MIA: Geschichte: Sowjetische Geschichte: 100 Jahre Russischer Revolution: Gramsci und die Russische Revolution


Gramsci und
die Russische Revolution

Was dachte der junge Antonio Gramsci über die Russische Revolution?

Von Alvaro Bianchi und Daniela Mussi

Antonio Gramsci

Antonio Gramsci Quelle: Carta Maior

Vor achtzig Jahren starb Antonio Gramsci, nachdem er die letzten zehn Jahre seines Lebens im faschistischen Gefängnis zugebracht hatte. Obwohl er später für seine theoretischen Arbeiten in den Gefängnisheften bekannt wurde, begann Gramscis politische Arbeit während des Ersten Weltkrieges als junger Linguistikstudent an der Universität von Turin. Schon damals kritisierte er in seinen Artikeln für die sozialistische Presse nicht nur den Krieg, sondern auch Italiens liberale, nationalistische und katholische Kultur.

Anfang des Jahres 1917 arbeitete Gramsci als Journalist für eine örtliche sozialistische Zeitung in Turin, Il Grido del Popolo (Der Ruf des Volkes), und beteiligte sich an der Piemonter Ausgabe der Avanti! (Vorwärts!). Nachrichten über die russische Februarrevolution gab es in den ersten Monaten kaum, zumeist beschränkten sie sich auf Übersetzungen von Artikeln Pariser und Londoner Nachrichtenagenturen. Ab und an wurde in der Avanti! über Russland berichtet, in Artikeln, die mit „Junior“ unterschrieben waren, dem Pseudonym des sozialrevolutionären russischen Exilanten Vasilij Vasilevich Suchomlin.

Um die italienischen Sozialist_innen mit verlässlichen Informationen zu versorgen, schrieb die Führung der Sozialistischen Partei Italiens (PSI) ein Telegramm an den Abgeordneten Oddino Morgari. Dieser befand sich zurzeit in Den Haag und die PSI bat ihn, nach Petrograd zu fahren um Kontakt mit den Revolutionär_innen aufzunehmen. Doch die Reise schlug fehl und Morgari kehrte im Juli nach Italien zurück. Am 20. April veröffentlichte Avanti! eine kurze, von Gramsci verfasste Meldung über den Reiseversuch des Abgeordneten, in der er ihn den „roten Botschafter“ nannte. Gramscis Begeisterung über die Geschehnisse in Russland war deutlich. Zu diesem Zeitpunkt nahm er an, dass die potenzielle Kraft der italienischen Arbeiterklasse, sich dem Krieg entgegenzustellen, in direkter Verbindung zur Kraft des russischen Proletariats stand. Die Revolution in Russland, so glaubte er, würde die internationalen Beziehungen fundamental verändern.

Der Weltkrieg stand an seinem Höhepunkt und die militärische Mobilisierung hatte enorme Auswirkungen auf die italienische Bevölkerung. Anders als seinen Freunden und Genossen Angelo Tasca, Umberto Terracini und Palmiro Togliatti blieb Gramsci der Frontdienst aufgrund seiner labilen Gesundheit erspart und so wurde der Journalismus seine „Front“. In seinem Artikel über Morgari zitierte er wohlwollend eine Resolution der russischen sozialistischen Revolutionäre, die in Italien in der Corriere della Sera veröffentlicht worden war. In ihr wurden die europäischen Regierungen aufgerufen, ihre militärischen Offensiven zu beenden und sich auf die Abwehr deutscher Angriffe zu beschränken. Diese Position des „revolutionären Verteidigungskrieges“ war im April von einer großen Mehrheit des Allrussischen Sowjetkongresses beschlossen worden. Einige Tage später sollte Avanti! die Resolution, übersetzt von Junior, ebenfalls abdrucken.

Als ihn jedoch weitere Nachrichten aus Russland erreichten, begann Gramsci eine eigene Interpretation der Ereignisse zu entwickeln. Ende April 1917 veröffentlichte er in Il Grido del Popolo einen Artikel, der mit Note sulla rivoluzione russa (Anmerkungen zur Russischen Revolution) betitelt war. Anders als die meisteno Sozialist_innen seiner Zeit, die die russischen Ereignisse als neue Französische Revolution verstanden, sprach Gramsci von einem „proletarischen Akt“, der zum Sozialismus führen würde.

