Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses in Paris (1889)

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Donnerstag, den 18. Juli. Morgen-Sitzung

Den Vorsitz führt Bürger Daumas, Gemeinderath von Paris. Derselbe theilt der Versammlung die aus den Congreß bezüglichen Depeschen, Briefe und Zustimmungsadressen mit.

Bürger Morris gibt einen Ueberblick über die socialistische Bewegung in England, ohne indessen bei der dortigen Lage der Arbeiterklasse zu verweilen, die, wie anderswo, Sklavin des Privatkapitals ist. Kaum seit 6 Jahren kann von Socialismus in England die Rede sein, wenn auch noch etwas von der Chartistenbewegung lebendig geblieben war, sowie 40 auch vom Communismus Owen’s. Nothwendig mußte sich der Einfluß des festländischen Socialismus fühlbar machen, aber die Bourgeoisie, durch ihre Handelserfolge hochmüthig geworden, ignorirte die Lage des Proletariats, oder wollte sie ignoriren. Die große Menge betrachtete als das zu erstrebende Nonplusultra die Verwirklichung eines Systems heuchlerischer Formeln, welche die ganze Politik beherrschten. Die ökonomische Entwicklung hat aber jetzt diese Sachlage umgestaltet: der Socialismus ist für das Proletariat eine Hoffnung geworden, für die Bourgeoisie ein Schrecken. Mehr noch! Manche Bourgeois erklären sich für Socialisten unter dem Vorbehalt, daß man sie nicht zwinge, das Prinzip des Klassenkampfes anzuerkennen. Die abschreckende Gestalt, unter welcher die Armuth in England zu Tage tritt, scheint bei diesen Leuten ein Stückchen eingeschlafenen Gewissens aufgestört zu haben, und sie unterstützen und verkündigen deshalb alle Arten von Reform. So hat denn der Staat die Auswanderung begünstigt, um das Land von einer Menge von Proletariern zu befreien; so hat man einen schüchternen Versuch gemacht, dem bäuerlichen Grundbesitz wieder aufzuhelfen und die ländliche Klein-Industrie reger zu bringen; so hat man sich bemüht um eine Arbeiter-Versicherung à la Bismarck und um eine neue günstigere Form der Produktiv-Genossenschaft. Zahlreiche Hülfsmittel sind in Vorschlag gebracht vom reinen einfachen Philanthropismus bis hinunter zum Malthusianismus und zur Fruchtabtreibung, und zwar durch Bourgeois, welche ein Bewußtsein davon haben, aus welchem Vulkan unsere Gesellschaft angekommen ist.

Bis zur letzten Zeit ist die socialistische Bewegung fast ausschließlich im Reiche des Gedankens geblieben, unterhalten fast allein von Mitgliedern des Proletariats der Bildung. Heute hat sich das Blatt gewandt, da die Geister der Arbeiter durch die ökonomische Entwicklung zur Aufnahme und Annahme der socialistischen Lehren genügend vorbereitet sind. Die Arbeiter haben den Klassenkampf als solchen erkannt; sie haben begriffen, daß das Mehr oder Weniger des Elends in ihrer Existenz von der Rolle abhängt, die sie spielen, indem sie sich dem Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise einfügen lassen. Durch einen unwiderstehlichen Antrieb werden sie dazu gedrängt, die Umgestaltung der Gesellschaft von Grund aus zu wollen.

Dieses Erwachen wird theilweise der Propaganda verdankt, welche ein Häuflein überzeugter Socialisten an den Straßenecken vorgenommen hat. Vor nur 3 bis 4 Jahren wurden unsere Redner in gewissen Orten von den Arbeitern selbst ausgezischt und ausgepfiffen; heut zu Tage finden sie überall ein aufmerksames Publikum, ja man spendet ihnen sogar Beifall; In den radikalen Londoner Clubs ließ man sich früher kaum herab, Socialisten anzuhören; heute finden die Socialisten daselbst kaum noch Widerspruch. Besser noch: das politische Leben im eigentlichen Sinne (wohl zu verstehen, daß der Redner damit nicht die müssigen Diskussionen – wire-pulling d. h. Drahtzieherei – der Wahlperiode versteht) bekundet sich in diesen Clubs allein durch die Bewegung Derjenigen, welche als Socialisten auftreten. Mit einem Wort, der Socialismus beeinflußt die politischen Parteien in solcher Weise, daß Minister Harcourt ausrufen konnte: „Wir sind alle Socialisten!“ Das ernsthafteste Hinderniß, dem die Socialisten begegnet sind, findet sich in der Gleichgültigkeit der in bereits konsolidirten Industrieen beschäftigten Arbeiter. Da England unter allen Ländern das erste gewesen ist, dem es gelang, die Groß-Industrie sich vollkommen zu eigen zu machen, so haben sich nothwendiger Weise die Arbeiter der Industrie-Zentren seit Generationen in die äußerste Abhängigkeit vollständig ergeben müssen. Sie haben sich daran gewöhnt, sich selbst lediglich als einen Theil des Mechanismus der Fabrik zu betrachten. Der Fabrikherr ist für sie ein „paymaster“ – Zahlmeister –, mit dem sie zuweilen einen Streit haben, den sie aber darum nicht minder als unentbehrlich für ihre Existenz ansehen.

Andererseits ist die socialistische Bewegung in England durch die 41 Thatsache begünstigt worden, daß eine Gemeinsamkeit der Empfindungen wischen dem Bauern, d. h. dem Landarbeiter und dem städtischen Arbeiter besteht, woran in Frankreich nicht zu denken ist, und ebensowenig anderswo auf dem Kontinent – wenigstens nicht in annähernd gleichem Maaß. Der Landarbeiter in England ist Sklave des Pächters und deshalb durchaus nicht konservativ, wenn es ihm auch oft widerfährt. daß er für einen Conservativen zu stimmen genöthigt wird; er hat seine Meinung für sich und eine lebhafte Neigung, seine Ketten abzuschütteln.

Die Entwicklung der Parteien hat der Sache des Socialismus gedient. So hat schon allein die irische Frage – mit der die englischen Socialisten sich viel beschäftigt haben – alle alten Parteien in Verwirrung gebracht. Die Arbeiter, bis dahin gewöhnt sich blindlings dem Parlament anzuvertrauen, haben von ihrem Zutrauen verloren. Es muß constatirt werden, daß die neue Gruppe der Socialistischen Radikalen –— in der Presse vertreten durch den Star – wenig Einfluß im Parlamente besitzt, und daß sie auch an jenem Tage nicht mehr Einfluß besitzen wird, wann die irische Frage gelöst oder beseitigt wird.

