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Sonnabend, 10. November.
Das Revolutionäre Militärkomitee erklärt, keinerlei Störung der revolutionären Ordnung dulden zu wollen.
Diebstähle, Räubereien, Überfälle, Pogromversuche werden streng bestraft werden.
Das Komitee wird, dem Beispiel der Pariser Kommune folgend, alle Plünderer und Aufrührer erbarmungslos ausmerzen ...“
Die Stadt lag ruhig. Nicht ein Überfall oder Diebstahl, nicht einmal das Streiten Betrunkener. Nachts gingen bewaffnete Patrouillen durch die stillen Straßen, und an den Ecken hockten um kleine Feuer Soldaten und Rotgardisten, lachend und singend. Tagsüber drängten sich auf den Bürgersteigen riesige Menschenmassen, den endlosen heißen Debatten zwischen Studenten und Soldaten, Geschäftsleuten und Arbeitern lauschend.
Bürger hielten einander auf der Straße an.
„Werden die Kosaken kommen?“
„Nein ...“
„Was gibt‘s Neues?“
„Ich weiß gar nichts. Wo ist Kerenski?“
„Man sagt, nur noch acht Werst von Petrograd entfernt ... Ist es wahr, daß die Bolschewiki auf das Kriegsschiff Aurora geflohen sind?“
„Ich habe so etwas gehört ...“
Schreiend nur die Mauern der Häuser und die wenigen erscheinenden Zeitungen: Ankündigungen, Aufrufe, Gesetze ...
Ein riesengroßes Plakat verkündete das hysterische Manifest des Exekutivkomitees der Bauernsowjets:
„... Sie (die Bolschewiki) haben die Kühnheit zu behaupten, daß die Sowjets der Bauerndeputierten sie unterstützen und daß sie im Namen der Sowjets der Bauerndeputierten sprechen ...
Das gesamte werktätige Rußland soll es wissen, daß dies eine Lüge ist und daß alle werktätigen Bauern, vertreten im Exekutivkomitee des Gesamtrussischen Sowjets der Bauerndeputierten, jede Teilnahme der organisierten Bauernschaft an dieser verbrecherischen Vergewaltigung des Willens aller Werktätigen mit Entrüstung von sich weisen ...“
Ein Aufruf von der Soldatensektion der Sozialrevolutionäre:
„... Das wahnsinnige Unternehmen der Bolschewiki steht vor dem Zusammenbruch, die Garnison ist gespalten ... Die Ministerien stehen im Streik, das Brot wird immer knapper. Alle Parteien, mit Ausnahme einer Handvoll Maximalisten, haben den Kongreß verlassen. Die Partei der Bolschewiki ist isoliert ...
Wir fordern alle vernünftigen Elemente auf, sich um das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution zu scharen und sich bereitzuhalten, auf den ersten Ruf des Zentralkomitees zu marschieren ...“
Ein Handzettel des Rates der Russischen Republik:
„Der Rat der Russischen Republik hat sich, der Gewalt der Bajonette weichend, gezwungen gesehen, vorübergehend seine Sitzungen zu unterbrechen.
Die Usurpatoren, mit den Worten ‚Freiheit und Sozialismus‘ auf den Lippen, haben eine Gewaltherrschaft aufgerichtet. Sie haben die Mitglieder der Provisorischen Regierung verhaftet, die Zeitungen verboten und die Druckereien mit Beschlag belegt ... Diese Machthaber müssen als Feinde des Volkes und der Revolution betrachtet werden; es ist notwendig, den Kampf gegen sie aufzunehmen und sie niederzuwerfen ...
Der Rat der Russischen Republik fordert alle Bürger der Russischen Republik auf, sich bis zur Wiederaufnahme seiner Tätigkeit um die lokalen Komitees zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution zu scharen, die den Sturz der Bolschewiki und die Errichtung einer Regierung organisieren, fähig, dem Lande die Konstituierende Versammlung zu bringen.“
Delo Naroda schrieb:
„ ... ..Eine Revolution ist die Erhebung des gesamten Volkes ... Was aber haben wir hier? Eine bloße Handvoll armseliger, von Lenin und Trotzki betrogener Narren ... Ihre Dekrete und Aufrufe werden nur das Museum für geschichtliche Kuriositäten füllen ...“
Narodnoje Slowo endlich, das Blatt der Volkssozialisten:
„Arbeiter-und-Bauern-Regierung? – Eine Phantasie! Niemand, weder in Rußland noch in den Ländern unserer Verbündeten, ja nicht einmal in den feindlichen Ländern, wird diese ‚Regierung‘ anerkennen.“
Die bürgerliche Presse war vorübergehend verschwunden. Die Prawda enthielt einen Bericht von der ersten Sitzung des neuen Zentralexekutivkomitees, des jetzigen Parlaments der Russischen Sowjetrepublik. Miljutin, der Volkskommissar für die Landwirtschaft, hatte mitgeteilt, daß das Exekutivkomitee der Bauernsowjets zum 13. Dezember einen Gesamtrussischen Bauernkongreß einberufen habe.
„Wir können jedoch nicht warten“, sagte er, „wir brauchen den Rückhalt der Bauern. Ich schlage vor, daß wir den Bauernkongreß unverzüglich einberufen ...“ Die linken Sozialrevolutionäre gaben ihre Zustimmung. Man entwarf in Hast einen Aufruf an die Bauern Rußlands und wählte ein Fünferkomitee zur Durchführung des Projektes.
