Leo Trotzki

 

Verratene Revolution

X. Die UdSSR im Spiegel der neuen Verfassung

Arbeit „nach den Fähigkeiten“ und Privateigentum

Am 11. Juni 1936 billigte das Zentralexekutivkomitee den Entwurf der neuen Sowjetverfassung, die nach einem täglich von der gesamten Presse wiederholten Ausspruch Stalins die „demokratischste auf der Welt“ sein soll. Freilich, die Art. wie diese Verfassung ausgearbeitet wurde, erweckt Zweifel. Weder in der Presse noch in Versammlungen war von der großen Reform die Rede. Indes, bereits am 1. Mai 1936 erklärte Stalin dem amerikanischen Interviewer Roy Howard: „Wir werden unsere neue Verfassung wohl Ende dieses Jahres annehmen“. Somit wusste Stalin ganz genau, wann die Verfassung, von der das Volk in dem Augenblick noch gar nichts wusste, angenommen werden sollte. Man kann nicht umhin zu schließen, dass die „demokratischste Verfassung auf der Welt“ in nicht ganz demokratischer Weise ausgearbeitet und in Kraft gesetzt wurde. Allerdings wurde der Entwurf den Völkern der UdSSR im Juni zur „Erörterung“ unterbreitet. Man würde jedoch auf diesem Sechstel der Erdoberfläche vergeblich einen Kommunisten suchen, der es gewagt hätte, das höchsteigene Werk des Zentralkomitees zu kritisieren, oder einen Parteilosen der den Vorschlag der Regierungspartei abgelehnt hätte. Die Erörterung ist nichts anderes als das Senden von Dankresolutionen an Stalin für das „glückliche Leben“. Inhalt und Stil dieser Begrüßungsschreiben hatten unter der alten Verfassung Zeit gefunden, feste Gestalt anzunehmen.

Der erste Abschnitt, betitelt „Gesellschaftsstruktur“, endet mit den Worten: „In der UdSSR verwirklicht sich der Grundsatz des Sozialismus: jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“. Diese innerlich bestand-, um nicht zu sagen sinnlose Formel, die – so unwahrscheinlich es auch klingen mag – aus den Reden und Artikeln in den reiflich durchdachten Text eines grundlegenden Staatsgesetzes einging, offenbart nicht allein, wie tief das theoretische Niveau der Gesetzgeber gesunken ist, sondern auch, wie stark Lüge die neue Verfassung, den Spiegel der herrschenden Schicht, durchdringt. Wie das neue „Prinzip“ entstand, ist nicht schwer zu erraten. Um die kommunistische Gesellschaft zu umschreiben, bediente sich Marx der berühmten Formel: „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen“. Die beiden Teile dieser Formel sind voneinander nicht zu trennen. „jeder nach seinen Fähigkeiten“, kommunistisch und nicht kapitalistisch verstanden, heißt: die Arbeit hat aufgehört, eine Fron zu sein, und ist nunmehr individuelles Bedürfnis, die Gesellschaft entbehrt jeglichen Zwangs, nur Kranke und Anormale können das Arbeiten verweigern. Die Mitglieder der Kommune werden „nach ihren Fähigkeiten“ d.h. nach Maßgabe ihrer körperlichen und geistigen Kräfte arbeiten, ohne sich im geringsten Gewalt anzutun, und dank hoher Technik die Speicher der Gesellschaft so füllen, dass diese jedermann „nach seinen Bedürfnissen“ ohne demütigende Kontrolle versorgen kann. Die doppelgliedrige. aber unteilbare Formel des Kommunismus setzt also Überfluss, Gleichheit, allseitige Entfaltung und hohe kulturelle Disziplin der Persönlichkeit voraus.

