein Weg ins Reichsamt des Auswärtigen führt, und der war ebenfalls nicht besetzt. So war es möglich, schließlich auch den Stadtkommandanten Wels von der Besetzung der Reichskanzlei und der Sperrung ihrer Telefonzentrale zu unterrichten. Wels hatte, wie er in einem sehr schmucklosen, aber gerade darum Vertrauen erweckenden Bericht im Vorwärts vom 28. Dezember 1918 darlegte, nach dem Telefongespräch mit Barth angenommen, daß letzterer seiner Aufforderung gemäß die Matrosen zu Ebert geführt habe,, und nun auf Weisung von diesem gewartet. Sie kam aber nicht, und als ihm dann nach vielen vergeblichen Anrufen endlich auf. Umwegen gemeldet wurde, daß das Gebäude von rebellischen Matrosen besetzt sei, die niemanden hinein noch heraus ließen, hat er sich in die benachbarten Quartiere der republikanischen Soldatenwehr und anderer Regierungstruppen begeben und veranlaßt, daß von dieser Seite aus Mannschaften zur Reichskanzlei entsandt wurden. Er ist dann zur Kommandantur zurück geeilt und wollte diese gleich nachher wieder verlassen, um selbst die Truppen in der Wilhelmstraße zu beaufsichtigen, als ihm beim Heraustreten aus dem Haus Matrosen mit Dorrenbach an der Spitze entgegentraten und ihn dadurch am Fortgehen hinderten, daß sie erklärten, mit ihm unverzüglich verhandeln zu müssen. Man ging darauf in sein Zimmer, wo Wels zunächst die Frage an Dorrenbach richtete, wie er denn dazu gekommen sei, die Reichsregierung gefangen zu setzen. Dorrenbach gab eine ausweichende Antwort. Auf die nächste Frage von Wels, wo nun die Schlüssel seien, ob Barth sie noch habe oder sie Ebert übergeben seien, ward ihm erwidert, sie seien zur Zeit wieder im Schloß. Er gab darauf zurück, dann könne er auch die achtzigtausend Mark nicht auszahlen, ohne sich mit dem ihm ausdrücklich von der Reichsregierung gewordenen Befehl in Widerspruch zu setzen. Mittlerweile waren immer mehr Matrosen ins Zimmer eingedrungen, alles schrie durcheinander, und es herrschte wüster Lärm, als plötzlich von der Straße her Schüsse ertönten, die von der Gegend der etwa hundert Schritt schrägüber gelegenen Universität herkamen. Wels sprang, schreibt er, auf den Balkon der Kommandantur, vor der sich große Massen Matrosen angesammelt hatten und schrie in der Richtung nach dem, von Sicherheitsgardisten besetzten Zeughause: „Feuer einstellen, nicht schießen. es wird verhandelt!“ Der Ruf sei weitergegeben und darauf das Feuer eingestellt worden. Leider war damit das angerichtete Unheil nicht behoben.

Was war unten vor sich gegangen?

Gegen 6 Uhr abends waren von zwei Seiten her, nämlich südlich von der in die Straße Unter den Linden einmündenden Charlottenstraße und der zwischen Opernhaus und Kronprinzenpalais in den sogenannten Franz-Joseph-Platz einmündenden Oberwallstraße, und nördlich von der Schloßbrücke her verschiedene hundert bewaffnete Matrosen in Trupps vorgedrungen, hatten Ketten gebildet, welche die Straßen von Unter den Linden her bis zum Lustgarten absperrten, während mehrere hundert andre vor der Kommandantur Aufstellung nahmen, d.h. diese umzingelten. Darauf traten auch der von Wels unterrichtete Soldatenrat der im Kronprinzenpalais untergebrachten republikanischen Soldatenwehr, sowie die gleichfalls von Wels alarmierten, im Zeughaus, dem Gebäude der ehemaligen Königlichen Bibliothek und im Palais Friedrich Wilhelm (das einstige Palais von Wilhelm I.) befindlichen Sicherheitsgarden in Aktion. Die Führer dieser Abteilungen rückten mit Maschinengewehren sofort auf die Straße und brachten die Gewehre dort in Stellung. Gleichzeitig wurden die Soldatenräte der Berliner Garnison telefonisch verständigt und sandten auf Lastwagen je eine Kompagnie Soldaten nach der Kommandantur. Ebenso wurden von der Kommandantur selbst aus zwei Panzerwagen mit Maschinengewehren, sowie mehrere gefechtsmäßig eingerichtete Personenwagen herausgesandt, die in der Oberwallstraße Stellung nahmen. Alle diese Regierungstruppen, wenn man sie so nennen darf, enthielten sich jedoch jedes Angriffs gegen die Matrosen, und auch diese hüteten sich, eine Schießerei zu beginnen.