Die Frage detaillierter Pläne für die Verteilung des Landes und die Industriekontrolle durch die Arbeiter wurden vertagt, bis Fachleute, die diese Frage bearbeiteten, ihre Berichte gegeben haben würden.
Drei Dekrete [1*] wurden verlesen und angenommen: 1. Lenins allgemeine Pressebestimmungen, die das Verbot aller zum Widerstand und Ungehorsam gegen die neue Regierung und zu verbrecherischen Handlungen auffordernden oder mit Vorbedacht falsche Nachrichten verbreitenden Zeitungen anordneten; 2. Das Gesetz über die Stundung der Hausmieten und 3. Das Gesetz über die Errichtung einer Arbeitermiliz. Außerdem Befehle, deren einer der Stadtduma Vollmacht erteilte, leere Wohnungen und Häuser zu beschlagnahmen, während der andere die Entladung von Güterwagen auf den Endbahnhöfen regelte, um die Verteilung der Lebensmittelvorräte zu beschleunigen und das dringend benötigte rollende Material frei zu machen ...
Zwei Stunden später sandte das Exekutivkomitee der Bauernsowjets das folgende Telegramm durch ganz Rußland:
„Das von den Bolschewiki ins Leben gerufene sogenannte Organisationsbüro für den Nationalkongreß der Bauern richtet an alle Bauern die Einladung zur Entsendung von Delegierten für einen Kongreß nach Petrograd ...
Das Exekutivkomitee der Sowjets der Bauerndeputierten erklärt, nach wie vor der Meinung zu sein, daß es gefährlich wäre, jetzt die Kräfte vom Lande fortzunehmen, die dort für die Vorbereitung der Wahlen zur Konstituierenden Versammlung notwendig sind, der einzigen Rettung für die arbeitende Klasse und für das Land. Wir wiederholen, daß der Bauernkongreß am 13. Dezember stattfindet.“
Ich fand die Duma in heller Aufregung. Kommen und Gehen von Offizieren, der Bürgermeister konferierte mit den Führern des Komitees zur Rettung des Vaterlandes. Ein Rat kam hereingelaufen mit einem Exemplar von Kerenskis Proklamation, die zu Hunderten von einem in geringer Höhe den Newski entlangfliegenden Flugzeug abgeworfen wurde und allen fürchterliche Rache androhte, die sich nicht unterwerfen wollten. Sämtliche Soldaten waren aufgefordert, ihre Waffen niederzulegen und sich sofort auf dem Marsfeld zu versammeln.
Der Ministerpräsident habe Zarskoje Selo genommen, wurde uns mitgeteilt, und befinde sich bereits in der Umgebung Petrograds, nur etwa neun Kilometer entfernt. Morgen – in einigen Stunden – würde er in die Stadt einmarschieren. Die in Fühlung mit seinen Kosaken gekommenen Sowjettruppen gingen, so hieß es, zur Provisorischen Regierung über. Tschernow sei bestrebt, die neutralen Truppen zu organisieren, um den Bürgerkrieg zu verhindern.
In der Stadt seien die Garnisonregimenter im Begriff, sich von den Bolschewiki abzuwenden. Der Smolny sei bereits geräumt, ... der ganze Regierungsapparat ins Stocken geraten. Die Angestellten der Staatsbanken weigerten sich, unter den bolschewistischen Kommissaren zu arbeiten und ihnen Gelder auszuzahlen. Alle Privatbanken seien geschlossen, die Ministerien im Streik. Eine Dumakommission sei unterwegs, um bei Geschäftsleuten für einen Fonds [2*] zur Auszahlung der Gehälter an die Streikenden zu sammeln ...
Trotzki sei in das Ministerium des Auswärtigen gekommen und habe von den Abgestellten die Übersetzung des Friedensdekrets in fremde Sprachen verlangt, Sechshundert Beamte hätten ihm ihren Rücktritt ins Gesicht geschleudert ... Schljapnikow, der Volkskommissar für Arbeit, habe alle Angestellten seines Ministeriums aufgefordert, innerhalb vierundzwanzig Stunden auf ihre Plätze zurückzukehren, ihnen gedroht, daß sie sonst ihre Stellungen und Pensionsrechte verlieren würden. Nur die Pförtner seien der Aufforderung nachgekommen ... Einige Abteilungen des Ernährungsamtes hätten ihre Arbeit eingestellt, weil sie nicht gewillt waren, sich der Kontrolle der Bolschewiki zu unterstellen ... Trotz weitestgehender Versprechungen auf hohe Löhne und bessere Arbeitsbedingungen hätten die Beamten der Telefonzentrale sich geweigert, das Sowjetbüro in das Telefonnetz einzuschalten ...
Von der Partei der Sozialrevolutionäre war der Ausschluß aller Mitglieder beschlossen worden, die den Sowjetkongreß nicht verlassen und sich am Aufstand beteiligt hatten ...
Nachrichten aus den Provinzen zufolge hatte Mogiljow sich gegen die Bolschewiki erklärt. In Kiew waren angeblich die Sowjets von den Kosaken überwunden und alle aufständischen Führer verhaftet worden. Der Sowjet und die dreißigtausend Mann starke Garnison von Luga hätte ihre Treue gegenüber der Provisorischen Regierung bestätigt und einen Appell an ganz Rußland gerichtet, sich um sie zu scharen. Kaledin habe alle Sowjets und Verbände im Donezbecken zersprengt, und seine Streitkräfte marschierten nordwärts ...
