Jakob Stern

Der Zukunftsstaat


Thesen 9 – 13


Neunte These.
Der Sozialismus beschränkt nicht die persönliche Freiheit, sondern vermehrt sie in jeder Hinsicht.

Bei den nebelhaften Vorstellungen, welche sich die Meisten vom Sozialismus machen, glauben sie auch, er sei nicht denkbar, ohne daß die Menschen á la Sparta in eine staatliche Zwangsjacke gesteckt werden. Als eine „große Kaserne“ oder „ein großes Zuchthaus“ denkt man sich die sozialistische Gesellschaft, weshalb besonders der Liberalismus sich vor ihm bekreuzigt.

Aus dem in den vorstehenden Thesen Ausgeführten ist aber leicht ersichtlich, daß im sozialistischen Gemeinwesen die unbeschränkte Freiheit des Konsums herrschen wird. Es könnte also nur ein Zwang in der Berufswahl in Frage kommen, d.h. man könnte annehmen, es müsse sich jedermann gefallen lassen, diejenigen Arbeiten zu verrichten, die ihm von Gesellschaftswegen zudiktiert werden. Denn, sagt man, wer wird die schwierigen, mühevollen und unangenehmen Arbeiten verrichten wollen, wenn absolute Freiheit der Beschäftigung herrscht? Wer wird in der sozialistischen Gesellschaft Stiefel wichsen? ist eine viel belachte Eugen Richter’sche Frage.

Hierauf ist mehreres zu antworten. Erstens: Je mehr die Maschine in der Produktion verwertet wird, desto mehr verringert sich die qualitative Verschiedenheit der einzelnen Arbeiten. Den mühevollen und widerwärtigen Teil der Arbeit verrichtet die Maschine; der Mensch hat dabei nichts zu tun, als die Maschine zu dirigieren und zu bedienen. Alle mit gewissen Arbeiten verbundenen sanitären und ästhetischen Unannehmlichkeiten lassen sich mit Hülfe der modernen Technik sehr leicht bewältigen und beseitigen. Wenn das in der bürgerlichen Gesellschaft teils nicht, teils ungenügend geschieht, so hat das seinen Grund in Ersparnisrücksichten der Privatproduzenten resp. des Staates und der Kommunen, welche natürlich in der sozialistischen Gesellschaft wegfallen. Wenn ferner heutzutage noch zahlreiche Arbeitsprozesse durch Menschenhände verrichtet werden, während sie ebensogut maschinell ausgeführt werden könnten, so hat das gleichfalls in Ersparnisrücksichten seinen Grund, indem die menschliche Arbeit infolge großen Angebots vielfach so niederträchtig billig geworden ist, daß sie solche Arbeiten noch wohlfeiler verrichtet, als es mit Maschinen geschehen kann. Aber schon heutzutage sind durch die Maschine zahlreiche Arbeiten, die ehedem zu den mühseligen und widerwärtigen gehörten, erheblich erleichtert und minder unangenehm gemacht worden. Die landwirtschaftlichen Arbeiten zählten früher zu den härtesten. Heutzutage ackert und drischt der „lateinische Bauer“ mit dem Dampfpflug und der Dreschmaschine und im Stall des Kleinbauern sogar funktioniert die leicht zu handhabende Futterschneidmaschine. Gibt es eine widerwärtigere Arbeit als die Latrinenreinigung? Heutzutage geschieht sie an größeren Plätzen auf mechanischem Wege, die Maschine dehnt das berühmte non olet [1] auf die Arbeit selbst aus, und wo dies nur mangelhaft der Fall ist, da ist eben auch wieder die von Ersparnisrücksichten der Unternehmer herrührende Unvollkommenheit des Apparats schuld. In der sozialistischen Gesellschaft wird, wie Bebel sagt, „die großartigste Anwendung motorischer Kräfte und der vollkommensten Maschinen und Werkzeuge, verbunden mit detailliertester Arbeitsteilung, die Produktion auf eine solche Höhe bringen“, daß nicht bloß die zur Erzeugung des Gesamtbedarfs nötige Arbeit immer mehr eingeschränkt werden kann, sondern daß auch die Unterschiede zwischen schweren und leichten, angenehmen und unangenehmen Arbeiten mehr und mehr verwischt werden. Durch die Maschinentätigkeit schrumpft, wie gesagt, die qualitative Verschiedenheit der menschlichen Arbeit mehr und mehr zusammen, und zwar nicht bloß in bezug auf Leichtigkeit und Schwierigkeit, Annehmlichkeit und Unannehmlichkeit der Ausübung, sondern auch hinsichtlich der Erwerbung der Fertigkeiten, und deshalb wird in der sozialistischen Gesellschaft der Uebergang von einer Tätigkeit zu einer anderen leicht geschehen können.

„Wer wird im sozialistischen Staat Steine klopfen?“ wird häufig gefragt. Antwort: Im sozialistischen Staat wird der Mensch überhaupt keine Steine klopfen, sondern die Maschine wird das besorgen, wie schon heute vielfach. Den Traum des Aristoteles, daß die Sklaverei abgeschafft werden könnte, wenn die Weberschiffchen von selbst laufen würden, hat die moderne Technik bereits in großem Maßstab verwirklicht.

So weit aber noch ein qualitativer Unterschied der menschlichen Arbeit vorhanden ist, läßt sich etwaigem Widerwillen leicht dadurch begegnen, daß ein Wechsel der Personen eintritt, die Einzelnen also nur zeitweise solche Arbeiten zu verrichten hätten.

Zweitens ist die Abneigung gegen gewisse Arbeiten leicht zu überwinden durch Prämien, welche denen gewährt werden, die sich diesen Arbeiten unterziehen. Prämien irgend welcher Art werden von der Gesellschaft allzeit gewährt werden können, auch wenn für die Ansprüche des Bedürfnisses wie des Luxus von Gesellschaftswegen für jedermann reichlich gesorgt ist.

Drittens könnte die Arbeitszeit unangenehmer Arbeiten höher bewertet werden als gewöhnliche Arbeiten.

Viertens aber und hauptsächlich: glaubt man denn, die Menschen, – von der Einsicht erfüllt, daß die Arbeit notwendig, zum Besten der Gesamtheit und also auch zum Besten der eigenen Person geschehen muß, würden nicht sehr leicht sich miteinander verständigen, wie sie sich in die verschiedenen Arbeiten teilen resp. wie sie einander in den mühevollen Arbeiten ablösen? Wo die Arbeit nicht wie heute nur um kargen Lohn geschieht, wo vielmehr der Mensch von dem Bewußtsein durchdrungen ist, daß er die Früchte seiner Tätigkeit voll und ganz auch selbst genießt; wo die Arbeit nicht im Uebermaß auferlegt ist und der physischen Kraft nicht zu viel zugemutet wird; wo die reichlichsten Lebensmittel vorhanden sind zur Regeneration (Wiederherstellung) der Körperkräfte; wo die Arbeitsräume gute Luft und Licht genug haben und in jeder Hinsicht wünschenswert eingerichtet und ausgestattet sind – da unterzieht der Mensch sich gern der nötigen Kollektivarbeit, ohne allzu ängstlich zu erwägen, ob sein Part (der ihn treffende Teil) vielleicht ein wenig mühsamer ist als ein anderer. Gibt es ja heutzutage schon genug Beispiele hiervon; es sei da nur an die freiwilligen Feuerwehren erinnert, wobei es sich nicht bloß um mühsame Arbeiten, sondern auch um lebensgefährliche Positionen handelt.