Eine solche setzte aber ein, als von der Charlottenstraße her ein Lastwagen, der nicht zur Kommandantur gehörte, in die Straße Unter den Linden einfuhr, dort in der Richtung auf die Kommandantur zu umbog und, ohne daß der Führer die Zurufe der Postenketten der Matrosen beachtete, seine Fahrt fortsetzte. Dies veranlaßte die Matrosen, durch deren Kette der Wagen kindurchzufahren versuchte, aus ihren Karabinern ein Schnellfeuer auf ihn zu eröffnen, das wahrscheinlich nur aus Schreckschüssen bestand, da niemand durch es verletzt ward. Dagegen veranlaßten die Schüsse die Besatzung eines Panzerwagens, der gerade in diesem Augenblick ebenfalls von der Charlottenstraße her in die Straße Unter den Linden einbog, schleunigst ein ernsthaftes Schnellfeuer auf die vor der Kommandantur postierten Matrosen zu eröffnen, durch das einer von ihnen getötet und drei schwer verletzt wurden. Dies rief unter den ohnehin erregten Matrosen eine ungeheure Erbitterung hervor. Eine Anzahl von ihnen drang, die Karabiner auf dem Rücken, unter dem Ruf „Nieder mit Wels“ durch Tür und Fenster in die Kommandantur ein. Ins Amtszimmer von Wels gelangt, überhäuften die Eindringlinge diesen mit Schimpfworten und Drohungen, und einige von ihnen hätten ihn am liebsten auf der Stelle gelyncht. Es war ihm gerade noch möglich, auf einen telefonischen Anruf des General Lequis von der Gardeschützenkavallerie zu antworten, er sei in der Kommandantur eingeschlossen und könne von ihr aus nichts unternehmen, er bäte den General, von seiner Stelle aus das Nötige zu veranlassen. Dann sah er sich von Matrosen umringt, die von ihm unter fortgesetzten Drohungen die Auszahlung der 80.000 Mark sowie die schriftliche Erklärung forderten, daß die Volksmarinedivision als dauernd in Berlin stehender Truppenteil anerkannt sei. Zu letzterem verstand er sich nicht, erklärte sich dagegen bereit, das Geld auszuzahlen, in der Hoffnung, dadurch die Wütenden zum Abzug zu bewegen. Das ging indes nicht in Erfüllung. Es wurde weiter und stärker getobt, wobei Persönlichkeiten den Ton angaben, die nie mit der Arbeiterbewegung etwas zu tun gehabt hatten, und schließlich erklärte man Wels, dessen Adjutant Fischer und den Sekretär der Kommandantur Dr. Bongartz für „Gefangene“ und zog mit ihnen von der Kommandantur nach dem Marstall, um sie dort in Gewahrsam zu halten oder, wie einige schrien, „abzuurteilen“. Auf dem Transport wurde Wels von verschiedenen der ihn umzingelt haltenden Matrosen, zu denen sich nach seinem Bericht auch Sicherheitsmannschaften des Polizeipräsidenten Eichhorn gesellt hatten, in überaus brutaler Weise mißhandelt. Während Fischer und Dr. Bongartz verhältnismäßig bald freigelassen wurden, ward er in der Dunkelheit von Quartier zu Quartier geschleppt, darunter die Geschäftsstube des Schlosses, wo der stellvertretende Kommandant der Volkmarinedivision, Radtke, ein Mitglied der unabhängigen Sozialdemokratie, sein Bestes tat, die Matrosen von Gewaltakten gegen ihn abzuhalten. Er ward dafür von einem der „wilden“ Matrosenführer in Gegenwart von Wels angeschrien, er hafte dafür, daß dieser nicht lebend heraus käme, andernfalls würde jener dem Radtke selbst eine Kugel durch den Kopf schießen. Da er sah, daß er im Augenblick an Ort und Stelle nichts ausrichten könne, begab sich Radtke in die Kommandantur und besprach mit Leutnant Fischer die Situation. In der Zwischenzeit ward Wels in einen zu ebener Erde gelegenen Verschlag eingesperrt und ihm gesagt, er solle mit dem Leben abrechnen. Nach Radtke’s Rückkehr ward er auf dessen Veranlassung wieder in einem wohnlichen Raum untergebracht, und Radtke erklärte den Matrosen, es sei eine Verständigung erzielt worden, Wels sei nur noch als in Schutzhaft befindlich zu betrachten.

Es war nämlich am späten Abend noch folgendes geschehen. Bald nachdem durch die Besatzung des Panzerautos die Schüsse auf die Matrosen abgegeben worden waren und ihre Opfer gefordert hatten, waren Trupps der erbitterten Matrosen zur Reichskanzlei gezogen und hielten die in dieser noch anwesenden Regierungsmitglieder von neuem gefangen. Dann aber waren Trupps der Berliner Garnison und der republikanischen Soldatenwehr angerückt, die Regierung gegen die Matrosen zu beschützen. Zu diesem Zweck nahmen sie vor der Kanzlei demonstrativ Stellung, enthielten sich jedoch jedes Angriffes auf die Matrosen, und auch diese nahmen nun eine abwartende Haltung ein. Eine Kommission des Fünfer-Ausschusses der republikanischen Soldatenwehr mit Brutus Molkenbuhr an der Spitze begab sich zum Volksbeauftragten Ebert, teilte ihm mit, daß diese Wehr und ebenso der größte Teil der Truppen der Berliner Garnison das Vorgehen der Matrosen auf das schärfste mißbilligten und nicht gesonnen seien, den Putsch ruhig hingehen zu lassen, sie seien bereit, wenn nötig, Wels mit Gewalt zu befreien. Ebert ermahnte zu besonnenem Vorgehen, damit Blutvergießen vermieden werde, die Regierung hoffe durch Verhandeln mit der Matrosendivision den befangenen ohne solches freizubekommen. Molkenbuhr und die anderen Mitglieder der Deputation setzten sich darauf mit dem Soldatenrat der republikanischen Soldatenwehr ins Einvernehmen, dann fuhr Molkenbuhr zum Marstall und leitete die Verhandlungen der Soldatenwehr mit der Volksmarinedivision ein. Sie wurden in der Reichskanzlei vor Ebert und Landsberg, zu denen sich dann auch Barth gesellte, fortgesetzt und hatten eine Verständigung dahin zur Folge, daß Garnisontruppen und Matrosen gleichzeitig nach verschiedenen Richtungen von der Reichskanzlei abzogen, sodaß dieser nur die übliche Schutzwache verblieb. An die abziehenden Truppen richtete Ebert folgende Ansprache:

„Ich will im Augenblick auf die Vorgänge nicht eingehen, die sich heute abgespielt haben, ich will nur die Tatsache feststellen, daß die Regierung eine Zeitlang im Reichskanzleigebäude durch ihre eigene Wache festgehalten wurde und niemand das Haus verlassen durfte. Die Telefonzentrale war besetzt, sodaß alle Telefongespräche unmöglich waren. Später ist es mir gelungen, die Matrosen zu bewegen, abzuziehen.

Wir haben weiter festgestellt, daß die Matrosen das Haus verließen. Gleichzeitig müssen aber auch die anderen Truppen jetzt fortgehen. Ich bitte Sie, alles zu tun, um ein Blutvergießen zu vermeiden. Wir haben in diesem Kriege so viel Blut vergossen, daß es einfach Wahnsinn wäre, noch neues Blutvergießen herbeizuführen, wofür niemand die Verantwortung übernehmen könnte. Ziehen Sie also in Ihre Quartiere.“

Das war nach zehn Uhr abends vor sich gegangen. Um elf Uhr ward von der Reichskanzlei in Schloß und Marstall telefoniert und angefragt, ob Wels nun auf freiem Fuß sei. Die Antwort lautete verneinend. Um zwölf Uhr nachts geschah das gleiche mit dem gleichen Ergebnis. Ebenso um ein Uhr. In der Zwischenzeit hatte die Regierung Truppen, deren Anmarsch von Potsdam her gemeldet wurde, zum Zurückgehen veranlaßt. Endlich nach ein Uhr rief Radtke vom Schloß her an und teilte mit, daß Wels noch immer von erbitterten Matrosen in Gewahrsam gehalten werde. Auf die Frage, ob Wels in Lebensgefahr sei, antwortete Radtke, im Augenblick sei das nicht der Fall, aber man könne im Angesicht der Stimmung der Matrosen nicht für dessen Leben bürgen. Das klang so ominös, daß Ebert nach Besprechung mit den noch in der Reichskanzlei weilenden Landsberg und Scheidemann den Kriegsminister Scheuch anrief, ihn von dem Geschehenen in Kenntnis setzte und ersuchte, das Nötige zur Befreiung von Wels und zur Unterwerfung der Matrosen zu veranlassen.