Ein Vertreter der Eisenbahner erzählte:
„Gestern haben wir ein Telegramm durch ganz Rußland geschickt, in dem wir die sofortige Einstellung der Streitigkeiten zwischen den politischen Parteien verlangen und die Bildung einer sozialistischen Koalitionsregierung fordern; andernfalls würden wir morgen nacht den Streik proklamieren ... Am Morgen wird eine Sitzung sämtlicher Parteien stattfinden, um zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Die Bolschewiki scheinen die Verständigung dringend zu wünschen ...“
„Wenn ihre Herrlichkeit noch so lange dauern wird“, lachte der Stadtbaumeister, ein dicker, rothaariger Mensch.
Als wir zum Smolny kamen – der nicht geräumt war, sondern geschäftiger denn je, mit Scharen ankommender und gehender Arbeiter, mit Soldaten und doppelten Wachen überall –, trafen wir die Berichterstatter der bürgerlichen und der „gemäßigten“ sozialistischen Zeitungen.
„Hinausgeworfen haben sie uns“, schrie einer von der Wolja Naroda. „Bontsch-Brujewitsch kam in das Pressebüro und hieß uns gehen! Spione wären wir!“ Alle redeten durcheinander: „Schmach, Schande, Pressefreiheit!“
In der Vorhalle standen große Tische mit Ballen von Aufrufen, Proklamationen, Befehlen des Revolutionären Militärkomitees. Arbeiter und Soldaten schwankten vorüber, die die Ballen in wartende Automobile trugen. Einer der Aufrufe begann:
In diesem tragischen Moment, den die russischen Massen durchleben, haben die Menschewiki und ihr Anhang und die rechten Sozialrevolutionäre die Arbeiterklasse verraten. Sie haben sich auf die Seite der Kerenski, der Kornilow und Sawinkow geschlagen ...
Sie drucken die Befehle des Verräters Kerenski und helfen in der Stadt eine Panik erzeugen, indem sie die lächerlichsten Gerüchte von sagenhaften Siegen dieses Verräters verbreiten ...
Bürger!
Schenkt diesen falschen Gerüchten keinen Glauben! Keine Macht vermag die Revolution des Volkes zu unterdrücken ... Kerenski und seine Anhänger wird bald die wohlverdiente Strafe treffen ...
Wir stellen sie an den Pranger. Wir geben sie der Verachtung aller Arbeiter, Soldaten und Bauern preis, die sie wieder in die alten Ketten zu schlagen versuchen. Niemals wieder werden sie den Haß und die Verachtung des Volkes von sich abwaschen können. Schmach und Verdammung über diese Volksverräter!“
Das Revolutionäre Militärkomitee hatte ein größeres Quartier bezogen, im obersten Stockwerk, Zimmer 17. Am Eingang standen Rotgardisten. Im Innern drängten sich in dem schmalen Raum vor der Barriere gutgekleidete Leute, die sich Mühe gaben, ihren kochenden Zorn unter einem äußerlich respektvollen Benehmen zu verbergen. Es waren Bourgeois, die Erlaubnisscheine für ihre Automobile oder Passierscheine für das Verlassen der Stadt zu haben wünschten, unter ihnen viele Ausländer ... Den Dienst versahen Bill Schatow und Peters. Sie unterbrachen ihre Tätigkeit, um uns die letzten Nachrichten vorzulesen:
„Das 179. Reserveregiment verspricht einmütige Unterstützung. Fünftausend Transportarbeiter aus den Putilow-Werften grüßen die neue Regierung. Zentralkomitee der Gewerkschaften – begeisterte Unterstützung. Die Garnison und das Geschwader in Reval wählen Revolutionäre Militärkomitees zur Mithilfe und entsenden Truppen. Pskow und Minsk unter der Herrschaft Revolutionärer Militärkomitees. Grüße der Sowjets von Zarizyn, Rostow am Don, Pjatigorsk, Sewastopol ... Die Finnische Division, die neuen Komitees der Fünften und Zwölften Armee gelobten Treue ...
Die Nachrichten aus Moskau sind unbestimmt: Die strategisch wichtigen Punkte der Stadt befinden sich in Händen der Truppen des Revolutionären Militärkomitees. Zwei Kompanien der Besatzung des Kreml sind zu den Sowjets übergegangen. Das Arsenal ist im Besitz des Obersten Rjabzew und seiner Offiziersschüler. Das Revolutionäre Militärkomitee, das Waffen für die Arbeiter angefordert hatte, wurde von Rjabzew bis heute morgen hingehalten und ihm dann plötzlich ein Ultimatum übermittelt, das die Kapitulation der Sowjettruppen und die Auflösung des Komitees verlangte. Die Kämpfe haben begonnen ...