Für Gramsci unterschied sich die Russische Revolution maßgeblich vom jakobinischen Modell einer bloß „bürgerlichen Revolution“. In seiner Interpretation der Vorgänge in Petrograd legte Gramsci ein politisches Programm für die Zukunft dar. Um die Bewegung weiterzuführen, um sie in Richtung einer Arbeiterrevolution steuern zu können, müssten die russischen Sozialist_innen mit dem jakobinischen Modell brechen, unter dem er die systematische Anwendung von Gewalt und eingeschränkte kulturelle Tätigkeit verstand.

In den folgenden Monaten des Jahres 1917 schlug sich Gramsci schnell auf die Seite der Bolschewiki, nicht zuletzt ein Ausdruck seiner Identifikation mit den radikaleren Fraktionen der PSI, die sich gegen den Krieg aussprachen. In seinem Artikel I massimalisti russi (Die russischen Maximalisten) vom 28. Juli erklärte Gramsci seine volle Unterstützung gegenüber Lenin und, wie er es nannte, der „maximalistischen“ Politik. Er beschreibt diese als „die Kontinuität der Revolution, den Rhythmus der Revolution: Deshalb sind sie die Revolution selbst.“ Die Maximalisten würden „die extreme Idee des Sozialismus“ verkörpern, die alle Bande zur Vergangenheit abgeworfen hätten.

Gramsci beharrte darauf, dass die Revolution nicht unterbrochen werden könne und sie die bürgerliche Welt überwinden müsse. Für den Journalisten der Il Grido del Popolo war die größte Gefahr aller Revolutionen, und insbesondere der russischen, die Auffassung, dass der Prozess abgeschlossen sei. Die Maximalist_innen stellten sich gegen diese Unterbrechung und seien daher das „logische letzte Glied dieser revolutionären Entwicklung“. Gramsci zufolge wurde der gesamte revolutionäre Prozess von einer Bewegung angetrieben, in der die stärkste und entschlossenste Kraft die Schwächsten und Verwirrtesten antreiben konnte.

Am 5. August erreichte eine russische Delegation der Sowjets um Josif Goldemberg und Alexander Smirnow Turin. Ihre Reise war von der italienischen Regierung genehmigt worden, da sie auf eine Beteiligung der neuen russischen Regierung an einem Krieg gegen Deutschland hoffte. Nachdem sie sich mit den russischen Delegierten getroffen hatten, zeigten sich die italienischen Sozialist_innen erstaunt darüber, welche Positionen noch immer in den Sowjets vorherrschten. Am 11. August fragte der Herausgeber der Il Grido del Popolo:

„Wenn wir die Delegierten der russischen Sowjets für die Weiterführung des Krieges im Namen der Revolution reden hören, fragen wir hingegen: Hieße das nicht, die Weiterführung des Krieges zur Verteidigung russischer kapitalistischer Vorherrschaft gegen die Vorstöße des Proletariats zu billigen, oder gar gutzuheißen?“

Trotz dieser Differenzen bot der Besuch der Sowjet-Delegierten die Möglichkeit die Revolution zu propagieren und die italienischen Sozialist_innen nutzten ihre Chance. Nach Aufenthalten in Rom, Florenz, Bologna und Mailand kehrte die Delegation nach Turin zurück. Auf dem Vorplatz der Casa del Popolo begrüßten vierzigtausend Menschen die Russische Revolution mit der ersten öffentlichen Demonstration in der Stadt seit Ausbruch des Krieges. Auf dem Balkon des Hauses übersetzte Giacinto Menotti Serrati, Führer des maximalistischen Flügels innerhalb der Partei und entschiedener Gegner des Krieges, die Rede von Goldemberg. Als der Delegierte sprach, erklärte Serrati, die Russen wollten das sofortige Ende des Krieges und beendete seine „Übersetzung“ mit dem Ruf: „Es lebe die italienische Revolution!“, woraufhin die Menge antwortete: „Lang lebe die Russische Revolution! Lang lebe Lenin!“

Gramscis Bericht über die Kundgebung mit den russischen Delegierten der Revolution in der Il Grido del Popolo war enthusiastisch. Die Demonstration hätte ein wahres „Spektakel der Solidarität proletarischer und sozialistischer Kräfte mit dem revolutionären Russland“ dargeboten. Nur wenige Tage später sollte dieses Spektakel auf die Straßen Turins zurückkehren.