Wir – d. h. die „Socialist League“, in deren Namen ich spreche – wir, sage ich, beglückwünschen uns zu dieser Lage, denn wir glauben bestimmt, daß die Arbeiter ihre Zeit und ihre Mühe unnütz opfern, wenn sie sich anstrengen, eigene Vertreter in’s Parlament zu bringen. Wir sind deshalb weit davon entfernt, die geringen Resultate zu bedauern, welche mit den erwähnten Versuchen erreicht wurden. Dagegen zeigen die neuerdings in den großen Städten und besonders in London eingeführten County-CouncilsGrafschafts-Räthe –, sehr gegen die Absichten der Tories, eine starke Neigung zum Socialismus. Man darf hoffen, sie werden eines Tages ein Sammelpunkt sein für das der centralistischen und bürokratischen Parlamentsmacht widerstrebende Volk; denn diese Parlamentsmacht ist in England, – und kann dort nur sein – reaktionär, weil sie unter dem unbrechbaren Bann steht, ein Vertheidigungs-Ausschuß zu sein für das hochheilige Recht des Privateigenthums, das die Socialisten angreifen. Dieser Ausschuß, Parlament geheißen, hat es sich nicht verdrießen lassen, in seine Mitte einige Angehörige der ausgebeuteten Klasse aufzunehmen, deren Anwesenheit ans ein doppeltes Ziel absieht: als Sicherheits-Ventil zu dienen für die Unzufriedenheit des Volkes und als Anzeiger für die Richtung der Arbeiter-Beschwerden, ja auch dafür, innerhalb welcher Grenzen die bürgerliche Heuchelei sich freie Bewegung gönnen dürfe.

Alles in Allem, die Lage der Bewegung in England ist sehr ermuthigend. Die öffentliche Meinung sucht mit immer größerem Eifer da nach, wo die Wahrheit ist, und wenn auch die Organisation der Partei noch ungenügend sein mag, so kann man doch sicher sein, daß sie aus sich selbst heraus und in unwiderstehlicher Weise weiter kommen wird.

Vergessen wir nicht zu erwähnen, daß der Socialismus sich mehr und mehr in Australien ausbreitet, nicht in dem Sinne, wie wir ihn sich in Amerika entfalten sehen, sondern vielmehr in einer der englischen Bewegung nahekommenden Art.

Uebrigens die Thatsache selbst, daß der Socialismus in England als eine Bewegung der Gedanken zuerst aufgetreten ist, rechtfertigt die Hoffnung, daß seine Fortschritte nicht in’s Stocken gerathen. Der Idealismus, der hiedurch bedingt ist, ist das unerläßliche Element jeder Bewegung, die sich durchsetzen will. Es ist ohne Zweifel gefährlich unsere Hoffnung auf ökonomischen Fatalismus zu gründen, auf die andauernde Verkümmerung des bürgerlichen Elements. Nothwendiger Weise verpflichtet uns die logische Entwicklung der Produktion und der Gesellschaft, diese Thatsachen in Erwägung zu nehmen; indessen die historische Verschiebung der Zustände kann den Lauf jener Entwicklung unterbrechen und der Uebermacht des Bürgerthums eine weitere Lebensfrist bewilligen. England kann möglicher Weise noch eine Periode großer Handelsblüthe genießen; 42 in Folge des Anreizes, den diese Blüthe auf die Entdeckungen und die Verbesserung der Mechanik üben muß, werden aber die Arbeiter noch geringeren Antheil an dem sog. Nationalreichthum haben als selbst in der gegenwärtigen Industrieperiode.

Was auch kommt, wir werden nicht aufhören Socialisten zu sein. In der That, wir können besser genährte Sklaven, angenehmer situirte Schmarotzer werden – aber damit sollten wir zufrieden sein? Nein! Die Bewegung im Reiche der Gedanken, welche sich weiter vollziehen muß, wird uns nicht erlauben, mit einem Zustande zufrieden zu sein, der nicht die volle und ganze Verwirklichung unseres Ideals ist. Wir wissen, daß wir die vollkommene Gleichheit der Lebensbedingungen für alle Menschen zu fordern haben, und daß dies ein sehr wohl realisirbares Ideal ist. Wir werden niemals die mühsam erlernte Lektion vergessen; wir werden daran zu denken wissen, daß, wie auch immer das Schicksal einiger Individuen sich gestalte, der „Bodensatz“, wenn auch mit Verbesserungen, doch immer jener „Bodensatz“ bleibt, von welchem John Bright mit solch satter Selbstgefälligkeit gesprochen hat, – und daß er es bleiben wird, bis wir unsere ganze Forderung durchgesetzt haben. Die Arbeiter, auch die am Besten daran sind, hängen sie nicht immer von ihren Lohnherren ab? Und, wenn wir den Sachen auf den Grund gehen, von dem Herrn ihrer Herren: vom internationalen Markt? Der englische Arbeiter wird mit Zähigkeit die Forderung seiner vollen Rechte verfolgen, und er wird nicht stillstehen auf dem Wege, das wissen wir, bis daß er sie ganz erobert hat. Bei alledem wird die socialistische Partei, erkennen wir es an, durch eine Periode der Enttäuschung bedroht, wenn sie zu einer rein politischen Partei ausartet. In diesem Falle wird sie das Spiel einer Handvoll von Abenteurern und Stimmenfängern werden, die nichts im Auge haben, als ihr persönliches Interesse. Zu diesem Behufe werden sie die Hoffnungen des Proletariats nähren und dasselbe durch eine verlogene Agitation zu Gunsten einiger Palliativ-Mittel betrügen, die ein Bourgeois-Parlament nicht verfehlen wird zu bewilligen, da ein solches sehr gut weiß, daß diese Palliativ-Mittel, sollten sie wirklich durchgeführt werden, der Menge des Volkes niemals mehr geben werden, als die Freiheit zu stimmen und – Hungers zu sterben.

Zwei Dinge muß man den englischen Socialisten zur Ehre nachsagen. Erstens sind, ungeachtet gewisser Meinungs-Verschiedenheiten, die englischen Socialisten – einige Ausnahmen abgerechnet – gründlich international. Sie verurtheilen mit der äußersten Energie den Chauvinismus (Jingoism [1]) – welche Erscheinungsform er euch annehme. Das Wort „Nationalität“ hat für sie nur eine geographische Bedeutung. Das „Britische Reich“, keineswegs ein Gegenstand der Liebe und des Stolzes für sie, gilt ihnen nur als eine Macht des Unheils, eine auf Ungerechtigkeit und Gewaltthat beruhende Herrschaft, die demnach dem Abscheu jedes anständigen Menschen verfallen ist. Zweitens haben die englischen Socialisten, Kraft ihres Idealismus, sich als die besondere Mannschaft der ästhetischen Seite des Socialismus constituirt. Ohne die Utopien von Charles Fourier anzunehmen, sind sie, meistens ohne es selbst zu wissen, die Erben seiner Idee von der anziehenden Arbeit (Forderung, die Arbeit in der socialistischen Gesellschaft so zu gestalten, daß sie aushört lästig zu sein und den Arbeiter als ein Vergnügen anziehe). Dieser Punkt hat seine Wichtigkeit. Alle Socialisten wollen, daß alle Menschen zur Arbeit angehalten werden, aber wenn sie dies Ziel erreicht haben, werden sie sich dem Satze anschließen daß die Arbeit weniger eine peinliche Mühe als eine reizvolle Obliegenheit ist. Trotz unvermeidlicher Fehlgänge hat die 43 socialistische Bewegung Englands dem gesammten Socialismus greifbare und nützliche Dienste geleistet, indem sie den Arbeitern das zu erreichende Ziel zeigte: ein schönes und vollkommenes Leben.

