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Gezeichnet a.g., Il Grido del Popolo, 28.7.1917, Jg.XXII, Nr.679;
in: Antonio Gramsci, Scritti giovanili 1914-1918, Turin 1958, S.122-124.)
Ins Deutsch übersetzt von Sabine Kebir;
in: Antonio Gramsci: Zur Politik, Geschichte und Kultur, Verlag Phillipp Reclam jun., Leipzig, 1986.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die russischen Maximalisten [1] sind die eigentliche russische Revolution.
Kerenski, Zeretelli, Tschernow – stellen die Gegenwart der Revolution dar, sie verwirklichen ein erstes soziales Gleichgewicht, das aus Kräften resultiert, unter denen die Gemäßigten noch eine große Rolle spielen. Die Maximalisten bedeuten die Kontinuität der Revolution und den Rhythmus der Revolution: Deshalb sind sie die Revolution selbst.
Sie verkörpern die extreme Idee des Sozialismus: Sie wollen den ganzen Sozialismus. Und sie haben folgende Aufgabe: Sie müssen verhindern, daß es zwischen der tausendjährigen Vergangenheit und der Idee, das lebendige Symbol des letzten anzustrebenden. Ziels zu sein, zu einem endgültigen Kompromiß kommt, verhindern, daß die Tagesfragen das ganze Bewußtsein beherrschen und zur einzigen Sorge werden, zur krampfhaften Manie, die weiteren möglichen Errungenschaften unüberwindliche Schranken setzt.
Dies ist die größte Gefahr aller Revolutionen: daß sich die Überzeugung herausbildet, ein bestimmter Punkt des neuen Lebens sei schon endgültig, man müsse? stehenbleiben, um Rückschau zu halten, um das Erreichte zu festigen, um sich endlich des eigenen Erfolgs zu freuen, um sich auszuruhen – Eine revolutionäre Krise verbraucht die Menschen rasch. Sie macht schnell müde. Und das ist verständlich. Aber Rußland hat Glück gehabt, weil es keinen Jakobinismus [2] gekannt hat. Deshalb ist die schnelle Verbreitung aller Ideen möglich . gewesen, auf Grund dieser Propaganda. haben sich zahlreiche politische Gruppierungen herausgebildet, eine kühner als die andere, keine will stehenbleiben, jede sieht das endgültige Ziel noch in weiter Ferne liegen. Die Maximalisten, die Extremisten sind das logisch letzte Glied dieser revolutionären Entwicklung. Deshalb geht der Kampf weiter, deshalb geht man überhaupt weiter: Es gehen alle weiter, weil es wenigstens eine Gruppe gibt, die immer weiter gehen will und die unter den Massen arbeitet, die immer neue proletarische Energien weckt, die neue gesellschaftliche Kräfte organisiert, welche die Müden aufrütteln, kontrollieren und sich als fähig erweisen, sie zu ersetzen, sie auszuschalten, wenn jene sich nicht erneuern und nicht den Mut aufbringen, vorwärts zu gehen. So bleibt die Revolution nicht stehen, sie bewegt sich nicht im Kreis. Sie verbraucht ihre Männer, ersetzt eine Gruppe durch eine andere, kühnere. Lind durch diese Unruhe, durch ihre stets unerreichte Vollendung ist sie wirklich und einzig die Revolution.
In Rußland sind die Maximalisten die Feinde der Trägen. Sie sind der Stachel der Trägen; sie haben bis jetzt alle Versuche, vereitelt, einen Damm gegen den revolutionären Strom zu errichten, haben die Bildung eines Sumpfes verhindert. Deshalb werden sie von der westlichen Bourgeoisie gehaßt, deshalb werden sie von der Presse Italiens, Frankreichs, Englands diffamiert, deshalb wird versucht, sie zu diskreditieren, sie mit einem Schwall von Verleumdungen zu erdrücken. Die westliche Bourgeoisie hoffte, daß der großen Anspannung des Denkens und Handelns, welche die Geburt des neuen Lebens erforderte, eine Krise geistiger Trägheit folgen würde, ein Rückgang der dynamischen Aktivität der Revolutionäre, was den Beginn einer endgültigen Fixierung des neuen Zustands bedeutet hätte.