Am Morgen des 22. August gab es kein Brot mehr in Turin, ein Ergebnis der langen Versorgungskrise, die der Krieg hervorgerufen hatte. Um die Mittagszeit legten die Arbeiter_innen ihre Arbeit in den städtischen Fabriken nieder. Um 17 Uhr stand bereits ein Großteil der Fabriken still, und die Menge begann durch die Stadt zu marschieren und Bäckereien und Warenhäuser zu plündern. Ohne dass es einen Aufruf gegeben hätte, verbreitete sich der spontane Aufstand und ergriff die gesamte Stadt. Auch die Wiederherstellung der Brotversorgung konnte die Bewegung nicht ruhigstellen, die schnell einen politischen Charakter angenommen hatte.

Am folgenden Nachmittag übernahm die Armee die Macht über die Stadt und verschaffte sich Kontrolle über das Stadtzentrum von Turin. Doch in den Außenbezirken der Stadt gingen Barrikadenbau und Plünderungen weiter. In der sozialistischen Hochburg Borgo San Paolo plünderten Protestierende die Kirche von San Bernardino und steckten sie anschließend in Brand. Die Polizei eröffnete das Feuer auf die Menschenmenge. Im Verlauf des 24. August verstärkten sich die Konflikte. Am Morgen versuchten Protestierende ohne Erfolg, das Stadtzentrum zu erreichen; wenige Stunden später sahen sie sich dem Beschuss aus Maschinengewehren und gepanzerten Wagen ausgesetzt. Der Pfad der Zerstörung hinterließ 24 Tote und mehr als 1.500 Inhaftierte. Am nächsten Morgen wurde der Streik weitergeführt, diesmal jedoch ohne Barrikaden. Als zwei Dutzend sozialistische Führungspersonen festgenommen wurden, kam die spontane Rebellion zu ihrem Ende.

Die Druckerpressen der Il Grido del Popolo standen während dieser Tage still, und die Zeitung nahm ihre Arbeit erst am 1. September wieder auf, diesmal unter Gramscis Anleitung, der den Platz der inhaftierten Maria Giudice einnahm. Die staatliche Zensur untersagte die Veröffentlichung aller Berichte über den Aufstand. Gramsci nutze die Gelegenheit für einen kurzen Verweis auf Lenin:

„Kerenski repräsentiert das historische Verhängnis, aber Lenin repräsentiert ohne Zweifel das sozialistische Werden, und ihm gilt all unser Enthusiasmus.“

Er spielte damit auf die Julitage in Russland an und die darauffolgende politische Verfolgung der Bolschewiki, die Lenin ins Asyl nach Finnland trieb.

Einige Tage später, am 15. September, als die von General Kornilow geführten Truppen auf Petrograd zumarschierten, um die Ordnung gegen die Revolution wiederherzustellen, bezog sich Gramsci erneut auf die „Revolution, die in den Bewusstseinen stattgefunden hat“. Und am 29. September bezeichnete er Lenin wieder als „den Agitator des Bewusstseins, den Aufruf an die schlafenden Seelen.“ Die in Italien verfügbaren Informationen waren noch immer unzuverlässig und gefiltert durch die Übersetzungen Juniors in Avanti! Zu diesem Zeitpunkt war der Sozialrevolutionär Wiktor Tschernow für Gramsci noch immer „der Mann mit einem konkreten Aktionsplan, ein Programm welches komplett sozialistisch ist, das sich jeder Kollaboration verweigert und welches von der Bourgeoisie nicht akzeptiert werden kann, weil es die Prinzipien des Privateigentums untergräbt, weil es endlich den Beginn der sozialen Revolution bedeutet.“

Unterdessen setzte sich die politische Krise in Italien fort. Nachdem die italienische Armee in der Schlacht von Caporetto am 12. November besiegt worden war, nahm die parlamentarische Fraktion der Sozialisten, angeführt von Filippo Turati und Claudio Treves, einen nationalistischen Standpunkt ein und befürwortete die Verteidigung der „Nation“, womit sie sich von der neutralen Position der Vorjahre distanzierte. Auf den Seiten der Critica Sociale veröffentlichten Turati und Treves einen Artikel, in dem von der Notwendigkeit des Proletariats die Rede war, das Land in Zeiten der Gefahr zu verteidigen.

