Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




XIV. Die allgemeinen Zustände in den ersten Monaten der Republik


a) Die Rolle der Arbeiter- und Soldatenräte

In der Biologie genannten Wissenschaft von den Lebewesen gilt es als eine auf Erfahrung und experimentelle Untersuchung gegründete Erkenntnis, daß Organismen um so weniger wandlungsfähig sind, zu je höherer Stufe der Entwicklung sie inbezug auf Spezialisierung, Ausbildung und funktionelles Zusammenwirken ihrer Organe gediehen sind. Mit einigen aus der Natur der Sache sich ergebenden Einschränkungen gilt das auch für die sozialen Organismen, die wir Staaten oder, bei früherer Entwicklungsstufe, Stämme und Völkerschaften nennen. Je weniger sie ausgebildet sind, um so leichter vertragen sie Maßnahmen, die auf ihre radikale Umbildung abzielen. Je vielseitiger aber ihre innere Gliederung, je ausgebildeter die Arbeitsteilung und das Zusammenarbeiten ihrer Organe bereits sind, um so größer die Gefahr schwerer Schädigung ihrer Lebensmöglichkeiten, wenn versucht wird, sie mit Anwendung von Gewaltmitteln in kurzer Zeit inbezug auf Form und Inhalt radikal umzubilden. Gleichviel ob sie sich darüber theoretisch Rechenschaft ablegten oder nicht, haben die maßgebenden Führer der Sozialdemokratie dies aus der Einsicht in die tatsächlichen Verhältnisse begriffen und ihre Praxis in der Revolution danach eingerichtet.

Sie konnten dies aber auch, ohne damit die Sache des Sozialismus zu schädigen. So rückständig Deutschland durch den Fortbestand halbfeudaler Einrichtungen und die Machtstellung des Militärs in wichtigen Fragen seines politischen Lebens auch war, so war es doch als Verwaltungsstaat auf einer Stufe der Entwicklung angelangt, bei der schon die einfache Demokratisierung der vorhandenen Einrichtungen einen großen Schritt zum Sozialismus hin bedeutete. In Ansätzen hatte sich das schon vor der Revolution angezeigt. Das Stück Demokratie, das in Reich, Staaten und Gemeinden zur Verwirklichung gelangt war, hatte sich unter dem Einfluß der in die Gesetzgebungsund Verwaltungskörper eingedrungenen Arbeitervertreter als ein wirkungsvoller Hebel zur Förderung von Gesetzen und Maßnahmen erwiesen, die auf der Linie des Sozialismus liegen, so daß selbst das kaiserliche Deutschland auf diesen Gebieten mit politisch vorgeschritteneren Ländern sich messen konnte. Gleichzeitig aber hatte es im Verein mit den freien Selbstverwaltungsorganen der Arbeiter einer stetig wachsenden Zahl von Vertretern der Arbeitersache ein Verständnis für das Wesen und die Aufgaben der Gesetzgebung und Verwaltung in der moderneren Gesellschaft verschafft, das sie ohne es im gleichen Maße, nie erlangt hätten. Man durfte daher und darf erwarten, daß die Demokratisierung i„ sich schon die Sozialisierung als keimende Frucht zur Entfaltung bringen werde.

Aber das Austragen jeder Frucht erfordert Zeit, und in der Revolution rechnet die Mehrheit der Menschen nicht mit Jahren. Die Massen wollen unmittelbare materielle Ergebnisse sehen. Für die Erzielung solcher schienen ganz besonders geeignet die Arbeiter- und Soldatenräte, die an verschiedenen Orten schon vor Ausbruch der Revolution erstanden waren und, nachdem er erfolgt war, sich so schnell ausbreiteten, daß schließlich keine Ortschaft von einiger Bedeutung ohne ihren Arbeiter- und Soldatenrat war. Wir haben gesehen, wie der Spartakusbund die Umwandlung Deutschlands in eine Räterepublik nach russischem Muster sich zum Ziel gesetzt hatte, und wenn er trotz eifriger und mit großen Mitteln betriebener Agitation es nicht dazu brachte, die Mehrheit zu gewinnen, so hatte diese Agitation immerhin die eine Wirkung, daß in einer großen Zahl von Arbeiterräten, wie wir sie der Kürze halber nennen wollen, da an den meisten Orten die Soldatenvertreter keine nennenswerte Rolle spielten, sehr übertriebene Vorstellungen über ihre Aufgaben und Möglichkeiten sich einnisteten.

Wo dies der Fall war, wo die Arbeiterräte mit dem Anspruch auftraten, die oberste politische Macht am Ort auszuüben, mußten sie naturgemäß bald in mehr oder minder heftige Reibungen mit den amtierenden Ortsbehörden geraten. Da nun in den erregten Tagen der Revolution nicht immer die sachkundigsten Elemente in die Räte gewählt worden waren, sondern der mit Geschick zur Schau getragene gute Wille oft bei der Wahl den Erfolg erzielt hatte, hallte die Luft bald von Klagen wider über das anmaßende Auftreten und die Finanzen verwüstende Gebahren unsachverständiger Arbeiterräte Während das Bürgertum die Verfügungen des Rats der Volksbeauftragten längere Zeit ohne nennenwerte Proteste über sich ergehen ließ, leistete es um so mehr in Weherufen über die örtlichen Organe der Revolution, als welche wir die Arbeiter- und Soldatenräte zu betrachten haben.

Nicht in allen Fällen mit Unrecht. Es sind viele Mißgriffe begangen worden, teils aus Mangel an Sachkenntnis, beziehungsweise Erfahrung, teils aus Überschätzung der unmittelbaren Rückwirkungen von Verschiebungen der politischen Machtverhältnisse auf das Wirtschaftsleben. Leute, die von den Verwaltungsgeschäften blutwenig verstanden, hielten sich für befugt, den geschulten Vertretern und Beamten der Selbstverwaltung in das Technische ihrer Verwaltungsarbeiten hineinzureden und Maßnahmen anzuordnen, deren Durchführung die größte Verwirrung in den Finanzen der Gemeinden anzurichten drohte. Eine Reihe von Arbeiterräten bewilligten ihren Mitgliedern Tagegelder, welche das Einkommen gutbezahlter qualifizierter Arbeiter wesentlich überschritten, ohne dafür nennenswerte kommunalpolitische oder wirtschaftspolitische Arbeit zu leisten. Sie hielten endlose Sitzungen ab, in denen nur geredet wurde, und wurden so zu Urhebern zweckloser Beunruhigung der Geister. Wieder andere ließen sich bei ihnen obliegenden Aufgaben, wie die Sicherstellung von Heeresgut und dergleichen, arge Vernachlässigungen zuschulden kommen. Kurz, es fehlte nicht an Anlaß zu berechtigten Beschwerden. Diese sind aber maßlos übertrieben und in völlig unberechtigtem Grade verallgemeinert worden. Man sprach von Vergeudung von Millionen, wo es sich höchstens um etliche hunderttausend Mark gehandelt hat, und verschwieg dabei den hohen, auf viele Millionen sich belaufenden Betrag der Werte, die von Arbeiterräten oder durch deren Einfluß für die Allgemeinheit gerettet worden sind. Im Ganzen haben die Arbeiterräte erheblich mehr Nutzen gestiftet, als sie Kosten verursacht haben. Sie haben in den ersten Wochen der Revolution, als die Wogen der allgemeinen Erregung hoch gingen und Deutschland von Verfall in Anarchie bedroht schien, schon durch ihr Dasein allein auf die Massen beruhigend ein gewirkt und in ihrer Mehrheit auch positiv sich als Gegenkraft gegen alle Agitationen bewährt, die darauf abzielten, die Massen zu Ausschreitungen anzureizen. Sie haben manchen verzopften Gemeindeverwaltungen Maßaahmen zugunsten der ärmeren Volksklassen abgetrotzt, die durchaus am Platze waren. An den meisten Orten standen sie unter dem Einfluß von Leuten, die in jahrelanger Tätigkeit an hervorragender Stelle in der Sozialdemokratie und der Gewerkschaftsbewegung, als Abgeordnete, als Arbeitersekretäre oder als Ortsleiter von Gewerkschaften genügende Einsicht in die Zusammenhänge des sozialen Lebens und die Notwendigkeiten der Volkswirtschaft gewonnen hatten, um gegen die Verführung durch tönende Schlagworte geschützt zu sein. Wie sich auf dem Rätekongreß von Mitte Dezember 1918 gezeigt hat, überwog bei ihnen der Sinn für die Durchführung sozialistischer Reformen durch das Mittel wirtschaftlicher Organisation der Arbeiter und Angestellten und organisch schaffender Gesetzgebung. Lag die Einlenkung der Revolution in solche Bahnen, sobald das uneingeschränkte demokratische Wahlrecht und die volle Selbstregierung der Nation gesichert waren, im wohlverstandenen Interesse der Arbeiterklasse, so bot sie auch den bürgerlichen Klassen Deutschlands den Vorteil einer solchen Neugestaltung der Dinge, die mit dem erreichten Höhestand seiner sozialen Entwicklung verträglich war und willkürhafte Störungen des Wirtschaftslebens ausschloß. –

Im allgemeinen waren die Arbeiterwie auch die Soldatenräte Deutschlands vom Geist seiner Sozialdemokratie und der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung beraten. Sehr schön bringen das, soweit die Soldatenräte in Betracht kommen, zwei Kundgebungen des Vollzugsausschusses des Soldatenrats bei der obersten Heeresleitung zum Ausdruck, die dieser unter dem 25. November 1918 im Anschluß an eine in Ems abgehaltene Konferenz veröffentlichte. Die erste war an die Soldatenräte des Feldheeres gerichtet und ruft diesen unter Hinweis auf die Bestrebungen des neuerstandenen Polen, reindeutsche Gebiete unter polnische Herrschaft zu bringen, zu:

„Kameraden! Mögen solche Absichten lauten, wie sie wollen, uns warnt diese Erscheinung vor Zwietracht und Auflösung. Einig und geschlossen müssen wir uns um unsere vom Vertrauen des werktätigen Volkes getragene Reichsregierung scharen, nur dann wird diese das Maß an Einfluß erlangen, um einen Völkerfrieden aufzubauen, der das deutsche Volk schützt vor nationaler Zerreißung und ihm das Recht auf Selbstbestimmung sichert.“

Ein längerer, an die „Arbeiter- und Soldatenräte in der Heimat“ gerichteter Aufruf warnt davor, die heimkehrenden Truppen „durch nicht böse gemeinte, aber immerhin als kränkend empfundene Maßnahmen im Sicherheitsdienst zu behelligen.“ Man möge versprengten Kameraden die Waffen und Munition abnehmen, geschlossenen Truppenkörpern sie aber belassen. Alle hieran etwa geknüpften Befürchtungen entbehrten jeglicher Berechtigung. Denn, heißt es weiter,

„Wir wissen aus Verhandlungen mit den Vertretern von Soldatenräten des Feldheeres, daß die Fronttruppen uneingeschränkt auf dem Boden der aus unsrer staatlichen Umwälzung hervorgegangenen Regierung Ebert-Haase stehen. Mit den Arbeitsbrüdern in der Heimat will auch das Feldheer die Demokratisierung und die Sozialisierung unseres Landes. Deshalb erhebt es aber auf das schärfste Einspruch gegen alle Bestrebungen, die dahin führen, das Zustandekommen der von der jetzigen Regierung geplanten Nationalversammlung zu hintertreiben. Die Feldtruppen wollen über den weiteren Ausbau des Reiches mitentscheiden! Das Feldheer will den Frieden und den geordneten Aufbau des neuen Reiches und lehnt den Gedanken ab, den Sieg über die bisherigen Diktatoren zur Erreichung einer neuen Diktatur zu mißbrauchen, weil diese den ersehnten Frieden vereiteln und das deutsche Volk dem Hungertod preisgeben könnte.