Es war besonders die klerikale „Germania“, welche kurz nach Eröffnung des „geistigen Kampfs gegen die Sozialdemokratie“ mit dem Dilemma (Entweder Oder) von der Freiheit der Berufswahl und den schwierigen Arbeiten aufmarschierte. Eben von der „Germania“ und ihren Kreisen sollte das Vorstehende um so weniger verkannt werden, als die Geschichte der Kirche und der Klöster genug Beispiele außerordentlicher Selbstverleugnung kennt, zu welchen die Hoffnung auf die Seligkeiten im Jenseits angespornt hat. Wenn schon ein imaginäres (eingebildetes) Glück die Menschen bewegen kann, ihr Leben lang wirklichem oder vermeintlichem. Gemeinwohl die größten Opfer zu bringen, um wie viel mehr werden die Menschen im sozialistischen Gemeinwesen die höchst geringfügigen Opfer zu bringen bereit sein, welche die Kollektivarbeit – deren großer Segen für alle Gesellschaftsglieder jedermann mit den Augen sehen und mit den Händen greifen kann – etwa noch erheischen sollte; wobei auch noch die Erziehung (welche ganz andere Ergebnisse liefern muß als die gegenwärtige) in Anschlag gebracht werden darf.

Nicht minder hinfällig ist die Angst vor einer Bureaukratie. Eine solche hängt immer mit gewissen Vorteilen zusammen, welche die amtliche Stellung gewährt, mögen dieselben in Geld oder in sonstigen Vorteilen bestehen. Wo aber jedermann jeden Komfort haben kann, und wo jeder sich der weitgehendsten Freiheit erfreut, wie sollte da von einer Bureaukratie die Rede sein können? In der sozialistischen Gesellschaft ist jeder sozusagen Staatsbeamter, und die an öffentlichen Etablissements, z.B. Magazinen Angestellten genießen weder mehr Ansehen noch mehr Vorteile als irgend ein Privatmensch, noch haben sie anderen etwas zu befehlen. Auch haben sie durchaus kein Interesse an willkürlichen Abweichungen vom geraden Weg. Uebrigens wird ja jede Arbeit im öffentlichen Dienst genügend kontrolliert werden und zwar in letzter Instanz durch die Gesellschaft selbst.

Wie nur der Liberalismus dem Sozialismus Beschränkung der Freiheit vorwerfen mag, während doch klar am Tage liegt, daß die Freiheit, die der Liberalismus auf sein Banner schreibt, durch die Kapitalherrschaft illusorisch gemacht wird, und zwar nicht bloß bei den Lohnsklaven und dem Proletariat überhaupt, sondern selbst bei den großkapitalistischen Industriellen. Denn wie die Arbeiter sklavisch abhängig sind von ihren Arbeitgebern, so diese von ihren Kunden und Konkurrenten, die Beamten von ihren Vorgesetzten, die Männer von den Weibern und die Weiber von den Männern. Kein größerer Zwang, keine schlimmere Knechtschaft, als die der Existenz-, der Erwerbsverhältnisse, welche gleich dem Kraken der Fabel die Menschen mit ihren Saugarmen umklammern und der Freiheit das Herzblut aussaugen. Die kapitalistischen Zustände haben eine Sklaverei aller unter allen erzeugt und das große Lügennetz gewoben, in dessen Maschen fast alle Welt mehr oder weniger, bewußt oder unbewußt verstrickt ist. Und wie man von der Freiheit der Berufswahl reden mag in der bestehenden Gesellschaft, wo dieselbe doch so sehr bedingt ist in den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern! Wie viele müssen einen Beruf ergreifen, für den sie weder Talent noch Neigung haben, während sie in einem anderen sich ausgezeichnet hätten! Die einzige volle Freiheit, die der bürgerliche Liberalismus den Massen gewährt, ist die Freiheit des Verhungerns. Für sich selbst aber wollen die Liberalen jene Freiheit, für welche der Wüstling Don Juan in der Arie der Mozart’schen Oper schwärmt.

Weil wir die Freiheit wollen, die echte, und zwar für alle, wollen wir die soziale Gleichheit, die sie allein verwirklichen kann.

Daß übrigens in der sozialistischen Gesellschaft geeignete Vorkehrungen gegen verbrecherische Ausschreitungen getroffen werden, und bessere und gerechtere als dies im kapitalistischen Klassenstaat überhaupt möglich, ist gewiß. Freilich werden zahlreiche, ja die meisten Kategorien von Verbrechen gar nicht vorkommen können, weil entweder der Anreiz dazu fehlt oder doch die allgemeine höhere Gesittung und Bildung die Individuen gegen diesen Anreiz widerstandsfähiger macht. Sind ja ohnehin die meisten Verbrechen direkt oder indirekt Eigentumsverbrechen.


Zehnte These.
Der Sozialismus stumpft den Sporn der Tätigkeit nicht ab und lähmt nicht den Erfindungsgeist, sondern schärft jenen und belebt diesen im höchsten Grade.

Nächst dem Dogma von der Kargheit der Natur und der Unmöglichkeit, den höchsten Komfort zu verallgemeinern, und dem von der Beschränkung der Freiheit, ist das von der Abstumpfung der Tätigkeit und Lähmung des Erfindungsgeistes der landläufigste gegen den Sozialismus ins Feld geführte Einwand. Geschieht dies von Kommerzienräten, Staatsanwälten, Universitätsprofessoren und dergleichen, so ist es nicht befremdend, aber auch tiefere Denker wie E. v. Hartmann, (dessen starke Seite soziale Probleme freilich nicht sind,) akzeptierte dieses psychologische Dogma und verwebte es mit seinem aus rationellen und mystischen Fäden gesponnenen philosophischen System. Hartmann ist nicht blind gegen die Schäden der wirtschaftlichen Konkurrenz; in seiner Phänomenologie des sittlichen Bewußtseins äußert er sich darüber wie folgt:

„Die Opfer, welche die wirtschaftliche Konkurrenz auferlegt, sind nicht minder schrecklich als die des Krieges und noch dazu viel verbreiteter und allgemeiner als jene. Wie viel Arbeitskraft wird nicht vergeudet in dem Kampf zweier konkurrierender Kaufleute um die Gunst des Publikums, wie viel Not geduldig getragen von ihren Familien, in der Hoffnung, durch Ausdauer den Konkurrenten ‚tot zu machen‘! Wie viel unnützen Schweiß kostet den meisten Menschen das Rennen und Jagen allein nach dem Platz, aus dem sie ihre Arbeit verwerten können, wie viel erworbene Geschicklichkeit, wie viel Lernzeit geht fruchtlos verloren durch die Versuche, den gewählten Arbeitszweig mit einem besser lohnenden, d.h. minder durch Konkurrenz gedrückten, zu vertauschen! Wie viel Elend und Hunger und Krankheit und Groll und Erbitterung beschwört nicht jener unbarmherzige Kampf ums Dasein zwischen Arbeitern und Kapitalisten herauf, dessen Schlachten die Streiks der Arbeiter und Massenentlassungen bilden! Wie grenzenlos sind die Leiden eines Volkes, das durch einen wirtschaftlich überlegenen Konkurrenten ausgesaugt wird, ohne auf die eine oder die andere Art die Umklammerung seiner Blutsauger abschütteln zu können, – wie häufig waren Kriege für ein wirtschaftlich vorgeschrittenes Volk nur die Mittel zur Herstellung eines Zustandes (durch Zollverträge oder Eroberungen), um einem wirtschaftlich zurückgebliebenen Volk ungestört das Lebensblut aussaugen zu können! Und endlich als unausbleibliche, letzte, aber vielleicht schlimmste Folge der Konkurrenz das Wechselspiel von forcierter Ueberproduktion und notgedrungener Unterproduktion, von Schwindelperioden und darauf folgenden Krisen, von Zeiten der künstlichen Verteuerung der Produkte für die Konsumenten und Zeiten der Lähmung ihrer Krisen und deren Folgen! – Wenn man all diesen Jammer und dieses Elend, die aus der wirtschaftlichen Konkurrenz entspringen, mit einem Blick überschaut, so liegt der sozialdemokratische Gedanke in der Tat sehr nahe, daß die Wurzel aller dieser Uebel, die Konkurrenz, beseitigt werden müsse. Aber – nun kommt der hinkende Bote – dieser Schluß ist eben so voreilig als der von den Uebeln des Krieges auf Beseitigung des Krieges (sic!); denn so unwidersprechlich der Schluß aus eudämonistischem [2] Gesichtspunkt ist, so unhaltbar ist er aus evolutionistischem [3], wo die Konkurrenz als das unentbehrliche Schwungrad des wirtschaftlichen Fortschritts, der Vervollkommnung der Technik und des wirtschaftlichen Betriebes, der Steigerung der Arbeitsteilung und vor allem als mächtigste Triebe der für die potenzierteste Ansammlung des Fleißes und der Intelligenz, d.h. also als Hebel der intensivsten Ausnutzung der Leistungsfähigkeit erscheint ... Darum hat der Liberalismus zwar Unrecht, wenn er das grenzenlose Elend, das aus der Konkurrenz folgt, abzuleugnen oder zu beschönigen versucht, aber völlig recht, wenn er die Konkurrenz als den schlechthin unentbehrlichsten Hebel alles Fortschritts verteidigt“.

Hartmann ist ein Jünger Schopenhauers, der sämtliche Uebel des Daseins auf die Not und die Langeweile zurückführt.

„Wollen und Streben macht das ganze Wesen des Menschen aus, einem unlöschbaren Durste zu vergleichen. Die Basis alles Wollens ist Bedürftigkeit, Mangel, Not. Fehlt es dem Menschen hingegen an Objekten des Wollens, so befällt ihn furchtbare Leere und Langeweile ... Die Langeweile ist nichts weniger als ein gering zu achtendes Uebel. Sie malt zuletzt wahre Verzweiflung auf das Gesicht. Sie macht, daß Wesen, welche einander so wenig lieben wie die Menschen, doch so sehr einander suchen, und wird dadurch die Quelle der Geselligkeit. Auch werden überall gegen sie, wie gegen allgemeine Kalamitäten, öffentliche Vorkehrungen getroffen, schon aus Staatsklugheit, weil dieses Uebel so gut als sein entgegengesetztes Extrem, die Hungersnot, die Menschen zu den größten Zügellosigkeiten treiben kann. Panem et circenses (Brot und Zirkusspiele) braucht das Volk. Wie die Not die beständige Geißel des Volkes ist, so die Langeweile die der vornehmen Welt.“

– Dazu bemerkt A. Lindner:

„Nicht allein Hunger und Liebe, wie Schiller sagt, ist es, was die Getriebe dieser Welt bildet; als ein dritter Faktor kommt noch die Langeweile hinzu. Leere des Schädels ist gleich unerträglich wie Leere des Magens und des Herzens und sie treibt den Menschen zu dem Lächerlichsten, Widersinnigsten, Absurdesten. Von ihr gestachelt, verläßt er die Behäbigkeit des Daseins und stürzt sich in Gefahren, nur um denselben glücklich zu entgehen. Er sucht den Spieltisch, das Theater, den Salon, die Rennbahn, er hängt sich an Menschen, die er nicht leiden kann, und zieht die spröde Kokette, die ihn durch allerlei Künste auf der Schaukel der Ungewißheit erhält, der zuvorkommenden Schönen vor, die ihm die Langeweile nur auf Augenblicke zu vertreiben imstande ist; ja er sieht sich zuletzt genötigt, die Arbeit aufzusuchen, um bei ihr Schutz gegen die Qualen der Langeweile zu finden. So besucht der Millionär noch immer die Börse und der reiche Kavalier tritt in den Staatsdienst oder in die Armee, um nicht vor Langeweile zu sterben. Fürwahr, die Langeweile ist eine größere Kalamität als der Hunger, der Geist des Menschen ist unersättlicher als sein Magen. Die Bedürfnisse des Magens sind durch drei Mahlzeiten des Tages befriedigt; der Geist ist nicht so genügsam, er will immer Mahlzeit halten, er ist unersättlich. Ein Augenblick verdaut, was der vorhergehende brachte; immer wieder klafft die geistige Leere, neue Nahrung heischend. Die Langeweile usw.“

– Ich will abbrechen, damit nicht der Leser von ihr befallen wird. Doch sei noch ein konservativer Autor angeführt, A. Horwicz, der in seinen vor mehreren Jahren erschienenen Moralischen Briefen unter anderem schrieb:

„Keine größere Torheit gibt es, als immerfort genießen zu wollen. Das ist unmöglich, ist gegen das Naturgesetz. Menschliche Nerven sind dazu nicht fähig. Ihr Aermsten, die ihr euch des Lebens leichteste Kunst, die Kunst des Genießens, so lächerlich schwer macht, daß ihr euch z.B. mühselig von Salon zu Salon hetzt, mit täglichen Soupers und Diners euch vollstopfet und verfettet usw. usw. Eure blasierten, abgestumpften, gelangweilten Philistergesichter predigen deutlicher als irgend etwas die alte, einfache Lehre, daß der Mensch die Summe seines Genießens nicht willkürlich ins Ungemessene zu steigern vermag. Das Leben genießen! Ja doch, immerhin macht es zu eurer Losung, nur bleibt dabei der Gesetze der menschlichen Natur eingedeut und erkennet, daß der beste, dauerndste Genuß, das kostbarste Gewürz aller Genüsse die redliche, rechtschaffene Arbeit ist, wie nach aller Kuchen- und Delikatessenschleckerei Brot und Fleisch die gesundeste Nahrung bleibt. Die Arbeit erst befähigt zum Genießen, nicht nur, indem sie die Genußmittel schafft, sondern mehr noch dadurch, daß sie den Körper genußfähiger macht, daß sie das Gemüt erfrischt und ihm Spannkraft verleiht, sowie endlich dadurch, daß sie durch die Weite des Kontrasts dem Genießen erst gleichsam freie Bahn schafft, wie das Pendel emporgehoben werden muß, um schwingen zu können.“

Alle Organe und Fähigkeiten, die wir besitzen, wollen sich betätigen und die Befriedigung dieses Bedürfnisses ist eine der Bedingungen des Glückes.

