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Wir haben bis jetzt angenommen, dass Marx und Engels „perfid“ waren, Bakunin ganz „harmlos“. Es hat sich herausgestellt, dass auch vom strengsten moralischen Standpunkt aus jene beiden ihr Versehen reichlich gutgemacht haben. Wir haben keinen Versuch unternommen, Marx und Engels „psycho- logisch“ zu rechtfertigen. Wir haben sogar unterstellt, dass Bakunin beiden Freunden keinen Anlass gegeben habe, ihn zu „verleumden“, dass er „aus irgendwelchem Grunde“ beiden „unsympathisch gewesen“ war. Zwar schreibt Genosse Mehring, dass Bakunin schon vor 1848, wie „die Briefe bezeugen, die er 1847 aus Brüssel an Herwegh richtete, eine rechtgehässige Stellung zu Marx eingenommen“ habe, dass also Engels und Marx ihrerseits auch Bakunin „unsympathisch gewesen“ waren. Wir begnügen uns aber vorläufig mit der Konstatierung der Tatsache, dass trotz der von Bernstein bei Marx gefundenen „Geneigtheit zur gläubigen Hinnahme aller möglichen Verdächtigungen von Bakunins politischem Charakter“ nicht nur Marx, sondern auch Engels Bakunin gegen alle diese Verdächtigungen während der Zeit, wo der letztere in Russland politischer Gefangener war, in Schutz nahmen oder, wie Mehring sagt, „ritterlich verteidigten“. Auch Bernstein, der noch im Jahre 1908 geneigt war, zu glauben, dass Marx die von F. M. ausgegebenen Verdächtigungen „doch nicht für ganz grundlos erklärt hatte“, sieht jetzt, dass er sich gründlich geirrt habe. Auch sein Schluss – „ebenso waren aber auch Marx’ Aussöhnungen mit Bakunin nie vorbehaltlos gemeint“ – trifft mindestens in diesem Falle nicht zu. Noch mehr. Alles, was Marx bisher über seinen Konflikt mit Bakunin mitteilte, entspricht der Wahrheit – und man kann nur hinzufügen, dass er aus sehr verständlichen Gründen nicht alles, was ihn persönlich vollständig rechtfertigt, erzählte. [1] Er war also in seiner Unterredung mit Bakunin, die 1864 stattfand, ganz aufrichtig.
Anders steht die Sache mit Bakunin. Er entfloh bekanntlich im Jahre 1861 aus Sibirien und kam über Japan und Amerika im Dezember des gleichen Jahres nach London, hielt es aber für überflüssig, Marx zu besuchen, obwohl ihm dessen Anwesenheit in London Wohl bekannt war. Warum? Herzen und Mazzini erzählten ihm, dass Marx ihn während seiner Abwesenheit als russischen Spion im Morning Advertiser hingestellt habe, und er glaubte ihnen aufs Wort. Zudem kam noch der Umstand hinzu, dass unmittelbar, nachdem Bakunins Ankunft bekannt geworden war, wieder in. einer „kleinen englischen Zeitung“ die alte Verdächtigung abgedruckt wurde.
Wir halten es jetzt für überflüssig, zu beweisen, dass Marx daran ebenso wenig schuld war wie im Jahre 1853. Es war wieder der berüchtigte F. Marx, und ihm sekundierte Karl Blind, ein Freund von Mazzini, aber ein Feind von Herzen und Bakunin.
Wie wenig nicht nur Marx, sondern auch Engels gegen Bakunin damals voreingenommen waren, beweisen folgende Stellen aus ihrem Briefwechsel.
Am 27. November 1861 schreibt Engels an Marx:
Über Bakunins Durchbrennen habe ich mich sehr gefreut. Der arme Teufel mag höllisch mitgenommen worden sein. Auf diese Weise eine Reise um die Welt zu machen!
Am 25. Februar 1862 schreibt Marx an Engels:
Was die Urquhartblätter betrifft, habe ich sie bis jetzt nicht zusammenbekommen können. Schreib mir, von welcher Nummer an. so wird Collet das Nötige tun. Einliegend eine Denunziation des Kerls gegen Bakunin, den ich nicht gesehen habe. Er lebt bei Herzen.
Aus Marx’ Zeilen kann man leicht seine Bewunderung für Bakunins Verhalten herauslesen. Der lakonische Zusatz, „Bakunin lebt bei Herzen“, ist eine Erklärung, die auch für Engels hinreichend war, Marx irrte sich nicht. Herzen hat wirklich Bakunin die ganze Geschichte so erzählt, wie sie später, nach seinem Tode, veröffentlicht und seitdem von allen wiederholt worden ist.