Kameraden und Arbeiter! Aus tiefstem Herzen dankt euch das Feldheer für euere befreienden Taten in der Heimat. Ihr habt die langerstrebte Verjüngung Deutschlands durchgeführt und den heimkehrenden Brüdern die Vorbedingungen für ein glücklicheres Dasein geschaffen. Wo aber der Versuch gemacht werden sollte, unter Ausschaltung des Feldheeres und aller von dem arbeitenden Volke stets verlangten Demokratie über den endgültigen Ausbau des Vaterlandes zu beschließen, bitten wir, jenem Bestreben euch mit allen Mitteln zu widersetzen.“

Die große Mehrheit der Frontsoldaten haben in der Tat in dieser Zeit sich als entschiedene Gegner jeder auf den Sturz der republikanischen Regierung abzielenden Agitation bewährt. Indes nur wenige waren dazu zu haben, nach Auflösung ihres Truppenteils der Republik als Freiwillige zu dienen. Die übergroße Mehrheit trieb es zur Häuslichkeit und ihrem zivilen Beruf zurück. Wie es mit den Heimattruppen stand, haben wir in den vorhergebrachten Kapiteln gesehen.

Daß gerade der Soldatenrat bei der obersten Heeresleitung es war, der das vorstehende rückhaltlose Bekenntnis zur demokratischen Republik und zum Sozialismus ablegte, zeigt, welche weite Kreise die Begeisterung über die Erhebung vom 9. November gezogen hatte. Denn die Mannschaft bestand ja nur zum Teil aus Arbeitern und diesen nahe stehenden Angestellten. Ein großer Teil gehörte andern Volksklassen an.
 

b) Die Leistungen der Republik für die Arbeiter

Dem Bürgertum in seinen verschiedenen Schichten und den sonstigen Klassen des Besitzes genügte es für den Augenblick, daß die Republik mit der staatlichen Ordnung einen Rechtszustand aufrecht erhielt, der das Eigentum gegen willkürhafte Eingriffe sicherstellte und dadurch Handel und Wandel in Gang hielt. Sie waren sich dessen bewußt, daß sie der Republik nicht mehr als das zumuten durften, daß keine monarchistische Regierung ihnen unter den gegebenen Verhältnissen mehr hätte gewähren können. Sie hatten alle Ursache, bis auf weiteres zufrieden zu sein. Wie aber stand es in dieser Hinsicht mit den Arbeitern? Was hatte die Republik ihnen gebracht?

So richtig es ist, daß es auch für die Arbeiter ein Vorteil war, wenn Handel und Wandel keine Unterbrechung erlitten, sondern im Gegenteil sich wieder stärker entfalten konnten, so wenig war zu erwarten, daß sie sich mit diesem Ergebnis der vollzogenen politischen Umwälzung zufrieden geben würden. Auch hätten sie es nicht verstanden, wenn man sie für den Augenblick unter Berufung auf Lassalle darauf hätte verweisen wollen, daß im vorgeschrittenen Industriestaat die Verwirklichung der Demokratie mit Notwendigkeit soviel Sozialismus nach sich ziehen werde, als die gegebene Wirtschaftsentwicklung überhaupt möglich mache. Sie forderten und hatten das Recht zu fordern, daß damit nun sofort der Anfang gemacht werde.

Der erste Schritt in dieser Richtung ließ denn auch nicht auf sich warten. Es sind die im Aufruf des Rats der Volksbeauftragten vom 12. November 1918 (vgl. S.49) unter Punkt 7 bis 9 als sofort mit Gesetzeskraft verfügte und ebendaselbst als bevorstehend aufgezählten sozialpolitischen Maßnahmen: Aufhebung der Zwangsbestimmungen des Hilfsdienstgesetzes, der Gesindeordnung, der Ausnahmebestimmungen gegen die Landarbeiter, Wiederherstellung der im Kriege außer Kraft gesetzten Arbeiterschutzbestimmungen, Einführung der gesetzlichen Beschränkung des Arbeitstages auf acht Stunden, der Erwerbslosenunterstützung aus öffentlichen Mitteln, Ausdehnung des Umfangs der Krankenversicherung und ähnliches mehr – Maßnahmen, von denen jede einzelne die Kapitalnatur der Wirtschaftsordnung grundsätzlich unberührt ließ, die aber zusammen die Herrschaft des Kapitals über die Arbeiter erheblich einengten, die soziale Position der Arbeiter gegenüber dem Besitz wesentlich erhöhten. Namentlich hat sich die Verordnung, welche die Ausnahmegesetze gegen die Landarbeiter aufhob, das heißt, diesen das Koalitionsrecht gab, bald als sozialpolitisch sehr wirksam erwiesen. Als eine grundsätzlich tief in das Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung einschneidende Maßnahme mußte sich in der Folge auch die Verordnung über die Unterstützung der Erwerbslosen aus öffentlichen Mitteln herausstellen. Zunächst aber konnten diese und ihnen bald noch folgende ähnliche Maßnahmen an der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter wenig ändern, solange nicht das Wirtschaftsleben selbst wieder in einigermaßen geregelten Gang gebracht, der Krieg auch volkswirtschaftlich liquidiert war. Diese dringende erste Aufgabe verbot jedes unüberlegte Eingreifen in die Grundlagen der volkswirtschaftlichen Unternehmungsund Verkehrsverhältnisse. Die Maßnahmen, die unter den Begriff der Sozialisierung im engeren Sinne des Wortes fallen, mußten sorgfältig überdacht und sorgfältig ausgearbeitet werden, sollten sie zweckentsprechend wirken.

In dieser Erkenntnis hatte der Rat der Volksbeauftragten schon im November 1918 eine Kommission von volkswirtschaftlich gebildeten Sozialisten und sozialistich gesinnten Lehrern der Volkswirtschaft – die Professoren Karl Ballod, Emil Lederer, Th. Vogelstein und Robert Willbrandt, sowie die Mitglieder der Sozialdemokratie Heinrich Cunow, Rudolf Hilferding, Otto Hue, Karl Kautsky und Robert Schmidt – mit der Aufgabe betraut, die Frage der Sozialisierung zu untersuchen und möglichst bald einen Bericht über zunächst vorzunehmende Maßnahmen zu erstatten. Diese Kommission, die zu ihrem Vorsitzenden Karl Kautsky wählte, veröffentlichte unterm 10. Dezember 1918 einen vorläufigen Bericht, der als ein Programm ihrer Arbeiten zu betrachten ist. Die Einleitungssätze dieses Berichtes lauten:

„Die Kommission ist sich bewußt, daß die Vergesellschaftung der Produktionsmittel nur in einem länger währenden organischen Aufbau erfolgen kann. Erste Voraussetzung aller wirtschaftlichen Reorganisation bildet die Wiederbelebung der Produktion. Vor allem erfordert die wirtschaftliche Lage Deutschlands gebieterisch die Wiederaufnahme der Exportindustrie und des auswärtigen Handels.“

„Die Kommision ist der Ansicht, daß für diese Wirtschaftszweige die bisherige Organisation gegenwärtig noch beibehalten werden muß. Ebenso erfordert die Ingangsetzung der Industrie die Aufrechterhaltung und Erweitrung des Zirkulationskredits und damit die ungestörte Funktion der Kreditbanken.“

„Im Interesse unserer Lebensmittelversorgung wird auch nicht vorgeschlagen werden, in die bisherigen Besitzund Betriebsverhältnisse der bäuerlichen Bevölkerung einzugreifen. Hier soll durch der Landwirtschaft angepaßte Maßnahmen und durch Unterstützung der Genossenschaften die Produktivität gehoben und die Intensität gesteigert werden.“

Damit war den Arbeitern angezeigt, daß und warum die unmittelbar bevorstehenden Maßnahmen der Republik keine organisatorische Änderung der Betriebsformen bringen und das Eigentum an den Unternehmungen grundsätzlich unangetastet lassen würden. Bei dem großen Ansehen, welches die sozialistischen Mitunterzeichner des Berichts in der sozialistischen Arbeiterschaft genossen, wurden Einwendungen gegen diese Darlegungen aus ihren Reihen nicht erhoben, zumal der Bericht fortfuhr:

„Dagegen ist die Kommission der Ansicht, daß jene Gebiete der Volkswirtschaft, in denen sich kapitalistisch-monopolistische Herrschaftsverhältnisse herausgebildet haben, für die Sozialisierung in erster Linie in Betracht kommen. Insbesondere muß der Gesamtheit die Verfügung über die wichtigsten Rohstoffe, wie Kohle nnd Eisen, zustehen. Es soll geprüft werden, welche andern Zweige der Produktion und der Kraftgewinnung infolge der erweiterten Konzentration geeignet sind, in Gemeinschaft übergeführt zu werden, welche Wirtschaftszweige sonst ihrer Natur nach, wie z.B. das Versicherungswesen und die Hypothekenbanken, für die Sozialisierung in Betracht kommen.“

Es wird dann ausgeführt, daß der Erfolg der Sozialisierung von der Erhöhung der Produktivität abhänge, die „durch beste Organisierung der Betriebe und Ersparung aller unnützen Zirkulationskosten unter Leitung bewährter Techniker und Kaufleute erzielt werden müsse, dargelegt, daß die Formen, die Mittel und die Organe der Sozialisierung je nach der Natur der in Frage kommenden Wirtschaftszweige zu bestimmen seien, und schließlich für zweckmäßig erklärt, bei Übernahme der Betriebe die bisherigen Besitzer durch Ablösungsrenten zu entschädigen. „Es unterliegt dann der politischen Entscheidung,“ heißt es am Schluß, „in welchem Umfange, vor allem auf dem Wege der Vermögensabgabe und der Besitzbesteuerung, die allgemeine Heranziehung der gesamten besitzenden Klassen erfolgt.“