Es soll hier nichts vertuscht und beschönigt werden. Diese Aufforderung war. in doppelter Hinsicht, militärisch und politisch, ein verhängnisvoller Schritt: militärisch, weil durch sie die Auftraggeber ein Stück der Verantwortung für die Maßnahmen auf sich luden, welche die Militärs nun trafen, politisch, weil sie ohne Hinzuziehung der Volksbeauftragten von der Unabhängigen Sozialdemokratie geschah und schon dadurch geeignet war, das ohnehin sehr gespannte Verhältnis zu dieser noch zu verschlechtern.

Man vergegenwärtige sich jedoch die Situation. Die Regierung stand einer unverkennbaren Rebellion gegenüber. Und zwar nicht, wie Barth und andere es hinstellen, einer Rebellion, die lediglich aus einem „Dummenjungenstreich“ politischer Kinder erwachsen war. Gern kann man dem zustimmen, daß die Mehrzahl der Matrosen nicht genug von der Politik verstanden, um die politische Tragweite ihrer Schritte voll ermessen zu können und zu begreifen, daß, wer in der Weise, wie sie es getan, die elementarsten Pflichten der Disziplin mit Füßen tritt, unter allen Regierungsformen die gewaltsame Unterdrückung selbst herausfordert. Aber die Matrosen handelten unter der Anleitung eines Führers, der als ehemaliger Offizier keinen Augenblick darüber im Zweifel sein konnte, was das ganze Treiben bedeutete. Dorrenbach ist später von Militärs unter Umständen erschossen worden, angesichts deren der Ausdruck feiger Mord nicht zu scharf erscheint. Das kann aber kein Grund sein, über die große politische Verantwortung, die er in jenen Tagen auf sich geladen hat, mit abschwächenden Worten hinwegzugehen. Wenn man, so schwer selbst dies fällt, immer noch die Möglichkeit zuläßt, daß sein Verfahren am Nachmittag mit der Schlüsselkassette und der Abschließung der Reichskanzlei lediglich von einer Aufwallung des Augenblicks eingegeben war, so ist eine solche Annahme mit Bezug auf die am Abend ins Werk gesetzte Umzingelung der Kommandantur und die darauf folgende Erpressung an Wels eine Unmöglichkeit. Da war, wie das zur gleichen Zeit erfolgte Anmarschieren der Matrosen in Trupps von verschiedenen Seiten her dartut, nach einem vorbedachten Plan gehandelt worden, der zweifelsohne auf Dorrenbach zurückgeht. Welchen Einfluß dieser damals auf die Matrosen in der Marinedivision ausgeübt hat, geht aus den Aussagen der im Mai 1919 im Prozeß Ledebour verhörten Zeugen Alpers und Milewski hervor, die zu jener Zeit der Marinedivision angehört hatten. Bemerkenswert ist da namentlich, daß beide hervorhoben, Dorrenbach habe fast nie vor den Matrosen als Körperschaft seine Absichten dargelegt, sondern stets nur mit Einzelnen verhandelt. So darf man annehmen, daß die große Mehrzahl der Matrosen tatsächlich auch an jenem Abend von keinem Plane wußten. Als Ergebnis eines solchen aber, als abgekartetes Spiel mußten die vor und in der Kommandantur erfolgten Vorgänge Ebert und Kollegen erscheinen. Und klar ist, daß die Erregung, die sie bei ihnen hervorgerufen hatten, sich noch gewaltig steigern mußte, als in der Nacht anfänglich stundenlang gar keine Auskunft über das Schicksal zu erhalten war, das Wels im Schloß bevorstand, und dann jene in ihrer Unbestimmtheit erst recht beunruhigende Mitteilung Radtkes einlief. Den an einen so wichtigen und zugleich gefährlichen Posten gestellten Mitkämpfer, den die Rote Fahne in fast jeder Nummer ob des Zusammenstoßes am 6. Dezember den Massen als Bluthund denunziert hatte, schnellstens aus dieser Lage zu befreien, mußte ihnen in jenem Augenblick als dringendes Pflichtgebot erscheinen. Damit verbunden war aber die Aufgabe, die rebellierenden Matrosen dazu zu bringen, dem doch einstimmig gefaßten Beschluß der Regierung gemäß endlich das Schloß zu räumen. Wie die Dinge lagen, war nicht zu erwarten, daß dies ohne Heranziehung von Regierungstruppen zu erwirken war. Nicht das war daher das Bedenkliche, daß erneut das Militär angerufen wurde, wohl aber, daß den militärischen Befehlshabern kein Sozialist als Berater zur Seite gegeben wurde, der wußte, wie man mit sozialistisch orientierten Arbeitern umzugehen hat.

So handelten denn die Militärs, „wie sie es verstanden“. Vorher hatte sich noch folgendes abgespielt.

Bald nachdem Radtke Ebert den obenerwähnten Bescheid gegeben hatte, überkamen ihn, Milewski und gleichgesinnte Mitglieder der Matrosendivision im Angesicht des Tobens eines Teils der Matrosen ernsthafte Befürchtungen, daß diese doch Wels ums Leben bringen würden. In diesem Empfinden beschlossen sie, einen Politiker heranzuziehen, der bei der radikalen Arbeiterschaft besonderes Ansehen genoß, und da dies von Georg Ledebour ihrer Ansicht nach zutraf, läuteten sie mitten in der Nacht bei ihm an, und nachdem er zugesagt, holten einige von ihnen ihn im Automobil zum Marstall ab. An Ort und Stelle angelangt, sprach Ledebour eindringlich auf die Wütenden unter den Matrosen ein, die immer wieder riefen:

„Wels wird nicht freigegeben, der wird erschlagen“, und erreichte es nach vielem Hin und Her, daß sie schließlich sich bereit erklärten, unter bestimmten Bedingungen Wels freizugeben. Nach der Schilderung, die Ledebour in seinem Prozeß von den damaligen Vorgängen gibt, ist dann auf dessen Vorschlag eine Kommission gewählt worden, die mit der Regierung über diese Frage verhandeln sollte, und der außer ihm selbst auch Dorrenbach angehörte.