In Petrograd unterstellte sich der Stab den Kommissaren des Smolny sofort. Der sich weigernde Zentroflot wurde von Dybenko und einer Kompanie Kronstädter Matrosen gestürmt und ein neuer Zentroflot eingesetzt, der sich auf die Baltische und die Schwarzmeerflotte stützt ...“
Hinter der scheinbaren Zuversicht verbarg sich jedoch ein dumpfes Gefühl der Unruhe. Kerenskis Kosaken näherten sich schnell. Sie verfügten über Artillerie. Skrypnik, der Sekretär der Fabrikkomitees, sagte mir mit nervös gespanntem und gelbem Gesicht, daß ein ganzes Korps im Anmarsch sei. „Aber lebend werden sie uns nicht kriegen“, fügte er wild hinzu. Petrowski lachte müde: „Möglich, daß wir uns morgen zum Schlafen – für immer legen werden.“ Losowski, mit seinem mageren, rotbärtigen Gesicht, sagte: „Was haben wir für Aussichten? Wir stehen allein. Ein unorganisierter Haufen gegen geschulte Soldaten.“
Im Süden und Südwesten waren die Sowjets vor Kerenski geflohen. Die Garnisonen von Gattschina, Pawlowsk, Zarskoje Selo hatten sich gespalten. Ein Teil hatte beschlossen, neutral zu bleiben, der Rest, ohne Offiziere, flutete in wildester Unordnung in die Hauptstadt. In den Sälen wurden Bulletins angeschlagen:
„Aus Krasnoje Selo, 10. November, 6 Uhr morgens
Der Exminister Kerenski hat ein verlogenes Telegramm an Alle losgelassen, in dem er glauben machen will, daß die Truppen des revolutionären Petrograds freiwillig ihre Waffen abgegeben und sich den Armeen der einstigen Regierung, der Regierung des Verrats, angeschlossen und daß die Soldaten vom Revolutionären Militärkomitee den Befehl zum Rückzug erhalten hätten. Die Truppen eines freien Volkes ziehen sich weder zurück, noch ergeben sie sich.
Unsere Truppen haben Gattschina verlassen, um Blutvergießen mit den irregeführten Kosaken zu vermeiden und um eine bessere Stellung zu beziehen, die zur Zeit so stark ist, daß, selbst wenn es Kerenski und seiner Clique gelingen sollte, ihre Kräfte zu verzehnfachen, keinerlei Anlaß zur Unruhe gegeben wäre. Der Geist unserer Truppen ist ausgezeichnet.
In Petrograd ist alles ruhig.
Der Chef der Verteidigung Petrograds
und des Petrograder Bezirks,
Oberstleutnant Murawjow.“
Wir waren im Begriff zu gehen, als, völlig erschöpft, Antonow ins Zimmer trat, ein Schriftstück in der Hand. „Zur Versendung!“ sagte er.
Befehl
Die kornilowistischen Kerenskibanden bedrohen die Hauptstadt. Alle notwendigen Befehle sind gegeben, um den konterrevolutionären Anschlag gegen das Volk und seine Errungenschaften erbarmungslos niederzuschlagen.
Die Armee und die Rote Garde der Revolution benötigen die unverzügliche Hilfe der Arbeiter.
Wir befehlen den Bezirkssowjets und Fabrikkomitees:
Der Vorsitzende des Petrograder Sowjets
der Arbeiter- und Soldatendeputierten,
Volkskommissar Leo Trotzki.
Der Vorsitzende
des Revolutionären Militärkomitees,
Oberbefehlshaber Podwoiski.“
Als wir in den trüben, dunklen Tag hinaustraten gellten von allen Seiten des grauen Horizontes heiser und unheilverkündend die Fabriksirenen. Zu Zehntausenden strömten die Arbeiter, Männer und Frauen, heraus. Zu Zehntausenden spien die Elendsviertel ihre dunklen und armseligen Massen auf die Straße. Das Rote Petrograd war in Gefahr! „Die Kosaken!“ Nach Süden und Südwesten strömten sie durch die armseligen Straßen, dem Moskowskitor zu: Männer, Frauen und Kinder mit Gewehren, Picken, Spaten, Drahtrollen, Patronengürtel über ihrer Arbeitskleidung. Ein machtvollerer, spontanerer Aufmarsch einer ganzen Stadt war nie gesehen worden! Einem gewaltigen Strome gleich, rollten sie vorwärts, ganze Kompanien von Soldaten mit sich reißend, Maschinengewehre, Lastautos, Wagen – das revolutionäre Proletariat, bereit, mit seiner Brust die Hauptstadt der Arbeiter-und-Bauern-Republik zu verteidigen.
Vor dem Smolny hielt ein Automobil. Ein schmächtiger Mensch, mit dicken Brillengläsern, vor Müdigkeit nur mit Anstrengung sprechend, stand gegen den Kotflügel des Autos gelehnt, die Hände in den Taschen seines schäbigen Mantels vergraben. Ein großer bärtiger Matrose, mit den klaren Augen der Jugend, strich ruhelos umher, zerstreut mit einem enormen Revolver spielend, den er nie aus der Hand ließ. Dies waren Antonow und Dybenko.
Einige Soldaten waren bemüht, zwei Militärfahrräder an dem Laufbrett festzubinden. Der Chauffeur protestierte heftig; die Emaille würde zerkratzt werden, sagte er. Er war zwar ein Bolschewik, und das Automobil war von einem Bourgeois beschlagnahmt worden, und die Fahrräder waren für den Kurierdienst bestimmt. Doch der Berufsstolz des Chauffeurs empörte sich ... So wurden die Fahrräder zurückgelassen ...