Als ein Ganzes betrachtet, war der Bericht sehr geeignet, der Geschäftswelt jenes Vertrauen in den geordneten Gang des Geschäftslebens einzuflößen, dessen sie bedarf, um sich zur Verausgabung größerer Mittel für Neuanlagen und Erneuerungen sowie zum Eingehen in weitausgreifende Verträge zu entschließen, Dinge, an denen naturgemäß auch die Arbeiterklasse interessiert ist. Eines jedoch hätte damals auch darüber hinaus schon geschehen können. Der Eindruck der Erhebung der Arbeiterklasse auf die bürgerlichen Klassen war noch zu frisch, als daß eine Verordnung, welche das Eigentum der Allgemeinheit an den Bodenschätzen unter Zuspruch mäßiger Abfindungen an die Inhaber vorhandener Privatrechte sicherstellte, auf nennenswerten Einspruch gestoßen wäre. Der Gedanke, durch eine solche Verordnung mit Gesetzeskraft das spätere Werk der Sozialisierung der Kohlenusw. Gewinnung zu erleichtern, ist auch bei einer gemeinsamen Zusammenkunft von Mitgliedern der Sozialisierungskommission mit dem Rat der Volksbeauftragten zur Sprache gebracht worden. Er drang jedoch nicht durch, weil die Mehrheit einen so starken Eingriff in das Privatrecht der Nationalversammlung vorenthalten wollte, von der man hoffte und in jenem Zeitpunkt auch noch hoffen durfte, daß sie eine sozialistische Mehrheit aufweisen werde.

Aus dem gleichen Grunde war auch die große Mehrheit der Ar beiter damit einverstanden, das Werk der Sozialisierungsgesetzgebung der Nationalversammlung zu überlassen. Die unter dem Namen Arbeitergemeinschaften zum Teil schon in den letzten Kriegsjahren von den gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter und den Verbänden der Unternehmer eingegangenen Verbindungen, die den Arbeitern ein quasi automatisches Steigen ihrer Löhne bei Erhöhung ihrer Lebenskosten zusicherten, verallgemeinerten und befestigten sich, und wenn sie vom weiteren volkswirtschaftlichen Gesichtspunkt aus nicht ohne ihre Kehrseiten waren, da sie leicht dazu führen konnten, bestimmte Kategorien von Arbeitern zu Verbündeten der Unternehmer gegen die Verbraucher zu machen, so waren sie doch unter den gegebenen Verhältnissen ein Mittel, den Übergang von der Kriegsii die Friedenswirtschaft von ernsteren Reibungen freizuhalten, und wurden um dieser Eigenschaft willen von der Regierung der Republik und insbesondere dem Demobilmachungsamt begünstigt.

Im übrigen blieb der Rat der Volksbeauftragten darauf bedacht, die angekündigte Gesetzgebung zum Schutze der Arbeiter zunächst auf dem Verordnungswege zur Tatsache zu machen.

Schon am 13. November 1918 erschien eine Verordnung, welche die Grundsätze der Erwerbslosenfürsorge festlegte. Diese fiel danach den Gemeinden mit der Verpflichtung zu, die Auszahlung und Kontrolle der Unterstützung unter bestimmten Voraussetzungen den Verbänden der Arbeiter z“ übertragen. Die Verordnung wurde am 24. Dezember des gleichen Jahres durch einen Erlaß erweitert, der die Gemeinden verpflichtete, die Erwerbslosen bei den Krankenkassen weiter zu versichern, andernfalls sie ihnen die gleiche oder eine gleichwertige Krankenhilfe zu gewähren hatten. Dazu wurde am gleichen Tage verfügt, daß bei vorübergehender Einschränkung oder Einstellung des Betriebs die Arbeiter gleichfalls zu entschädigen seien. Eine Verordnung vom 23. November 1918 trug Fürsorge für die sinngemäße Durchführung des Achtstundentages in Bäckereien und Konditoreien. Eine Verordnung vom 5. Dezember 1918 sicherte den entlassenen Mannschaften bis auf Weiteres Fortdauer der Unterstützungen zu. Am 7. Detjember 1918 sicherte eine Verordnung den Arbeitern in der Berliner Metallindustrie das Recht auf Sondervergütungen bei Einschränkung der Arbeitszeit zu, und am 9. Dez. 1918 ward eine Verordnung erlassen, welche für den Ausbau und die demokratische Umgestaltung der öffentlichen Arbeitsnachweise Sorge trug. Sie ward ergänzt durch zwei bedeutungsvolle Verordnungen, von denea die eine – Verordnung vom 23. Dezember 1918 – ein gesetzliches Tarifrecht schuf, das es ermöglichte, zwischen den Unternehmerund den Arbeiterverbänden vereinbarte Tarife für allgemeinverbindlich, und Einzelabmachungen, die niedrigere als die tariflichen Löhne bestimmten, für nichtig zu erklären (die „Unabdingbarkeit der Tarife“), Schlichtungsausschüsse schuf, bei deren Bildung die Verbände ein Wort dreinzureden hatten, das Schlichtungsverfahren regelte und das Reichsarbeitsministerium zur zentralen Einigungsbehörde einsetzte, die zweite – Verordnung vom 4. Januar 1919 – die Willkür der Unternehmer bei Einstellung und Entlassung von Arbeitern weitgehenden Beschränkungen unterwarf, die später (Verordnung vom 24. Januar 1919) auch auf die Einstellung und Entlassung von Angestellten ausgedehnt wurden.

Alle diese und eine Reihe aus dem gleichen Geist geborener Verordnungen über die Erweiterung der Arbeiterversicherung mochten, einzeln für sich betrachtet, nicht sonderlich revolutionär erscheinen. In ihrem Zusammenhange aber und angesichts der Tatsache, daß sie nicht mehr zu sein beanspruchten, als erste Schritte auf der Bahn der Schaffung eines sozialistischen Arbeiterrechtes, bedeuteten sie die Einleitung einer Revolutionie rung des Arbeitsverhältnisses, die soweit ging, wie es die schwierige Wirtschaftslage Deutschlands überhaupt nur gestattete. Es war natürlich ein leichtes, in jedem Einzelfall Forderungen zu formulieren, die über das in den Verordnungen Niedergelegte hinausgingen. Der Spartakusbund unter Führung von Karl Liebknecht und in Deutschland agitierende Bolschewisten (Leviné in Essen und andere) ließen es sich denn auch nicht entgehen, der Verordnung über die Begrenzung des Arbeitstages auf höchstens 8 Stunden die Forderung des 6stündigen Arbeitstages entgegenzustellen und im rheinisch westfälischen Kohlenrevier, sowie in den Braunkohlen-Revieren Mitteldeutschlands eine Agitation einzuleiten, die zunächst darauf ausging, einen großen Streik für die Sechsstundenschicht zustande zu bringen, deren eigentlicher Zweck aber die Gewinnung der Bergarbeiter für die bolschewistische Gewaltpolitik war. Natürlich konnten sie sich die Tatsache nicht verhehlen, daß die Wirtschaftslage Deutschlands es geradezu unmöglich machte, eine so starke Verminderung der Produktion und Verteuerung der Produkte der Kohlenindustrie zu ertragen, wie diese Verkürzung der Schichtzeit sie mindestens für die nächsten Jahre bedeutet hätte. Deutschland war mehr als je darauf angewiesen, Industrieprodukte auszuführen, um Nahrungsmittel einführen zu können. Die Führer der Spartakusrichtung kümmerte das aber nicht. Karl Liebknecht war – es ist kein anderer Ausdruck dafür möglich – skrupellos genug, in Volksversammlungen den ihm lauschenden jungen Leuten zu erzählen, von Ernährungsschwierigkeiten für Deutschland könne keine Rede sein; wenn dieses sich als Räterepublik aufmache und die Weltrevolution herbeiführen helfe, würden ihm Nahrungsmittel von alle“ Seiten zuströmen. Mittels solcher gröblichen Vormalereien gelang es auch, auf die zurückgebliebenen Elemente und die halbreife Jugend der Arbeiterwelt Eindruck zu machen und in den Kohlenrevieren unter dem Ruf „Kampf für die Sechsstundenschicht“ tumultuöse Demonstrationen zu erzielen, die von Liebknecht in seinen letzten Artikeln als Zeichen des nahenden Sieges ausgelegt wurden. Das waren sie nicht, im Ruhrrevier ließ sich, als es einige Monate später zur Entscheidung kam, die Masse der Bergarbeiter nicht einfangen, sondern lehnte, dem Rat ihrer Vertrauensmänner folgend, die Beteiligung am Streik ab. Das einzige, was erreicht wurde, waren blutige Zusammenstöße betörter Haufen mit den Organen der Staatsgewalt, welche die Gruben vor Versuchen zerstörerischer Eingriffe zu schützen hatten. Und das Ruhrrevier gab nur auf begrenztem Gebiet das Bild wieder, was die Stellung der Gesamtarbeiterschaft Deutschlands zur Republik darbot. Minderheiten ließen sich zur feindseligen Oppositionsstellung hinreißen, die übergroße Mehrheit der Arbeiter jedoch begriff, daß die demokratische Republik ihre Republik war und gab das sehr bald unzweideutig zu erkennen.
 

c) Schwierigkeiten der Auslandspolitik der Republik

Die Meldungen vom Sturz des Kaisertums und der Ausrufung der Republik für das Deutsche Reich und in dessen Einzelstaaten wurden im Ausland zunächst fast ohne Ausnahme günstig aufgenommen. Selbst in denjenigen Ländern, die mit Deutschland in einem Bündnisverhältnis gestanden hatten, wie bei Neutralen, die sich zu ihm stärker hingezogen fühlten als zu maßgebenden Staaten im Lager der Entente, war das kaiserliche Regime unbeliebt gewesen, sein Träger Wilhelm II. genoß auch dort weitgehendstes Mißtrauen. Aber wenn die Organe der Regierungen der Ententeländer nicht zauderten, ihrer Befriedigung über die in Deutschland vollzogene politische Umwälzung offen Ausdruck zu geben, so unterließen sie doch nicht, dabei zugleich allerhand Vorbehalte zu machen. In verschiedenen Tonarten wurde erklärt, man müsse, ehe man ein endgültiges Urteil fälle, abwarten, wie sich das neue Deutschland ausmachen und benehmen werde, ob der Regierungswechsel nur mehr auf eine Änderung der Form begrenzt bleiben werde, oder ob wirklich mit allen Einrichtungen des alten Systems und allen kompromittierten Personen gründlich Kehraus werde gemacht werden.