Erst im Jahre 1864 fand zwischen Marx und Bakunin eine Zusammenkunft statt. Der letztere erzählt, dass Marx ihn aufsuchte und ihm versicherte, nie jene Verdächtigung gegen ihn ausgesprochen zu haben, und sie vielmehr als infam bezeichnete. „Ich musste ihm glauben,“ fügt Bakunin hinzu. Es ist klar, dass, als er diese Erzählung im Jahre 1871 niederschrieb, er Marx nicht mehr glaubte. Und in einer anderen, von Nettlau veröffentlichten Version sagt er direkt, er habe gewußt, dass Marx lüge.
Wir haben aber auch ein Zeugnis von Marx. Seine Aussage wird uns Genosse Bernstein erzählen:
In dem bekannten, unter dem Vermerk „Konfidentielle Mitteilung“ versandten Rundschreiben gegen Bakunin, das Marx am 28. März 1870 durch L. Kugelmann den hervorragenden Vertretern des ihm befreundeten Flügels der deutschen Sozialdemokratie zugehen lieh, nimmt er selbst auf jene Unterhaltung Bezug. Er erzählt dort, dass er kurz nach der Gründung der „Internationale“ bei einer Zusammenkunft mit Bakunin in London diesen als Mitglied ausgenommen und Bakunin ihm versprochen habe, für die Assoziation nach Kräften zu wirken. Es hat also jedenfalls damals eine Art Friedensschluss zwischen ihnen stattgefunden, und es wird sich vielleicht eines Tages noch ermitteln lassen, wer dabei der Vermittler gewesen war. Aber dieser Frieden dauerte nicht lange. In dem bezeichneten Rundschreiben sagt Marx weiter, dass Bakunin, der alsdann nach Italien ging, ihm von dort aus noch einen „enthusiastisch tuenden“ Brief über das ihm nachgesandte Statut und die Inauguraladresse der Internationale geschrieben, aber „nichts getan“ habe und nichts habe von sich hören lassen, bis er nach Jahren wieder in der Schweiz aufgetaucht sei und sich statt in die Internationale in die Friedens- und Freiheitsliga aufnehmen ließ. Das letztere ist allerdings richtig.
So Bernstein. Wir werden gleichsehen, dass nicht nur das letztere.„allerdings richtig“ ist und dass man für Marx viel stichhaltigere Rechtfertigungsgründe finden kann als die Erklärung, die Bernstein, Nettlaus Worte wiederholend, für die Haltung Bakunins gibt.
Bakunin ist wirklich, nach seinem zweiten Aufenthalt in Schweden, im Oktober 1864, also nach der Gründung der Internationale, nach London gekommen. Es ist mir gelungen, zu ermitteln, wer der geheimnisvolle Vermittler zwischen Marx und Bakunin war. Es war der alte gute Friedrich Leßner, seines Berufs Schneider, und der Anlass war ein neuer Anzug, den Leßner, der auch Marx gegenüber ein sehr wohlwollender „Gläubiger“ war, für Bakunin zurechtmachte. In seinen Briefen an Marx findet sich folgender Brief, der jetzt gewissermaßen eine historische Bedeutung bekommt:
Lieber Marx! Wir machen gegenwärtig Kleider für den großen Bakunin, welcher, soviel ich davon weiß, nur kurze Zeit hier verweilen wird. Solltest Du seine Adresse wünschen, so werde ich dieselbe besorgen.
Schreibe mir gefälligst eine Zeile, wenn Du dieselbe haben möchtest.
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London, 26. Oktober 1864 |
Wir wissen nicht, wer diese „wir“ waren. Vielleicht auch Eccarius. Es ist aber sehr wahrscheinlich, dass der eifrige Leßner die Gelegenheit benutzte, um Bakunin verschiedenes über die neugegründete Internationale und über die Rolle, die dabei Marx spielte, enthusiastisch zu erzählen. Und Eccarius konnte ihm erzählen, dass Marx keinen Anteil an den beiden Verleumdungsaktionen gegen Bakunin genommen habe. Das erklärt vielleicht den freundlichen Ton, der ausfolgendem Brief Bakunins an Marx klingt: [2]
27. Oktober 1864. 10, Paddington Green
Lieber Marx! Es wird mir ein großes Vergnügen sein, einen alten Bekannten wieder zu sehen. Bis 1 Uhr morgens bin ich immer zu Hause. – Ich erinnere mich Wohl, einen Dr. Rhode zwei oder drei Male vor zwei Jahren getroffen zu haben, bin mir aber gar nicht bewusst, ihm außer gewöhnlichen Allgemeinplätzen etwas gesagt zu haben. Also aus Wiedersehen. Dein Bakunin.
