MIA > Deutsch > Bernstein > Die deutsche Revolution
Unter dem 30. November hatte der Rat der Volksbeauftragten durch Verordnung ein Wahlgesetz für die Republik verkündet, daß die in seinem ersten Aufruf an das deutsche Volk niedergelegten Grundsätze zur Wahrheit machte.
Durch Verordnungen vom 6., 19. und 28. Dezember ergänzt, gab es allen Deutschen, die das zwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hatten, ohne Unterschied des Geschlechts und ohne jeden Wohnzensus das Wahlrecht und setzte für die Bestimmung der Abgeordneten die Verhältniswahl fest. Zu diesem Zweck wurde Deutschland nach Fortfall von Elsaß-Lothringen in 37 Wahlkreise eingeteilt, die auf Grund von Listenwahlen 421 Abgeordnete zu wählen hatten, und bestimmt, daß auf jede 150.000 Einwohner ein Abgeordneter entfallen solle. Auch gestattete das Wahlgesetz, daß Parteien oder sonstige Einreicher von Wahllisten ihre Listen in jedem Wahlkreis durch Erklärung mit der einer andern Partei oder Gruppe derart für verbunden anmelden konnten, daß die überschießenden Stimmen beider zusammenzurechnen waren und so ihnen gegebenenfalls noch einen Abgeordneten sichern konnten.
Der Wahlkampf selbst verlief im allgemeinen ruhig. Es liegt im Wesen des Verhältniswahlsystems und ist einer seiner Vorzüge, daß bei ihm die Wahl vorwiegend sachlichen Charakter trägt. Im verhältnismäßig engen Raum eines Wahlkreises, der nur einen Abgeordneten zu wählen hat, platzen die Geister viel leidenschaftlicher aufeinander als in einem ausgedehnten Wahlkreis, der über eine Vielheit von Abgeordneten zu verfügen hat und wo es sich nicht darum handelt, welche Partei den Sitz erringt, sondern darum, wieviel der Sitze auf jede Partei entfallen. Nennenswerte Versuche, den Wahlakt zu stören, waren nicht zu verzeichnen.
Die Wahlbeteiligung war eine sehr rege. Von insgesamt 35 Millionen wahlberechtigter Deutschen gaben etwa 30½ Millionen ihre Stimme ab. Mit Ausnahme der Wahlkreise Schleswig-Holstein und Thüringen, für die bei Aufstellung der Reichsstatistik abschließende Zahlen über die Verteilung der Wähler nach Geschlechtern noch nicht vorlagen, nahmen von im Ganzen rund 15 Millionen männlichen Wahlberechtigten 12,4 Millionen, von 17,7 Millionen weiblichen Wahlberechtigten 14,6 Millionen an der Wahl Teil, 82,4% der männlichen und 82,3% der weiblichen Wähler. Die Beteiligung des weiblichen Geschlechts blieb also nur ganz wenig hinter der des männlichen zurück. Wie sich die Stimmen der beiden Geschlechter auf die Parteien verteilen, ist im Ganzen nicht festzustellen, da fast überall die Wahlzettel beider in ein und dieselbe Urne gesteckt und infolgedessen untermischt gezählt wurden. Nur in einigen wenigen Bezirken waren für die weiblichen Wähler gesonderte Urnen aufgestellt, und dort zeigte sich, daß die Frauen im Verhältnis mehr Stimmen für die Parteien der Rechten und des Zentrums abgaben als die Männer, das Stimmrecht der Frauen also eher konservativ wirkte. In ganz Deutschland erhielten Stimmen in runden Zahlen, beziehungsweise Sitze:
Deutschnationale |
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3.121.000 |
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42 |
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Deutsche Volkspartei |
1.346.000 |
21 |
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Dem Wesen nach monarchistisch |
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4.467.000 |
63 |
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Christliche Volkspartei (Zentrum) |
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5.980.000 |
88 |
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Deutschdemokraten |
5.642.000 |
75 |