Der Sowjetstaat steht in all diesen Beziehungen dem rückständigen Kapitalismus viel näher als dem Kommunismus. Er darf noch nicht einmal daran denken, allen „nach ihren Bedürfnissen“ zu geben. Aber eben deshalb kann er seinen Bürgern auch nicht gestatten, „nach ihren Fähigkeiten“ zu arbeiten. Er sieht sich gezwungen, das Akkordlohnsystem intakt zu lassen, dessen Prinzip sich folgendermaßen ausdrücken lässt: „Aus jedem möglichst viel herauspressen und ihm dafür möglichst wenig geben“. Versteht sich, in der UdSSR arbeitet niemand über seine „Fähigkeiten“ im absoluten Sinne des Wortes, d.h. über sein körperliches und geistiges Vermögen hinaus, aber das ist auch unter dem Kapitalismus nicht des Fall: die viehischsten wie die raffiniertesten Ausbeutungsmethoden bleiben in den von der Natur gesteckten Grenzen. Auch ein Maulesel plagt sich unter der Peitsche seines Treibers „nach seinen Fähigkeiten“, woraus nicht folgt, dass die Peitsche für den Maulesel ein sozialistisches Prinzip ist. Die Lohnarbeit hört auch unter dem Sowjetregime nicht auf, das erniedrigende Brandmal der Sklaverei zu tragen. Die Bezahlung „nach der Leistung“ – in Wirklichkeit Bezahlung zum Vorteil der „geistigen“ auf Kosten der körperlichen, insbesondere der nichtqualifizierten Arbeit – ist eine Quelle von Ungerechtigkeit, Unterdrückung und Zwang für die Mehrheit, von Privilegien und „frohem Leben“ für die Minderheit.

Statt offen zuzugeben, dass in der UdSSR noch die bürgerlichen Arbeits- und Verteilungsnormen vorherrschen, schnitten die Verfassungsurheber das integrale kommunistische Prinzip entzwei, vertagten die zweite Hälfte auf unbekannte Zukunft, erklärten die erste für bereits verwirklicht, verquickten sie mechanisch mit dem kapitalistischen Akkordlohnsystem, nannten das Ganze ein „Prinzip des Sozialismus“ und errichteten auf diesem Betrug das Verfassungsgebäude!

Die größte praktische Bedeutung wird in der Sphäre der Wirtschaft zweifellos der Artikel 10 erlangen, der zum Unterschied von den meisten anderen ziemlich klar ist und das persönliche Eigentum der Bürger an Haushalts-, Gebrauchs- und Komfortgegenständen gegen Anschläge von Seiten der Bürokratie selbst schützen soll. Vom „Haushalt“ abgesehen. wird derartiges Eigentum, befreit von der ihm anhaftenden Mentalität der Habgier und des Neides, unter dem Kommunismus nicht nur weiterbestehen, sondern sich ungeahnt entfalten, Es sei allerdings gestattet, daran zu zweifeln, ob der Mensch von hoher Kultur sich mit dem Plunder des Luxus wird abgeben wollen. Aber auf die Errungenschaften des Komforts wird er keineswegs verzichten. Allen alle Annehmlichkeiten des Lebens sichern, das eben ist die erste Aufgabe des Kommunismus. In der Sowjetunion jedoch präsentiert sich die Frage des persönlichen Eigentums bisher noch nicht unter dem kommunistischen, sondern kleinbürgerlichen Aspekt. Das persönliche Eigentum der Bauern und un„edlen“ Städter bildet ein Objekt empörender Willkür seitens der Bürokratie, die sich in ihren unteren Gliedern oft gerade auf diese Art und Weise ihren eigenen relativen Komfort verschafft. Das Wachsen des Wohlstands im Lande gestattet heute, von der Beschlagnahme persönlichen Eigentums Abstand zu nehmen, und ist sogar ein Anlass, seine Anhäufung als Anreiz zur Erhöhung der Arbeitsproduktivität zu schützen. Zugleich aber – und das ist nicht unwichtig – mit Kate, Kuh und Hausrat des Bauern, Arbeiters und Angestellten schützt das Gesetz auch Villa, Landhaus, Auto und alle sonstigen „persönlichen Gebrauchs- und Komfortgegenstände“ des Bürokraten, die er auf Grund des sozialistischen Prinzips „jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung“ erworben hat. Dem Automobil des Bürokraten wird das neue Grundgesetz jedenfalls mehr Schutz angedeihen lassen als der Karre des Bauern.