Vernünftig ausgelegt, konnte die Fragestellung als berechtigt anerkannt werden. Wie sie aber alsbald von tonangebenden Blättern in den zwei maßgebenden Ländern der Entente ausgedeutet wurde, stellte sie die Republik vor eine unlösbare Aufgabe. Wo war der Maßstab für die Bestimmung der kompromittierten Persönlichkeiten? Von solchen Blättern erst garnicht zu reden, die, wie die schutzzöllnerische Londoner Morningpost, das ganze deutsche Volk insgesamt für am Krieg und den Kriegsmissetaten schuldig erklärten, gehörten für Blätter vom Einfluß der Pariser Temps sogar die politischen Führer der Partei der Mehrheitssozialisten zu den politisch Kompromittierten, waren sie nur „die Sozialisten des Kaisers“ gewesen. Nach diesem Blatt hatte im August 1914 der Reichstag, den die Regierung Wilhelm IL doch erst einberufen hatte, als der Krieg schon da war, schlechthin für den Krieg gestimmt. Logischerweise hätte also nur ein Deutschland, das von unabhängigen Sozialisten oder Spartakisten geführt war, den Anforderungen des Temps und gleichgesinnter Blätter Genüge geleistet. Aber eine Regierung der Spartakisten hieß nach außen hin die Regierung von Verbündeten der Bolschewisten Rußlands, gegen die England und Frankreich damals den Kreuzzug predigten und Rebellionen subventionierten, im Innern Deutschlands die Anarchie im schlimmsten Sinne dieses Wortes. Die Unabhängigen wiederum hatten die Anfrage der Mehrheitssozialisten, ob sie gegebenenfalls bereit wären, allein die Regierung zu übernehmen, mit einem sehr bestimmten Nein beantwortet. Auch war diese Partei aus noch viel zu ver~ schiedenartigen Elementen zusammengesetzt und auch der Mitgliederzahl nach viel zu schwach, um Deutschland regieren zu können. Eine sozialistische Regierung ohne die Mehrheitssozialdemokratie war schon aus Gründen des Kräfteverhältnisses der Parteien eine Unmöglichkeit, sie konnte aber auch deshalb nicht sein, weil diese letztere Partei kraft ihrer inneren Geschlossenheit und politischen Erziehung allein imstande war, den Grad von staatsbildender Leistungsfähigkeit zu entfalten, ohne den ein Land wie Deutschlang garnicht zu regieren war.

Der Temps in Paris, die Times in London und die hinter diesen und gleichgestimmten Blättern stehenden Politiker übertrieben die Kriegspolitik der Mehrheitssozialisten und behandelten den von diesen und den zwei Parteien der bürgerlichen Linken seit 1917 geführten Kampf für einen Verständigungsfrieden, als wäre er überhaupt nicht geschehen. Ihnen kam es eben darauf an, auch das demokratische Republik gewordene Deutschland als ein politisches Gebilde hinstellen zu können, dem man die schärfsten Daumschrauben anlegen müsse, damit es nicht schon in der nächsten Zeit wieder Unheil anrichte. Ihre Politik ist von John Maynard Keynes in seiner Schrift über die wirtschaftlichen Wirkungen des Friedensvertrages von Versailles treffend dahin gekennzeichnet worden, daß sie Friedensbürgschaften ausheckten, von denen eine jede neue Erbitterung hervorrief, dadurch eine Revanchebewegung wahrscheinlicher machte, gegenüber der dann wieder gesteigerte Erdrückungsmaßnahmen für notwendig erklärt wurden. In der hier behandelten Periode machten die vom militärischen Kriegsgewinnler Foch ausgearbeiteten harten Waffenstillstandsbedingungen den Anfang. Sie wirkten wie ein Guß eiskalten Wassers auf einen großen Teil derjenigen Friedensfreunde in Deutschland, die gehofft hatten, die Gegner würden dem Republik gewordenen Deutschland ein gewisses Maß von Vertrauen entgegenbringen. Allerdings hatte Präsident Wilson am 23. Oktober 1918 seiner Antwort auf die Note der deutschen Regierung vom 20. Oktober die Bemerkung angefügt, die Alliierten würden „ihre militärischen Ratgeber beauftragen, Waffenstillstandsbedingungen auszuarbeiten, die ihnen die unbeschränkte Macht sichern würden, die Einzelheiten des Friedens, zu dem die deutsche Regierung sich bereit erklärte, sicherzustellen und in Kraft zu setzen“, und das vertrug in der Tat die weitestgehende Auslegung. Aber zwischen jenem Tage und dem Tag der Verkündigung der Waffenstillstandbedingungen lag eine politische Umwälzung in Deutschland von einem Umfang und einer Tiefe, wie Wilson und seine Verbündeten sie nicht hatten erwarten können, und daß Foch auf diese Umwälzung auch nicht die geringste Rücksicht nahm und die Abgesandten der Republik dies geflissentlich fühlen ließ, gab dem politischen Einfluß gerade derjenigen deutschen Politiker einen argeH Stoß, welche ihrem Volke die Revolution als den Hebel der Versöhnung mit den Demokratien des Westens gepredigt und für sie propagandistisch gewirkt hatten. Der wärmste Verfechter dieses Gedankens, Kurt Eisner, ließ, als die Bedingungen bekannt wurden, im Namen der Republik Bayern jenen fast verzweifelten telegraphischen Anruf vom 10. November 1918 an die Regierungen und Völker der Weststaaten ergehen, worin er eindringlich darlegte, welche vernichtende Wirkung die Ausführung der Bestimmungen auf die junge Republik Deutschlands zu haben drohten, und mit den Worten schloß:

„Die alliierten Demokratien dürfen nicht vergessen, wieviel stumm ertragene Opfer unzähliger namenloser Deutschen seit Beginn dieses Krieges in klarer Erkenntnis der Schuld gebracht worden sind, und die Regierungen der alliierten Mächte dürfen nicht die Verantwortung vor den proletarischen Massen übernehmen, die Internationale in dem Augenblick wieder zu zerstören, wo sie sich innerlich zusammengefunden hat. Das Schicksal der Menschheit liegt in den Händen der Männer, die jetzt verantwortlich sind für die Herbeiführung des Friedens und die Neugestaltung der zerrütteten Völker.“

Da der Waffenstillstand schon am Tage darauf in Compiègne unterzeichnet wurde, hätte der Anruf auch dann nichts an seinen Bestimmungen ändern können, wenn es ihm gegeben gewesen wäre, den Sinn des Mannes zu beeinflussen, der im Rat der Staatsmänner der Alliierten bei Fragen dieser Art das entscheidende Wort sprach, Georges Clemenceau. Eisner ließ die Hoffnung dennoch nicht fallen. Noch auf der Reichskonferenz der deutschen Freistaaten vom 25. November 1918 erklärte er, auf Grund persönlicher Berichterstattung zu wissen, daß die Clemenceau und Genossen einem durch rückhaltlose Anhänger des Neuen vertretenen Deutschland gegenüber größeres Entgegenkommen beweisen würden, als einem Deutschland, das Persönlichkeiten in hervorragender Stellung beließe, die Beamte oder Helfer des Kaiserreichs gewesen waren. Dem widerspricht nun freilich die Schilderung, die Keynes von Clemenceau’s Politik im Rat der Alliierten gibt. Nach ihr zielte Clemenceau mit eiserner Beharrlichkeit dahin, Deutschland durch einen Frieden, wie ihn die Römer den Carthagern aufzwangen, bis zur vollständigen Ohnmacht zu entkräften. Das mag nun zwar etwas übertrieben sein, aber selbst wenn es die Wahrheit traf, schrieb das Selbsterhaltungsinteresse der deutschen Republik vor, dem scharfblickenden Lenker der französischen Republik und dessen Anhang so wenig wie möglich Beweisstoff für die These zu liefern, mit der er seine Politik verteidigte, nämlich daß Deutschland im Wesen auch unter der Republik dasselbe geblieben sei, was es unter dem Kaiserreich gewesen war. Es muß zugegeben werden, daß damals vonseiten der Lenker der deutschen Republik in der Tat nicht alles geschah, was nötig war, die nicht schon voreingenommene Welt von der Ungerechtigkeit dieser These zu überzeugen.

Die Aufgabe war freilich keine sehr leichte. So wenig wie man die Volkswirtschaft eines entwickelten Industrielandes über Nacht von Grund aus umwälzen und ihm dadurch eine völlig andere Klassengliederung geben kann, so wenig kann man die wichtigen Ämter eines Landes über Nacht mit ganz neuen Personen aus jenen Kreisen besetzen, denen bisher die Laufbahn in diesen Ämtern verschlossen war. Das nämlich hätte der sozialistische Rat der Volksbeauftragten tun müssen, wenn er z.B. das Ministerium des Auswärtigen und den auswärtigen Dienst der Republik ausschließlich mit Leuten besetzen sollte, die völlig auf dem Boden der Republik und des Sozialismus standen. Da man das nicht für angängig hielt, ohne sehr wichtige Geschäfte der Republik Personen anvertrauen zu müssen, denen die zu deren Erfüllung nötige Ausbildung und Erfahrung fehlten, glaubte man sich genötigt, unter dem Material, das das alte System hinterlassen hatte, Auslese nach dem Grundsatz des kleinsten Übels zu halten. Wir haben gesehen, wie, als Dr. Solf für untauglich befunden wurde, Minister des Auswärtigen der Republik zu sein, bei der Suche nach einem Nachfolger für ihn die Wahl auf den Grafen Brockdorff-Rantzau fiel, der zwar nicht kaiserlicher als Solf, indes auch nicht republikanischer als jener gesinnt war, aber für den Posten geeignet erschien, weil er, wie seine im Krieg erstatteten Berichte an das Berliner Auswärtige Amt zeigten, Solf in bezug auf Weltklugheit und freimütige Beurteilug der diplomatischen Maßnahmen Berlins übertraf. Der Genannte sollte jedoch eines Tages bei einem sehr wichtigen Anlaß – die Vertretung der Republik in Versailles – einen Fehler begehen, den der weniger auf Demonstration ausgehende Solf kaum begangen hätte, auch hatten, kaum daß seine Ernennung bekannt wurde, der Temps und andere französische Blätter sofort zu melden gewußt, daß er als Gesandter des Kaiserreichs in Kopenhagen für dieses nicht minder kompromittierliche Geschäfte besorgt habe, als man sie seinem Vetter Graf Bernstorff in Washington nachsagte. Und dabei waren es hervorragende Mitglieder der Unabhängigen Sozialdemokratie gewesen, deren Auge auf den persönlich sympathischen Mann gefallen waren. Später hat sich dann beim Nachfolger Brockdorff-Rantzau’s, dem Sozialdemokraten Hermann Müller, gezeigt, daß man nicht unbedingt vom Beruf sein muß, um den Posten des Ministers des Auswärtigen der Republik mit Geschick und Takt versehen zu können, sondern daß unter Umständen gute politische Schulung und allgemeine Kenntnis der Weltpolitik die spezifische Berufsschulung in diesem Falle ganz gut ersetzen können, indes mußte die Erfahrung eben erst gemacht werden, und braucht der parlamentarische Staatssekretär, wie man in England den aus dem Parlament genommenen Minister nennt, jedenfalls beruflich geschulte Beamte neben sich, um die Aufgaben seines Amtes gehörig versehen zu können.