Marxens Brief ist uns unbekannt, und wir können nicht erklären, Was für eine Rolle in diesem Falle der Dr. Rhode gespielt hat. Wir haben aber jetzt einen neuen Bericht über die erfolgte Zusammenkunft, der von Marx stammt und schon – von allen anderen abgesehen – den Vorzug hat, dass er einige Tage nach der Zusammenkunft geschrieben wurde, und zwar an Engels, also gewiss „ohne Hintergedanken“ und nicht „perfid“. (Brief vom 4. November 1864).
Bakunin lässt Dich grüßen. Er ist heute nach Italien, wo er wohnt (Florenz), abgereist. Ich sah ihr: gestern wieder zum ersten Mal nach sechzehn Jahren. Ich muss sagen, dass er mir sehr gefallen hat und besser als früher. Er sagt mit Bezug auf die polnische Bewegung: die russische Regierung habe die Bewegung gebraucht, um Russland selbst ruhig zu halten, aber keineswegs auf achtzehnmonatigen Kampf gerechnet. Sie habe daher die Geschichte in Polen provoziert. Polen sei gescheitert an zwei Dingen, am Einfluss von Bonaparte und zweitens am Zögern der polnischen Aristokratie, von Anfang an Bauernsozialismus.offen und unzweideutig zu proklamieren. Er (Bakunin) werde sich jetzt, nach dem Fall der polnischen Geschichte, nur noch an sozialistischer Bewegung beteiligen. Im Ganzen ist er einer der wenigen Leute, die ich nach sechzehn Jahren nicht zurück-, sondern weiterentwickelt finde. Ich besprach auch mit ihm die Urquhartischen Denunziationen ... Er erkundigte sich sehr nach Dir und Lupus. Als ich ihm den Tod des letzteren mitteilte, sagte er sofort, die Bewegung habe einen unersetzlichen Mann verloren.
So schrieb der „perfide“ Marx, den, einer tiefsinnigen psychologischen Bemerkung von Nettlau gemäß, damals zu dieser Zusammenkunft nur der „Stolz trieb, die in der Internationale ihm zufallende Macht einem früheren Genossen zu zeigen, der seine eigenen Wege ging“! Die Anarchisten sind überhaupt sehr glücklich in ihren psychologischen Exkursionen. So macht auch „Genosse“ Brupbacher, der, wie uns Genosse Mehring versichert, „geschickt seine psychologische Sonde zu handhaben weiß“, die epochale Entdeckung, dass „Marx mit dem Verstand dachte und Bakunin mit seinem ganzen Organismus“. Trotzdem, versichert uns „Genosse“ Brupbacher, „hatte Bakunin seine Hintergedanken“.
Wir wissen nicht, ob Marx Bakunin auch dokumentarisch bewiesen hat, dass an der ganzen Erzählung Herzens kein Wort wahr sei, dass sie nur ein Quiproquo war. Wir ziehen es vor – Bakunins wegen –, zu glauben, dass er Bakunin die ganze Geschichte nur erzählte..
Wie dem auch sei, Marx schickte die Inauguraladresse und die Statuten der Internationale sofort nach Italien. [3] Welchen Wert er auf die Hilfe Bakunins legte, kann man daraus ersehen, dass er ihm einen Abdruck aus dem „Beehive“ schickte, noch bevor die Adresse in Broschürenform erschien. [4] Bakunin versprach, die italienische Übersetzung zu besorgen. Zwar erzählt er selbst darüber kein Wort, nicht in seiner Antwort an Mazzini (1871), wo er sagt, dass er Marx glauben musste, nicht in seinem von Nettlau oft zierten Manuskript (zirka 1871), wo er sagte, dass er bestimmt wusste, Marx lüge. Wir haben aber ein gutes Zeugnis, das wieder beweist, wie Bakunins Gedächtnis – in gewissen Punkten – schwach war, eine Eigenschaft, die alle seine persönlichen Freunde sehr gut kannten. Leider nicht Nettlau!
Das Zeugnis stammt von Bakunin selbst. Am 7. Februar 1865 schrieb er Marx aus Florenz folgenden Brief, diesmal in französischer Sprache:
Mein Teuerster (Carissimo)! Du hast formell das Recht, auf mich böse zu sein, weil ich Deinen zweiten Brief ohne Antwort lieh und bis jetzt noch nicht auf den dritten antwortete. Hier sind die Ursachen meines Schweigens. Gemäß Deinem Wunsche schickte ich ein Exemplar der Adresse des Internationalen Komitees an Garibaldi, und ich warte noch auf seine Antwort. Außerdem warte ich auch, ab, bis die italienische Übersetzung gedruckt ist, um sie Dir zu schicken.