 

 

Sowjets und Demokratie

Auf politischem Gebiet unterscheidet sich die neue Verfassung von der alten durch die Rückkehr vom Sowjetwahlsystem nach Klassen- und Produktionsgruppen zum System der bürgerlichen Demokratie. das auf dem sogenannten „allgemeinen, gleichen und direkten“ Stimmrecht der atomisierten Bevölkerung fußt. Es handelt sich kurz gesagt um die rechtliche Liquidierung der Diktatur des Proletariats. Wo keine Kapitalisten, gibt es auch kein Proletariat, erklären die Schöpfer der neuen Verfassung, folglich wird der Staat selbst aus einem proletarischen zu einem Volksstaat. Dieser äußerlich so verlockende Gedanke kommt entweder neunzehn Jahre zu spät oder viele Jahre zu früh. Nach Enteignung der Kapitalisten begann das Proletariat tatsächlich, sich als Klasse zu liquidieren. Aber von der Liquidierung im Prinzip bis zum tatsächlichen Aufgehen in der Gesellschaft ist der Weg um so weiter, je länger der neue Staat die grobe Vorarbeit des Kapitalismus noch nachholen muss. Das Sowjetproletariat existiert immer noch als eine von der Bauernschaft, der technischen Intelligenz und der Bürokratie zutiefst unterschiedene, ja selbst als einzige restlos am Sieg des Sozialismus interessierte Klasse. Indes, die neue Verfassung will es politisch in der „Nation“ auflösen, lange bevor es sich ökonomisch in der Gesellschaft aufgelöst hat.

Zwar haben die Reformatoren nach einigem Schwanken beschlossen, es bei der Benennung Sowjetstaat zu belassen. Doch das ist nur ein plumper politischer Schwindel, der denselben Erwägungen gehorcht, auf Grund derer sich Napoleons Kaiserreich weiter Republik nannte. Sowjets sind ihrem eigentlichen Wesen gemäß Organe eines Klassenstaats und können nichts anderes sein. Demokratisch gewählte Organe der lokalen Selbstverwaltung sind Gemeindevertretungen, Dumas, Semstwos, alles was man will, nur keine Sowjets. Eine gesamtstaatliche gesetzgebende Körperschaft nach demokratischem Muster ist ein spätgeborenes Parlament (richtiger die Karikatur eines Parlaments) aber keinesfalls höchstes Sowjetorgan. Mit ihrer Bemühung, sich mit der historischen Autorität des Sowjetsystems zu decken, haben die Reformatoren nur bewiesen, dass die grundsätzlich neue Richtung. die sie dem Staatswesen aufprägen, noch nicht unter ihrem eigenen Namen aufzutreten wagt.

An sich braucht die Angleichung der politischen Rechte von Arbeitern und Bauern die soziale Natur des Staats nicht anzutasten, wenn nur der Einfluss des Proletariats auf die Dorfbevölkerung durch den allgemeinen Stand von Wirtschaft und Kultur hinreichend gesichert ist. Das ist ohne Zweifel die Richtung, In der die Entwicklung des Sozialismus gehen muss. Wenn aber das Proletariat, das eine Minderheit des Volkes verbleibt, keiner politischen Vorrechte mehr bedarf, um den sozialistischer Kurs des gesellschaftlichen Lebens zu sichern, dann wird auch staatlicher Zwang überflüssig, und an seine Stelle tritt kulturelle Disziplin. Einer Aufhebung des ungleichen Wahlrechts müsste in diesem Fall eine deutliche und augenfällige Schwächung der Zwangsfunktionen des Staates vorangehen. Allein, davon ist weder in der neuen Verfassung noch – was wichtiger ist – im Leben die Rede.

Allerdings „garantiert“ die neue Charta den Bürgern Wort-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrations„freiheit“. Doch diese Garantien sind ebensoviel Maulkörbe, Hand- und Fußschellen. Die Pressefreiheit bedeutet Beibehaltung einer wütenden Vorzensur, deren Fäden im Sekretariat des von niemandem gewählten Zentralkomitees zusammenlaufen, Die Freiheit der byzantinischen Lobpreisungen ist natürlich voll und ganz „garantiert“. Dafür bleiben unzählige Artikel, Reden und Briefe Lenins, abschließend mit seinem „Testament“, auch unter der neuen Verfassung unter Verschluss, einzig weil darin die heutigen Führer gegen den Strich gekämmt werden. Was soll man da erst von anderen Autoren sagen? Das flegelhafte Kommando über Wissenschaft, Literatur und Kunst bleibt vollkommen erhalten. „Versammlungsfreiheit“ wird auch weiterhin für gewisse Bevölkerungsgruppen gleichbedeutend sein mit der Pflicht, auf den von den Machthabern einberufenen Versammlungen zu erscheinen, um vorher festgelegte Beschlüsse zu fassen. Unter der neuen Verfassung werden ebenso wie unter der alten Hunderte von ausländischen Kommunisten, die sich dem Sowjet-„Asylrecht, anvertrauten, für Verstöße gegen das Dogma der Unfehlbarkeit in Gefängnissen und Konzentrationslagern schmachten. In bezug auf die „Freiheiten“ bleibt alles beim alten; die Sowjetpresse versucht gar nicht erst, darüber Illusionen zu erwecken, Im Gegenteil, als Hauptziel der Verfassungsreform wird eine „weitere Festigung der Diktatur“ bezeichnet. Diktatur wessen und über wen?