Ehe es zu dieser Verhandlung kam, erfolgte jedoch das Eingreifen des Militärs gegen die Matrosendivision. Der Kriegsminister Scheüch hatte dem Generalleutnant Lequis von der Gardeschützenkavallerie die Ausführung des ihm von Ebert gewordenen Auftrags übertragen, und Lequis hatte gegen morgen des 24. Dezember den größten Teil des in und um Berlin lagernden Militärs für den etwa notwendig gewordenen Kampf aufgeboten. Bei Tagesgrauen glich die Straße Unter den Linden, heißt es im Bericht einer bürgerlichen Zeitung,

„einem riesigen Heerlager. Von allen Seiten rückten die Kompagnien, zum Teil zu Fuß, zum Teil auf Lastwagen, von den Soldatenräten geführt, heran. Die Mannschaften waren sturmmäßig, d.h. mit Stahlhelm, Tornister und aufgepflanztem Seitengewehr ausgerüstet. Die Potsdamer Division rückte geschlossen mit ihrer Artillerie heran, die Mannschaften mit Handgranaten am Koppel. Der Stab der Regierungstruppen war im Palais des alten Kaisers (Wilhelm I.) und im Prinzessinnen-Palais eingerichtet. Hier traten die Führer der Mannschaften zusammen und man beschloß noch einen letzten Versuch zur Verständigung zu machen.“

Worin bestand aber dieser Versuch zur Verständigung? Hören wir den Bericht weiter:

„Es wurde eine Abordnung von 5 Mann nach dem Marstall geschickt. Um sieben Uhr fünfzig trafen die Abgeordneten mit weißer Fahne dort ein, wurden von den Matrosen in Empfang genommen und zum Soldatenrat geführt. Die Führer der Soldatenwehr erklärten kurz und bündig:

‚Wir verlangen völlige Ergebung der Matrosen, denen ihre berechtigten Forderungen sofort erfüllt werden sollen. Binnen zehn Minuten haben alle im Marstall und Schloß befindlichen Matrosen sich unbewaffnet auf dem (zwischen Marstall und Schloß befindlichen) Schloßplatz aufzustellen. Wir geben zehn Minuten Bedenkzeit. Wenn nach dieser Frist nicht die weiße Fahne gezogen wird, werden wir Schloß und Marstall mit Artillerie beschießen.‘“

Nun, das war kein Versuch einer Verständigung, sondern weiter nichts als eine schroffe Aufforderung zur unterwürfigen Kapitulation. Und da die Ansprache obendrein von einem noch bartlosen jungen Leutnant im üblichen Leutnantston abgegeben wurde, konnte sie keine andere Wirkung haben, als die Matrosen von neuem aufs äußerste zu reizen. Die Militärs aber hatten es mit dem Schießen sehr eilig. Um 7:50 war die Abordnung bei den Matrosen gewesen, hatte, wie es in einem anderen Bericht heißt, den Marstall mit Maschinengewehren gespickt vorgefunden, und da die Matrosen in einem begreiflichem Trotzempfinden die weiße Fahne nicht heraussteckten, ward Punkt 8 Uhr an die Truppen das Zeichen zum Losschlagen gegeben. Hören wir den zitierten Bericht weiter:

„Um ¾ 8Uhr waren alle Zugänge zum Schloßplatz und zur Schloßfreiheit abgesperrt. Da die Matrosen die Gebäude nicht gutwillig verließen, begann um 8 Uhr heftiges Feuer. Die Truppen hatten am Schinkelplatz zwei, am Werderschen Markt und an der Oberwallstraße mehrere Maschinengewehre aufgestellt. Die Matrosen traten den iruppen mit 5 Maschinengewehren und einem schweren Geschütz entgegen Darauf ließ der Kommandant der Garde-Kavalleriedivion Oberst v. Tschirschky und Bogendorff, die Artillerie abprotzen; auf der Schloßbrucke vor dem Schloß und am Werderschen Markt wurden je ein Geschütz von 10,5 cm aufgestellt.

„Der erste Schuß auf das Schloß saß zwischen den Fenstern des ersten Stockes und riß ein Loch von mehreren Metern Umfang; das Maschinengewehr, das dort aufgestellt war, ging in Trümmer. Weitere Schüsse sitzen im Erdgeschoß in der Höhe des weißen Saales. Die beiden großen Tore sind arg beschädigt, die Steinarbeiten vernichtet. Auch der historische Balkon des Schlosses, von dem der Kaiser im August 1914 seine Ansprache hielt, ist arg mitgenommen.

„Gleichzeitig begann die Beschießung des Marstalls vom Werderschen Markt her. Aus den Fenstern schossen die Matrosen mit versteckten Maschinengewehren auf die heranrückenden Truppen. Auch aus der Franzosischen Straße, in die das Garde-Kürassier-Regiment mit leichten Geschützen eingerückt ist, wird die Beschießung verstärkt. Der Feuerkampf wogte bis zehn Uhr hin und her; dann trat eine Pause ein. Aus einem Fenster des Marstalls wurde eine Fahne geschwenkt die man zuerst für eine List der Matrosen hielt, die Truppen auf größere Nähe heranzulocken. Als eine Abordnung der Matrosen vor dem Marstall erschien, wurde das Feuer vollkommen eingestellt. Von der Franzosischen Straße kommt der Kommandant der Kavallerie-Brigade, Oberst v. Tschirschky mit einem Regierungsvertreter in einem Kraftwagen; vorn ein Soldat auf dem Bajonett seines Gewehres eine weiße Fahne. Vr dem Marstall hält der Kraftwagen und Oberst v. Tschirachky und sein Adjutant treten ein. Nach einer Viertelstunde kommen sie eine weiße Fahne voran, wieder heraus, umgeben von dem Verhandlungsausschuß der Matrosen. Die Verhandlungen schienen zur Übergabe der Matrosendivision geführt zu haben, denn kurz nach zehn Uhr verließen erst einzelne Matrosen, dann ganze Trupps das Marstallgebäude ohne Waffen. Auch ein Teil der Truppen zog sich nunmehr zurück und kurz nach elf Uhr war der Abmarsch allgemein.“