Die Volkskommissare für Heeres- und Marinewesen hatten eine Inspektionsreise an die revolutionäre Front vor. Würden sie uns mitnehmen? Unmöglich! Das Automobil hatte nur fünf Plätze: für die beiden Kommissare, für zwei Ordonnanzen und den Wagenführer. Trotzdem kletterte ein russischer Bekannter von mir, den ich kurz Trusischka nennen will, mit größter Seelenruhe in den Wagen, setzte sich und war durch nichts zu bewegen, seinen Platz wieder zu räumen.
Ich habe keinen Grund, die Wahrheit der mir von Trusischka gegebenen Schilderungen in Zweifel zu ziehen. Als sie den Suworowski-Prospekt hinunterfuhren, fiel es jemand ein, daß sie nicht ohne Lebensmittel fahren könnten. Sie würden vielleicht drei oder vier Tage unterwegs sein, in einer nicht gar zu reichen Gegend. Sie hielten. Geld? – Der Kommissar für das Heer durchsuchte seine Taschen. Er besaß nicht eine Kopeke. Der Kommissar für die Flotte war völlig abgebrannt, dem Wagenführer ging es nicht besser. Trusischka mußte die Lebensmittel kaufen.
Als sie in den Newski einbogen, hatten sie eine Panne.
„Was tun?“ meinte Antonow. „Ein neues Auto requirieren“ versetzte Dybenko, auf seinen Revolver weisend. Und Antonow, der in der Mitte der Straße stand, hielt ein ankommendes Auto an, das von einem Soldaten gelenkt wurde.
„Ich muß dieses Auto haben“, sagte er.
„Das werden Sie nicht bekommen“, erwiderte der Soldat.
„Wissen Sie, wer ich bin?“ Antonow wies ihm ein Papier, aus dem hervorging, daß er der Oberbefehlshaber sämtlicher Armeen der Russischen Republik war und jedermann sich ohne Widerrede seinen Anforderungen fügen müßte.
„Mir egal, und wenn Sie der Teufel selber wären. Der Wagen gehört dem 1. Maschinengewehr-Regiment. Wir brauchen ihn zum Munitionstransport. Sie können ihn nicht haben.“
Die Schwierigkeit wurde durch das Auftauchen einer alten Autodroschke behoben, die die italienische Flagge trug. (In unruhigen Zeiten wurden die Privatautos, um sie vor der Beschlagnahme zu schützen, auf den Namen der ausländischen Konsulate eingeschrieben.) Aus dem Innern des Wagen wurde ein fetter Bourgeois in einem kostbaren Pelzmantel auf die Straße gesetzt, und das Oberkommando fuhr weiter.
In Narwskaja Sastawa, zirka zehn Kilometer von Petrograd entfernt, verlangte Antonow den Kommandeur der Rotgardisten zu sprechen. Er wurde an die Stadtgrenze geführt, wo einige hundert Arbeiter Schützengräben ausgehoben hatten und die Kosaken erwarteten.
„Na, wie geht‘s hier?“ fragte Antonow.
„Alles in Ordnung, Genosse!“ antwortete der Kommandeur. „Der Geist der Truppen ist gut. Nur eins, wir haben keine Munition.“
„Im Smolny haben wir genug davon“, erwiderte Antonow. „Ich werde ihnen eine Anweisung geben.“ Er suchte in seinen Taschen. „Kann mir jemand ein Stück Papier geben?“
Dybenko hatte nichts, ebensowenig die Kuriere.
Trusischka mußte sein Notizbuch hergeben.
„Teufel, ich habe keinen Bleistift. Wer hat einen Bleistift?“ schrie Antonow.
Kaum nötig zu sagen, daß der einzige Bleistift in der Runde sich im Besitze Trusischkas befand.
Wir gingen zum Zarskoje-Selo-Bahnhof. Als wir den Newski passierten, sahen wir Rotgardisten die Straße hinaufmarschieren, alle bewaffnet, einige mit Seitengewehren, andere ohne. Die frühe Dämmerung des Winterabends sank herab. Mit stolz erhobenen Köpfen stampften die Rotgardisten durch den Schneeschlamm der Straßen, in unregelmäßigen Viererreihen, ohne Musik, ohne Trommeln. Über ihnen flatterte eine rote Fahne, auf der in plumpen goldenen Lettern zu lesen war: „Friede! Land!“ Sie waren sehr jung; aber der Ausdruck auf ihren Gesichtern war der Ausdruck von Männern, die wußten, daß sie zum Sterben gingen. Halb erschreckt, halb verächtlich, mit haßerfülltem Schweigen begaffte sie die Menge, als sie vorüberzogen.
Auf dem Bahnhof wußte niemand genau, wo sich Kerenski befand oder wo die Front lag. Die Züge gingen nicht weiter als bis Zarskoje.
Unser Wagen war voller heimkehrender Provinzler, mit Bündeln und Abendzeitungen beladen. Die ganze Unterhaltung drehte sich um den bolschewistischen Aufstand. Hiervon abgesehen hätte jedoch kein Mensch vermuten können, daß der Bürgerkrieg Rußland in zwei mächtige Lager zu teilen im Begriffe war und daß unser Zug dem unmittelbaren Kampfgebiet zueilte. Durch die Fenster sahen wir in der schnell sinkenden Dämmerung Soldatenmassen auf dem schmutzigen Weg der Stadt zuwandern, debattieren und heftig mit ihren Armen gestikulierend. Ein Güterzug voller Soldaten, von riesigen Feuern erleuchtet, hielt auf einem Nebengleis. Das war alles. Hinten am flachen Horizont verblaßten die Lichter der Stadt. Ein Straßenbahnwagen kroch in weiter Ferne eine langgestreckte Vorortstraße entlang ...