An der Westgrenze Deutschlands hatte die Republik nur mit den Alliierten zu tun, denen gegenüber ihr Verhalten durch die Natur der Dinge vorgezeichnet war. Anders an der Ostgrenze. An dieser waren die Verhältnisse noch völlig in Gährung. Zum größten Teil kamen da die Polen in Betracht, deren Republik selbst erst im Erstehen war, und im Nordosten galt es mit den ebenfalls erst im Erstehen begriffenen Staatswesen vordem von Rußland beherrschter Randvölker sich zu stellen. Das Erbe, welches das Kaisertum da der Republik hinterlassen hatte, war nichts weniger als erbaulich. Den Polen, die zu Anfang des Krieges eher deutschfreundlich gewesen waren, hatte es durch die mit der Wiener Hofburg vereinbarte Schaffung der Parodie eines Königreichs Polen, das nicht einmal ganz Kongreßpolen umfassen sollte und dem man bloß deshalb keinen deutschen Prinzen als König aufoktroyiert hatte, weil der Reflektanten zu viele waren, gleichzeitig den Appetit geweckt und die Neigung zur Freundschaft erstickt, die nach Selbständigkeit strebenden Randvölker im Baltikum aber hatte es, um Wilhelm II. Hut und Titel eines Herzogs von Kurland zu sichern, durch Aufdrängung von Klassenregierungen aus deutschen Grundbesitzerkreisen sich schlechthin verfeindet. Leider hat es die Republik nicht sofort verstanden, diese Erbschaft radikal zu liquidieren.

Was Polen anbetrifft, so mußte man vor allem sich darüber klar werden, welches die Grenze mit dem neuen Staatswesen sein werde. Sicher war da nur, daß sie nicht die gleiche bleiben konnte, die bis dahin den an Preußen gefallenen Teil des ehemaligen Königreiches Polen von dem an Rußland gefallenen Teil – Kongreßpolen – getrennt hatte, und daß die Polen in den überwiegend polnischen Landesteilen Preußens auf die staatliche Vereinigung mit der nun sich konstituierenden Republik Polen bestehen würden. Darauf abzielende Bewegungen hatten sich auch sofort eingestellt, als die Niederlage des kaiserlichen Deutschland besiegelt war. Sie beschränkten sich aber zunächst auf die Bildung nationaler Ausschüsse mit nach der Revolution hier und dort folgender Absetzung deutscher Ortsbehörden, an deren Stelle nun Polen traten, und die Bildung eines polnischen Volksrats.

Die sozialistische Regierung des Republik gewordenen Preußen versuchte zunächst, mit den Polen zu einer Verständigung zu kommen, die es ermöglichte, bis zur endgültigen Festsetzung der deutsch-polnischen Grenze durch den Friedensvertrag Gewaltakte und blutige Zusammenstöße zu vermeiden. Sie schickte am 20. November 1918 den mit dem Amt eines Unterstaatssekretärs im Ministerium des Innern betrauten Demokraten H. von Gerlach, der infolge seiner scharfen Bekämpfung der hakatistischen Politik der alten preußischen Regierung sich großen Vertrauens bei den Polen erfreute, nach Posen, an Ort und Stelle sich über die Lage der Dinge zu unterrichten und insbesondere von den Polen Erklärungen über deren Wünsche entgegenzunehmen. Gerlach hat in der vom Bund Neues Vaterland herausgegebenen Schrift „Der Zusammenbruch der deutschen Polenpolitik“ dargelegt, daß er damals noch erträgliche Verhältnisse in Posen vorfand. Der Oberpräsident der Provinz und der Präsident des Regierungsbezirks Posen erklärten ihm, es sei nach einigen wilden Aktionen im Ganzen schon wieder Ruhe eingetreten und lobten ihm den neuen polnischen Oberbürgermeister der Stadt Posen als einen verständigen Mann von gemäßigter Gesinnung. Die Polen beschränkten ihre unmittelbaren Forderungen auf Zugeständnisse in der Sprachenfrage, in der Frage des polnischen Religionsunterrichtes und Außerkraftsetzung von verschiedenen Ausnahmebestimmungen, und erklärten sich damit einverstanden, die Bestimmung der künftigen polnisch-deutschen Grenzen der Friedenskonferenz zu überlassen. Sie fügten jedoch hinzu, Vorbedingung der Aufrechterhaltung der Ruhe sei, daß man zu den schon vorhandenen Garnisontruppen nicht noch ortsfremde Truppen in die Provinz sende. Nur unter dieser Voraussetzung werde man in Deutschland auf die Andauer der Lebensmittelsendungen aus der Provinz rechnen können. Auch der aus polnischen und deutschen Arbeitern zusammengesetzte Arbeiter- und Soldatenrat Posens äußerte sich in diesem Sinne.

Als er nach Berlin zurückgekehrt war und dem Kabinett über seine Eindrücke Bericht erstattete, sprach sich Gerlach lebhaft dafür aus, solange als irgend möglich an der Politik der Verständigung den Polen gegenüber festzuhalten und von jeder Sendung von Truppen nach Posen Abstand zu nehmen. Nur ein Teil der Regierungsmitglieder trat ihm darin bei. Eis andrer Teil aber vertrat die Meinung, man müsse den Deutschen in Posen durch Verstärkung der deutschen Besatzung eine Sicherung gegen weitere Vergewaltigungen durch die Polen darbieten. Nur wenn die Polen sähen, daß man Ernst mache, würden sie von solchen Gewaltakten gegen Deutsche, wie sie tagtäglich gemeldet würden, Abstand nehmen. In der Tat war die Presse von solchen Meldungen voll, wodurch sich viele Leser leicht dazu verleiten ließen, die antideutsche Bewegung für schlimmer einzuschätzen, als sie damals in Wirklichkeit war. Die Regierung stellte sich im Wesentlichen auf den von Gerlach entwickelten Standpunkt, ließ es aber geschehen, daß von der darauf dringenden Heeresleitung zum Schutze der deutschen Ostgrenze gegenüber polnischen Angriffsabsichten ein Oberkommando Heimatschutz-Ost errichtet ward und ein Aufruf zur Meldung von Freiwilligen für den Heimatschutz an das deutsche Volk verbreitet ward. Den Nationalisten genügte sogar das noch nicht. In Presse und Versammlungen warfen sie der Regierung vor, sie habe sich von Gerlach zu einer Enthaitsamkeitspolitik bereden lassen, welche auf die Polen nur als Ermutigung zu neuen Gewalttaten wirken werde, und bezichteten Gerlach, daß er sich von den Polen „beim Sekt“ durch süße Worte habe übertölpeln lassen. Tatsächlich hatten gerade ihre Angriffe wider die Polen und von völliger Verkennung der Lage Deutschlands zeugende Drohungen an deren Adresse die Wirkung, die Gegensätze in Posen zu verschärfen. Die Polen bilden nun immer stärkere national-polnische Wehren zur Unterstützung ihrer Bestrebungen. Bald erfolgen neue Zusammenstöße, die der deutschen Heeresleitung ein Anlaß sind, nun wirklich Heimatschutztruppen ins Posen’sche zu entsenden. Die dortigen Deutschen bombardieren die Regierung mit Bitten um scharfes Eingreifen, diese aber hält noch an der von Gerlach vertretenen Vermittlungspolitik fest. Im Anschluß an Vorkommnisse in der Kreisstadt Witkowo, wo deutscherseits die Militärdiktatur verkündet worden war, reisen Mitte Dezember Minister Hirsch und Ernst zusammen mit von Gerlach erneut nach Posen und pflegen eingehende Besprechungen mit den dortigen Zivilund Militärbehörden sowie Vertretern des polnischen und des inzwischen gleichfalls gegründeten deutschen Volksrats. Als Ergebnis wird folgende Präzisierung der Stellungnahme der Regierung bekanntgegeben:

„Die Regierung hält einen besonderen Heimatschutz für die Provinz Posen nicht für nötig. Dagegen ist ein Grenzschutz unbedingt erforderlich zur Übernahme des Ostheeres und um die Ausfuhr von Lebensmitteln zu verhindern. Der Grenzschutz ist von bodenständigen (d.h. den in Friedenszeiten in demselben Bezirk garnisonierenden) Truppen unter Kontrolle der Soldatenräte wahrzunehmen. Eine anordnende Gewalt steht den Soldatenräten nicht zu. Die zur Zeit noch in der Provinz befindlichen Truppen aus fremden Bezirken sollen sofort zurückgezogen werden, sobald Truppen aus den zuständigen Generalkommandos zur Verfügung stehen, die sich aus den dienstpflichtigen Jahrgängen und Freiwilligen zusammensetzen.“