Weil der Arbeiter die Arbeit als Last empfindet, bei welcher er unmenschlich lange Zeit bei einer mechanischen, monotonen (eintönigen), reizlosen Beschäftigung in dunstigen Räumen sich abrackern muß für Hungerlöhne, weil der Kanzleibeamte lieber schwänzt, als sich den ganzen Tag mit Dingen abgibt, die weder für den Geist noch das Gemüt irgend etwas Anziehendes haben, weil Menschen mit Widerwillen einem Beruf obliegen, wozu sie ohne Neigung und Talent gepreßt wurden, weil überhaupt im Klassenstaat das Leben der meisten Menschen in Tätigkeiten aufgeht, die an sich ganz und gar reizlos sind und nur durch die Aussicht auf Gewinn einen Reiz erhalten – darum glaubt man, daß der Mensch überhaupt lieber faulenzt als arbeitet? Zeigt denn aber nicht ein auch nur oberflächlicher Blick auf alle Alter und Stände, daß die Aktionslust, der mächtige Trieb zur Kraftentfaltung, zur Tätigkeit, zum Wirken und Schaffen, dem gesunden Menschen eingepflanzt ist, und daß dem körperlich und geistig normalen Menschen nichts unerträglicher ist als die Untätigkeit, daß er nur deshalb dem Müßiggang fröhnt und allerlei Dummheiten, Abgeschmacktheiten, schlechte Streiche verübt, die ihm oft selbst teuer zu stehen kommen, weil er keine Gelegenheit hat, sich auf eine seiner Natur zusagende Weise angenehm zu beschäftigen! Gebt ihm doch Gelegenheit zu nützlicher Tätigkeit, welche zugleich Reiz für ihn hat, und sehet zu, ob er nicht davon angezogen und gefesselt wird und mit Lust und Liebe sie betreibt. Was ist denn der Zerstörungstrieb der Kinder anders, als Tätigkeitstrieb, der sich darum zerstörend äußert, weil er noch nicht schöpferisch sein kann. Millionenfach offenbart sich im Menschenleben die Macht der Aktionslust, vom frühen Kindes- bis zum späten Greisenalter. Woher rührt denn die Leidenschaft für allerlei Sport, als aus dem mächtigen Trieb der Tätigkeit. Weshalb denn sonst unterziehen sich Menschen, die es durchaus nicht nötig haben, beschwerlichen und selbst gefahrvollen Tätigkeiten; Erscheinungen, welche das Leben und die Geschichte massenhaft aufweist. Diese Furcht vor dem Versinken der Menschen in Untätigkeit ohne die Fuchtel der Not erinnert an die humoristische Prophezeiung beim Aufkommen der Fahrräder und Automobile, die Menschen würden nun ihre Beine nicht mehr viel gebrauchen und nach und nach Dachsbeine bekommen.

Die Trägheit, sagt der Doktor Navarra in Zolas Travail, ist, wo sie wirklich vorhanden, d.h. wenn der Mensch jeder Anstrengung widerstrebt, eine Krankheit. In solchem Falle kann man sicher sein, daß die Schlaffheit das Anzeichen pathologischer Störungen ist.

Es scheint ein Ueberbleibsel des Erbsündendogmas zu sein, daß man der Menschennatur eher das Schlechte und Gemeine als das Bessere zutraut, und sich so schwer mit dem Gedanken befreundet, daß die menschlichen Laster nicht der menschlichen Natur immanent (fest eingepflanzt) sind, sondern aus den Verhältnissen, in denen er lebt und unter welchen er aufwuchs, seinem „Milieu“, begriffen werden müssen. Dabei gefallen sich viele in einer abfälligen Auffassung der Menschennatur, weil sie sich dabei in einem Gefühl der Ueberlegenheit an Verstand und Erfahrung wiegen können. In Wahrheit ist die Menschennatur von Haus aus lange nicht so verderbt, als Theologen und Moralisten sie verschreien. Der Mensch ist von Natur bloß unwissend und selbstsüchtig. Wie jedem Naturwesen ist auch ihm der Trieb zur Selbsterhaltung oder das Streben nach Wohlbefinden eingepflanzt. So lange er unwissend (und unerzogen) ist, gehorcht er den Augenblickseingebungen der Neigung und Leidenschaft, weil er die schlimmen Folgen nicht kennt oder in der Aufregung sie ignoriert; er greift nach dem Gift, in der Meinung, es wäre Balsam, oder weil es ihn unwiderstehlich reizt. Erleuchtet ihn mit dem Licht der Erkenntnis und setzet ihn durch eine gute Erziehung in den Stand, seine Leidenschaften zu zügeln, so wird er das Schlechte lassen und das Gute ergreifen, vorausgesetzt, daß ihm das Gute wirklich erreichbar ist, d.h. daß die Verhältnisse so beschaffen sind, daß das Gute mehr Anziehungskraft für ihn hat als das Schlimme, daß das moralisch Gute auch wirklich gut für ihn ist; denn andernfalls ist ihm das moralisch Gute nicht das Gute, sondern das moralisch Schlechte ist ihm alsdann das Gute.

In der kapitalistischen Gesellschaft, wo der Tätigkeitstrieb als Erwerbstrieb auftritt, hat derselbe ein Doppelgesicht, er ist teils gut, teils schlimm, er ist ein guter Genius und ein böser Dämon, und dieses fürwahr weit mehr als jenes. Aber er streift seine schlimme Seite ab in der sozialistischen Gesellschaft, in welcher das persönliche Wohl mit dem gesellschaftlichen Hand in Hand geht und in der ohnehin die Aktionslust, die „überschüssige Tatkraft“, durch die bessere Lebenshaltung der Massen außerordentlich gehoben sein wird.

Die Furcht vor dem Stillstand der Kultur in der sozialistischen Gesellschaft durch Fortfall des Erwerbstriebs ist die Furcht jenes Lahmen, der von Jugend an auf Krücken lief und geheilt werden sollte, aber meinte, er könne dann gar nicht mehr laufen, wenn er keine Krücken mehr hat. Er dachte nicht daran, daß er mit gesunden Beinen viel schneller und besser ohne Krücken laufen könne als vorher mit Krücken.

Die Meinung also, daß der Mensch die Peitsche der Not und Sorge spüren oder vom Konkurrenzkampf angestachelt werden müsse, um die Kultur vorwärts zu treiben, ist ein ungeheuerlicher Aberglaube.

Als solcher zeigt sie sich auch, wenn wir die Sache von einer anderen Seite betrachten. Die Not und der Konkurrenzkampf sollen die vortrefflichen evolutionistischen (entwickelungfördernden) Motive sein. Die brave Not! Der liebe Konkurrenzkampf! Und für die anti-evolutionistischen Wirkungen der beiden, d.h. für ihre den Kulturfortschritt hemmende und lähmende Wirkungen, seid ihr ganz blind, ihr Herren Philosophen? Wie viele Tausende von Talenten sind durch Not und Konkurrenzkampf im Keim erstickt und im Wachstum geknickt worden! Wie viele Tausende von Denkern, Erfindern, Entdeckern, Künstlern, Technikern usw. wären zweifellos der Menschheit erstanden, wenn nicht der ökonomische Kampf ums Dasein, Sorge, Not und Konkurrenzkampf, so viel Zeit und Kraft aufgezehrt hätten! Glaubt man denn, die Natur bringe so selten bedeutende Talente hervor, daß solche nur sporadisch (vereinzelt) vorkommen können, wie bisher? Freilich, die Herren Gelehrten, Dichter und Künstler usw., die oft mit einer um so größeren Dosis Eitelkeit begabt sind, je fragwürdiger ihre Bedeutung, bilden sich gern ein, sie seien aus besonderem Teig geknetet, wozu die Natur ein extrafeines Mehl, Kunstmehl Nr. 00, verwendet habe. In Wahrheit aber verhält es sich mit dem Ingenium der Menschen einer Kulturperiode ebenso wie mit ihrer Leiblichkeit und wie mit den Tieren und Pflanzen. Wohl ist ein qualitativer Unterschied vorhanden; aber so groß ist derselbe wahrhaftig nicht, wie sich die Herren einbilden. Vielmehr sind es eben wiederum wesentlich Erziehung und Lebensverhältnisse, welche den Ausschlag geben. Und wenn manche große Genies zeitlebens die Not zur Begleiterin hatten: wer beweist uns, daß sie durch die Not und nicht vielmehr trotz der Not geworden sind was sie wurden? Kennt nicht die Geschichte zahlreiche Genies ersten Ranges, die im Sonnenschein glücklicher Sorglosigkeit herangereift sind? Man darf sogar behaupten, daß bei den großen Genius, die mit der Not lange zu ringen hatten, auch ihr Genius schwere Wunden davontrug, wofür zahlreiche Beispiele vorhanden. Wahrlich, nicht ein wohltätiger Sporn sind Not und Konkurrenzkampf, sondern schlimme Geißeln.