Der Bahnhof in Zarskoje Selo lag ruhig. Hier und da trafen wir Trupps von Soldaten, die sich in leisem Ton unterhielten und unruhig die leeren Bahngleise in der Richtung nach Gattschina hinunterblickten. Ich fragte einige, auf wessen Seite sie wären. „Nun, wir wissen noch nicht genau, was wir tun sollen. Sicher ist Kerenski ein Provokateur; aber wir halten es nicht für richtig, wenn Russen einander totschießen.“
Im Büro der Bahnhofskommandantur war ein großer, jovialer, bärtiger Soldat mit der roten Armbinde eines Regimentskomitees. Unsere Papiere vom Smolny verschafften uns sofort Respekt. Er war ganz für die Sowjets, war jedoch verwirrt.
„Die Rotgardisten waren vor zwei Stunden hier, sie sind aber wieder abgezogen. Heute früh kam ein Kommissar. Als die Kosaken ankamen, ist er aber wieder weg nach Petrograd.“ „
Also sind hier Kosaken?“
Er nickte betrübt. „Es hat eine Schlacht gegeben. Die Kosaken waren schon in aller Frühe da. Sie haben zwei- bis dreihundert unserer Leute gefangengenommen und etwa fünfundzwanzig getötet.“
„Wo sind die Kosaken jetzt?“
„Ich weiß nicht genau, wo sie sind. Nach dorthin ab ...“ Er zeigte mit einer unbestimmten Handbewegung nach Westen.
Im Bahnhofsrestaurant aßen wir zu Mittag – ein hervorragendes Essen, besser und billiger, als es in Petrograd zu haben war. In unserer Nähe saß ein französischer Offizier, der eben erst zu Fuß von Gattschina gekommen war. Dort sei alles ruhig, sagte er. Kerenski sei im Besitz der Stadt. „Ach, diese Russen“, fuhr er fort, „ein originelles Volk sind sie! Was ist das für ein Bürgerkrieg! Alles mögliche, nur kein Kampf!“
Wir machten einen Abstecher in die Stadt. Am Stationseingang standen zwei Soldaten mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten, umringt von zirka hundert hitzig auf sie einredenden Geschäftsleuten, Regierungsbeamten und Studenten. Die Soldaten waren unzugänglich und in ihren Gefühlen verletzt wie zu Unrecht gescholtene Kinder.
Ein großer junger Mann mit anmaßenden Manieren, in der Uniform eines Studenten, führte das Wort.
„Ihr werdet doch wohl begreifen, daß ihr euch zu Werkzeugen von Mördern und Verrätern macht, wenn ihr die Waffen gegen eure Brüder erhebt“, sagte er in unverschämtem Ton.
„Ach, Bruder“, antwortete der Soldat ernsthaft, „du verstehst nicht. Es gibt zwei Klassen. Kannst du das nicht sehen? Das Proletariat und die Bourgeoisie. Wir ...“
„Oh, ich kenne dieses dumme Gerede“, unterbrach ihn der Student grob. „Ihr dummen Bauern hört ein paar Schlagworte brüllen. Was sie bedeuten, versteht ihr nicht. Ihr plappert es nach, als wäret ihr Papageien.“ Die Menge lachte. „Ich bin selbst Marxist! Und ich sage euch, wofür ihr kämpft, das ist gar kein Sozialismus. Das ist ganz einfach Anarchie, die nur den Deutschen nützt.“
„O ja, ich verstehe“, entgegnete der Soldat, vor Verlegenheit schwitzend. „Du bist in gebildeter Mann. Das ist leicht zu sehen, und ich bin nur ein einfacher Mensch; aber mir scheint doch ...“
„Du scheinst zu glauben, Lenin ist ein aufrichtiger Freund des Proletariats“, unterbrach ihn der andere verächtlich.
„Jawohl, das glaube ich“, erwiderte geduldig der Soldat.
„Nun gut, mein Freund, weißt du dann auch, daß Lenin in einem geschlossenen Zuge durch Deutschland gefahren ist und daß er von den Deutschen Geld genommen hat?“
„Davon weiß ich nichts“, antwortete der Soldat. „Aber mir scheint, daß er gerade das sagt, was ich und meinesgleichen hören wollen. Es gibt zwei Klassen, die Bourgeoisie und das Proletariat.“
„Du bist ein Narr, mein Freund. Ich habe zwei Jahre lang in der Schlüsselburg gesessen, als du noch Revolutionäre niederschossest und ‚Gott erhalte den Zaren‘ sangest. Mein Name ist Wassili Georgijewitsch Panin. Hast du nie etwas von mir gehört?“
„Nein, bedaure“, entgegnete der Soldat bescheiden. „Aber ich bin auch kein gebildeter Mann und du vielleicht ein großer Held.“
„Das bin ich“, versetzte der Student mit Überzeugung. „Und ich bin ein Gegner der Bolschewiki, die unser Rußland und die Revolution zugrunde richten. Wie erklärst du dir das?“
Der Soldat kratzte sich am Kopf. „Das kann ich mir nicht erklären. Mir erscheint die Sache ganz einfach; aber ich bin ja kein gebildeter Mann. Es gibt nur zwei Klassen, die Bourgeoisie und das Proletariat ...“
„Da kommst du schon wieder mit deinen dummen Phrasen“, schrie der Student.