Wie wir bereits hörten, soll der Boden für politische Gleichheit durch die Aufhebung der Klassengegensätze vorbereitet worden sein. Es handle sich nicht um eine Klassen-. sondern „Volks“diktatur. Wenn aber das von Klassengegensätzen befreite Volk Diktaturträger wird, so kann das nichts anderes bedeuten als Auflösung der Diktatur in der sozialistischen Gesellschaft, und vor allen Dingen Liquidierung der Bürokratie. So lehrt es die marxistische Doktrin. Vielleicht irrte sie sich? Aber die Verfassungsurheber berufen sich ja selbst, wenn auch recht vorsichtig, auf das von Lenin geschriebene Parteiprogramm. Dort steht in der Tat: „der Entzug der politischen Rechte, sowie Freiheitsbeschränkungen gleich welcher Art sind notwendig ausschließlich als vorübergehende Maßnahmen ... In dem Masse, wie die objektive Möglichkeit der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen schwindet, wird auch die Notwendigkeit dieser vorübergehenden Maßnahmen schwinden ...“. Der Verzicht auf den „Entzug der politischen Rechte“ ist also unlösbar mit der Aufhebung der „Freiheitsbeschränkungen gleich welcher Art“ verknüpft. Der Anbruch der sozialistischen Gesellschaft ist nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass die Bauern den Arbeitern gleich werden, und einige Prozent Bürger bourgeoiser Herkunft die politischen Rechte zurückerhalten, sondern vor allen Dingen dadurch, dass sämtliche hundert Prozent der Bevölkerung wirkliche Freiheit genießen. Mit der Aufhebung der Klassen stirbt nicht nur die Bürokratie, nicht nur die Diktatur, sondern auch der Staat selbst ab. Aber soll nur irgendwer einmal probieren, darüber ein Sterbenswörtchen fallen zu lassen: die GPU wird in der neuen Verfassung Anhalt genug finden, um den Unbesonnenen in eines der zahlreichen Konzentrationslager zu befördern. Die Klassen sind vernichtet, von den Sowjets ist nur noch der Name übrig, aber die Bürokratie bleibt. Die Gleichberechtigung von Arbeitern und Bauern bedeutet faktisch gleiche Rechtlosigkeit vor der Bürokratie.

Nicht weniger bedeutsam ist die Einführung der geheimen Abstimmung. Nimmt man für wahr an, dass die politische Gleichheit einer erreichten sozialen Gleichheit entspricht, so wird rätselhaft, warum in dem Fall die Abstimmung von nun an geheim sein soll. Wen fürchtet denn die Bevölkerung des sozialistischen Landes, und gegen wessen Angriffe gilt es sie zu schützen? Die alte Sowjetverfassung sah in der offenen Stimmabgabe wie in der Wahlrechtsbeschränkung eine Waffe der revolutionären Klasse gegen die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Feinde. Es ist nicht anzunehmen, dass die Geheimwahl heute der Konterrevolution zu Gefallen eingeführt wird. Es handelt sich anscheinend darum, die Rechte des Volkes zu schützen. Wen also fürchtet das sozialistische Volk, das vor gar nicht so langer Zeit Zaren, Adlige und Bourgeoisie davonjagte? Die Sykophanten denken darüber gar nicht erst nach. Dabei ist diese eine Frage vielsagender als alle Schriften der Barbusse, Louis Fischer, Duranty, Webb und ihresgleichen.