Die socialistische Bewegung Englands hat eine beachtenswerthe Literatur erzeugt. Neben mehreren täglichen Arbeiterblättern bemerkt man zwei socialistische Wochenschriften „Justice“, Organ der „socia1-Democratic Federation“ und „Commonweal“, Organ der „Socialist League“. Die Socialisten veröffentlichen auch Streitschriften, Broschüren, Flugblätter; indessen fehlen auch gewichtigere Werke nicht. Ein charakteristisches Zeichen ist, daß unsere Romanschriftsteller es gut finden, ihre Bücher mittelst eines gewissen Zusatzes von Socialismus zeitgemäß zu machen. Der Socialismus ist Mode geworden!

Der Socialismus ist also in England eine kräftige Pflanze, die lebensfrische Sprossen treibt, freilich noch jung, so jung, daß sie noch weder Blumen noch Früchte hervorgebracht hat. (Lebhafter Beifall.)

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Doktor Adler, Delegirter der Socialisten Oesterreichs, trägt einen Bericht über die Lage der socialistischen Bewegung in Oesterreich vor, der häufig durch begeisterte Beifallsruse unterbrochen wird. In Oesterreich, sagt er, gibt es eine sehr lebensfähige Partei, die unermüdlich arbeitet und vor keinerlei Schwierigkeit zurückschreckt. Ich bringe hier den Brudergruß von Tausenden über ganz Oesterreich verstreut lebenden Arbeitern. Sie hatten die Absicht mir ein formelles Mandat zu geben; aber das war eine Unmöglichkeit. Die Freiheit in Oesterreich ist ein zusammen-gesetztes Wesen, welches die Mitte hält zwischen der Freiheit in Rußland und der Freiheit in Deutschland. (Große Heiterkeit.) In der Form ist sie deutsch, in der Ausführung ist sie russisch. Abgesehen von Frankreich und England hat Oesterreich vielleicht in ganz Europa die freisinnigsten Gesetze, so sehr, daß es einer Republik ähnelt, die anstatt eines Präsidenten eine Majestät an der Spitze hat. Leider verfährt man nur in der Praxis nicht nach dem, was das Gesetz vorschreibt, sondern allein nach dem, was das Belieben des betreffenden Polizei-Commissärs ist. Der Polizei-Commissär ist befugt, alle gesetzlichen Freiheiten zu confisziren, und man kann schon glauben, daß er dies Recht braucht – und mißbraucht. Dieser absonderliche Zustand raubt der Arbeiterbewegung in Oesterreich alle Gleichartigkeit im Fortgange, alle Sicherheit im Beschließen und Handeln. Sie ist allen möglichen Glückswechseln beständig ausgesetzt, heute Blüthen treibend, morgen der Vernichtung preisgegeben, ohne daß die Regierung deswegen nöthig hätte, zu Ausnahmegesetzen ihre Zuflucht zu nehmen. So hat auch das 1884 publizirte Ausnahmegesetz gegen die Anarchisten keineswegs die Lage wesentlich verändert. Was verschlägt es denn den Socialisten, ob sie durch Berufsrichter oder durch Geschworne verurtheilt werden? Kraft dieses Gesetzes hat die Polizei in der ersten Woche nach der Publikation mehr als 400 Personen aus Wien und Florisdorf ausgewiesen. Die Ausgewiesenen waren meistens höchst unschuldige Menschen, Mitglieder oder Vorstandsmitglieder von Gewerkschaften. Natürlich mußte dies Gesetz die junge Arbeiterbewegung ersticken, und hat dies auch wirklich gethan. Aber, sonderbar genug! Die österreichische Regierung ist gleich unfähig, bei einem Werke der Gerechtigkeit consequent zu sein wie bei einem Werke der Unterdrückung; sie schwankt beständig hin und her, – wir haben den Despotismus gemildert durch Schlamperei (Große Heiterkeit). Die junge Bewegung benutzte die letztere, um wieder aufzuathmen und sich besser zu befestigen. Betonen wir es, daß sich in der Arbeiter-Partei tiefgehende Meinungs-Verschiedenheiten gezeigt haben, besonders in Betreff der Frage: „Sollen die mit dem direkten allgemeinen Stimmrecht bewaffneten Arbeiter sich als politische Partei constituiren oder nicht?“ Reine Prinzipienfrage! Die Arbeiter in Oesterreich haben kein Stimmrecht und werden es auch so bald nicht 44 haben. Gleichwohl theilte diese Frage die Arbeiterpartei in zwei Bruchstücke, von denen das Eine aus sog. radikaleren, das Andere aus sog. gemäßigteren Elementen bestand. Die Einigung kam erst zu Stande, als gewisse bis dahin einflußreich gewesene Persönlichkeiten verschwunden waren. Die Bewegung hatte aber noch mit einer anderen Schwierigkeit zu kämpfen, mit dem Gesetz über die Colportage, kraft dessen jeder Mensch, der sein Journal vertheilt hat, wegen Vergehens gegen das Preßgesetz unter Anklage gestellt werden kann. (Sensation.) Eine dritte Schwierigkeit endlich entspringt nur zu häufig aus dem Nationalitäten-Gegensatz. Obgleich die Proletarier verschiedener Nationalität im Allgemeinen einen ernsten Geist der Eintracht bewähren, und mit einander aufrichtig sympathisiren, so werden doch die Schwierigkeiten der Propaganda durch die Unterschiede der Sprachen sehr erheblich gesteigert. Fugen wir dem allen hinzu, daß der Stand der Volksbildung ein sehr niedriger ist und keine steigende Tendenz besitzt. Seit Ferdinand dem Katholischen hat man in diesem Lande mit Feuer und Schwert gegen den Volks-Unterricht gewüthet. Oesterreich ist nicht nur ein katholisches Land, es ist zugleich auch ein zurückgebliebenes Land.

Trotz all dieser Schwierigkeiten, besteht in den Landestheilen, wo die Industrie Wurzel geschlagen hat, eine Socialistenpartei, vor welcher die Bourgeoisie sich fürchtet.

Eine beachtenswerthe Thatsache ist es, daß in Oesterreich, im Gegensatz zu dem, was die anderen Länder erleben, noch ein letzter Ueberrest der alten feudalen Welt in einer Partei fortexistirt, die bis aus die gegenwärtige Stunde eine ausschlaggebende Rolle im öffentlichen Leben spielt. Obwohl diese feudale Gesellschaft unter dem Druck der neuen ökonomischen Aera nicht umhin kann ihr Wesen umzuwandeln, hat sie nichtsdestoweniger doch Interessen, die denen der jungen Bourgeoisie entgegengesetzt sind. Dem entsprechend sucht man bald von dieser, bald von jener Seite die Arbeiter für sich zu gewinnen, die Bourgeoisie in der Gestalt eines im höchsten Grade heuchlerischen politischen Liberalismus, der feudale Adel mittelst einer Arbeiter-Gesetzgebung.