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Bürgerlich republikanisch |
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11.622.000 |
163 |
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Mehrheitssozialdemokraten |
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11.510.000 |
163 |
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Unabhängige Sozialdemokraten |
2.317.000 |
22 |
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Sozialisten |
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13.827.000 |
185 |
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Kleinere Gruppen (4 Welfen, |
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485.000 |
10 |
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Insgesamt |
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30.401.000 |
421 |
Demgemäß hatten die Sozialdemokraten in der Nationalversammlung nur über eine Minderheit der Sitze zu verfügen, wenngleich sie bei weitem die stärkste Partei waren. Außer Zweifel ist, daß das Wahlergebnis ein für sie wesentlich günstigeres gewesen wäre, wenn die Wahlen zu einer Zeit erfolgt wären, wo die Begeisterung der großen Volksmasse über die vollzogene Umwälzung noch nicht durch die Zwistigkeiten unter den Sozialisten und die Aufstände mit den durch sie notwendig gewordenen Niederhaltungsmaßnahmen eine Abschwächung erfahren hatte. Einige Sitze gingen der Sozialdemokratie dadurch verloren, daß die Unbhängigen Sozialisten das Anerbieten der Mehrheitssozialisten, ihre Listen für den Zweck der Geltendmachung der überschüssigen Stimmen zu verbinden, außer in 6 Wahlkreisen abgelehnt hatten. Den Hauptschaden hatten freilich sie selbst zu erleiden. In dem weitaus größten Teil der Wahlkreise nicht stark genug, die für einen Abgeordneten nötigen Stimmen aufzubringen, so daß ihre dortigen Wähler in der Nationalversammlung unvertreten blieben, hatten sie, um fast eine Million Stimmen stärker als die deutsche Volkspartei, nur einen Abgeordneten mehr als diese. Der darin angezeigte Fehler des Wahlsystems ist später von der Nationalversammlung durch Abänderungen beseitigt worden, die eine unübertroffen genaue Vertretung der Parteien nach ihrer Wählerstärke sicherstellen.
Den Wahlen für die Nationalversammlung waren solche in 6 Einzelstaaten für die Landesvertretungen vorausgegangen, davon 2 (Anhalt und Braunschweig) schon im Dezember 1918, die andern 4 (Baden, Bayern, Württemberg, Mecklenburg-Strelitz) in der ersten Hälfte Janauar 1919. Die ersten beiden Wahlen ergaben absolute sozialdemokratische Mehrheiten, bei den andern vier wurden mehr bürgerliche als sozialdemokratische Stimmen abgegeben. Nur in Braunschweig hatten die Unabhängigen annähernd soviel Stimmen erhalten wie die Mehrheitssozialisten, nämlich 51.668 gegen 59.708, in den andern Staaten waren sie weit hinter ihnen zurückgeblieben. So waren in Bayern, obwohl der zum Präsident ernannte Kurt Eisner der unabhängigen Sozialdemokratie angehörte, nur 3 Unabhängige gewählt worden gegen 62 Mehrheitssozialdemokraten. In Württemberg war das Verhältnis 4 Unabhängige und 52 Mehrheitler und in Anhalt und Mecklenburg-Strelitz hatten die Unabhängigen Sozialdemokraten überhaupt keine Vertreter.
Auch bei den Wahlen zur Nationalversammlung bleiben die Unabhängigen außer in zwei Wahlkreisen (Leipzig und Düsseldorf) überall hinter den Mehrheitlern zurück. Allerdings waren die Wahlkreise sehr groß und umfaßten manche Orte, wo das Verhältnis umgekehrt war. In Berlin erhielten die Mehrheitler 405.000, die Unabhänigen 307.000 Stimmen, in den beiden Wahlkreisen Potsdam 1–9 und Potsdam 10, welche die Vororte Berlins umfassen, die Mehrheitler 681.000, die Unabhängigen 267.000 Stimmen.