In der kapitalistischen Gesellschaft soll die Geheimwahl die Ausgebeuteten vor dem Terror der Ausbeuter schützen. Wenn die Bourgeoisie sich schließlich auf diese Reform einließ – natürlich unter dem Druck der Massen – so nur, weil sie selbst daran interessiert war, ihren Staat wenigstens zum Teil vor der Demoralisierung zu bewahren, die sie selbst gestiftet hatte. In der sozialistischen Gesellschaft aber kann es, sollte man meinen, keinen Ausbeuterterror geben. Vor wem brauchen dann die Sowjetbürger Schutz? Die Antwort ist klar: vor der Bürokratie. Stalin gab es ziemlich offen zu. Auf die Frage: wozu Geheimwahlen?, antwortete er wörtlich: „Nun, weil wir den Sowjetmenschen die volle Freiheit geben wollen, für die zu stimmen, die sie wählen möchten“. So erfuhr die Menschheit aus berufenem Munde, dass die „Sowjetmenschen“ heute noch nicht für die stimmen können, die sie wählen möchten, Es wäre jedoch voreilig, hieraus zu schließen, dass die Verfassung ihnen morgen diese Gelegenheit schenken wird, Doch hier beschäftigt uns eine andere Seite der Frage. Wer sind eigentlich diese „wir“, die dem Volk Stimmfreiheit schenken oder auch nicht schenken können? Es ist immer die gleiche Bürokratie. in deren Namen Stalin redet und handelt. Seine enthüllenden Worte gelten für die herrschende Partei ebenso wie für den Staat, denn das Amt des Generalsekretärs hat Stalin inne vermittels desselben Systems, das den Mitgliedern der herrschenden Partei nicht gestattet. die zu wählen, die sie wählen möchten. Die Worte: „Wir wollen den Sowjetmenschen“ Stimmfreiheit geben, sind unermesslich bedeutsamer als die alte und die neue Verfassung zusammen genommen, denn dieser unvorsichtige Satz ist die wahre Verfassung der UdSSR, wie sie sich nämlich nicht auf dem Papier, sondern im Kampf der lebendigen Kräfte gebildet hat.

 

 

Demokratie und Partei

Das Versprechen, den Sowjetmenschen Freiheit zu geben, „für die, die sie wählen möchten“. zu stimmen, ist eher eine schöne Metapher als eine politische Formulierung. Die Sowjetmenschen werden das Recht haben, ihre „Vertreter“ nur unter den Kandidaten zu wählen, die ihnen unter der Flagge der Partei von den zentralen oder lokalen Führern zugewiesen werden. Zwar hatte die bolschewistische Partei auch in der ersten Periode der Sowjetära eine Monopolstellung inne. Jedoch, diese beiden Erscheinungen gleichsetzen, hieße den Schein für das Wesen nehmen. Das Verbot der Oppositionsparteien war eine vorübergehende Maßnahme, diktiert durch Bürgerkrieg, Blockade, Intervention und Hunger. Die herrschende Partei, damals noch die echte Organisation der proletarischen Vorhut, kannte ein reges inneres Leben: der Kampf der Gruppen und Fraktionen ersetzte zu einem gewissen Grade den der Parteien, Heute, wo der Sozialismus angeblich „endgültig und unwiderruflich“ gesiegt hat, wird Fraktionsbildung mit Konzentrationslager, wenn nicht Erschießung bestraft. Das Verbot der anderen Parteien ist aus einem vorübergehenden Übel zum Prinzip erhoben, Sogar dem Komsomol wurde just im Augenblick, als die Verfassung veröffentlicht wurde, das Recht genommen, sich mit politischen Fragen zu befassen, Allein, das Wahlrecht besitzen Bürger und Bürgerinnen vom 18. Lebensjahr an, die Altersgrenze für die Jungkommunisten, die bis 1936 23 Jahre betrug, ist heute ganz abgeschafft. Die Politik ist auf immerdar zum Monopol der unkontrollierten Bürokratie erklärt worden.