Aber in Rußland gibt es keine Jakobiner. Die Gruppe der gemäßigten Sozialisten, die die Macht in den Händen hatte, hat die Vorhut nicht vernichtet, hat nicht versucht, sie im Blut zu ersticken. In der sozialistischen Revolution hat Lenin nicht das Schicksal Babeufs geteilt: Er konnte seine Gedanken in eine operative geschichtliche Kraft verwandeln. Er hat Energien geweckt, die nicht mehr untergehen werden. Er und seine bolschewistischen Genossen sind überzeugt, daß es jederzeit möglich ist, den Sozialismus zu verwirklichen. Sie sind von marxistischem Denken durchdrungen. Es sind Revolutionäre, keine Evolutionisten. Und das revolutionäre Denken negiert, daß die Zeit den Fortschritt mit sich bringt. Es verneint, daß es für die zwischen der sozialistischen Weltanschauung und ihrer Verwirklichung liegenden Versuche eine absolute und unumstößliche Bestätigung in Zeit und Raum geben muß. Es genügt, die jeweiligen Erfahrungen zu überdenken, um sie überwinden zu können und weiterzugehen. Es ist dagegen notwendig, das Bewußtsein der Menschen aufzurütteln, sie zu gewinnen. Lenin und seine Genossen haben ihr Bewußtsein aufgerüttelt und gewonnen. Ihre Überzeugung ist nicht bloße Kühnheit des Gedankens geblieben; sie hat sich auf andere Individuen übertragen, auf viele Individuen, sie hat in Taten Früchte getragen. Sie hat jene Gruppe hervorgebracht, die notwendig war, um sich endgültigen Kompromißlösungen entgegenzustellen und überhaupt allem, was endgültig werden konnte. Und die Revolution geht weiter. Das ganze Leben ist wahrhaft revolutionär geworden; es ist eine immer aktuelle Aktivität, ein ständiger Wandel, ein ständiges Schürfen im amorphen Block der Volksmassen. Neue Energien werden geweckt, neue Ideen verbreitet. Schließlich werden die Menschen auf diese Weise Schmiede ihres Schicksals – und zwar alle Menschen. So ist es unmöglich, daß wieder despotische Minderheiten entstehen. Es gibt eine immer wache und aufmerksame Kontrolle. Jetzt ist ein Ferment vorhanden, das ruhelos gesellschaftliche Kräfte zersetzt und wieder zusammensetzt, welches eine Erstarrung und ein Stehenbleiben im Augenbhickserfolg verhindert.
Lenin und seine bekanntesten Genossen können im Tosen des von ihnen selbst entfesselten Sturmes zwar untergehen; nicht, aber, ihre gesamte Gefolgschaft. Sie ist nun schon zu zahlreich. Das revolutionäre Feuer breitet sich aus, erfaßt immer neue- Herzen und Hirne und macht aus ihnen glühende Fackeln- neuen: Lichts, neuer Flammen, die Trägheit und Müdigkeit. verzehren. Die Revolution schreitet voran bis zu ihrer vollen Verwirklichung: Die Zeit, in der verhältnismäßige Ruhe, möglich sein wird, ist noch weit. Und das Leben ist immer Revolution.
1. Das Wort "Maximalisten" hat doppelte Bedeutung: Einerseits wurden nach der Februarrevolution in der westlichen Presse, wie auch hier, die Bolschewiki so bezeichnet; andererseits verstand man darunter in Italien die Zentristen innerhalb der Sozialistischen Partei, die hinter revolutionären Phrasen – maximale Forderungen – ihren Opportunismus verbargen.
2. Gramsci versteht unter Jakobinismus die feste Entschlossenheit des fortgeschrittensten Teils des Bürgertums, in der Großen Französischen Revolution seine Kampfziele mit allen Mitteln zu erreichen, auch durch Terror.
Zuletzt aktualisiert am 8.8.2008