Die Ansicht, als ob nur die Not große Männer züchte, ist ebenso absurd wie jene, daß nur die unglückliche Liebe eine erotische Lyrik hervorbringen könne.

Ein Knabe auf der rauhen Alb, vor dessen Haus eine Kammerz manches Jahr einige süße Trauben zeitigte, weinte, als die Familie an den Rhein zog, weil er meinte, da unten könnten keine Trauben reifen.

Wie im Frühling, wenn die Sonne ihre milden Strahlen herabgießt, allenthalben Myriaden Keime sprossen, Myriaden Blüten ihre Kelche erschließen und köstliche Früchte reifen, so werden, wenn auf den ökonomischen Winter der sozialistische Frühling folgt, tausende von theoretischen und praktischen Talenten aufkeimen und Kulturfrüchte zeitigen, wovon wir, die wir noch in der Kindesära der Kultur, resp. in der sozialen Barbarei leben, keine Vorstellung haben können. Dann werden sich die Träume der Poeten, Messianisten und Chiliasten von einem goldenen Zeitalter mehr und mehr verwirklichen, wie manche andere Phantasien der Früheren durch die moderne Technik ihre Erfüllung fanden.


Elfte These.
Der Sozialismus rechnet mit den Menschen wie sie sind, nicht wie sie sein sollten.

Wenn die Menschen Engel wären, dann könnte euer Staat recht sein! Diese geistreiche Bemerkung bekommt man ebenfalls oft zu hören.

Wenn man den Nerv dieses Raisonnements (Erwägung und Beurteilung) oder seine Pointe (Spitze, Kern) bloßlegt, so entpuppt sich dasselbe freilich als blanker Unsinn. Der ganze Sozialismus beruht ja eben auf der realistischen Auffassung der menschlichen Natur, er ist es ja eben, welcher mit den Menschen rechnet, wie sie sind. Wenn die Menschen Engel wären, ohne Bedürfnisse oder absolute Herren ihrer Neigungen und Leidenschaften, nicht habsüchtig, gerecht und human, so wären sie allesamt glücklich und gut auch im kapitalistischen Klassenstaat. Das Kapital würde die Arbeit nicht maßlos ausbeuten, die Wohlhabenden würden allem Mangel mit ihrem Ueberfluß freiwillig abhelfen, Arbeiterschutzgesetze würden vom Reichstag und Bundesrat so angenommen werden, wie sie die sozialdemokratische Fraktion gestalten will, wenn die Mitglieder dieser erlauchten Körperschaften aus lauter Engeln Gabriel, Raphael, Michael und wie sie sonst heißen, zusammengesetzt wären. Wir hätten alsdann längst den Achtstundentag und eine internationale Fabrikgesetzgebung. Wenn die Agrarier Engel wären, würden sie nicht so sehr auf hohe Getreidezölle versessen sein, und wenn die Kohlenbarone Engel wären, hätten sie längst die Forderungen der Bergarbeiter bewilligt. – Anderseits wären die schlesischen Weber, wenn sie Engel wären, glücklich, obgleich ihr Elend die äußerste Grenze des Möglichen längst erreicht hat; die Arbeiter könnten, wenn sie Engel wären, trotz Ueberarbeit bei geringen Löhnen sich und ihre Familienangehörigen wohl verpflegen, ihre Kinder vortrefflich ausbilden und erziehen, Kunst und Wissenschaft pflegen u. s. f. – Sokrates und Spinoza waren trotz ihrer Armut glückliche und moralische Menschen; aber der erstere lebte im antiken Athen unter ganz anderen Verhältnissen als wir und der letztere war nicht verheiratet und hatte keine Kinder und ist wirklich frühzeitig der Schwindsucht erlegen!

Eben weil die Menschen keine Engel sind, ist die sozialistische Organisation der Gesellschaft notwendig, wenn sie glücklich sein sollen. Die Philosophen, Moralisten, Poeten und Priester des Klassenstaates predigen den Menschen nun schon seit Jahrtausenden Friedfertigkeit, Gerechtigkeit, Liebe und andere schöne Dinge, während die Geschichte von Jahrtausenden und ganz besonders die Gegenwart auf Schritt und Tritt zeigen, daß der Liebe Mühe umsonst ist, daß alle religiöse, moralische und schöngeistige Bildung die Menschen nicht bessert, und daß sie, wenige Ausnahmen abgerechnet, heute noch dieselben hartgesottenen Egoisten sind wie vor Olims Zeiten und noch ebenso habsüchtig, machtgierig usw. Die Moral- und Liebespredigten wirken im allgemeinen nicht mehr alles die Predigt des heiligen Bernhard vor den Meeresungetümen (in der Legende und auf dem Böcklinschen Gemälde). Warum? Weil die Menschen im allgemeinen nicht anders werden können, wenn die Verhältnisse nicht anders werden; weil die Menschen ihre Natur nicht verändern, aber ihre Neigungen und Taten besser werden, wenn die Zustände sich so gestalten, daß zu schlechten Neigungen und Taten kein Anreiz und Anlaß vorhanden ist.

Wer ist es nun, der mit den Menschen rechnet, wie sie seine sollen und nicht sind: wir oder ihr? –

Die Argumente unserer Gegner schlagen sich gegenseitig tot wie die Geharnischten des Jason in der griechischen Sage. Auf der einen Seite macht man uns unseren „Materialismus“ [4] zum Vorwurf, weil wir den unabweisbaren materiellen Bedürfnissen Rechnung tragen – an denen wir doch gänzlich unschuldig sind, da nicht wir die Welt erschaffen haben – auf der andern Seite sagt man: ihr denket euch die Menschen, als ob sie Engel wären!


Zwölfte These.
Der Sozialismus kann nur im großen Stil verwirklicht werden.

Als ein Beweisgrund gegen die Zweckmäßigkeit der sozialistischen Organisation wird nicht selten der Zusammenbruch angeführt, den praktische sozialistische Versuche im kleinen, z.B. in Ikarien (von Etienne Cabet im vorigen Jahrhundert gegründet), erlitten haben.