So besitzt denn Oesterreich eine Arbeiter-Gesetzgebung welche – abgesehen von England und der Schweiz – die beste von ganz Europa sein würde, wenn sie nicht fast nur auf dem Papier existirte! In Oesterreich besteht der Normalarbeitstag von 11 Stunden, die Nachtarbeit der Frauen und Kinder ist verboten u. s. w. u. s. w. Ebenso herrscht absolute Preßfreiheit. Aber sieh da, das Gesetz läßt Ausnahmen zu, die Behörden ordnen Ausnahmen an, und ihre Bestimmungen können sicher sein, stets die Bestätigung vom Ministerium zu erhalten. Wir wollen indessen anerkennen, daß trotz dieser „gesetzlichen Ungesetzlichkeiten“ das Arbeitergesetz die Lage der Arbeiter der großen Industrie verbessert hat. Es hat die Aufmerksamkeit des Proletariats auf die Situation, in der es sich befindet, hingelenkt und dadurch dazu beigetragen das Gewissen der Arbeiter zu wecken. Ferner, die Fabrikinspektion, wie unvollkommen sie auch immer sein mag, ist doch bei weitem nicht so schlecht organisirt wie in Deutschland. Um die Inspektionwahrhaft wirksam zu machen, müßte man übrigens damit anfangen, die Zahl der Inspektoren zu vermehren. Die Bourgeoisie verweigert die Mittel für die Anstellung neuer Inspektoren unter dem Vorwande, daß der Militarismus das Geld der Steuerzahler verzehre. Gegenwärtig haben wir nur 15 Inspektoren. Mehr noch, die Regierung hat sich geweigert, den Inspektoren einen anspruchslosen, aus der Arbeiterklasse hervorgegangenen Mann als Gehilfen beizugeben, was doch überall als nützlich anerkannt ist.

Trotz dieser Mängel hat das Gesetz, sagen wir es nochmals, den Erfolg gehabt, die öffentliche Aufmerksamkeit auf vorher gänzlich ignorirte Zustände hinzulenken.

45 Was denken denn nun die österreichischen Socialisten über eine Arbeitergesetzgebung? Das Ziel, aus dessen Erreichung es vor Allem ankommt, heißt: Hebung des physischen, intellektuellen und moralischen Zustandes des Proletariats. Eine Arbeitergesetzgebung ist bei Weitem nicht dazu befähigt, für sich allein die Aufgabe zu lösen, welche die Arbeiter-Bewegung zu bewältigen hat; aber sie ist ein Mittel, ohne dessen Anwendung das Proletariat sein schlieẞliches Ziel nicht wird erreichen können.

In der letzten Stunde, wenn nun die kapitalistische Gesellschafts-Ordnung zusammenbricht – und sie wird ganz von selbst zusammenbrechen, ohne daß, sozusagen, man dabei nachzuhelfen brauchte – dann wird das Schicksal des Proletariats sich entscheiden nach dem Grade geistiger Entwicklung, den es erreicht haben wird. Wir besitzen weniger Einfluß auf das Eintreten dieses Moments, als wir selbst anzunehmen pflegen, – weit weniger, als unsere Feinde argwöhnen. Aber Eins liegt in unserer Macht: uns für diesen Augenblick vorzubereiten. Von dieser Vorbereitung hängt die Zukunft ab. Wird sie Sklaven finden, welche ihre Ketten brechen, oder Männer, welche entschlossen sind, frei zu werdens? Bereit sein – das ist Alles. Das ist der Grund, weshalb wir überall eine Arbeiterschutz-Gesetzgebung verlangen, welche unerläßlich ist für eine gute sociale Hygiene. (Anhaltender Beifall.)

Bürger Adler macht noch die Mittheilung, daß die österreichische Partei ausschließlich auf diesem Congreß vertreten ist. Die sogenannte „Föderation von Ober-Oesterreich und Salzburg“, die auf dem Possibilisten-Congreß vertreten ist, hat das einzige Unglück, überhaupt nicht zu existiren.

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Nach dieser Mittheilung tritt der Congreß in eine ziemlich lange Diskussion ein über die Frage, ob es nöthig ist, die Vorlesung der Berichte fortzusetzen oder nicht.

Die belgischen Abgeordneten, unterstützt von dem amerikanischen Delegirten Bush schlagen vor, jedem Redner nur 15 Minuten für Verlesung seines Berichtes einzuräumen.

Der Bürger Lafargue meint, daß man die Vorlesung der Berichte fallen lassen solle, die ja so wie so sämmtlich veröffentlicht würden, und daß man in die Diskussion über die auf der Tagesordnung stehenden Fragen eintreten möge.

Der englische Delegirte Kitz hält es für alle Fälle nützlich, die Delegirten der Bergarbeiter zu hören.

Bürger Dubucq schlägt vor, daß jedem Berichterstatter 10 Minuten zugestanden werden; zu gleicher Zeit möchte eine Commission von 30 Mann gewählt werden mit dem Auftrage, die sämmtlichen Einzelberichte in einen einzigen Generalbericht zusammenzufassen.

Die deutschen Delegirten erklären sich für Entgegennahme der Berichte, und Bürger Wedde bekämpft den Vorschlag Lafargue’s. Der Congreß hat nicht nur den Zweck, die Frage einer Arbeitergesetzgebung zu studiren, eine Frage, in der übrigens alle socialistischen Parteien im Prinzip einig sind; – er hat in gleicher Weise zum Gegenstand, eine innigere Verbindung zwischen den Proletariern der verschiedenen Nationen zu besprechen. Und zu diesem Zwecke trägt die Verlesung der Berichte wesentlich bei. Gemäß diesem Zwecke wird es nöthig sein, nachdem man die Berichte der sogenannten großen Nationen gehört hat, in gleicher Weise die der kleineren Nationen anzuhören. Im entgegengesetzten Falle würde der Congress sich gegen den Geist der Brüderlichkeit und Gerechtigkeit versündigen.

46 Die Bürger Lafargue und Dubucq ziehen ihren Antrag zurück und der Congreß beschließt einstimmig die Verlesung der Berichte, doch so, daß nach Vorschlag des Bürgers Cesar de Paepe jedem Berichterstatter nur 10 Minuten bewilligt werden. Desgleichen nimmt der Congreß den Vorschlag des Bureau’s an, daß dieses mit der Ausarbeitung definitiver Resolutionen betraut wird, betreffs deren jeder Delegirte eingeladen ist, das Bureau zu unterstützen, indem er Resolutionen oder Beobachtungen, die sich auf die Fragen der Tagesordnung beziehen, demselben unterbreitet.

Bürger Volders, der Delegirte der socialistischen Arbeiterpartei Belgiens, hat das Wort zum Bericht über die socialistische Bewegung in Belgien.

Die belgische Bourgeoisie ist die schlimmste von allen, weil sie die allergrößte politische Gewalt in ihrer Hand hat. Sie allein hat das Stimmrecht. Ebenso behält sie nicht nur den Grund und Boden und alle Produktionsmittel für sich vor, sondern auch die ganze Staatsgewalt. Vor Kurzem hat sie nun einen Nachtrag ins Wahlgesetz eingefügt, welcher einer Handvoll von Werkmeistern und Kleinkrämern gestattet, in die Municipalräthe einzutreten. Zudem wird hierfür ein Befähigungs Examen verlangt. Die socialistische Partei hat also in diesem Lande unaufhörlich mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen, die nothwendiger Weise ihren Einfluß ausüben auf die Taktik, welche ihre Mitglieder einschlagen müssen.