Es war nämlich inzwischen der Rat der Volksbeauftragten zu einer Sitzung zusammengetreten und hatte beschlossen, das Militär zum Einstellen der Schießerei zu veranlassen. Emil Barth schildert in seiner schon zitierten Schrift, die von der Tendenz beherrscht ist, alle Schuld an dem Blutvergießen auf die Volksbeauftragten der Mehrheitssozialisten abzuwälzen die hierauf bezüglichen Vorgänge wie folgt:

„Ebert suchte Verbindung und als er den Kriegsminister hatte, gab es folgendes Gespräch:

‚Guten Morgen, Exzellenz. Hier Ebert. Es wird uns eben die Mitteilung daß auf das Schloß und den Marstall ein Angriff der Gardekavallerieschützen-Division stattfände. Da uns von der Angelegenheit nichts bekannt ist, möchte ich Sie doch im Auftrage des gesamten Kabinetts dringend bitten, umgehend zu veranlassen, daß weiteres Blutvergießen unterbleibt.‘ – – – – – – – –

‚Ja, das ist einstimmiger Beschluß des Kabinetts, und wir bitten, daß sofort die Feindseligkeiten eingestellt werden und verhandelt wird.‘ – – – – – – – –

Ebert: ‚Ich danke.‘

Es kam nun Tost vom 53er Ausschuß der Marine, der um Ausstellung einer Bescheinigung oder Vollmacht bat, um zwischen beiden Parteien verhandeln zu können. Nach anfänglichem Widerstand Landsbergs bekam er sie. Dann kamen Cohen als Vorsitzender des Zentralrats und Richard Müller als Vorsitzender des Berliner Vollzugsrats und baten ebenfalls um Vollmachten zum Verhandeln. Auch sie bekamen sie.

Darauf kamen die Mitglieder vom 53er Ausschuß vom Jade-, Elbe- und Kieler Gebiet, um Auskunft zu holen, wie das kam und wer die Schuld trägt, damit sie die Matrosen von Wilhelmshaven, Lehrte, Hamburg und Kiel zum Schutze ihrer Kameraden aufrufen könnten.

Allen erklärte Ebert, genau wie uns, daß er selbst völlig überrascht sei und keine Auskunft geben könne, aber auf schnellste Aufklärung dringen würde.“

Die Sitzung der Volksbeauftragten nahm ihren weiteren Verlauf, während Cohen, Müller, Thost und die Matrosen sich in die Universität begaben, wo die von Ledebour in der Nacht angeregte Besprechung stattfand. An ihr nahm von Militärs der Generalleutnant von Hoffmann teil, mit dem und anderen Militärs Ledebour, laut seiner Erzählung in der Gerichtsverhandlung vom 20. Mai 1919 schon persönlich Rücksprache genommen hatte. Er und seine Genossen fanden, berichtet er, bei Hoffmann ein „durchaus anerkennenswertes Entgegenkommen“, sodaß ein befriedigender Vergleich zustande kam.

„Es wurden die berechtigten Forderungen der Marinedivision auf Auszahlung der Löhne bewilligt. Die Matrosen erklärten sich bereit, das Schloß zu räumen, das die Marinedivision außer dem Marstall besetzt hatte, und Generalleutnant Hoffmann erklärte sich auf unsere Anregungen hin bereit, ohne daß die Volksmarinedivision daran gedacht hatte, diese Forderung zu stellen, seine Truppen aus Berlin zurückzuziehen.“

Da diese Besprechung stattfand, nachdem Ebert namens der Regierung den Kriegsminister aufgefordert hatte, das Schießen einzustellen, war, was Ledebour freilich nicht wissen konnte, von einem besonderen Entgegenkommen des Herrn von Hoffmann kaum noch die Rede. Weder hatte dieser einen Auftrag oder ein Recht, die Auszahlung der Löhne an die Matrosen zu bewilligen, noch lag eine Veranlassung dazu vor, da die Bewilligung längst von Seiten der Regierung erfolgt war. Überhaupt scheinen einige Militärs in jenen Tagen eine recht zweideutige Rolle gespielt zu haben. Sie gaben der Aufforderung, das Nötige für die Räumung des Schlosses und die Befreiung von Wels zu tun, die krasseste Ausdeutung. Wurden sie aber wegen der Schießerei zur Rede gestellt, so erklärten sie, was sie täten, geschehe ganz gegen ihren Wunsch im Auftrag der Regierung, an den sie gebunden seien. Sie haben dadurch viel dazu beigetragen, das Mißtrauen der Sozialdemokraten der zwei Richtungen gegen einander zu verschärfen.

Von der andern Seite sorgten die Spartakisten dafür, daß der Kampf nicht sofort sein Ende fand.

Der zitierte bürgerliche Bericht, der mit den Berichten sozialistischer Blätter mit Bezug auf das Tatsächliche in der Hauptsache übereinstimmt, fährt fort:

„Aber die Ruhe hielt nicht lange an, und die Veranlassung zu den neuen Kämpfen, die sich bis zum Abend hinzogen, scheint das offene Eingreifen des Spartakusbundes gewesen zu sein. Untätig war die Liebknechtgruppe allerdings auch bis dahin nicht gewesen. Bereits um 9¼ Uhr war es am Lustgarten und im Hofe des Schlosses zu einem Kampf zwischen Regierungstruppen und Spartakusbund gekommen. In der Nähe der Börse hatten sich etwa 300 mit Revolvern bewaffnete Spartakusleute angesammelt, die mit einer Tafel ‚Nieder die Regierung! Alle Macht dem Proletariat!‘ die Postenkette an der Börse durchbrochen hatten und nun gegen das Schloß vorstürmten. Am Lustgarten gelang es ihnen, dem dritten Zug der Potsdamer Ulanen zwei Maschinengewehre zu entreißen. Unter lautem Gejohl drangen sie nun über den Lustgarten durch das Portal 4 in das Schloß ein und versuchten die Posten auf dem Schloßhof zu überrennen. Die Regierungstruppen hatten den Vorfall jedoch schon bemerkt. Eine Kompagnie drang von der Kommandantur aus in das Schloß ein, während Mannschaften der Sturmtruppen im Schloß die Treppen hinabeilten und sich den Spartakusleuten entgegenwarfen, die bereits begonnen hatten zu plündern. Ein Führer der Soldatenwehr forderte die Eindringlinge auf, sofort das Schloß zu räumen, ehe er den Befehl zum Feuern gebe. Als die Eingedrungenen jedoch Miene machten sich zur Wehr zu setzen, drangen die Soldaten mit gefälltem Bajonett auf sie ein. Unter lautem Schreien flüchteten die Plünderer und verteilten sich über den Schloßplatz, von wo sie von den dort aufgestellten Posten weiterbefördert wurden.“

Die in den letzten Sätzen enthaltene Identifizierung der Spartakisten mit den Plünderern ist natürlich von der Presse der Ersteren und den ihnen nahestehenden Blättern scharf zurückgewiesen worden. Sie hat als tatsächliche Unterlage auch lediglich den Umstand, daß, nachdem einmal die Postenkette durchbrochen war, den Spartakisten allerhand sonstiges Straßenvolk nachrückte, darunter zweifelsohne auch unsauberes Element, das jede Gelegenheit zu Plünderungen und dergleichen zu benutzen sucht.