Wer jedoch über die Momente, welche den „Sozialismus in der Nußschale“ von einer sozialistischen Gesellschaft im großen Stil unterscheiden, gehörig nachdenkt, der wird alsbald begreifen, daß ein vernünftiger Sozialismus im Kleinen undenkbar ist, daß nur in einer großen Gesellschaftsgruppe mit entsprechendem Terrain von ihm die Rede sein kann, weshalb ein Miniatur-Sozialismus so wenig als abschreckendes Beispiel vorgeführt, so wenig ein Bild von ihm geben kann, wie etwa ein Holzschnitt einen Begriff geben kann von einem Makart’schen Gemälde, dessen Bedeutung ja im Kolorit liegt. (Von den Mängeln der Organisation in jenen Versuchs-Gemeinwesen sei hier ganz abgesehen.)

Wenn die Sozialisierung allein genügen würde, alle menschlichen Bedarfsgüter hinlänglich zu beschaffen, so müßten Robinson und Freitag auf ihrer Insel miteinander das herrlichste Kulturleben herbeiführen können. Warum können sie das nicht? Weil die beiden allein für die nötige Produktion nicht Köpfe und Hände genug haben. Aber selbst da, wo eine große Menschenmenge sozialistisch organisiert wäre, könnte das Ziel, welches sich der Sozialismus steckt, nicht erreicht werden, wenn das von dieser Gesellschaftsgruppe okkupierte Terrain nicht sämtliche Rohstoffe lieferte, einschließlich der Erze und Kohlen, welche zur Produktion nötig sind. Was helfen noch so viele menschliche Arbeitskräfte, wenn es ihnen an Eisen und Kohlen fehlt zur Herstellung und zum Betrieb der Maschinen? Und die Maschinentätigkeit ist es doch, wie wir gesehen haben, hauptsächlich, welche dem sozialistischen Gemeinwesen ein so großes Uebergewicht über das kapitalistische verleiht, überhaupt den rationellen Sozialismus erst möglich macht! Genügende Arbeitskräfte und genügendes Terrain zur Gewinnung der Rohprodukte wären die Bedingungen des Gedeihens einer isolierten sozialistischen Gesellschaftsgruppe; eventuell müßte dieselbe einen entsprechenden Ueberschuß an Gütern produzieren können, durch deren Export sie diejenigen Güter, die der eigene Boden nicht liefern kann, von kapitalistischen Gesellschaftsgruppen eintauscht.

Wir sagen „wären“; in Wirklichkeit ist eine sozialdemokratische Gesellschaft auf die Dauer nur international denkbar, wenigstens im Sinne sämtlicher Kulturnationen.

Entwickeln, umbilden muß sich die bestehende Gesellschaft zur sozialistischen, aber nicht als ein Neugeschöpf kann diese entstehen und prosperieren, nicht als sozialer Homunkulus, wie jene nach der Fabel auf chemischem Wege künstlich erzeugten Menschen heißen.


Dreizehnte These.
Der Sozialismus nimmt Keinem, sondern gibt Jedem. – Die soziale Frage ist nicht eine bloße Klassenfrage, sondern auch eine Kulturfrage.

Die beiden Sätze dieser These sind bereits mit dem Vorstehenden hinlänglich begründet. Hier soll nur noch eine weitere Seite beleuchtet werden.

Zunächst eine Frage an die modernen Krösusse: Seid ihr tatsächlich glücklich? – Mögen eure Poeten und Philosophen antworten, die ja der Ausdruck der Zeitstimmung sind. Die Dichtung also: Wer nennt mir den Sänger, aus dessen Liedern jene innige Wohligkeit, jenes olympische Glücksgefühl, jene Kerngesundheit der Seele herausklingt und leuchtet, welche die Gesänge eines Goethe zu einem unerschöpflichen Heilbrunn und Stahlbad für die Gemüter machen? Geht nicht durch die ganze moderne Poesie ein pathologischer (krankhafter) Zug, zeigen die Wangen der heutigen Muse nicht hektische (schwindsuchtartige) Nöte statt der Farbe der Gesundheit und Frische, ist es nicht mehr Fieberhitze als echtes poetisches Feuer, was ihre Phantasien durchglüht, nervöse Erregung und hippokratische Reizungen weit mehr als sonniges Behagen, paradiesische Stimmung, was von ihren Leiern tönt?

Sind ferner nicht die Modephilosophen des Bürgertums jene philosophistischen Wortführer eines widrigen Pessimismus, der aschgrauen Ansicht, daß das Leben der Uebel größtes, daß der Nichtgeborene besser daran sei als wer ans User des Daseins geschwemmt wird, daß das Nirwana dem Sansara [5] vorzuziehen und das Leben „ein Geschäft sei, das nicht die Kosten deckt, auf daß unser Wille von ihm sich abwende“, wie Schopenhauer unwirsch poltert! – Kaum glaublich: im Zeitalter der Blitzzüge, der Schraubendampfer, des Telephons und überseeischen Kabels, in dem Zeitalter, welches durch Dampf und Elektrizität den oberen Zehntausend das Märchen vom Tischlein deck dich! beinahe zur Wahrheit macht, wird in den Salons und Boudoirs eine Weltanschauung heimisch, welche das Glück als Fabel, die Hoffnung auf eine schöne Zukunft des Menschengeschlechts als kindische Illusion heraklitisch beweint oder demokritisch verspottet. [6]

Zwar sind jene Philosopheme im Grunde nur der alte aufgewärmte mittelalterliche Kohl, daß die Erde ein Jammertal sei, der hier nur in einer neuen Sauce, einer philosophischen statt einer theologischen, serviert wird. Zwar ist es den oberen Zehntausend mit ihrem Pessimismus nicht so recht ernst, und wenn man auch theoretisch mit ihm kokettiert, in der Praxis wird der Wille zum Leben in vollem Umfang bejaht, so lange die Verdauungs- und erotischen Organe noch tüchtig funktionieren. Immerhin aber wäre auch theoretisch der Pessimismus als Zeitphilosophie undenkbar, wenn nicht eine Saite in der Seele der tonangebenden Kreise der Gegenwart auf ihn gestimmt wäre, wenn nicht die Glücksbilanz auch der oberen Zehntausend ein beträchtliches Defizit aufweisen würde.