Eine Arbeitergesetzgebung gibt es nicht in Belgien. Die Art und Weise, in welcher diese wichtige Frage letzthin auf die Tagesordnung gesetzt wurde, zeigt den bösen Willen der Bourgeoisie.

Der Volksunterricht steht tief unter den bescheidensten Anforderungen.

Außerdem wird die politische Lage des Landes noch komplizirter gemacht durch die wirthschaftliche. Belgien ist das Land der Großindustrie par excellence und zwar einer internationalen Industrie, die für den Weltmarkt producirt. Die Bourgeoisie benutzt die ihr vom Ausland her gemachte Concurrenz und schmiedet eine Waffe gegen das Proletariat daraus; sie säet Haß zwischen den belgischen und fremden Arbeitern, und allein die Socialisten bekämpfen diesen Chauvinismus.

Die socialistische Bewegung ist in Belgien verhältnißmäßig jung. Vor 5 oder 6 Jahren fand man nur in den Industriecentren organisirte socialistische Sektionen. Gent allein hatte einen festgeschlossenen Generalstaab (état-major) überzeugter Socialisten, unter ihnen viele Deutsche. Sie waren es, die 1885 versuchten, auf dem Boden eines socialistischen Programms alle corporativen Organisationen, alle politischen und socialistischen Studienclubs, alle Consum- und Produktivgenossenschaften, Gegenseitigkeitskassen u .s. w. zu vereinigen. Dann wurde auf einer wirklich socialistischen Grundlage die belgische Arbeiterpartei, eine der bestorganisirten von ganz Europa, begründet. Die deutschen, socialistischen Arbeiter haben ganz besonders beigetragen zum Zusammenschluß und zwar so eifrig, daß die Anstrengungen einiger Jahre den Erfolg hatten, die Bewegung in regelrechten Fluß zu bringen. Die bei den großen Corporativ-Genossenschaften, die zur Partei gehören und über welche Anseele einen Specialbericht erstatten wird, arbeiten durchaus in socialistischen Geiste. Die Gründung von solchen Corporativ-Genossenschaften hat die öffentliche Meinung gewaltig beeinflußt und zwar zu Gunsten der Bewegung. Ganze Ortschaften gehören zur Partei, obschon die Mehrzahl dieser neuen Mitglieder zunächst über sociale Fragen noch vollständig unaufgeklärt war. In den Städten und Industriecentren konnte man in kurzer Zeit gegen 100 politische Vereine zählen, Socialisten wurden in Municipal- und Provincialräthe gewählt. Aber der erste Enthusiasmus für die neue Partei verlosch sehr bald wieder wie ein Strohfeuer. Wir müssen zugestehen, daß man in Belgien unmöglich allein auf die politische Gruppenbildung rechnen kann. Beim geringsten Sturm zerstreuen sich diese Gruppen, die keine andere Grundlage haben, wie beispielsweise die politische Liga des Hennegaus beweist, die keinen Bestand hatte. Dagegen dauern die durch gemeinschaftliches wirthschaftliches Interesse 47 verbundenen Organisationen aus. So die Fachvereine, welche die Aufrechterhaltung bestimmter Tarife und Erhöhung der Löhne zum Zwecke haben, so auch die Corporativ-Genossenschaften, welche eine feste Basis für die Einigung der Organisationen und der Mitglieder bilden. Sie aufzulösen ist schwieriger, weil ihre Mitglieder vereinigt bleiben zur Erhaltung des gemeinschaftlichen Besitzes, welcher andererseits eine werthvolle Geldquelle abgibt; von den Gewinnen wird ein bedeutender Procentsatz vornweg genommen für die socialistische Propaganda, für Zeitungsgründungen u. s. w. Die Taktik der belgischen Partei ist durch ihre ganze Stellung charakterisirt. Sie erklärt es auch, daß die belgischen Delegirten darauf drangen, zu versuchen, die beiden Congresse zu verschmelzen. Die Lage ihres Landes hat den Socialisten das System der Concessionen auferlegt, für den Fall, daß das höhere Interesse des Proletariars solche erheischt. Die belgische Partei würde nicht einen Tag länger existiren, falls man ihr ein starkes, exclusives Programm zur Pflicht machen wollte. Schon der Unterschied zwischen Wallonen und Flamländern erheischt eine tolerante Taktik und ein weitgefaßtes Programm.

So ist die belgische Partei, obgleich streng in Sachen des Prinzips, doch geneigt, mit sich reden zu lassen, wenn es sich nur um Fragen der Taktik handelt; dem Arbeiter gegenüber ist sie tolerant, gegen die Bourgeoisie aber liegt sie im Felde und verwirft alle Transactionen.

Könnten sich doch alle Genossen anderer Länder, deren Lage der unseren analog ist, für unsere Grundsätze begeistern, die ja nur darauf abzielen, den Sieg im offenen Kampf für die Emancipation des internationalen Proletariats herbeizuführen.

Alles das, was die deutsche Socialdemokratie betreffs der Arbeitergesetze fordert, das fordern in gleicher Weise auch wir. (Beifall.) –

Hybès, der böhmische Delegirte, nimmt das Wort zur Berichterstattung über die tschechische Bewegung. Er will deutsche, nicht tschechisch, reden, um dem Congreß den Zeitverlust zu ersparen, den eine weitere Uebersetzung zur Folge haben würde.

Böhmen ist zum ersten Male auf einem internationalen Congreß des Proletariats vertreten. Böhmen ist ein im Hintertreffen gebliessenes Land, indem es seit der Reformation kein selbstständiges Dasein führt. Unter dem Vorwand der Germanisirung und Katholisirung seiner Bewohnerschaft hat man alle und jede Freiheit erstickt, alle nationalen Rechte unterdrückt. Diese Lage wurde vom Feudalismus geschaffen, welcher, unter dem Vorwand der patriotischen Sache zu dienen, in Wirklichkeit nur seiner eigenen Sache und sich selbst gedient hat.

Trotzdem hat der Socialismus siegreich seinen Einzug in Böhmen gehalten; er hat dies erreicht zugleich mit den industriellen Fortschritten, die ein zahlreiches, allem Elend ausgsetzes Proletariat geschaffen haben. Die aus der Fremde nach Böhmen gebrachten socialistischen Lehren, meist auf dem Wege der Uebersetzung dargeboten, fanden unter dem tschechischen Proletariat Verbreitung. Die Frage der Sprache war ein Hinderniß für die Propaganda, die unerbittliche Verfolgung war ein zweites. Trotz so vieler Hindernisse, die sich einer Organisationsbildung entgegenstemmten, haben die Arbeiter ausschließlich die Initiative und die Organisationsarbeit sich selbst zu verdanken. Im Gegensatz zu dem, was man in anderen Ländern sah, ist kein Mann der schulmäßig gebildeten Classe zum Proletariat gekommen, um ihm bei seinen Ansstrengungen für seine Emanzipation den Weg zu zeigen, der zu verfolgen war. Ingleichen hat niemals ein tschechischer Advokat seine Hand gereicht, um einen socialistischen Prozeß als Vertheidiger zu führen.