Dies war aber nicht der einzige Übelstand, den das Durchbrechen der Postenkette im Gefolge gehabt hat. Der, wie bemerkt, dem radikalen Flügel der unabhängigen Sozialdemokraten angehörige damalige Polizeipräsident von Berlin, Emil Eichhorn, nahm, als das Schießen im Gange war, Veranlassung, die ihm zur Verfügung stehenden Sicherheitsmannschaften mit Revolvern bewaffnet mit dem Auftrage auszusenden, dem Übergreifen des Kampfes auf die andern Stadtteile entgegenzuwirken. Von diesen Sicherheitsmannschaften nun nahm ein erheblicher Teil für die aufständischen Matrosen Partei und kam ihnen in Trupps zu Hilfe, indem er den Regierungstruppen in den Rücken fiel oder sich zwischen sie drängte und ihre Angriffskraft lähmte. Im Lager der Regierungspartei sah man darin eine von Eichhorn geflissentlich organisierte Unterstützung der Aufständischen, zumal die später von ihm als gänzlich unwahr zurückgewiesene Behauptung gemeldet wurde, daß er außerdem auf dem Hof des Polizeigebäudes Waffen an Spartakisten habe austeilen lassen, und so griff eine Erbitterung gegen Eichhorn Platz, die kurze Zeit danach zu noch blutigeren Kämpfen führen sollte. Das unmittelbare Resultat war ein für die Matrosen günstiges. In den Reihen der Regierungstruppen war infolge der Durchsetzung mit Zivilpublikum Demoralisation eingerissen, ein Teil wäre zur Fortsetzung des Kampfes nicht zu haben gewesen, andere hatten sich sogar unter dem Einfluß der Bearbeitung durch Spartakusleute und gleichgesinnte Elemente bewegen lassen, zu den Aufständischen überzutreten. Aber auch bei diesen war die Kampfeslust gewichen.

Infolge all dieser Vorgänge erhielt die schließlich zustande gebrachte Vereinbarug eine solche Gestalt, daß sie von den einen als Kapitulation der Matrosen, von anderen als Kapitulation der Regierung vor den Matrosen hingestellt wurde. Sachlich erhalten die Matrosen zwar nichts, was ihnen nicht schon wiederholt vonseiten der Regierung grundsätzlich zugesichert worden war, doch wird von jeder Untersuchung nach den Urhebern und Schürern des Aufstandes und Bestrafung solcher Abstand genommen.

Folgendes der Wortlaut der Abmachung:

1. „Die Volksmarinedivision verpflichtet sich, sofort das Schloß zu verlassen, wenn der Vertrag vom 18. Dezember durchgeführt wird. Darnach hat die Matrosendivision Anspruch auf Büroräume im Marstall.

2. Die Matrosen werden der republikanischen Soldatenwehr angegliedert, die dem Befehl der Kommandantur untersteht. Die Form der Angliederung bleibt einer späteren Vereinbarung vorbehalten.

3. Die Matrosen verpflichten sich, in Zukunft nicht wieder an Aktionen gegen die Regierung teilzunehmen. Meinungsverschiedenheiten sind stets auf dem Verhandlungswege durch die zuständigen Stellen zu erledigen. Die Division des Generalkommandos Lequis wird sofort zurückgezogen. Die Alarmbereitschaft der Berliner Truppen und der Matrosendivision wird sofort aufgehoben. Die Matrosen und Soldaten gehen in ihre Quartiere zurück. Der Kommandant Wels its sofort freizulassen.“

Erst einzeln und dann in Trupps verlassen nun die Mehrheit der Matrosen den Marstall. Sie hatten neun Tote verloren, und ganz erheblich größer noch war die Zahl ihrer schwer Verwundeten. Dazu kamen noch etliche 20 Tote und doppelt soviel Verwundete aus den Reihen ihrer spartakistischen und sonstigen Parteigänger. Die Regierungstruppen verzeichneten 2 Tote und 2 Verwundete.

Es ward nun der Verkehr wieder frei gegeben, und Massen Volks strebten die Linden herauf dem Schauplatz der Kämpfe zu. Allerhand Ansprachen werden vor improvisierten Haufen gehalten, die meisten davon im Sinne der radikalen Opposition. Über den Charakter einer Ansprache, die gegen 12 Uhr Georg Ledebour vor der Universität von einem Bierwagen herab gehalten hat, gehen die Berichte auseinander. Die einen schildern sie als zur Ruhe mahnend, andere als hetzerisch. Die Wahrheit wird auch hier in der Mitte liegen. Nach seiner eigenen Darstellung hat Ledebour die Ansprache an die vor der Universität während der oben geschilderten Verhandlungen harrende Menge auf Wunsch von Offizieren der Gardeschützendivision gehalten, um neuen Zusammenstößen vorzubeugen, und daß er zum Auseinandergehen ermahnt hat, wird auch von anderer Seite bestätigt. Das schließt aber nicht aus, daß er diese Rede mit scharfen Ausfällen auf die Mehrheitssozialisten in der Regierung gewürzt und, wie es in einer Reihe von Berichten heißt, dafür gesprochen hat, daß die Matrosen ihre Waffen behalten sollten. Sehr scharfe Reden gegen Ebert und Genossen hielten er und andere noch am Abend, und in einer Zusammenkunft der revolutionären Obleute wird immer stürmischer der Austritt der Unabhängigen aus der Regierung gefordert. Sie wären Verräter an der Revolution, wird erklärt, wenn sie noch länger mit den „Mordbuben“ in einer Regierung säßen.