Auf die Frage des amerikanischen Interviewers, welche Rolle der Partei in der neuen Verfassung zufalle, antwortete Stalin: „Sobald es keine Klassen gibt, sobald die Grenzen zwischen den Klassen sich verwischen („keine Klassen gibt“, „die Grenzen zwischen den – nicht vorhandenen! – Klassen sich verwischen ...“ – L.T.), sobald nur ein geringer, aber grundverschiedener Unterschied zwischen den verschiedenen Schichten der sozialistischen Gesellschaft bleibt, kann es keinen Nährboden für die Bildung einander bekämpfender Parteien geben. Wo es nicht mehrere Klassen gibt, kann es auch nicht mehrere Parteien geben, denn die Partei ist ein Teil der Klasse“. Jedes Wort ein Fehler, zuweilen gar zwei! Als wären die Klassen gleichförmig, die Grenzen zwischen ihnen scharf und auf ewig umrissen, als entspräche das Bewusstsein einer Klasse genau seiner Stellung in der Gesellschaft, Die marxistische Lehre von der Klassennatur der Parteien ist hier in ihre Karikatur verkehrt. Die Dynamik des politischen Bewusstseins wird Interessen administrativer Ordnung zuliebe aus dem Geschichtsprozess ausgeschaltet. In Wirklichkeit sind die Klassen verschiedenförmig, von inneren Gegensätzen zerrissen; ihre gemeinsamen Aufgaben vermögen sie nicht anders als durch inneren Kampf der Richtungen, Gruppierungen und Parteien zu lösen. Man kann mit gewissen Vorbehalten beipflichten, dass „die Partei ein Teil der Klasse“ ist. Aber da eine Klasse viele „Teile“ hat – die einen schauen vorwärts, die anderen rückwärts – kann ein und dieselbe Klasse mehrere Parteien erzeugen. Aus demselben Grunde kann eine einzige Partei sich auf Teile verschiedener Klassen stützen. Ein Beispiel, wo einer Klasse nur eine Partei entspräche, ist in der gesamten politischen Geschichte nicht zu finden, vorausgesetzt natürlich, dass man nicht den polizeilichen Anschein für die Wirklichkeit nimmt.

Seiner sozialen Struktur nach ist das Proletariat die am wenigsten ungleichförmige Klasse der kapitalistischen Gesellschaft. Nichtsdestoweniger genügt schon das Vorhandensein von „Schichtungen“ wie der Arbeiteraristokratie und der Arbeiterbürokratie, um opportunistische Parteien zu schaffen, die durch den Lauf der Dinge zu Werkzeugen der bürgerlichen Herrschaft werden. Ob vom Standpunkt der stalinschen Soziologie der Unterschied zwischen Arbeiteraristokratie und proletarischer Masse ein „grundverschiedener“ oder nur ein „gewisser“ ist, bleibt gleichgültig: doch gerade aus diesem Unterschied erwuchs seinerzeit die Notwendigkeit, mit der Sozialdemokratie zu brechen und die Dritte Internationale zu gründen. Gibt es in der Sowjetgesellschaft „keine Klassen“, so ist sie auf jeden Fall viel ungleichförmiger und komplexer als das Proletariat der kapitalistischen Länder, und kann infolgedessen Nährboden genug für mehrere Parteien abgeben. Unvorsichtigerweise das Gebiet der Theorie betretend, beweist Stalin viel mehr als er wollte. Aus seinen Darlegungen ergibt sich nicht, dass es in der UdSSR keine verschiedenen, sondern dass es überhaupt keine Parteien geben darf: denn wo keine Klassen, ist auch für Politik kein Platz. Jedoch, von diesem Gesetz macht Stalin eine „soziologische“ Ausnahme zugunsten der Partei, deren Generalsekretär er ist.

Bucharin versucht, an die Frage von einer anderen Seite heranzugehen. In der Sowjetunion stehe die Frage, ob zurück zum Kapitalismus oder vorwärts zum Sozialismus, nicht mehr zur Diskussion: darum können „in Parteien organisierte Anhänger der liquidierten feindlichen Klassen nicht zugelassen werden“. Gar nicht davon zu reden, dass im Lande des siegreichen Sozialismus Anhänger des Kapitalismus als lächerliche Don Quichottes erscheinen müssten, unfähig, eine Partei zu gründen, erschöpfen sich die vorhandenen politischen Streitfragen keineswegs mit der Alternative: zum Sozialismus oder zum Kapitalismus? Da sind auch Fragen wie diese: wie zum Sozialismus kommen? in welchem Tempo? u.a.m. Die Wahl des Weges ist nicht minder wichtig als die Wahl des Ziels. Wer wird den Weg wählen? Und wäre der Nährboden für politische Parteien wirklich verschwunden, so erübrigte es sich, sie zu verbieten. Im Gegenteil, dann gilt es laut Programm, alle „Freiheitsbeschränkungen gleich welcher Art“ zu beseitigen.