„Nur zwei Klassen“, fuhr der Soldat hartnäckig fort, „und wer nicht auf der einen Seite ist, der ist auf der anderen.“
Wir wanderten weiter, die nur von wenigen Laternen beleuchtete, fast menschenleere Straße hinauf. Eine beängstigende Stille hing über dem Ort, der eine Art politischen Niemandsland zu sein schien. Nur die Barbierläden waren hell erleuchtet und überfüllt, und an den Eingängen der öffentlichen Badehäuser drängten sich die Menschen; es war Sonnabend-abend, wo jeder Russe gewohnt ist, ein Bad zu nehmen und sich schön zu machen. Ich habe nicht den geringsten Zweifel, daß Sowjetsoldaten und Kosaken in trautem Durcheinander an diesen Plätzen versammelt waren.
Je näher wir dem kaiserlichen Park kamen, um so menschenleerer waren die Straßen. Ein erschreckter Pope wies uns den Weg zum Hauptquartier der Sowjets und eilte davon. Es war in der Parkseite eines der großfürstlichen Paläste untergebracht. Die Fenster waren finster, der Eingang verschlossen. Ein herumlungernder Soldat, die Hände tief in den Hosentaschen vergraben, musterte uns mit finsterem Mißtrauen. „Der Sowjet ist seit zwei Tagen weg“, sagte er. „Wohin?“ Er zuckte die Schultern. „Weiß nicht.“
Etwas weiter befand sich ein großes hellerleuchtetes Gebäude. Von innen hörten wir den Lärm von Hammerschlägen.
Während wir noch zögerten, kamen ein Soldat und ein Matrose Arm in Arm die Straße herunter. Ich zeigte ihnen meinen Ausweis vom Smolny. „Sind sie auf seiten der Sowjets“, fragte ich. Sie antworteten nicht ‚ sondern sahen einander ängstlich an.
„Was machen die da drinnen?“ fragte der Matrose, auf das Gebäude zeigend.
„Ich weiß nicht.“
Furchtsam streckte der Soldat die Hand aus und öffnete die Eingangstür. Ein großer, mit Immergrün geschmückter Saal, in Reihen aufgestellte Stühle, man war dabei, eine Bühne zu bauen. Eine untersetzte Frau, einen Hammer in ihrer Hand, zwischen den Zähnen Nägel, kam heraus. „Was wünschen Sie?“ fragte sie.
„Ist hier heute abend Vorstellung?“ fragte der Matrose nervös.
„Sonntagabend wird eine Privatvorstellung sein“, antwortete sie. „Gehen Sie weiter.“
Es gelang uns nicht, den Soldaten und den Matrosen in eine Unterhaltung zu ziehen. Sie schienen ängstlich und unglücklich und verschwanden in der Dunkelheit.
Wir schlenderten den kaiserlichen Palästen zu, am Rande der weit und dunkel daliegenden Gärten entlang; mit ihren undeutlichen, phantastischen Pavillons, zierlichen Brücken und sanft plätschernden Springbrunnen. An einem Platz, wo ein lächerlich aussehender eiserner Schwan aus einer künstlichen Grotte unablässig Wasser spie, hatten wir plötzlich das Gefühl, beobachtet zu werden, und aufblickend, trafen wir auf die mißtrauischen Blicke von einem halben Dutzend riesiger, bewaffneter Soldaten, die uns von einer mit Gras bewachsenen Terrasse herab anstarrten. Ich kletterte zu ihnen hinauf. „Wer sind Sie?“ fragte ich.
„Die Wache“, antwortete einer. Sie machten alle einen niedergedrückten Eindruck, unzweifelhaft infolge der wochenlangen Tag und Nacht währenden Diskussionen und Debatten.
„Zu wem gehören Sie, zu den Kerenskitruppen oder zu den Sowjets?“
Sie schwiegen einen Moment, dann sahen sie einander an. „Wir sind neutral“, sagte einer.
Wir durchschritten das Tor des riesenhaften Katherinapalastes und fragten im Innern des Palastes nach dem Stab. Ein Posten sagte uns, daß der Kommandant drinnen wäre.
In einem eleganten, weiß gehaltenen Raum georgischen Stils, den ein Ofen in zwei ungleich große Hälften teilte, standen in besorgtem Gespräch mehrere Offiziere. Sie waren blaß und aufgeregt und hatten augenscheinlich nicht geschlafen. Einem ältlichen Mann mit weißem Bart und ordengeschmückter Uniform, der uns als Oberst bezeichnet wurde, zeigten wir unsere bolschewistischen Ausweise.
Er schien überrascht. „Wie haben Sie es nur fertiggebracht, hierherzukommen, ohne getötet zu werden?“ fragte er höflich. „Es ist gerade jetzt sehr gefährlich in den Straßen. In Zarskoje Selo gehen die Wogen der politischen Leidenschaft hoch. Heute morgen hatten wir eine Schlacht, die wahrscheinlich morgen früh ihre Fortsetzung finden wird. Gegen acht Uhr erwarten wir den Einmarsch Kerenskis.“
„Wo sind die Kosaken?“
„Etwa anderthalb Meilen entfernt. In jener Richtung.“ Er wies hinaus.