Trotzdem spitzte die nationale Agitation auf beiden Seiten sich immer mehr zu. Von Polen waren es namentlich der frühere Reichstagsabgeordnete Korfanty und der Klaviervirtuose Ignatz Paderewsky, welche die Bewegung für die Vermehrung von politischen Machtzentren in Posen mittels Verdrängung deutscher durch polnische Behörden in Rede und Schrift schürten, und deutscherseits trat man auch dort diesem Wechsel entgegen, wo die Bevölkerungsverhältnisse ihn unabweisbar machten. Man berief sich darauf, daß Posen seinen wirtschaftlichen und kulturellen Aufschwung der deutschen Verwaltung verdanke, machte aber mit diesem, von den Hakatisten so oft mißbrauchtem Argument auf die von der nationalpolnischen Agitation erfaßten Elemente gar keinen Eindruck. Wenn die Polen dadurch fehlten, dal sie selbstherrlich immer mehr der vom Friedensschluß erwarteten Gebietsveränderungen vorwegnahmen, so begingen die Deutschen dadurch Fehler über Fehler, daß sie das durch Weltkrieg und Revolution unabweisbar Gewordene nicht rechtzeitig erkannten und sich nicht dazu entschließen konnten, das freiwillig zu tun, wovon sie sich hätten sagen dürfen, daß sie es binnen Kurzem würden tun müssen. So ließ die Regierung sich u.a. durch Vertreter des alten Systems im Ministerium dazu verleiten, die Ausschreibung von Kommunalwahlen nach dem für Preußen verkündeten gleichem Wahlrecht in Posen ins Unbestimmte zu verschieben, um Zusammenstößen vorzubeugen. Solche blieben aber um so weniger aus. In der Weihnachtswoche kam es bei Gelegenheit des Aufenthaltes von Paderewski in Posen, nachdem ein deutsches Regiment zu Ehren des Genannten herausgehängte Ententefahnen gewaltsam entfernt und demonstrativ zerrissen hatte – dies zu einer Zeit, wo die Entente über die Neugestaltung der deutschen Ostgrenze das entscheidende Wort zu sagen hatte! – zu blutigen Straßenkämpfen, die sich Tags darauf erneuerten und auf die Provinz hinüberschlugen. Es finden richtige Kämpfe von Truppen gegen Truppen statt, in denen bald die Deutschen und bald die Polen Sieger bleiben, deren Gesamtresultat aber ist, daß die Deutschen genötigt sind, vor der militärischen Übermacht der Polen immer weiter zurückzuweichen, und Mitte Januar 1919 so ziemlich das ganze überwiegend von Polen bewohnte Posen in polnischer Gewalt ist, und der Sitz des deutschen Oberpräsidenten der Provinz muß nach Bromberg verlegt werden. Die Beziehungen mit der erstehenden polnischen Republik waren die denkbar unerquicklichsten.

Nicht minder unerquicklich waren sie mit den erstehenden Republiken in den baltischen Gebieten. Nach Sturz der kaiserlichen Regierung Deutschlands machte sich sofort das Bestreben geltend, die halbe Selbständigkeit, die diese den Randvölkern Rußlands geboten hatte, zur vollen zu entwickeln. Doch bestand keine starke Neigung, es den Bolschewisten Rußlands nachzumachen. Um gegen diese geschützt zu sein, waren die ersten republikanischen Regierungen, die sich dort bildeten, ganz damit einverstanden, daß die deutschen Truppen, die das Baltenland besetzt hielten, bis auf weiteres noch dort verblieben, und die Entente bestand sogar darauf, daß die deutsche Besatzung dort aushielt, um gegebenenfalls den Widerstand gegen anprallende Bolschewistenregimenter verstärken zu können. Der von der sozialistischen Regierung als Kommissar der Republik dorthin entsandte Mehrheitssozialist und Gewerkschaftsführer August Winnig, bis dahin ein wegen seines ruhig verständigen Auftretens und hohen Bildungstriebs außerordentlich geachtetes Parteimitglied, fand denn auch bei den neuen Regierungen zunächst recht freundliche Aufnahme und war auch bei den oberen deutschen Offizieren wohl angesehen.

Aber der Boden war unterwühlt. Insbesondere im bisherigen Kurland gärte es unter den Letten, deren Sozialisten in ihrer Mehrheit nach einer radikaleren Umwälzung als der bisher vollzogenen strebten. Agitatoren der Bolschewisten unterstützten diese Bewegung und riefen Aufstände hervor, die nur mit Waffengewalt niederzuhalten waren. Da Grundbesitz und Kapital in Kurland vornehmlich in Händen von Deutschen waren, trug diese Bewegung zugleich bei den Massen nationalistisch-deutschfeindliche Züge, und so kam es, daß Winnig schroffer gegen sie Stellung nahm, als er es wahrscheinlich sonst getan hätte, und immer mehr in den Bannkreis der deutschen Militärs geriet. Er unterstützte in Deutschland die Bewegung für Verstärkung des Truppenkontingents in Ober-Ost – wie der technische Ausdruck für das ganze in Frage kommende Gebiet diesseits und jenseits der Grenze lautete – das in erster Reihe nur noch als Grenzschutz hatte dienen und den Rücktransport der aus Rußland zurückkehrenden Gefangenen überwachen sollen, unter den gegebenen Umständen aber den Charakter einer speziell gegen die radikalen Volksklassen im Randgebiet sowie gegen Sowjetrußland kampfbereiten Wehrmacht erhielt und so dazu beitrug, die Beziehungen Deutschlands zu letzterem noch feindseliger zu gestalten, als sie ohnehin waren. Dem mit Bezug hierauf in früheren Kapiteln Mitgeteilten seien noch zwei für die Stellung der Regierung der Volksbeauftragten zur Bolschewistenregierung Rußlands wesentliche amtliche Äußerungen der Ersteren wiedergegeben.

1. Am 18. November 1918 hielt das Kabinett unter Teilnahme des damaligen Ministers des Auswärtigen Dr. Solf und des diesem als Beigeordnete„ zur Seite gesetzten Karl Kautsky eingehende Aussprache über die Beziehungen mit Sowjetrußland ab. Hugo Haase, der im Rat der Volksbeauftragten die Fragen der auswärtigen Politik bearbeitete, erstattete Bericht über den Gesprächswechsel mit Moskau. Als Ergebnis wurde ein längeres, von Dr. Solf und Karl Kautsky unterzeichnetes Telegramm nach Moskau entsandt, dessen wichtigste Sätze die folgenden sind:

„Die von den Mitgliedern der russischen Regierung in dem Ferngespräch mit dem Volksbeauftragten Haase sowie in den verschiedenen Telegrammen an deutsche Regierungsvertreter gestellten Fragen sind im Kabinett der deutschen Volksregierung auf die Tagesordnung gesetzt worden. Dabei ist folgendes zur Sprache gekommen:

Vor Bürgen ist von der Räteregierung ein Funkspruch an alle Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenräte Deutschlands gerichtet, worin es folgendermaßen heißt:

‚Soldaten und Matrosen, gebt die Waffen nicht aus der Hand, dan“ treiben Euch die vereinigten Kapitalisten zu Paaren. Es gilt, mit den Waffen in der Hand wirklich die Macht überall zu übernehmen, eine Arbeiter-, Soldaten- und Matrosenregierung mit Liebknecht an der Spitze zu bilden. Laßt Euch keine Nationalversammlung aufschwatzen. Ihr wißt, wohin Euch der Reichstag gebracht hat.“

Die deutsche Volksregierung kann nicht umhin, in dieser Aufforderung an die Bevölkerung, eine bestimmte Regierung zu bilden, den Versuch einer Einwirkung auf die inneren Verhältnisse Deutschlands zu erblicken, der unter den gegebenen Umständen eine schwere Schädigung des deutschen Volkes zur Folge haben kann. Die dentsche Regierung ist bereit, mit allen Staaten und auch mit dem russischen in Frieden und guten Beziehungen -zu leben. Sie muß aber verlangen, daß dat Recht des deutschen Volkes auf eigene Bestimmung seiner inneren Angelegenheiten geachtet wird und daß Einwirkungen hierauf von außen unterbleiben. Die vorstehende Aufforderung zur Bildung einer Regierung auf anderer Grundlage und mit anderen Zielen als die der deutschen Volksregierung läßt außerdem nicht erkennen, welche Stellung die russische Sowjetregierung der gegenwärtigen deutschen Regierung gegenüber einnimmt. Wenn die Sowjet-Regierung normale Beziehungen mit ihr unterhalten will, muß die deutsche Regierung darüber im klaren sein, daß die russische Regierung sie anerkennt und nicht die Bildung einer anderen Regierung fördert.“ [1]

„Mit Rücksicht hierauf hat die deutsche Volksregierung im Einverständnis mit dem Vollzugsrat des deutschen Arbeiter- und Soldatenrats beschlossen, die russische Regierung vor Wiedererrichtung der beiderseitigen diplomatischen Vertretungen um folgendes zu ersuchen:

  1. um eine klare Anerkennung der gegenwärtigen deutschen Volksregierung und der Verpflichtung, sich aller Einwirkung auf die deutsche Bevölkerung zur Bildung einer andern Regierung zu enthalten.

  2. Um eine Klarstellung der bei der Absetzung der deutschen Generalkonsulbte stattgehabten Vorgänge.

Hinsichtlich des Punktes 1 darf die deutsche Regierung einer entsprechenden Aeußerung entgegen sehen. Als Ausführung des Ersuchens in Punkt 2 erwartet sie, daß die deutschen Generalkonsulate nunmehr endlich ungehindert aus Rußland abreisen und sich nach Deutschland begeben können und bittet ferner, je ein Mitglied des deutschen Arbeiter- und Soldatenrats aus Moskau und Petersburg nach Deutschland ausreisen zu lassen, damit sie hier über die Einzelheiten des Zustandekommens ihrer Organisation Auskunft geben und alle sonstigen, ihre Stellung und Befugnisse betreffenden Fragen erörtern können.“

In bezug auf letzteres sei bemerkt, daß die Bolschewistenregierung den deutschen Generalkonsulen in Moskau und Petersburg eines Tages plötzlich die Genehmigung unter dem Vorgeben entzogen hatte, daß dortige deutsche Arbeiter- und Soldatenräte deren Absetzung beschlossen hatten. Sicherlich ein starkes Stück, zumal es keinem Zweifel unterstand, daß, wie es im Telegramm weiter heißt, die betreffenden Beschlüsse auf Veranlassung und unter Beihilfe der russischen Behörden erfolgt waren.

2. Die zweite Äußerung ist folgendes, am 17. Januar 1919 von der nun lediglich aus Mehrheitssozialisten zusammengesetzten Regierung nach Beendigung des im vorigen Kapitel geschilderten Spartakusaufstandes nach Moskau entsandte Telegramm:

„Bei Unterdrückung der aufrührerischen Bewegung, die hier kürzlich von einer terroristischen Gruppe zwecks politischer und tatsächlicher Vergewaltigung des deutschen Volkes unternommen worden ist, sind unwiderlegliche Beweise dafür zu Tage getreten, daß diese Bewegung mit russischen offiziellen Mitteln und von russischen Organen unterstützt worden ist und daß russische offizielle Persönlichkeiten an ihr teilgenommen haben. Die deutsche Regierung legt gegen die unzulässige verbrecherische Einmischung in die inneren Verhältnisse Deutschlands strengste Verwahrung ein. Sie sieht zunächst davon ab, aus diesem Grunde allen russischen Staatsangehörigen, die sich bisher frei in Deutschland aufhalten konnten, das gewährte Gastrecht zu entziehen, wozu sie an sich berechtigt wäre. Sie will jedoch keinen Zweifel darüber bestehen lassen, daß gegen alle Russen, die sich einer Unterstützung der aufrührerischen Bewegung schuldig gemacht haben oder noch in diesem Sinne tätig werden, auf das schärfste vorgegangen werden wird.“

gez. Ebert.

gez. Scheidemann.“

Damit war ein Verhältnis angezeigt., das bei noch so zurückhaltendem Auftreten der Republik jeden Augenblick in ausgesprochene Feindschaft ausarten konnte.