Der Berichterstatter weiß aus eigenster Erfahrung, mit welcher Erbitterung die Regierung und die Polizei die Socialisten verfolgen. Er ward selbst verfolgt, eingekertert, und angeklagt, Mitglied des „General-Rathes“ zu sein und überall „anarchistische“ Gruppen begründet zu haben, und endlich verurtheilt, wiewohl der Staatsanwalt nichts gegen ihn vorbringen konnte, als seine Mitarbeiterschaft bei zwei ausländischen Zeitungen, einer in New-York, 48 der „Freiheit“ Johann Most‘s, und bei einem zweiten anarchistischen Organ in Chicago, welches außerdem schon seit Jahresfrist eingegangen war. Während der Instruktion des Prozesses waren 90 Verhandlungstermine abgehalten und aus allen Theilen des Königreiches des heiligen Wenzel Zeugen herbeigeholt worden. Viele andere Socialisten hatten dasselbe Schicksal. In Böhmen wird die Vertheilung einer Zeitung sofort mit Gefängniß oder Geldstrafe geahndet; die Untersuchung bei Delikten, auf denen höchstens 2, 3 Tage Haftstrase steht, dauert oft Monate lang. Die Verhafteten werden in Ketten gefessert an das Landesgericht zu Prag eingeliefert. Obgleich man glaubt, daß die Post frei und unabhängig zu arbeiten und vor Allem das Briefgeheimniß zu wahren hat, wird unfehlbar sofort nach wenigen Stunden bei einer Person, an die eine ausländische Zeitung gesendet worden ist, Haussuchung gehalten. Jedermann, der angellagt wird, Mitglied eines Geheimbundes zu sein, wird zu 2 oder 3 Monaten Gefänaniß verurtheilt, die sogenannten „Rädelsführer“ dieser Organisationen zu einem Jahr. Als ein solcher „Rädelsführer“ gilt in den Augen der Polizei jeder Arbeiter, der etwas intelligenter und mehr unterrichtet ist als seine Kameraden.

Um eine Vorstellung von der Willkühr und Härte der Polizei zu geben genügt eine Thatsache: von 340 wegen Socialismus von einem einzigen Staatsanwalt angeklagten Personen wurden nur 110 freigesprochen! In der letzten Zeit ist nicht ein einziger Verein genehmigt worden, zu dem sich tschechisches Arbeiter organisirt hatten. Die Polizei organisirt ein System der Ginschüchterung, wodurch sie manche Arbeiter daran hindert, in die Bewegung einzutreten.

Indessen hat der Socialismus trotz allen Demmnissen in Böhmen tiefe Wurzeln geschlagen, so daß er unmöglich heutzutage ausgerottet werden kann. Wiewohl noch ein intellectueller Stützpunkt fehit, der unentbehrlich ist, entwickelt sich doch die Bewegung, und wir zweifeln nicht daran, daß sie eines Tages siegen wird. (Lebhafter Beifall.) –

Nachdem die Ruhe wieder hergestellt ist, nimmt Keir Hardie, der Vertreter von 56,000 organisirten schottischen Bergleuten, das Wort zu seinem Bericht, mit dem er von den Vertretern der parlamentarischen socialistischen Arbeiterpartei Großbritanniens beauftragt worden ist.

Die Auftraggeber erkennen den Gegensatz der Klassen an und erstreben die Beseitigung des Kapitalismus und die Besitzergreifung aller Arbeitsmittel durch die Gesellschaft; der volle Arbeitsertrag muß den Arbeitern zu Theil werden. Sie meinen, daß dies Ziel erreicht wird, wenn man dazu gelangt, eine Reihe von Gesetzen zu erlassen, die eine ernsthafte Arbeitergesetzgebung darstellen. Um dazu zu gelangen, organisiren sie sich hauptsächlich auf politischem Gebiet; daher arbeiten sie darauf hin, ihren Leuten den Eintritt in’s Parlament und in die Lokalverwaltungen zu ermöglichen. Sie betteln nicht um Gesetze, wie um eine Gunst, um eine Gnade, welche von einer höheren Klasse einer niedriger stehenden erwiesen wird, – nein, sie fordern, das das Parlament, das Geschöpf und der Diener des Volkes, Gesetze gibt, die dem Willen und den Bedürfnissen des Volkes entsprechen.

Die von Keir Hardie vertretene Organisation stellt eine besondere Partei dar, welche das Wohl der Arbeiter anstrebt. Vor einigen Monaten warfen die Arbeitsgenossen von New-Castle 45,000 Stimmzettel für die Candidaten der Partei in die Urnen, drei wurden in den Schulrath gewählt. Man hat lange Zeit als ein feststehender Credo immer wiederholt, daß der Arbeiter in Wales und in Großbritannien nur 9 Stunden taglich arbeite. Nichts ist falscher als das! Wahr ist, daß hie und da, z. B. für Fabriken, das Gesetz es vorschreibt. Die festgesetzte Arbeitszeit beträgt da wöchentlich 56 Stunden; in gleicher Weise besteht ein aus 9 Stunden bezifferter Arbeitstag für die Handwerker der großen Städte. Indessen dauert bei jeder sich darbietenden Gelegenheit in der Zeit der Prosperität einer Industrie der Arbeitstag oft 12 Stunden und selbst 14 Stunden! Dazu bemerken wir, daß unter den besseren unserer Arbeiter sich eine mächtige Strömung zu Gunsten eines 49 achtstündigen Arbeitstages geltend macht, der gesetzlich vorgeschrieben ist und den zu überschreiten durchaus verboten werden soll. Aber das ist noch lange nicht erreicht. Ebenso arbeiten die Beamten und Arbeiter der Straẞenbahnen und der Eisenbahnen täglich 12 bis 18 Stunden! Die Arbeiter der großen, un-unterbrochenen Betriebe haben einen Arbeitstag von 12 Stunden und arbeiten alle 7 Tage der Woche!

Was die Löhne anbelangt, so sind sie keineswegs glänzend. In den ländlichen Bezirken belaufen sie sich auf 12–15 Schilling (12 Mk. 24 Pfg. bis 15 Mk. 30 Pfg.) wöchentlich. Die nicht qualifizirten Arbeiter (Handarbeiter), die bei den öffentlichen Arbeiten beschäftigt sind, verdienen wöchentlich 12 Schilling (12 Mk. 24 Pfg.); die Berg- und Eisenarbeiter bis zu 22 Schilling (22 Mk. 44 Pfg.) in den großen Städten; die qualifizirten Arbeiter erhalten bei einen auf 9 Stunden normirten Arbeitstag 20–35 Schilling (20 Mk. 40 Pfg. bis 35 Mk. 70 Pfg.) wöchentlich.

Bemerken wollen wir beiläufig, daß die offiziellen Statistiker den in Großbritannien geschaffenen Reichthum in Bausch und Bogen auf 1.200.000.000 Pfd. Sterling berechnen (= 1.324 Millionen Mark). Von dieser runden Summe erhalten die Arbeiter nicht einmal den dritten Theil; 800 Millionen Pfd. Sterling und mehr fließen in die Taschen der Nichtsthuenden oder halben Nichtsthuer.