Die Gegensätze und Gegnerschaften, die Mehrheitssozialisten und unabhängige Sozialisten trennten, waren durch die Januarkämpfe zu solcher Schärfe gediehen, daß ein Zusammenschluß der beiden Parteien in der Nationalversammlung zur größten Unwahrscheinlichkeit, wenn nicht Unmöglichkeit geworden war. Damit war auch dem hier und dort auftauchenden Gedanken einer Regierung aus den verbündeten Sozialdemokraten und den radikaleren Elementen des Zentrums und der Demokraten die Möglichkeit der Realisierung entzogen. Zur Bildung einer rein sozialdemokratischen Minderheitsregierung konnte die Mehrheitssozialdemokratie sich nicht verstehen, nachdem sie sich grundsätzlich auf den Boden des demokratischen Parlamentarismus gestellt hatte. Es war daher für das Werk, das die Nationalversammlung zu verrichten hatte, nur eine Koalitionsregierung aus Mehrheitssozialdemokraten und bürgerlich republikanischen Parteien möglich.
Damit war schon angezeigt, daß das zu verrichtende Hauptwerk, das Verfassungsgesetz der Republik, gleichfalls Kompromißarbeit sein, die Sozialdemokratie bei ihm manches Opfer zu bringen haben werde.
So bedauerlich nun diese und noch andre Folgen des Nichtzustandekommens einer sozialdemokratischen Mehrheit vom Parteistandpunkt der Sozialdemokratie aus gesehen waren, so darf man bei Abschätzung ihrer Tragweite für die Entwicklung und Befestigung der Republik doch folgendes nicht vergessen.
Deutschlands ökonomische Lage und soziale Gliederung machten seine unmittelbare Umwälzung in ein völlig sozialistisches Gemeinwesen unmöglich. Ganz abgesehen von einer starken Bauernschaft, mit der die Republik noch weniger nach Laune umspringen konnte, als die Bolschewisten mit den russischen Muschiks, gab es noch Millionen von bürgerlichen Gewerbetreibenden, deren sie gleichfalls nicht entbehren konnte. Selbst unter normalen Verhältnissen wäre Angesichts dieser Sachlage der Ausschluß des gesamten Bürgertums von der Teilnahme an der Regierung ein Fehler gewesen, der sich bald bitter gerächt hätte. Gar bald hätte sich gezeigt, was Lassalle's Darlegung in seinem glänzenden Vortrag über Verfassungswesen zu bedeuten hat, daß unentbehrliche oder nicht zu beseitigende Gesellschaftsklassen „auch ein Stück Verfassung“ sind. Um so mehr traf das unter den furchtbaren wirtschaftlichen Verhältnissen zu, die das Kaisertum als Folge seiner verruchten Machtund Prestigepolitik der Republik hinterlassen hatte. Die Republik konnte wohl mit bestimmten bürgerlichen Parteien und Klassen, nicht aber mit allen den Kampf aufnehmen, ohne sich in eine unhaltbare Lage zu bringen. Sie konnte die große, auf sie gefallene Last nur tragen, wenn sie erhebliche Teile des Bürgertums an ihrem Bestand und ihrer gedeihlichen Entwicklung interessierte. Selbst wenn die Sozialdemokratie bei den Wahlen zur Nationalversammlung die ziffermäßige Mehrheit erhalten hätte, wäre die Heranziehung der bürgerlich-republikanischen Parteien zur Regierung ein Gebot der Selbsterhaltung der Republik gewesen. Sie war aber auch zugleich eine Lebensnotwendigkeit für Deutschland als Nation.
So drückte der Ausfall der Wahlen zur Nationalversammlung einer in der sozialen Verfassung Deutschlands gegründeten politischen Notwendigkeit den Stempel auf und gab damit der ersten Periode der deutschen Revolution erkennbar den Abschluß.
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Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008