Unbestimmt war auch noch das Verhältnis zum werdenden tschechoslavischen Staat, der den größten Teil des im Süden an Deutschland angrenzenden Gebietes beanspruchte. Vom deutschen Österreich ausgenommen, das unfähig war, ihr Hilfe zu bringen, sah die Republik Deutschland an ihren Grenzen keinen Freund, und selbst das im Norden angrenzende Dänemark hielt sich zwar streng neutral, hatte aber in Nordschleswig eine Frage mit Deutschland zu regeln, die unter Umständen die Beziehung zu ihm sehr gespannt gestalten konnte.

Die außenpolitische Lage ließ danach trotz der friedfertigen Absichten der Republik noch sehr viel zu wünschen übrig.
 

d) Die bürgerlichen Parteien und die Republik

In der ganzen hier behandelten Zeit hat es keine der bürgerlichen Parteien gewagt, offen und rückhaltlos die Fahne des gestürzten Kaisertums zu erheben, keine hielt es für ratsam, sich der Republik feindselig gegenüberzustellen. Selbst die Kritik, die ihre Presse an den Maßnahmen der Regierung übte, fiel im Ganzen zahm genug aus. Man stand zu sehr unter dem Bewußtsein der Notwendigkeit, überhaupt eine geordnete Regierung zu haben, um das Bedürfnis zu empfinden, der Regierung, die man für den Augenblick als die einzig mögliche erkannte, das Leben schwer zu machen. Wenn die Kommunisten der Regierung der Volksbeauftragten vorwarfen, daß sie die Kapitalisten schütze, so steckte darin ein Stück Wahrheit. Nur war es vom Standpunkt jedes vernünftig aufgefaßten Sozialismus kein irgendwie berechtigter Vorwurf. Man konnte die Volkswirtschaft nicht in Gang halten, woran die Arbeiterklasse ja durchaus interessiert war, ohne mindestens zunächst auch dem Kapital Sicherheit gegen willkürliche Eingriffe zu gewährleisten.

Wenn aber die bürgerlichen Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassen und Schichten die Notwendigkeit einsahen, mit der Umwandlung Deutschlands und der deutschen Staaten in Republiken sich abzufinden, so waren sie selbstverständlich darum noch nicht gewillt, auf die Vertretung ihrer besonderen politischen Auffassungen und wirtschaftlichen Interessen Verzicht zu leisten. Sie begriffen jedoch, daß, um dies zu können, sie sich an die politische Neuordnung der Dinge anzupassen hatten, was ohne Abänderung ihrer alten Firmen und Programme nicht angängig war. Und zwar war dieses Bedürfnis naturgemäß um so stärker, je weiter die Parteien nach rechts standen. Während also die beiden sozialdemokratischen Parteien ihre Namen unverändert beibehielten und nur ihre Aktionsprogramme weiter steckten, ohne Grundsätzliches an ihnen zu ändern, hatten die fortschrittlichen Volksparteiler, die Zentrumspartei, die Nationalliberalen, die Konservativen und die politischen Zwischengebilde dieser Parteien ihre Programme mehr oder weniger auch auf das Grundsätzliche zu revidieren. Nach einer Periode der Gährung, die in Erörterungen in der Tagespresse und Verhandlungen auf Zusammenkünften verschiedener Art und Größe ihren Niederschlag fand, erstanden eine Anzahl neuer politischer Vereinigungen, die sich schließlich in Hinblick auf die Wahlen zur Nationalversammlung in vier große politische Parteien mit neuen Namen und neuen Programmen gruppierten. Da die meisten der zunächst erstandenen politischen Neubildungen nur ein Eintagsleben geführt haben, braucht auf sie hier nicht eingegangen zu werden. Die aus dem Gährungsprozeß endgültig hervorgegangenen großen politischen Parteien waren:

l. Die deutsch-demokratische Partei. Eine Verbindung fast der ganzen bisherigen fortschrittlichen Volkspartei mit einem Teil der Mitglieder der alten nationalliberalen Partei und Angehörigen kleinerer, meist bürgerlich-demokratischer Bezirks- oder Landesgruppen. Diese Partei stellte sich sowohl im ersten Aufruf ihres Gründungsausschusses wie auch in ihrem, Anfang Dezember 1918 veröffentlichten Wahlaufruf unumwunden auf den Boden der Republik. Im Gründungsaufruf heißt es darüber:

„Der erste Grundsatz besagt, daß wir uns auf den Boden der republikanischen Staatsform stellen, sie bei den Wahlen vertreten und den neuen Staat gegen jede Reaktion verteidigen wollen, daß aber eine unter allen nötigen Garantien gewählte Nationalversammlung die Entscheidung über die Verfassung treffen muß.“

Und im Wahlaufruf:

„Wir treten bei den Wahlen ein für die Errichtung einer deutschen Republik, in der alle öffentliche Macht allein auf dem Willen des souveränen Volks beruht. Wir fordern die völlige Gleichheit aller Staatsbürger und Staatsbürgerinnen vor dem Gesetz und in der Verwaltung, ohne Rücksicht auf Stand, Klasse oder Bekenntnis, und verlangen die Freiheit des Gewissens und der Religionsübung.“

Weiter fordert das Programm, um „der ordentlichen Arbeit ein lebenswertes Dasein und Teilnahme an den Gütern der Kultur“ zu sichern:

„Staatliche Anerkennung der Arbeiter- und Angestelltenverbände, obligatorisches Schiedsgericht sowie Gewährleistung der durch Tarifverträge festgesetzten Arbeitsbedingungen, insbesondere auch der vereinbarten Mhsdestlöhne und Mindestgehälter“,

und weiterhin:

„eine wirklich soziale Steuerpolitik! Einmalige progressive Vermögensabgabe, auf angemessene Zeit verteilt. Gestaffelte Einkommensteuer unter möglichster Schonung der kinderreichen Familien, des Arbeitseinkommens und der kleinen Vermögen. Allgemeine Erbschaftssteuer für jeden größeren Nachlaß. Vor allem aber schärfste Erfassung der Kriegsgewinne. An diesem Kriege darf kein Deutscher sich bereichert haben.“

Der bürgerliche Charakter der Partei aber kommt zum Ausdruck in dem Satz:

„Solche Lasten können nur getragen werden bei Aufrechterhaltung des Privateigentums und einer Wirtschaftsoronung, die das Interesse des einzelnen am Erwerb lebendig hält und ihn zu höchster Tätigkeit ansport. Die unerhörte Verschuldung, der Mangel an Rohsfofien und die Zerstörung unseres Außenhandels bedrohen uns mit einer Wirtschaftskrise sondergleichen. Nur die gemeinsame Anspannung aller Kräfte von Unternehmern und Arbeitern, von Selbständigen und Angestellten kann den Zusammenbruch verhindern. Darum verwerfen wir die von der Sozialdemokratie angestrebte Überführung aller Produktionsmittel in das Eigentum der Gesellschaft. Das Beispiel der Kriegsgeseilschafte„ schreckt! Die Frage der Sozialisierung ist rein sachlich für jeden Einzelfall danach zu entscheiden, ob eine Steigerung der Erwerbsmöglichkeiten der breiten Massen und eine Erhöhung des Produktionsertrages erzielt werden kann. Keinesfalls dürfen Staatseingriffe in der Form der Bureaükratisierung des Wirtschaftslebens erfolgen.“

Kann man dieses Bekenntnis zur wesentlich privatkapitalistischen Wirtschaftsordnung von einer bürgerlichen Partei immerhin begreifen, so stoßen wir in dem Stück des Programms, das die auswärtige Politik behandelt, auf eine Sprache, die wenig geeignet war, das gegnerische Ausland davon zu überzeugen, daß der Geist des alten Systems schon mit Stumpf und Stiel atisgerottet sei. So hieß es da unter anderm:

„Die Welt soll wissen, daß die Kraft der deutschen Nation in alle Zukunft nicht ausgeschaltet werden kann. Wir wollen, daß die Vertreter des deutschen Volkes stolz und aufrecht zur Friedenskonferenz gehen. Wir wollen, daß sie so sprechen, wie es den Abgesandten eines ungeheurer Übermacht unterlegenen, heute freien und selbständigen Volkes geziemt.“

Stolz und aufrecht“, das ließ eine sehr bedenkliche Auslegung zu. Für diejenige Würde im Auftreten, welche den Vertretern der Republik geziemte, konnte man Ausdrücke wählen, die weniger als diese im Sinne des alten Nationalliberalismus angedeutet werden konnten und so ausgedeutet worden sind.
 

2. Die deutsche Volkspartei. Die Fortsetzerin der nationalliberalen Partei in etwas neuem Gewände. Sie wurde konstituiert, als es sich gezeigt hatte, daß eine völlige Verschmelzung aller Elemente der Hationalliberalen Partei mit der fortschrittlichen Volkspartei nicht zu erwirken war, und umfaßt den rechten Flügel der alten Partei mit einigen Elementen aus der Mitte und Angehörigen kleinerer nationalistisch gesinnter Verbindungen. In ihrem, am 15. Dezember 1918 in Berlin aufgestellten Programm bekennt sich die neue Partei zum „demokratischen, allgemeinen, gleichen und geheimen Wahlrecht für beide Geschlechter“, vermeidet aber geflissentlich das Wort Republik. Nur bedingt erkennt sie die neue Regierung an. Mit dürren Worten erklärt sie:

„Von der derzeitigen Regierung verlangen wir, daß sie endlicn energisch für Ruhe und Ordnung sorgt. Wir sind bereit, dafür unter der jetzigen Regierungsform mitzuarbeiten und alle Bestrebungen der tatsächlichen Regierung nach diesem Ziele zu unterstützen. Wir verlangen aber die Beseitigung der Eingriffe unberufener Personen in die Tätigkeit der Gerichte, Behörden und Kommunalverwaltungen, in die Koalitions- und Pressefreiheit. Wir verlangen die Beseitigung der Mißwirtschaft und maßlosen Verschleuderung öffentlichen Gutes und öffentlicher Gelder. Wir verlangen die Beseitigung der unverantwortlichen Eingriffe in das Wirtschaftsleben, die uns mit Hungersnot, Anarchie und Staatsbankerott bedrohen.“

Im wirtschafts- und finanzpolitischen Teil des Programms kommt der kapitalistische, im Teil, der die Außenpolitik behandelt, der nationalistische Standpunkt viel stärker zum Ausdruck, als im Programm der Demokraten. So heißt es in letzterer Hinsicht:

„Je schwerer Deutschland unter den vernichtenden Folgen des verlorenen Krieges leidet, um so bewußter stellen wir unsere ganze Politik unter den nationalen Gedanken, um so schärfer lehnen wir alle diejenigen internationalen Bestrebungen ab, die unseres Volkes Eigenart verwischen und verdunkeln. Die Reichseinheit ist nur Grundlage unseres politischen Wirkens, innerhalb der Reichseinheit soll kulturelle Stammesart, unter Ablehnung sowohl zentralistischer Bevormundung wie partikularistischer Sonderbestrebungen, sich frei entfalten können.“

Selbst im Programm der neuen Partei der konservativen Gruppen wird die nationalistische Tendenz nicht wesentlich schärfer hervorgehoben.
 