Andererseits organisierte sich auch der kompromisslos revolutionäre Teil der Partei angesichts der neuen Situation. Im November beriefen führende Figuren der Fraktion ein geheimes Treffen in Florenz ein, um über die „zukünftige Orientierung unserer Partei“ zu diskutieren. Gramsci hatte begonnen eine wichtige Rolle in der Turiner Sektion der Partei zu spielen und nahm dementsprechend als Abgeordneter an dem Treffen teil. In der Diskussion stellte er sich auf die Seite von Amadeo Bordiga und anderen, die es für nötig hielten militant zu handeln, entgegen dem Lager um Serrati, das sich für eine Weiterführung der neutralistischen Taktik aussprach. Das Treffen endete mit einer erneuten Bekräftigung der Prinzipien des revolutionären Internationalismus und der Opposition zum Krieg, jedoch ohne sich auf eine konkrete Handlungsperspektive zu einigen.

Gramsci interpretierte die Geschehnisse des Augusts in Turin vor dem Hintergrund der Russischen Revolution, und nach seiner Rückkehr von dem Treffen war er überzeugt, dass der Moment der Aktion gekommen war. Angetrieben von diesem Optimismus und dem Nachhallen der bolschewistischen Machtübernahme in Russland, schrieb er im Dezember den Artikel La rivoluzione contro Il Capitale (Die Revolution gegen Das Kapital), in dem er verkündete: „Die Revolution der Bolschewiki war ohne Zweifel die Weiterführung der allgemeinen Revolution des russischen Volkes.“ Nachdem sie die Revolution vor der Stagnation bewahrt hatten, kamen Lenins Parteigänger_innen in eine Machtposition, in der sie „ihre Diktatur“ errichten und die „sozialistischen Formen, in die sich die Revolution letztlich fügen muss um ihre harmonische Entwicklung weiterzuführen“, entwickeln konnten. 1917 hatte Gramsci noch kein klares Verständnis von den politischen Differenzen zwischen den russischen Revolutionär_innen. Zudem waren seine Ideen über die sozialistische Revolution nachhaltig von der Vorstellung geprägt, diese würde sich als eine kontinuierliche Bewegung „ohne gewalttätige Zusammenstöße“ vollziehen.

Durch ihre innige und unwiderstehliche kulturelle Kraft sei die Revolution der Bolschewiki „eher auf Ideologien denn auf Fakten erbaut“. Deshalb könne die Revolution nicht nach „dem Wortlaut [des Textes] von Marx“ verstanden werden. In Russland, so Gramsci weiter, sei das Kapital „eher das Buch der Bourgeoisie als das der Arbeiter“. Er bezog sich dabei auf das Vorwort von 1867, in dem Marx die Behauptung aufstellt, die Länder mit einer fortgeschrittenen kapitalistischen Bewegung würden den rückständigen den Weg, die „natürlichen Stufen“ des unvermeidlichen Fortschrittsprozesses aufzeigen. Auf Basis dieses Textes hatten die Menschewiki eine Interpretation der sozialen Entwicklung in Russland entwickelt, die die Notwendigkeit für die Formierung einer bürgerlichen Klasse und einer vollständig entwickelten industriellen Gesellschaft befürwortete, bevor der Sozialismus möglich werden könnte. Doch die Revolutionär_innen unter Lenins Führung, so Gramsci, seien „keine Marxisten“ im strengen Sinn, denn auch wenn sie den „maßgeblichen Gedanken“ von Marx teilten, würden sie „einige Annahmen des Kapitals bestreiten“ und sich weigern, es als eine „äußerliche kleine Doktrin voll von dogmatischen und unbestreitbaren Behauptungen“ zu begreifen.