Die Luft ist mit Konfliktstoff überladen. Am nächsten Tage, dem eigentlichen Weihnachtstag, besetzten am Nachmittag Spartakusleute, radikale Mitglieder der Matrosendivision und Gleichgesinnte, die sich von einem Demonstrationszug abgesplittert hatten, unter gewaltsamer Verdrängung der vor dem Vorwärtsgebäude aufgestellten Wachen die Lokalitäten des Vorwärts, der am Morgen einen Artikel gebracht hatte, worin das Verhalten der aufständischen Matrosen und die Schuld der zur Widersetzlichkeit hetzenden Hintermänner scharf gekennzeichnet worden war. Ein einstweiliger Redaktionsstab wird eingesetzt und ein Flugblatt gedruckt, das mitteilt, der bisherige Vorwärts, das „lügnerische Reptil“, das im Verein mit der bürgerlichen Presse bemüht sei, das Proletariat um die Früchte der Revolution zu bringen, werde von nun als Roter Vorwärts erscheinen und dem Volk „die heiß ersehnte Wahrheit verkünden“. Als die Redakteure am 26. abends auf die Redaktion kamen, ward ihnen bedeutet, sie hätten dort nichts mehr zu suchen, das dem revolutionären Berliner Proletariat vor zwei Jahren geraubte Blatt sei diesem wieder zurückgegeben und der Chefredakteur Friedrich Stampfer wird, als er gegen diesen Gewaltakt Einspruch erhebt, in den Marstall in Haft gebracht.

Inzwischen hatten Verhandlungen zwischen leitenden Persönlichkeiten der beteiligten sozialistischen Parteien und der Regierung begonnen. Der Polizeipräsident Eichhorn war eingeschritten und hatte zunächst die Räumung der Druckerei des Vorwärts erwirkt, und schließlich entschied sich eine Versammlung der revolutionären Obleute und Vertrauensleute unter dem Einfluß führender Vertreter der Unabhängigen Sozialdemokratie dafür, daß der Vorwärts wieder freizugeben sei. Doch mußte sich die Redaktion verpflichten, an der Spitze der ersten von ihr herausgegebenen Nummer folgende Erklärung zu veröffentlichen:

„Die Versammlung der revolutionären Obleute und Vertrauensleute Groß-Berlins, 26. Dezember 1918, hat volles Verständnis für den Groll der Arbeitermassen, der am 25. Dezember zur Besetzung des Vorwärts-Unternehmens geführt hat. Der ungeheuerliche Rechtsbruch, der vor 2 Jahren gegen die Berliner Arbeiterschaft begangen wurde, wird heute um so aufreizender von der revolutionären Arbeiterschaft empfunden, als der Vorwärts in der letzten Zeit in der schamlosesten Weise alle ehrlichen und entschieden revolutionären Kreise sowie die Volksmarinedivision beschimpft hat.

Die revolutionären Obleute halten daher die den Vorwärts-Leuten erteilte Lektion für wohlverdient, aber sie halten das Vorgehen gegen den Vorwärts nicht für den gegebenen Anlaß, den umfassenden Endkampf gegen die offene und verkappte Gegenrevolution aufzunehmen.

Die Versammlung der revolutionären Obleute empfiehlt daher die Aufgabe der Besetzung des Vorwärts-Gebäudes. Sie verpflichtet sich alle Kräfte einzusetzen, die revolutionäre Entwicklung weiterzutreiben und den Kampf für den Sozialismus zu Ende zu führen. In diesem Kampf ist selbstverständlich eingeschlossen der Kampf gegen die Regierung Ebert und deren Lakaien im Vorwärts.

Die Versammlung der revolutionären Obleute erkennt das Recht der Berliner Arbeiterschaft auf den Vorwärts an. Sie ist der Meinung, daß die Vorwärts-Angelegenheit in dieser revolutionären Epoche sofort vom Vollzugsrat der Groß-Berliner Arbeiterschaft in diesem Sinne geregelt werden muß.

Die revolutionären Obleute und Vertrauensleute
der Großbetriebe Groß-Berlins.“

Die Erklärung erschien in der Morgenausgabe des Vorwärts vom 27. Dezember 1918, und die Redaktion ließ ihr dort unmittelbar eine kurze Notiz folgen, in der sie sagt, sie habe aus den Erklärungen der Kommission der revolutionären Obleute „die Überzeugung gewonnen, daß die Besetzung des Vorwärts weder von ihnen noch von der Leitung des Spartakusbundes veranlaßt worden ist.“

Dann aber folgt ein Artikel Der Standpunkt der Redaktion, worin diese sachlich scharf, aber in ruhiger Sprache ihren Standpunkt darlegt.

„Es wäre unser gutes Recht“, heißt es da, „Kraftworte mit Kraftworten zu erwidern.“ Wir beschränken uns darauf, Tatsachen richtig zu stellen – ... Wir sollen die ehrlich revolutionären Kreise in schamloser Weise beschimpft haben. Wir halten diejenigen Kreise für „ehrlich revolutionär“, die an den Errungenschaften der Revolution festhalten. Die größte Errungenschaft der Revolution ist, daß das ganze Volk künftig selbst über seine Geschicke entscheiden soll. Versuche, ihm dieses Recht vorzuenthalten, die Wahlen zur Nationalversammlung zu vereiteln, halten wir für konterrevolutionär und nur der äußersten Reaktion dienend. Solche Versuche – ebenso wie der tolle Plan, die gegenwärtige Regierung gewaltsam durch eine Regierung Liebknecht-Rosa Luxemburg zu ersetzen, die nur ein paar handvoll Arbeiter hinter sich hätte – beschwören die Gefahr des Bürgerkriegs herauf. Denjenigen aber, die mit dem Bürgerkrieg spielen, werden wir immer wieder sagen, daß sie Verderber des Volkes sind, und wir werden immer wieder unseren Genossen raten, das Selbstbestimmungsrecht des Volkes nach allen Seiten hin bis zum äußersten zu verteidigen. Wenn wir dabei auch scharfe Worte gebrauchen sollten, so mögen diejenigen, die es angeht, nicht zu empfindlich sein, sie nehmen ja – siehe oben! – auch auf die Empfindlichkeiten anderer keine Rücksicht. –

Der Vorwärts bleibt, was er gewesen ist, das Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands, das keiner anderen Kontrolle als jener der eigenen Parteiinstanzen unterworfen ist, seine Redaktion bleibt unverändert, ebenso seine Gesinnung. Sein Recht aber, frei seine Meinung sagen zu dürfen, wird er hoffentlich im revolutionären, republikanischen Deutschland kein zweites Mal noch besonders zu verfechten brauchen.