3. Die deutsch-nationale Volkspartei. Die Koalition der alten deutsch-konservativen Partei mit verschiedenen Interessenverbindungen von Landwirten und Handwerkern, den Resten der einstmaligen freikonservativen Partei und den Antisemiten. Um unter den neuen Verhältnissen sich ein größeres Gefolge zu sichern, haben in den Tagen der Revolution die Führer der ehemaligen Deutschkonservativen Partei ihre politischen Forderungen einer so radikalen Revision unterzogen, daß das unterm 24. November 1918 veröffentlichte Programm der neuen Partei fast demokratischliberal anmutet.

Resigniert heißt es im Anfang nach kurzer Einleitung:

„Vieles ist zertrümmert, was uns heilig und teuer ist. Und dock dürfen wir dem Verlorenen nicht untätig nachtrauern. Es ist Pflicht eines jeden, an dem Wiederaufbau des deutschen Staates und Volkes mitzuarbeiten und dem neuen Deutschland neue Form und neuen lebensvollen Inhalt zu geben.“

Und im darauffolgenden Absatz wird auf die Monarchie verzichtet. Es heißt da:

„Wir sind bereit und entschlossen, auf dem Boden jeder Staatsform mitzuarbeiten, in der Recht und Ordnung herrschen. Gegen jede Diktatur einer einzelnen Bevölkerungsklasse verwahren wir uns. Nur ein geordnetes Staatswesen schafft uns Brot und Frieden.“

Ebenso wird der alte Obrigkeitsstaat grundsätzlich preisgegeben. Der nächste Absatz lautet:

„Staat und Gesetz, ausgerüstet mit starker Autorität, getragen von dem freien Willen des Volkes, müssen ihren schützenden Einfluß im Volksund Wirtschaftsleben geltend machen, um die nationale Kultur und die soziale Wohlfahrt zu fördern.“

Dann wird die Forderung aufgestellt, daß „der Mensch als sittliche Persönlichkeit“ mehr als bisher im Mittelpunkt des öffentlichen Lebens stehen soll. Den konservativen Sinn dieser Forderung läßt der daran anschließende Satz durchblicken: „Ein lebensvolles Christentum, Ehe und Familie sollen die starken Träger des öffentlichen Lebens sein.“ Die nationalistischen Tendenzen der Partei aber gibt der daran anschließende Satz kund: Deutsches Wesen und deutsche Art müssen mehr denn je unser ganzes Volkstum erfüllen. Bestimmter noch spricht letzteres der erste Satz in den Richtlinien des Programms der Partei aus:

„Wir treten ein für ein starkes deutsches Volkstum, das seine Einigkeit, Freiheit und Selbständigkeit gegen äußere Macht zu wahren entschlossen ist und sich unabhängig hält von fremden Einflüssen.“

Der zweite Satz der Richtlinien anerkennt die „nach den letzten Ereignissen allein mögliche parlamentarische Regierungsform“. Im dritten Satz wird in Übereinstimmung mit allen andern bürgerlichen Programmen der Schutz des Privateigentums „gegenüber den geplanten Eingriffen der Sozialdemokratie“ gefordert, im vierten „Festhalten an dem Grundsatz der Privatwirtschaft“ verkündet, zugleich mit der Bereitwilligkeit, diese „durch die gemeinwirtschaftliche Betriebsform in Genossenschaft, Gesellschaft, Staat und Gemeinde zu fördern.“

Wie in diesem letzteren Punkt unterscheiden sich auch die Richtlinien über Sozialpolitik, Siedlungspolitik, Steuerpolitik, Bekämpfung der Wohnungsnot, Zulaß zur Beamtenlaufbahn, Schulpolitik und Gleichstellung der Frau dem Anschein nach nur wenig von den betreffenden Sätzen im Programm der Demokraten. Man hätte glauben können, das Programm einer liberalen Partei vor sich zu haben. Erst eine genauere Prüfung läßt erkennen, daß hier wiederholt die Sätze der bindenden Form ermangeln, die keine Abschwächungen in den Anwendungen erlaubt, und später hat die Erfahrung auch gezeigt, daß zwischen den Grundsätzen im damals formulierten Programm dieser Partei und ihrer Haltung in der Praxis sehr große Unterschiede obwalten. Immerhin bleibt es bemerkenswert, wie sehr die Erhebung der Arbeiterklasse im November 1918 der Partei der Junker samt ihrem Anhang soziale Erkenntnis eingepaukt und das Schuldbewußtsein geweckt hatte.
 

4. Die christlich demokratische Volkspartei. Die alte Zentrumspartei, die auch bald wieder diesen Namen aufnahm und in den Vordergrund stellte. Fast noch schärfer als die andern bürgerlichen Parteien hob sie in ihren ersten Aufrufen nach der Revolution den Gegensatz zur Sozialdemokratie hervor. Es war dies inbesondere dadurch verursacht, daß an der Spitze des Kultus- und Unterrichtsministeriums in Preußen der damals der unabhängigen Sozialdemokratie angehörende geschworene Kirchengegner Adolf Hoffmann gelangt war, der sich sofort anschickte, jeder Mitwirkung der kirchlichen Gemeinschaften auf das Schulwesen ein Ende zu machen und die Konfessionsschulen abzuschaffen. Auf rein politischem Gebiet dagegen stellte sich die Zentrumspartei als christliche Volkspartei fast noch entschiedener als die deutsch-demokratische Partei auf den Boden der Republik. Ihren politischen Wahlaufruf für die Nationalversammlung leitet der Satz ein:

„Weltkrieg und Revolution hat das alte Deutschland zertrümmert. In Sturm und Drang wird ein neues geboren. Ein freier sozialer Volksstaat soll es werden, in dem sich alle deutschen Stämme, alle Klassen und Stände, alle Bürger ohne Unterschied des Glaubens und der Parteizugehörigkeit wohlfühlen können. Dieses neue Deutschland zu schaffen ist Aufgabe des Gesamtvolkes, nicht einer Parteidiktatur. Alle Parteien wollen und müssen dabei sein. Dazu bedürfen aber die alten Parteien einer inneren und äußeren Erneuerung.

Ein neues Zentrum wird und muß entstehen im Wandel dieser Tage. Rückhaltloses Bekenntnis zum demokratischen Volksstaat, Bekämpfung jedweder Klassenherrschaft, Ordnung in der Freiheit, offene Absage an den Mammonismus und Materialismus unserer Tage, Pflege der idealen Werte, die Volk und Staat erst gesund machen – das sind die fundamentalen Grundsätze seiner Erneuerung als christlich-demokratische Volkspartei!“

In den Leitsätzen für die Außenpolitik der Partei wird in Bezug auf die internationale Stellung der Kirche gefordert:

„Vollkommene, durch völkerrechtliche Bürgschaften gesicherte Unabhängigkeit des heiligen Stuhles.“

Eine interessante Bekräftigung des Verzichts des Papsttums auf die Wiederherstellung des Kirchenstaats, welcher Verzicht der ganzen Politik Roms eine neue Richtung gegeben, seinen Einfluß als geistige Macht sehr gehoben hat.

Von den Leitsätzen hinsichtlich der Verfassung seien die folgenden erwähnt:

„Unabhängige, auf dem Vertrauen der Volksvertretung beruhende Volksregierung mit starker Vollzugsgewalt an der Spitze im Reich und in den Bundesstaaten.

Schaffung der Verfassung durch die Nationalversammlung.

Gleiches Recht aller Volksschichten auf Teilnahme an der Verwaltung aller Angelegenheiten ohne Kastengeist und Klassenbevorzugung.“

Den Umfang und die Grenzen der katholischen Sozialpolitik kennzeichnen die ersten zwei Leitsätze des Abschnitts Wirtschafts- und Sozialpolitik. Sie lauten:

„1. Aufbau und Regelung der Volkswirtschaft auf der produktiven Arbeit im Dienste des Gemeinwohls unter grundsätzlicher Erhaltung des Privateigentums auch an Produktionsmitteln, Aufrechterhaltung unserer Konkurrenzfähigkeit auf dem Weltmarkt. Ersatz der privatkapitalistischen Monopole durch gemeinwirtschaftliche Ordnung. Schaffung und Erhaltung eines kräftigen Bauernstandes und Förderung unserer landwirtschaftlichen Eigenproduktion zur Sicherung unserer Volksernährung. Regelung und Kontrolle des Warenmarktes der Massenbedarfsgüter nach gesunden wirtschaftlichen Grundsätzen unter Berücksichtigung der Kaufkraft der Bevölkerung.

2. Schutz und Förderung der einzelnen Erwerbsstände als notwendiger Glieder eines gesunden Wirtschaftskörpers. Entschiedene Bevorzugung des Gemeinwohls vor allen Berufsund Standesinteressen. Fortführung der Sozialpolitik für die städtische und ländliche Bevölkerung. Schärfste Bekämpfung jeglichen Wuchers. Erhaltung und Stärkung eines lebenskräftigen Handwerkerstandes. Schutz der berechtigten Interessen der Kaufmannschaft.“




Diese Auszüge werden genügen, den Geist der Programme anzuzeigen, mit denen nun die bürgerlichen Parteien in den Wahlkampf für die Nationalversammlung zogen. Alle hatten der programmatischen Kundgebung gegenüber, mit der die Republik ins Leben getreten war, ihre Vorbehalte, keine lehnte es ab, sich auf den Boden der Republik zu stellen, keine deutete auch nur den Wunsch an, das Kaisertum wiederhergestellt zu sehen. Was indes noch nicht besagt, daß solcher Wunsch nicht doch seine Träger hatte. Sie getrauten sich nur nicht als Partei hervorzutreten.

Fußnote

1. Der zitierte Funkspruch war am 11. November 1918 ergangen.


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008