Unter den 10 Millionen Arbeiter Großbritannien’s sind 1 Million Mitglieder von Trades-Unions (Gewerkschaften). Die Trades-Unions umfassen meist qualifizirte Arbeiter, die sich sehr wenig um die außerhalb ihrer Organisationen stehenden Arbeiter kümmern. Die nicht qualifizirten Arbeiter haben so zu sagen gar keine Organisationen.

Jedes Jahr wird ein Congreß der Trades-Unions abgehalten, der den Zweck hat, eine Arbeitergesetzgebung zu diskutiren; aber die meisten Führer sind von vornherein überzeugt, daß das Parlament nicht im Stande ist, – und selbst wenn es dies wäre, nicht gewillt ist –, die ökonomische Lage der Arbeiter zu verbessern. Die Beschlüsse dieser Congresse sind also ganz ohne irgend welchen Einfluß. Nach Anschauung der Trades-Unions müssen die Arbeiter Hand anlegen bei der Regelung der Arbeitszeit und der Lohnhöhe, ohne irgend welche Hilfe vom Parlament zu erwarten. Die Erfahrung hat die Unhaltbarkeit dieses Prinzips dargethan; und ist nicht in der That bei dem gegenwärtigen Wirthschaftssystem der Arbeitgeber absoluter Herr auf dem ökonomischen wie auf dem politischen Gebiet? Innerhalb der Trades-Unions macht sich also eine starke Strömung geltend für Fixirung der Arbeitszeit durch das Gesetz. Noch im Laufe dieses Jahres werden die Trades-Unionisten ihre Stimme für oder wider ein Gesetz, das den Arbeitstag auf 8 Stunden festsetzt, abzugeben haben. Ihre Häupter widersetzen sich freilich jeder von der socialistischen Idee hervorgerufenen Entscheidung; aber im Gegensatz zu der allgemeinen Auffassung gewinnt die socialistische Idee immer mehr und mehr Boden. Für diese ist der Trades-Unionismus seinem Ende nahe, und es gibt Besseres zu thun. Sie erkennt indessen an, daß er sich kräftig erhalten würde, wenn er sich entschlösse, socialistisch und politisch zu werden; wenn nicht, so wird er bald nichts weiter sein, als eine simple Hilfsgenossenschaft. Gewiß haben die Trades-Unions einige gute Dienste geleistet. Sie werden der Verbindungsstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft gewesen sein, aber es kommen bestimmte Zeitpunkte, wo die besten Einrichtungen nothwendigerweise eine Umgestaltung erfahren müssen. Das ist eine Lebensfrage für sie. Wir wiederholen also, wenn die Trades-Unions den Schritt zum Socialismus nicht thun, so sprechen sie sich selbst ihr Urtheil.

Trotz alledem, was sie in England versucht haben, bei dem schauderhasten Elend werden die „Paupers“ (hülflos Verarmten), jetzt eine Million zählend, in einigen Jahren auf mehrere Millionen angewachsen sein, wenn man nicht endlich erwacht und sich aufrafft. Von sieben gestorbenen Personen zählt man eine, die in der gemeinsamen Grube beerdigt wird. Und „Großbritannien ist das reichste Land der Welt“, sagt man!

50 Seit einigen Jahren leiden die Arbeiter viel durch die Concurrenz fremder Arbeiter, welche nach England gekommen sind und nun dazu beitragen, die Lohnsätze herabzudrücken. So wurden sonst die Eisenwerksarbeiter der Grafschaft Ayrshire mit 17 Schilling (17 Mk. 34 Pfg.) wöchentlich bezahlt. Jetzt auf einmal stellt der Eigenthümer durch Vermittelung des russischen Consuls in Glasgow Polen an, die er nur mit 12 Schillingen wöchentlich bezahlt. Natürlich setzte er den Lohn der übrigen Arbeiter aus denselben Betrag herab, indem er die Widerstrebenden bedrohte, sie durch weitere Polen zu ersetzen, die sofort zu kommen bereit seien. Ein ähnlicher Vorgang ereignete sich im Verlauf des letzten Streiks der Matrosen vor einigen Wochen. Die Eigenthümer ersetzten die Ausständigen durch so zu sagen überall aufgelesene Matrosen; die Ausständigen mußten sich unterwerfen.

Nur internationale Verständigungen der Arbeiter untereinander werden im Stande sein, den Kampf gegen diese Maßregel aufzunehmen, zu der die Kapitalisten immer mehr und mehr ihre Zuflucht nehmen. Daraus ergibt sich die Folge, daß, während die Kapitalisten Fremde herbeirufen, die englischen Arbeiter in großer Zahl arbeitslos sind. So wurden vor 18 Monaten anderthalb Millionen Arbeitslose auf das Pflaster geworfen und trotz eines entschiedenen Aufschwungs der Geschäfte, waren die englischen Arbeiter zu Hundertausenden arbeitslos. Der Normalarbeitstag von 8 Stunden würde den segensreichen Erfolg haben, aller Welt Arbeit zu schaffen. Wenn man dagegen dies nicht erreicht, so wird die Regierung in einigen Jahren, wenn dieser Periode einer verhältnißmäßigen Prosperität eine Periode der Krisis folgt, vor der Alternative stehen, 1,500,000 Arbeiter, die sammt ihren Weibern und Kindern vor Hunger sterben, zu füsiliren oder ihnen Arbeit zu schaffen. Das wirksamste Mittel, diesen Uebelstand zu heilen, besteht darin, gesetzlich einen Arbeitstag von 8 Stunden anzuordnen. In keinem Lande des Continents ist die Ueberarbeit größer und die unterwerthige Bezahlung niedriger als in Großbritanien.

Die Sachlage erheischt aber gebieterisch Abhilfe. Aber wir Engländer sind eben eine nordische, praktische und kaltblütige Nation! Wir erwarten den Fortschritt von etwas Greifbarerem und Vernünstigerem als bloße Worte es sind oder eine blutige Revolution, die, wenn sie morgen begonnen würde, kaum etwas Gutes herbeiführen könnte.

Die Vorlegung eines Gesetzes zu Gunsten des Achtstundentages würde mehr als alle Revolutionen bewirken, das heißt, sie würde selbst eine solche sein, und zwar die allerwirksamste. Cunninghame Graham, Mitglied des Parlaments, hat sich in dem Streit um diese Frage ganz besonders ausgezeichnet. Sein Erfolg ist so groß gewesen, daß Politiker und sogar Indifferente ihm gefolgt sind. Die Frage des Achtstundentages wird zu den stehenden Gegenständen der Diskussion auf der Tagesordnung der praktischen Politik hinzukommen, und der internationale Congreß wird nicht vorübergehen, ohne eine ernste Anregung zu einer Bewegung in diesem Sinne gegeben zu haben. Wir begrüßen brüderlich alle unsere Genossen, die aus allen Ländern herbeigekommen sind, welcher so oder so gefärbten Richtung sie angehören mögen! (Anhaltender Beifall.)