Um die natürlichen Zweifel seines amerikanischen Gesprächspartners zu zerstreuen, stellte Stalin eine neue Überlegung an: „Kandidatenlisten werden bei den Wahlen nicht nur die Kommunistische Partei, sondern auch alle möglichen parteilosen Organisationen ... einreichen. Solche Organisationen aber gibt es bei uns Hunderte... Jede dieser Schichten [der Sowjetgesellschaft] kann ihre speziellen Interessen haben und sie durch die vorhandenen zahlreichen gesellschaftlichen Organisationen zum Ausdruck bringen“. Dieser Sophismus ist nicht besser als die anderen. Die „gesellschaftlichen“ Organisationen – Gewerkschaften, Genossenschaften, kulturelle Vereinigungen usw. – vertreten keineswegs die Interessen der verschiedenen „Schichten“, haben sie doch alle ein und dieselbe hierarchische Struktur: selbst in den Fällen, wo sie scheinbar Massenorganisationen sind, wie bei den Gewerkschaften und Genossenschaften, spielen darin ausschließlich Vertreter der privilegierten Spitzen eine aktive Rolle, und das letzte Wort gehört der „Partei“ d.h. der Bürokratie. Die Verfassung schickt den Wähler einfach von Pontius zu Pilatus.

Diese Mechanik kommt im Text des Grundgesetzes deutlich zum Ausdruck. Artikel 126, der die Achse der Verfassung als politisches System bildet, soll allen Bürgern und Bürgerinnen „das Recht sichern“, sich in Gewerkschaften, Genossenschaften. Jugend-, Sport- und Wehrvereinigungen, kulturellen, technischen und wissenschaftlichen Organisationen zu organisieren. Was die Partei betrifft, d.h. den Mittelpunkt der Macht, so handelt es sich hier nicht um ein Recht für alle, sondern um ein Privileg für eine Minderheit. „...Die aktivsten und bewusstesten [d.h. als solche von oben anerkannten – L.T.] Bürger aus den Reihen der Arbeiterklasse und anderen werktätigen Schichten vereinigen sich in der kommunistischen Partei..., die ... den führenden Kern sämtlicher Organisationen ..., sowohl der gesellschaftlichen als der staatlichen darstellt“. Diese in ihrer Offenheit verblüffende Formulierung, die in den eigentlichen Verfassungstext einging, enthüllt die ganze Fiktion von der politischen Rolle der „gesellschaftlichen Organisationen“, dieser Unterfilialen der bürokratischen Firma.

Wenn aber kein Kampf der Parteien, dann werden vielleicht die verschiedenen Fraktionen innerhalb der einzigen Partei bei den demokratischen Wahlen in Erscheinung treten können? Auf die Frage des französischen Journalisten, die Gruppierungen der herrschenden Partei betreffend, antwortete Molotow: „In der Partei ... wurden Versuche unternommen, besondere Fraktionen zu bilden. ... Es sind aber nun schon einige Jahre her, dass sich die Situation in dieser Beziehung grundlegend geändert hat, und die kommunistische Partei in der Tat einheitlich ist“. Das beweisen am besten die ununterbrochenen Säuberungen und die Konzentrationslager! Nach Molotows Kommentar ist die Mechanik der Demokratie ein für allemal klar. „Was bleibt übrig von der Oktoberrevolution“, fragt Victor Serge, „wenn jeder Arbeiter, der es wagt, eine Forderung zu stellen oder ein kritisches Urteil abzugeben, mit Gefängnis bestraft wird? Ah, dann kann man gut irgendwelche geheimen Abstimmungen einführen!“ In der Tat, die Geheimwahl hat selbst Hitler nicht angetastet.

Die theoretischen Gedankengänge der Reformatoren über das Wechselverhältnis von Klasse und Partei sind an den Haaren herbeigezogen. Nicht um Soziologie geht es, sondern um materielle Interessen. Die herrschende Partei der UdSSR ist eine politische Maschine, deren Monopol der Bürokratie gehört, die wohl etwas zu verlieren, aber nichts mehr zu gewinnen hat. Den „Nährboden“ will sie für sich allein behalten.

In einem Lande, wo die Lava der Revolution noch nicht erkaltet ist, brennen den Privilegierten die eigenen Privilegien auf den Fingern, wie einem Anfängerdieb die gestohlene goldene Uhr. Die herrschende Sowjetschicht hat gelernt, vor den Massen eine rein bürgerliche Angst zu empfinden, Stalin gibt mit Hilfe der Komintern den wachsenden Privilegien die „theoretische“ Rechtfertigung und schützt die Sowjetaristokratie vor den Unzufriedenen mit Hilfe der Konzentrationslager. Damit diese Mechanik intakt bleibe, muss Stalin sich von Zeit zu Zeit auf die Seite des „Volks“ gegen die Bürokratie stellen, natürlich mit deren stillschweigendem Einverständnis. Zur Geheimwahl ist er zu greifen gezwungen, um wenigstens teilweise den Staatsapparat von der um sich fressenden Korruption zu säubern.