Das letztere sollte sich nicht bewahrheiten. Die Art, wie im Jahre 1916 der Parteivorstand der damals noch nicht gespaltenen sozialdemokratischen Partei den Vorwärts der in Berlin vorherrschenden Opposition aus der Hand nahm, hält der Schreiber dieses auch heute noch nicht für korrekt. Es ist aber fraglich, ob das Blatt, das ja nicht nur Organ der Berliner Parteimitgliedschaft, sondern zugleich Zentralorgan der Gesamtpartei war, bei der Praxis des mit unbegrenzten Vollmachten über die Presse ausgestatteten Oberkommandos in den Marken als Organ der die Kriegspolitik der Partei bekämpfenden Opposition überhaupt hätte am Leben erhalten bleiben können, und ob eine beide Teile befriedigende Lösung damals überhaupt noch möglich war. Die Frage war zudem im Dezember 1918, nachdem beide Fraktionen sich eigene Organe in Berlin geschaffen hatten, die Unabhängigen die Freiheit und die Spartakusleute Die Rote Fahne, im Grunde nur noch für das retrospektive Urteil von Bedeutung. In einer Sondernotiz stellte Friedrich Stampfer fest, daß er am 9. November 1918 einigen namhaften Unabhängigen den Vorschlag gemacht habe, eine neue Vereinbarung über die Redaktion des Blattes zu treffen. „Die Unabhängigen gingen darauf nicht ein,“ schreibt er, „sondern zogen es vor, ein eigenes Blatt zu gründen, womit, richtig erwogen, den beiderseitigen Interessen wohl am besten gedient war.“

In der gleichen Nummer des Vorwärts veröffentlichten die drei der Fraktion der Mehrheitssozialisten zugehörenden Volksbeauftragten ihren Bericht über die Kämpfe vom 23. und 24. Dezember, wie diese sich von ihrem Standpunkt aus darstellten. Ein überaus eindrucksvolles Schriftstück, das in markigen Sätzen die oben geschilderten Vorgänge zuammenfaßt, welche den blutigen Zusammenstoß zur Folge gehabt hatten und aus dem mit zwingender Beweiskraft zwei Tatsachen hervorgehen: erstens, daß bis zu dem Augenblick, wo in der Nacht vom 23. bis 24. Dezember die Meldung aus dem Schloß kam, daß für das Leben Wels nicht mehr gebürgt werden könne, die Regierung trotz wiederholter Provokation ihr Bestes getan hatte, Gewaltakte zu verhindern und mit den Matrosen zu einer gütlichen Vereinbarung zu kommen, und daß zweitens Dorrenbach und seine Hintermänner jedesmal, wenn eine solche Verständigung erzielt war, durch ihre Aktionen neue Konflikte heraufbeschworen hatten. Der Bericht hebt hervor, daß die Führer der Volksmarinedivision, die mit der Regierung verhandelten, die Einigkeit herstellen wollten und dies nach dem Straßenkampf aufs neue durch die Zusicherung bewiesen haben, „sich an keinerlei Aktion mehr gegen die Regierung zu beteiligen.“ Wer aber wollte es nicht zu Frieden und Zusammenarbeit kommen lassen, wer habe es verstanden, „jeden Vertrag zu einem Blatt Papier zu machen“? Und ohne Karl Liebknecht zu nennen, wird auf dessen Treiben mit folgenden Worten hingewiesen:

„Die sind es, und die klagen wir an, welche Tag für Tag unseren Genossen in der Regierung alle Verbrechen angedichtet haben. Die kein anderes Wort mehr kennen als ‚Bluthund‘, und selbst im Blut waten! Die angeblich für die Revolution kämpfen und nichts anderes wollen als Vernichtung, Anarchie, Terror! Denen die russische Wüste und ihr hungerndes Volk noch nicht genug sind, die noch eine Wüste anstreben: Deutschland! Die Weltrevolution predigen und nur eines erreichen werden: Weltuntergang!“

Und der Bericht schließt mit den Worten:

„Genossen! Hier habt ihr den Bericht über die Handlungen Eurer Vertrauensmänner in der Regierung. Ihr müßt das Urteil sprechen, denn durch Euer Vertrauen heißen wir Volksbeauftragte! Wenn Ihr uns Entlastung erteilt, müßt Ihr aber noch ein Weiteres tun!

Ihr müßt uns Macht schaffen! Es gibt keine Regierung ohne Macht! Ohne Macht können wir Euren Auftrag nicht ausführen, ohne Macht sind wir jedem preisgegeben, der verbrecherisch genug ist, für den eigenen jämmerlichen Ehrgeiz seine Kameraden und ihre Waffen zu mißbrauchen!

Wollt Ihr die Deutsche sozialistische Republik? Wollt Ihr, daß Eure Parteigenossen in Eurem Auftrag die Regierung führen?

Wollt Ihr, daß wir für Euch so schnell wie möglich Frieden schließen und für die Lebensmittelzufuhr sorgen? Dann helft uns, der Regierung eine Volksmacht zu schaffen, daß sie ihre Würde, ihre Entschlußfreiheit, ihre Tätigkeit gegen Anschläge und Putsche schützen kann.

Der 24. Dezember hat uns ungeheure Werte an Volksvermögen und Volksansehen gekostet. Noch ein solcher Tag, und wir verlieren den Rang eines Staates, mit dem man verhandelt und Frieden schließt!

Eine Regierung, so sagte Genosse Ebert zu den Vertretern der Volksmarinedivision, die sich nicht durchsetzen kann, hat auch keia Recht auf Existenz! Helft Ihr dies Recht verteidigen! Jeder Mann ein Kämpfer für dies Recht!“

Prinzipiell hätten auch die Vertreter der unabhängigen Sozialdemokratie das unterschreiben können. Infolge einer anderen Fragestellung fanden sie aber die Begründung eines Entschlusses, kraft dessen der von Dorrenbach und Genossen angestiftete Matrosenauftand den Erfolg hatte, dem Zusammenarbeiten der beiden sozialdemokratischen Parteien in der kritischen Periode der Revolution ein Ende zu bereiten.

Fußnote

1. Man beachte den von uns unterstrichenen Zwischensatz dieser von allen Volksbeauftragten unterzeichneten Weisung. Nur unter Berücksichtigung seiner ist eine gerechte Beurteilung des Zusammenstoßes möglich, den ihre Innehaltung zur Folge hatte.


Zuletzt aktualisiert am 6.11.2008