Seitens des Bürgers Kitz, eines englischen Delegirten, wird gegen die Aeußerung des Vorredners mit Bezug auf die „Revolution“ protestirt und versichert, daß es in England Leute gibt, welche an die nahe bevorstehende Revolution glauben.

Der dänische Delegirte Petersen hält in Bezug auf die von Keir Hardie vorgebrachten Thatsachen für nützlich, daran zu erinnern, daß dänische Seeleute, die dazu verführt worden waren, den englischen Ausständigen Concurrenz zu machen, ihre Verträge lösten, sowie sie durch die Syndicats-Kammer von Kopenhagen den Zweck erfahren hatten, zu dem sie angeworben worden waren.

Der Congress erkennt diesen Akt der Solidarität durch lebhafte Beifallsbezeugungen lobend an. –

* * *

51 Nach Erledigung dieses Zwischenfalls nimmt die Bürgerin Jankovska unter allgemeinen Beifallsrufen das Wort:

Ich will Euch weniger einen Bericht als eine einfache Erklärung im Auftrag des socialistischen Arbeitercomités von Warschau unterbreiten.

Ich könnte mich zum Echo der Klagen machen, welche unseren Proletariern das elende Loos entlockt, das ihnen bereitet wird; ich könnte die schmerzlichen Gefühle schildern, welche jede wahrhaft menschlich empfindende Seele beschleichen bei dem Anblick so großen Elends; ich ziehe vor, darauf zu verzichten, um Euch nicht die so kostbare Zeit zu rauben.

Ist außerdem dieses Elend nicht das Loos der Arbeiter aller Länder, die unter dem unerbittlichen Verhängniß des ehernen Lohngesetzes schmachten?

Ich erinnere nur daran, daß für uns Polen noch ein weiterer Umstand hinzukommt, welcher dieses allen gemeinsame Elend noch vergrößert, das ist das politische Joch eines Despotismus ohne Gleichen, das ist das Feudaljoch, unter dem wir so lange geseufzt haben, daß noch heute die Väter ihren Kindern von den Martern und Beschimpfungen erzählen können, deren Opfer sie selbst gewesen sind.

Wenn es ein Land gibt, das so recht eigentlich den Namen eines Jammerthales verdient, so ist es unser Polen.

Dieses Elend ist noch zur gegenwärtigen Stunde so groß, daß wir Angesichts der Resolutionen, die Ihr zu fassen im Begriffe seid in Gestalt von Forderungen, die ich friedfertige nenne, Euch nur auf dem Gebiet der Theorie folgen können.

Da wir weder Redefreiheit noch Vereinigungsrecht haben, wohl aber dagegen Arbeitseinstellungen und Arbeitervereine verboten sind, stellt unser Volk der Arbeit keine solchen Kämpferlegionen wie die Arbeiter der anderen Länder. Wir sind zu einer wesentlich anderen Art der Action genöthigt, die ganz und gar verschieden ist von Eueren großen, in voller Oeffentlichkeit wirkenden Organisationen, die zu großen Hoffnungen für die Zukunft berechtigen, wie Euere Arbeitersyndikate – gewerkschaftliche Organisationen – es sind.

Aber die Schwierigkeiten lassen uns nicht darauf verzichten; wir sind weit entfernt davon! Wir bereiten uns für die Zeit vor, wo wir den Kreis unserer Propaganda werden erweitern können; wir arbeiten aus eine umfangreiche Arbeiterpropaganda hin, welche nicht nur die Forderungen in’s Auge fassen wird, die unsere Freunde im Abendland bereits durchgesetzt haben, sondern auch die Wünsche, welche auf der Tagesordnung dieses Congresses stehen.

Wird unsere Bemühungen der Erfolg krönen? Die bereits erreichten Resultate sind eine Ermuthigung für uns. Vor zehn Jahren wußte man unter den polnischen Arbeitern kaum, was ein Streik war. Der Kampf zwischen Unternehmern und Arbeitern brach aus in Gestalt von Tumulten, gewaltthätigen Protesten, den Ausdrücken eines unüberlegten Zornes. Heute haben die Arbeiter von Warschau ihre Streiks, aus denen sie als Sieger hervorgehen. Selbst die Niederlage lähmt ihre Thatkraft nicht.

Die unzufriedenen Fabrikarbeiter suchen die Socialisten auf und unterrichten sich bei ihnen über die Mittel des Kampfes; wenn die Schlacht beginnt, eilen die Arbeitergenossen den Kämpfern zu Hilfe und unterhalten sie mit ihrem Geld. Ein neuerlicher Streik entfachte eine solche Begeisterung, daß die Streikenden von einer Menge von Arbeitern umringt und gleich Helden gefeiert wurden. Man führte sie in ein Miethshaus, ließ sie speisen und die Arbeiter nahmen es als ein Ehrenamt in Anspruch, sie zu bedienen. Diese Thatsachen sind charakteristisch. Diese Gefühle der Brüderlichkeit und Solidarität, von denen sie Zeugniß ablegen, werden nicht ermangeln, ihre Früchte zu tragen.

Da die Zeit mir nicht erlaubt hat, einen vollständigen Ueberblick der polnischen Bewegung vorzubereiten, begnüge ich mich festzustellen, daß Polen, wenn es auch noch keine Organisation hat, die mit den Eueren rivalisiren kann, im Geiste einträchtig mit allen den hier Vereinigten, dieselbe Straße marschirt; dabei stütze ich mich einerseits aus die erzielten Resultate und 52 andererseits aus den gänzlichen moralischen Bankrott unserer Bourgeois- und nationalen Parteien.

Wenn wir so spät dazugekommen sind, uns in die socialistische Armee einzureihen, so haben wir es doch nichts destoweniger glücklich erreicht, eine um so solidere revolutionäre Armee zu bilden. Wenn wir dagegen nur eine wenig zahlreiche Armee zusammenbringen können, werdet Ihr uns doch überall und stets an Eurer Seite finden, wo und wann immer für die Sache des arbeitenden Volkes gekämpft wird; und wir werden glücklich sein, alles zu thun, was in unseren Kräften steht, um den Sieg des europäischen Proletariats herbeizuführen; und wir sind versichert, daß die siegreichen Legionen des Westens nicht säumen werden, die Ketten ihrer slavischen Brüder zu brechen, die, wenn dies möglich ist, noch mehr leiden, wie jene selbst.

Indem wir die Solidarität bestätigen, welche das Proletariat des Abendlandes vereinigt, wollen wir zu gleicher Zeit ganz besonders die Solidarität bestätigen, welche uns mit unseren Genossen, den russischen und den deutschen Socialisten, unseren natürlichen und nächsten Verbündeten, vereinigt. (Lebhafte, anhaltende Beifallsrufe.)

Die Sitzung wird auf anderthalb Stunden vertagt.

* * *

Anmerkung des Herausgebers

1. Von dem Fluch: by Jingo (sprich: bei dschingoh), Kreuzsapperment! den die englischen Chauvinisten besonders gern im Mund führen. Der Chauvinist heißt in England Jingoist (sprich: Dschingoist).

 

 


Zuletzt aktualisiert am 26. Dezember 2022