Bereits 1928 schrieb Rakowski anlässlich einiger an die Öffentlichkeit gelangter Fälle des bürokratischen Gangstertums: „Charakteristisch und zugleich besonders gefährlich an der steigenden Flut von Skandalen ist gerade das passive Verhalten der Massen – der kommunistischen mehr noch als der parteilosen ... Aus Furcht vor den Machthabern oder einfach aus politischer Gleichgültigkeit sind sie ohne Protest darüber hinweggegangen oder haben sich bloß auf Murren beschränkt“. In den seither verflossenen acht Jahren hat sich die Lage maßlos verschlimmert. Die Verfaulung des Apparats, die auf Schritt und Tritt zum Vorschein kommt, bedroht sogar die Existenz des Staates, schon nicht mehr als Werkzeug zur sozialistischen Umgestaltung der Gesellschaft, sondern als Macht-, Einkommens- und Privilegienquelle der herrschenden Schicht. Stalin musste dies Motiv der Reform verbergen. „Es gibt bei uns sind nicht wenig Institutionen“, sagte er zu Howard, „die schlecht arbeiten ... Die ... geheimen Wahlen in der UdSSR werden in den Händen der Bevölkerung eine Geißel gegen schlecht arbeitende Machtorgane sein“. Ein bemerkenswertes Bekenntnis: nachdem die Bürokratie mit eigener Hand die sozialistische Gesellschaft geschaffen, verspürt sie ein Bedürfnis nach der Geißel! Das ist eins der Motive für die Verfassungsreform. Es gibt noch ein anderes, nicht minder wichtiges.

Mit der Abschaffung der Sowjets löst die Verfassung die Arbeiter in der allgemeinen Bevölkerungsmasse auf, Politisch haben die Sowjets ihre Bedeutung freilich schon längst verloren. Aber mit dem Wachsen der neuen sozialen Gegensätze und dem Erwachen der neuen Generation könnten sie wiederaufleben. Am meisten sind natürlich die Stadtsowjets zu fürchten, mit dem wachsenden Anteil, den die jungen und anspruchsvollen Komsomolzen daran nehmen. In den Städten springt der Kontrast von Luxus und Elend allzu sehr in die Augen. Die erste Sorge der Sowjetaristokratie lautet daher: weg mit den Arbeiter- und Rotarmistensowjets. Mit der Unzufriedenheit des amorphen flachen Landes ist viel leichter fertig zu werden. Die Kolchosbauern kann man sogar mit Erfolg gegen die städtischen Arbeiter ausspielen. Die bürokratische Reaktion stützt sich nicht zum erstenmal auf das Dorf gegen die Stadt.

Was die neue Verfassung an Prinzipiellem und Bedeutendem enthält, was sie tatsächlich hoch über die demokratischsten Verfassungen der bürgerlichen Länder emporhebt, ist nur ein verwässerter Aufguss der grundlegenden Dokumente der Oktoberrevolution. Was auf die Einschätzung der wirtschaftlichen Errungenschaften Bezug hat, verzerrt die Wirklichkeit durch falsche Perspektiven und Eigenlob. Schließlich ist alles, was Freiheiten und Demokratie angeht, ganz und gar vom Geiste der Usurpation und des Zynismus durchtränkt.

Die neue Verfassung, die einen enormen Schritt zurück von den sozialistischen zu bürgerlichen Grundsätzen darstellt und der herrschenden Schicht auf Maß zugeschnitten ist, bleibt in jener historischen Linie, deren Etappen lauten: Verzicht auf die Weltrevolution zugunsten des Völkerbunds, Wiederherstellung der kleinbürgerlichen Familie, Ersetzung der Miliz durch die kasernierte Armee, Wiedereinführung von Titeln und Orden, wachsende Ungleichheit. Während die neue Verfassung juristisch den Absolutismus der Bürokratie befestigt, schafft sie die politischen Voraussetzungen für die Wiedergeburt einer neuen besitzenden Klasse.

 


Zuletzt aktualisiert am 5.1.2004