Gramsci zufolge würden Marx’ Vorhersagen zum Entwicklungsgang des Kapitalismus im Kapital für normale Entwicklungen zutreffen, in denen sich die Entstehung eines „kollektiven Volkswillens“ durch eine „lange Reihe von Klassenerfahrungen“ vollziehe. Jedoch habe der Krieg diese Zeitlichkeit in unvorhersehbarer Weise beschleunigt, und innerhalb von drei Jahren hätten die russischen Arbeiter_innen diese Einflüsse tiefgreifend miterlebt:

„Die hohen Lebenserhaltungskosten, der Hunger und der Hungertod betrafen jeden, konnten zehn Millionen auf einen Schlag dezimieren. [Dagegen] wurden die Stimmen vereint, zunächst mechanisch und dann spirituell nach der ersten Revolution.“

Dieser kollektive Wille der Bevölkerung wurde genährt durch sozialistische Propaganda. Sie hätte den russischen Arbeiter_innen erlaubt, in einer außergewöhnlichen Situation die ganze Geschichte des Proletariats in einem Moment zu durchleben. Die Arbeiter_innen, in Anerkennung der Anstrengungen ihrer Vorfahren, sich von den „Fesseln der Knechtschaft“ zu lösen, hätten schnell ein „neues Bewusstsein“ entwickelt und wären zu einem „gegenwärtigen Zeugen einer zukünftigen Welt“ geworden. Mehr noch: Da sie dieses Bewusstsein zu einer Zeit erlangt hätten, in der der Kapitalismus international in Ländern wie England bereits voll entwickelt gewesen sei, könne das russische Proletariat rasch seine ökonomische Reife erlangen – eine notwendige Bedingung für Kollektivismus.

Ungeachtet seines 1917 noch lückenhaften Wissen über die bolschewistischen Ideen, tendierte der junge Herausgeber der Il Grido del Popolo logischerweise zu Trotzkis Formel der permanenten Revolution. Gramsci sah in Lenin und den Bolschewiki die Verkörperung eines Programmes zur Erneuerung der ununterbrochenen Revolution. Eine Revolution, die er auch in Italien verwirklicht sehen wollte.

Zwanzig Jahre später starb Gramsci als Gefangener des italienischen Faschismus. Ein solcher retrospektiver Blick könnte uns zur Annahme verleiten, Gramsci hätte seine Hoffnungen in den Oktober hinterfragt, gar in den Gefängnisheften den Versuch unternommen, „neue Wege“, moderatere oder kompromissbereitere Formen des Kampfes gegen den Kapitalismus zu finden.

Diese Kapitulation fand nicht statt. In seinen Kerkerschriften schlug Gramsci eine Theorie der Politik vor, in der Zwang und Konsens nicht voneinander getrennt sind und in der der Staat als historisches Ergebnis von Prozessen miteinander verflochtener Kräfte verstanden wird, Prozesse, die selten zu vorteilhaften Bedingungen für subalterne Gruppen führen. Er schrieb über die Notwendigkeit, den Kampf in allen Bereichen des Lebens zu führen, aber auch über die Gefahren der hegemonialen Integration und politischen „Transformismus“. Besonders über die – beinahe ausnahmslos schädliche – Rolle von Intellektuellen im öffentlichen Leben machte er sich Gedanken, sowie über die Notwendigkeit, den Marxismus als ganzheitliche Weltanschauung weiterzuentwickeln – als Philosophie der Praxis.

In den Jahren seiner Haft deutet also nichts darauf hin, dass Gramsci die Russische Revolution als programmatische und historische Referenz für die Emanzipation der Arbeiterklasse verworfen hätte. Die Russische Revolution überlebte in Gramscis Herz und Gedanken bis zu seinem Tod im April des Jahres 1937.


Zuerst auf Deutsch erschienen auf der Webseite Marx200.de:
https://marx200.org/blog/gramsci-und-die-russische-revolution
Alvaro Bianchi & Daniela Mussi: Gramsci and the Russian Revolution

Daniela Mussi ist Postdoktorandin an der Universität von São Paulo und Redakteurin für Outubro. Alvaro Bianchi ist Professor der Politikwissenschaft an der Landesuniversität von Campinas (Unicamp), Autor des Buches Laboratorio de Gramsci (Alameda, 2008) und Redakteur für Blog Junho. Dieser Essay erschien zuerst als Teil der Jacobin Magazine-Reihe zur Russischen Revolution.

Übersetzung: Jasper Stange
Redaktion: Einde O’Callaghan
Korrektur: Johannes Liess


Zuletzt aktualisiert am 15. Oktober 2017