Und in der Tat, der ökonomische Kampf ums Dasein hat in der Gegenwart eine solche Gestalt angenommen, daß mit dem vae victis (Wehe den Besiegten!) auf der einen Seite ein vae victoribus (Wehe den Siegern!) auf der anderen Hand in Hand geht. Die Kapitalisten selbst bekommen immer mehr die Dornen der kapitalistischen Rosen zu fühlen. Dort die Lohnsklaven, die bei übermäßig harter Arbeit Tantalusqualen leiden, indem sie die herrlichen Dinge, die sie selbst erzeugen, entbehren und in Sorge, Mangel und Not dahinschmachten. Hier dagegen der unstillbare Fieberdurst nach Profit, die tolle Hetzjagd auf Rente, der aufregende, aufreibende Kampf mit der Konkurrenz, das Sinnen und Sorgen, Grübeln und Brüten über unbequeme Konkurrenten, neue Absatzgebiete, faule Schuldner usf. Der Großbetrieb hat bereits solche Dimensionen angenommen, daß er den Kapitalisten über den Kopf wächst, der Konkurrenzkampf ist so heftig und schwierig geworden, daß die Unternehmer ihm kaum mehr gewachsen sind. Der Geschäftsinhaber muß ganz und gar in seinem Geschäft ausgehen, wenn er das ökonomische Schlachtfeld überblicken, alle Chancen und Konjunkturen im Kopf haben und in Berechnung ziehen will, um Sieger zu sein in diesem rasenden Kampf; er muß seine Denkkraft über Gebühr anspannen, muß alle Fibern seiner Persönlichkeit in den Dienst der Mammonsjagd, der von einem liberalen Reichstagsmitglied so hoch gefeierten auri sacra fames (verwünschten Geldhungers) stellen. Ist es da ein Wunder, daß die Nervosität in Kapitalistenkreisen immer mehr um sich greift, die Neurasthenie bereits als Kapitalistenkrankheit erklärt ward, als Gegenstück der Proletarierkrankheit Tuberkulose; ein Wunder, daß jedes höhere Streben, der Sinn für Wissenschaft, Kunst und Natur, wie Moral und Geschmack untergehen und die Bildung in jenen Kreisen immer mehr zur Schein- und Afterbildung heruntersinkt, zu jener Sorte Bildung, die man bei jedem Tanzmeister erlernen kann! – Dort materielle Not, hier ideale Not. Denn bei diesem geschäftlichen Treiben, welches die volle Hingabe des ganzen Menschen in Anspruch nimmt und selbst in die kargen Stunden der Muße seine Schatten wirft, muß der Geist veröden, der Geschmack verkommen, Herz und Gemüt verschmachten und der ideale Sinn und Geist, des Lebens köstlichster Inhalt, untergehen, weil dieser Kampf aller gegen alle die rücksichtslose Entfaltung der niederen Triebe erheischt. Dabei schwebt über den Häuptern der Großindustriellen stets das Damoklesschwert der Krisen, durch welche schon so viele aus dem Olymp des Ueberflusses in den Tartarus des Proletariats hinabgeschleudert wurden. Und sogar die wenigen, die ihr besseres Selbst zu retten wußten, leiden schwer unter dem allgemeinen Bankrott des Idealismus, wenn sie Gatten und Väter sind und Schwiegereltern werden. Den möchte ich kennen, der nicht schon tief geseufzt hat über dieses und jenes intellektuelle, ästhetische, moralische und selbst ökonomische Gebrechen seines Weibes, seiner Söhne und Töchter, seiner Schwiegersöhne und Schwiegertöchter, welches mit den sozialen Zuständen in unverkennbarem Zusammenhang steht.

Weder schöne Villen und Equipagen, noch Austern mit Champagner und Importen, selbst noch süßere Dinge nicht, sind allein imstande, den Menschen innerlichst zu beglücken, die materiellen Genüsse werden bald schal ohne die harmonische Entfaltung des Denkens, Fühlens und Wollens im Sinne des Wahren, Schönen und Guten, verbunden mit einem edlen Streben und einer ernsten Tätigkeit. Auch kann ein Reichtum, der erworben wird auf Kosten der Massenarmut, diejenigen unmöglich recht beglücken, denen die wilde Jagd auf Profit die Stimme der Vernunft und des Gewissens noch nicht ganz eingelullt und erstickt hat. Die besten Leckerbissen auf den Tafeln des Ueberflusses werden von den Harpyen [7] besudelt, wenn ringsum Not und Elend grinsen.

Die Produktionsweise ist mit der Dampfmaschine in eine neue Phase getreten, welche mit dem wirtschaftlichen Individualismus im schroffsten Widerspruch steht. Darum klafft eine so tiefe Kluft zwischen den beiden gesellschaftlichen Gruppen, den Besitzenden und dem Proletariat; darum ist auf der ganzen Linie unseres Kulturlebens Glorreiches und Klägliches neben einander; darum ist der mächtige Aufschwung von Wissenschaft und Technik von einem sehr beträchtlichen Niedergang des Glücks begleitet und unsere Zivilisation ist durchseucht von den Miasmen, die jede Zersetzung begleiten. Daß sie in Zersetzung begriffen ist, um eine neue Gesellschaftsform erstehen zu lassen – wer wäre so blind, dies zu verkennen?

Der Pessimismus ist die „unbewußte“ Bankrotterklärung der kapitalistischen Weltordnung.

Diese neue Gesellschaftsform aber ist die sozialistische. Sie schafft Harmonie zwischen den Faktoren Produktionsweise und gesellschaftliche Verfassung, sie hebt die aus dem Privateigentum an Produktionsmitteln entspringenden Klassenunterschiede auf, sie löst die sozialen Konflikte und stiftet Ordnung in der Menschenwelt, läßt an die Stelle des wirtschaftlichen Chaos (Durcheinander) den Kosmos (Ordnung und Schönheit) treten, und begründet eine Aera wahrer Kultur und allseitigen echten Glücks. Der Sozialismus bedeutet nicht bloß für die Massen, sondern für die Menschen aller Klassen das, was die Kirche die Erlösung nennt.

Und da der Menschentypus in einer solchen Gesellschaft naturgemäß leiblich und geistig in die Höhe wächst – wie es schon bisher aber äußerst schneckenhaft der Fall war – so ist auch der „Uebermensch“ Nietzsches keine Schimäre.


Schlußwort

Die Sozialdemokratie, deren Geschichtsphilosophie von dem Prinzip der Entwicklung getragen wird, verkennt keineswegs die kulturhistorische Bedeutung des Kapitalismus wie des Klassenstaats überhaupt, wie bereits angedeutet. Die stetige Entwicklung, das beständige Fortschreiten bringt es mit sich, daß eine gesellschaftliche Formation, welche eine Zeitlang die verhältnismäßig beste war, weil sie der jeweiligen Produktionsweise am meisten entsprach, später, nachdem die Produktionsweise sich inzwischen fortentwickelt hat, veraltet, aus Wohltat Plage wird und darum einer neuen Gesellschaftsform weichen muß. Dem erwachsenen Mann sind seine Knabenkleider zu eng, sie platzen an allen Nähten, man muß ihm neue Kleider anmessen; auch die aus dem zwerghaften Stadium des kleinen Handwerks herangewachsene, zum Großbetrieb emporgereckte moderne Produktion paßt nicht mehr in das Knabenkleid des Individualismus, der Sozialismus ist allein die ihr angemessene Gesellschaftsform.

„So lange die menschliche Arbeit noch so wenig produktiv war, daß sie nur wenig Ueberschuß über die notwendigen Lebensmittel hinaus lieferte, war Steigerung der Produktionskräfte, Ausdehnung des Verkehrs, Entwicklung von Staat und Recht, Begründung von Kunst und Wissenschaft nur möglich vermittelst einer gesteigerten Arbeitsteilung, die zu ihrer Grundlage haben mußte die große Arbeitsteilung zwischen den die einfache Handarbeit besorgenden Massen und den die Leitung der Arbeit, den Handel, die Staatsgeschäfte und späterhin die Beschäftigung mit Kunst und Wissenschaft betreibenden wenigen Bevorrechteten .... So lange die wirklich arbeitende Bevölkerung von ihrer notwendigen Arbeit so sehr in Anspruch genommen wird, daß ihr keine Zeit zur Besorgung der gemeinsamen Geschäfte der Gesellschaft (Arbeitsleitung, Staatsgeschäfte, Rechtsangelegenheiten, Kunst, Wissenschaft usw.) übrig bleibt, so lange muß stets eine besondere Klasse bestehen, die, von der wirklichen Arbeit befreit, diese Angelegenheiten besorgte .... Erst die durch die große Industrie erreichte ungeheure Steigerung der Produktionskräfte erlaubt, die Arbeit auf alle Gesellschaftsglieder ohne Ausnahme zu verteilen und dadurch die Arbeitszeit eines jeden so zu beschränken, daß für alle hinreichend freie Zeit bleibt, um sich an den allgemeinen Angelegenheiten der Gesellschaft, theoretischen wie praktischen, zu beteiligen. Erst jetzt also ist jede herrschende und ausbeutende Klasse überflüssig und erst jetzt auch wird sie unerbittlich beseitigt werden“.