Weiter folgt ein Bericht über die Lage in Italien. Bakunin glaubt, dass „nur eine konsequente, eifrige, energische sozialistische Propaganda Italien noch Leben und Willen einflößen könne“. Er bittet um Geduld und endet den Brief wie folgt:
Und jetzt, mein teuerster Freund, gib mir Deine Absolution für mein langes Schweigen, das sich nicht mehr wiederholen wird, und küsse respektvollst in meinem Namen die schönen Hände Deiner Frau und Deiner Tochter.
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Dein ergebenster Mikhail Bakunin |
Und als Postskriptum:
Sobald ich meine und meiner Frau Photographien bekommen werde, schicke ich diese ihnen, aber als Entgelt werde ich sie bitten, mir die Photographien der ganzen heiligsten Familie (toute la sanctissima famiglia) zu schicken. [5]
Genosse Bernstein kann jetzt sehen, dass die ganze Erzählung von Marx „allerdings richtig ist“. Und Nettlau, Guillaume sowie ihr kritikloser Nachschwätzer, der vom Genossen Mehring neu entdeckte „Genosse“ Brupbacher, die uns glauben lassen wollen, dass Bakunin „ein Mensch ohne Hintergedanken“ War, und dass alles, was er in feinen Briefen schreibt, auch objektiv wahr ist, können jetzt wieder sehen, wie vorsichtig man sein muss, wenn man aus Bakunins Verschweigen einen Beweis dafür ziehen will, dass Marx gelogen hat. Es ist überhaupt eine gefährliche Methode, aus hem Schweigen der Quellen einen Beweis zu konstruieren, nicht minder gefährlich, als eine Tatsache für glaubwürdig zu halten, über die gewisse „Quellen“ wiederholt schwatzen. Eine derartige Verletzung der, wie Genosse Mehring so richtig bemerkt, noch „bisher geltenden Gesetze historischer Kritik“ bleibt nie unbestraft. Nachdem sich alle, aber auch alle Tatsachen, die Nettlau, Guillaume und „Genosse“ Brupbacher über Marx mitteilten, als falsch erweisen, sobald man sie durch andere unzweifelhafte Tatsachen kontrolliert, zerfällt „nach den bisher geltenden Gesetzen historischer Kritik“ die Darstellung aller unserer „exakten“ Historiker auch in den Punkten, in denen sie sich nicht oder nicht mehr kontrollieren lässt. Nicht wahr, Genosse Mehring?
Im nächsten Artikel werden wir beweisen, dass die Darstellung
des „Genossen“ Brupbacher auch dort in Stücke
zerfällt, wo sie sich auch vom Genossen Mehring leicht
kontrollieren ließ.
1. Ich komme noch auf diese Geschichte zurück. In einem von mir ausgegebenen Brief Marx’ an Lassalle befindet sich auch eine Stelle über Bakunin, die aber nur im Zusammenhang ganz verständlich wird. Ich werde ihn zusammen mit einem anderen Briefe demnächst veröffentlichen. – N. Rjasanoff, Briefe Lassalles an Dr. Moses Hess, Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Hrsg. Von Carl Grünberg. Leipzig, Band 3 (1913), S. 129–142.
2. Gefunden in Marx’ Papieren. Er ist deutsch geschrieben.
3. Nettlau bezweifelt dieses wie auch andere Angaben von Marx, die sich auf diese Zusammenkunft beziehen. An einem anderen Orte werde ich beweisen, dass ihm auch hier dasselbe Unglück passiert ist wie in der Geschichte mit dein Morning Advertiser.
4. Es ist eben dieser Umstand, der Nettlau veranlasst hat, eine neue, bis jetzt unbekannte Ausgabe der Adresse daraus zu machen.
5. Ich werde den Brief vollinhaltlich und im Original in Grünbergs Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung veröffentlichen. – N. Rjasanoff, Bakuniana. I. Bakunin und Karl Marx. II. Bakunin und J. Ph. Becker. III. Programm der Allianz. Briefe Bakunins an Marx. II. Briefe Bakunins an J. Ph. Becker. III. Programm der Allianz, Archiv für die Geschichte des Sozialismus und der Arbeiterbewegung, Hrsg. Von Carl Grünberg. Leipzig, Band 5 (1915), S. 182–199.
Zuletzt aktualisiert am 10. Januar 2025