So F. Engels in seinem Buche gegen Dühring.

Aus derselben Schrift ist auch zu ersehen, daß der Sozialismus nicht etwa die „Erfindung“ genialer Köpfe ist.

„Die Mittel zur Beseitigung der sozialen Mißstände sind nicht etwa aus dem Kopfe zu erfinden, sondern vermittelst des Kopfes in den vorliegenden materiellen Tatsachen der Produktion zu entdecken. Vor der kapitalistischen Produktion bestand allgemeiner Kleinbetrieb auf Grundlage des Privateigentums der Arbeiter an ihren Produktionsmitteln. Die Arbeitsmittel – Land, Ackergerät, Werkstatt, Handwerkszeug – waren Eigentum des einzelnen, nur für den Einzelgebrauch berechnet, also notwendig kleinlich, zwerghaft, beschränkt. Aber sie gehörten eben deshalb auch in der Regel den Produzenten selbst. Diese zersplitterten, engen Produktionsmittel zu konzentrieren, auszuweiten, sie in die mächtig wirkenden Produktionshebel der Gegenwart umzuwandeln, war gerade die historische Rolle der kapitalistischen Produktionsweise und ihrer Trägerin, der Bourgeoisie. Wie sie dies seit dem 15. Jahrhundert auf den drei Stufen der einfachen Kooperation, der Manufaktur und der großen Industrie geschichtlich durchgeführt, hat Marx im IV. Abschnitt des Kapital ausführlich geschildert. Aber die Bourgeoisie, wie dort ebenfalls geschildert ist, konnte jene beschränkten Produktionsmittel nicht in gewaltige Produktionskräfte verwandeln, ohne sie aus Produktionsmitteln des einzelnen in gesellschaftliche, nur von einer Gesamtheit von Menschen anwendbare Produktionsmittel zu verwandeln. An die Stelle des Spinnrads, des Handwebstuhls, des Schmiedehammers trat die Spinnmaschine, der mechanische Webstuhl, der Dampfhammer; an die Stelle der Einzelwerkstatt die das Zusammenwirken von Hunderten und Tausenden gebietende Fabrik. Und wie die Produktionsmittel, so verwandelte sich die Produktion selbst aus einer Reihe von Einzelhandlungen in eine Reihe gesellschaftlicher Akte und die Produkte aus Produkten einzelner in gesellschaftliche Produkte. Das Garn, das Gewebe, die Metallwaren, die jetzt aus der Fabrik kommen, waren das gemeinsame Produkt vieler Arbeiter, durch deren Hände sie der Reihe nach gehen mußten, ehe sie fertig wurden. Kein einzelner kann von ihnen sagen: das habe ich gemacht, das ist mein Produkt.“

Man sieht: die kapitalistische Produktionsweise ist selbst ein kräftiger Anlauf zur sozialistischen, die historische Vorstufe des Sozialismus. Nicht minder sind es jene unter verschiedenen Namen bestehenden und unter dem der Kartelle, Ringe, Trusts berüchtigten Vereinigungen, welche heutzutage allerdings äußerst schädlich wirken, weil sie die Preise künstlich in die Höhe treiben, weshalb sie der bürgerliche Philister verwünscht, während das geschärfte Auge des Sozialisten darin Keime, Uebergangsphasen, Sprungbretter zur sozialistischen Gesellschaftsformation erblickt. Die sozialistische Gesellschaft ist das universelle, allgemein wohltätige Kartell, welches alle anderen Kartelle, die gemeinschädlichen, verschlingt, wie Bellamy in seinem Looking Backward treffend ausführt.

Die Menschheit war früher ein Irus (Name eines Homerischen Bettlers), jetzt ist sie ein Krösus; sie war einst ein armer Teufel, während heute der gesellschaftliche Reichtum ein kolossaler ist und mit den vorhandenen Produktionsmitteln ungeheuer gesteigert werden kann, so daß heutzutage alle Menschen bei mäßiger Arbeit ihr reichliches Auskommen haben könnten. Heute noch den Klassenstaat mit seinen schroffen Gegensätzen und himmelschreienden materiellen und idealen Leiden und Uebeln für alle Zeiten aufrecht erhalten wollen, ist purer Wahnsinn. Von den Verfechtern des Klassenstaats gilt das Faustsche Wort vom Tier, das „von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt wird und rings herum liegt fette grüne Weide“.

„Das Jahr übt eine heiligende Kraft, was grau vor Alter ist, das ist ihm göttlich“, dem Dutzendmenschen nämlich, (dem Typus des Klassenstaatsmenschen, den Schopenhauer „Fabrikware der Natur“ genannt hat) dessen Geist sich der Logik, den Gründen erst erschließt, wenn die Not ihm auf die Nägel brennt; denn die Neigung ist bei gewöhnlichen Menschen stärker als die Einsicht, der Verstand steht unter dem Pantoffel des Willens. Erst dann, wenn sie selbst in der Tinte sitzen, das Wasser ihnen an den Hals geht, oder das eherne Muß gebietet, indem eine stärkere Macht über sie kommt, dann erst öffnen Menschen dieses Schlages die Poren ihres Erkenntnisvermögens und der dickköpfige Hartsinn kapituliert (ergibt sich) vor der Vernunft, weil nun der Affekt, die Neigung selbst, der neuen Idee das Wort redet.

Denjenigen aber, welche der Erkenntnis zugänglich sind, wird es in bezug auf den Sozialismus, wenn sie ernstlich und wahrheitsbeflissen ihm näher treten, ergehen wie dem Bileam, welchen der König der Moabiter gedungen hatte, das Volk Israel zu verfluchen. Als aber dieser heidnische Prophet seine Blicke auf das Volk richtete, verwandelte sich in seinem Munde der Fluch zum Segen. Auf welchem Standort, von welchem Gesichtspunkt er auch das Lager überblickte, überall erschien ihm dasselbe nicht fluch- sondern segenswürdig.

Anmerkungen des Verfassers

1. „Es stinkt nicht.“ Der römische Kaiser Vespasian hatte die Latrinen mit Steuer belegt. Darüber von seinem Sohn, dem nachmaligen Kaiser Titus getadelt, hielt er ihm ein aus dieser Steuer gewonnenes Goldstück unter die Nase mit der Frage, wie es riecht, worauf die Antwort erfolgte: non olet.

2. In bezug auf das menschliche Glück.

3. In bezug auf den Kulturfortschritt.

4. Um Mißdeutungen zu begegnen, sei bemerkt, daß mit dem oben gedachten „Materialismus“ der spezifisch sozialistische Materialismus unserer Theorie (die materialistische Geschichtsauffassung) so wenig gemein hat wie eine Tingel-Tangel-Venus mit dem Venus genannten Abendstern.

5. In der indischen Mythologie heißt Nirwana das Nichtsein, Sansara die seiende Welt.

6. Heraklit und Demokrit, zwei griechische Philosophen, von denen man sagt, jener habe über die Laster und Torheiten der Menschen geweint, dieser habe über sie gelacht.

7. Fabelhafte Raubvögel, welche den Teilnehmern an der Argonautenfahrt nach Kolchis die Speisen besudelten.


9.8.2008