„Werden Sie die Stadt gegen sie verteidigen?“
„Gott bewahre.“ Er lächelte. „Wir halten die Stadt für Kerenski.“ Uns schlug das Herz. Aus unseren Papieren war ersichtlich, daß wir Revolutionäre waren. Der Oberst räusperte sich: „Mit diesen Ausweisen, die Sie haben, dürfte es für Sie gefährlich werden, wenn man Sie erwischt. Wenn Sie die Kämpfe sehen wollen, will ich ihnen gerne eine Anweisung für eine Wohnung im Offiziershotel geben. Sie können dann hier gegen sieben Uhr vorsprechen und von mir neue Ausweise erhalten.“
„Dann sind Sie also für Kerenski?“ fragten wir.
„Nun – nicht gerade für Kerenski.“ Er hielt etwas zurück. „Sie müssen wissen, die meisten Soldaten in der Garnison sind Bolschewiki. Heute, nach der Schlacht, sind sie alle in der Richtung nach Petrograd davongezogen und haben die Artillerie mit sich genommen. Man kann ruhig sagen, daß von den Soldaten nicht einer für Kerenski ist. Unter ihnen sind aber welche, die überhaupt keine Lust zu kämpfen haben. Die Offiziere sind in ihrer Mehrheit zu Kerenski übergegangen oder sind einfach davongezogen. Wir befinden uns in einer äußerst schwierigen Lage, wie Sie sehen.“
Wir glaubten nicht, daß es zu Kämpfen kommen würde. Der Oberst stellte uns höflich seinen Burschen zur Verfügung, der uns zum Bahnhof begleitete. Er stammte aus dem Süden, aus Bessarabien, von französischen Einwanderern. „Ach“, sagte er, „die Gefahren und Strapazen wollte ich gern ertragen; aber ich bin nun schon drei Jahre von meiner Mutter weg.“
Wir fuhren in der Dunkelheit nach Petrograd zurück. Von Zugfenster aus sah ich flüchtig im Feuerschein gestikulierende Soldaten. An den Wegkreuzungen hielten Panzerautos; die Fahrer steckten die Köpfe aus den Türmen und schrien aufeinander ein.
Die ganze Nacht hindurch wanderten über die öden Flächen führerlose Haufen von Soldaten und Rotgardisten, lärmend und verwirrt. Die Kommissare des Revolutionären Militärkomitees eilten von Gruppe zu Gruppe, fieberhaft tätig, um so etwas wie Organisation in die Verteidigung zu bringen.
Wir fanden Petrograd voll nervöser Spannung; den Newski wogten erregte Menschenmassen auf und nieder. Vom Warschauer Bahnhof her waren ferne Kanonenschüsse zu hören. In den Offiziersschulen herrschte fieberhafte Tätigkeit. Von Kaserne zu Kaserne eilten Mitglieder der Duma, bemüht, die Soldaten zu gewinnen, und schreckliche Geschichten von angeblichen Greueltaten der Bolschewiki kolportierend: Niedermetzelung der Offiziersschüler im Winterpalast, Vergewaltigung der Frauen und Mädchen aus den Frauenbataillonen, die Erschießung eines Mädchens vor der Duma, die Ermordung des Großfürsten Tumanow ... Im Alexandersaal hielt das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution eine außerordentliche Sitzung ab; Kommissare kamen und gingen ... Die aus dem Smolny herausgeworfenen Journalisten waren in Hochstimmung. Sie schenkten unserem Bericht über die Lage in Zarskoje Selo keinen Glauben. Es war doch stadtbekannt, daß Zarskoje sich in den Händen Kerenskis befand und daß die Kosaken schon in Pulkowo waren. Man war eben dabei, ein Komitee zu wählen, das Kerenski am Morgen am Bahnhof empfangen sollte.
Einer vertraute mir unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit an, daß der Beginn der Konterrevolution auf Mitternacht angesetzt sei.
Er zeigte mir zwei Aufrufe, der eine, mit den Unterschriften von Goz und Pokolnikow, an die Offiziersschüler, an die Krankenurlauber in den Hospitälern und an die St.Georgsritter, sich marschfertig zu halten und auf die Befehle des Komitees zur Rettung des Vaterlandes zu warten; der andere, von dem Komitee zur Rettung des Vaterlandes selbst, lautete:
Genossen, Arbeiter, Soldaten und Bürger des revolutionären Petrograds!
Während die Bolschewiki den Frieden an der Front fordern, provozieren sie den Krieg im Hinterland.
Hört nicht auf ihre provokatorischen Aufrufe!
Hebt keine Schützengräben aus!
Nieder mit den verräterischen Barrikaden!
Legt eure Waffen nieder!
Soldaten, kehrt in eure Kasernen zurück!
Der Krieg in Petrograd – ist der Tod der Revolution!
Im Namen von Freiheit, Land und Frieden, schließt euch zusammen um das Komitee zur Rettung des Vaterlandes und der Revolution!“
Als wir die Duma verließen, kam eine Kompanie Rotgardisten die dunkle, menschenleere Straße herunter, finster, zum äußersten entschlossen, ein Dutzend Gegangene mit sich führend. Mitglieder der lokalen Organisation des Kosakenrats, auf frische Tat erwischt, als sie sich in ihrem Hauptquartier für die Konterrevolution vorbereiteten.
Ein Soldat, von einem kleinen Jungen begleitet, der einen Eimer Leim trug, klebte große, auffällige Bekanntmachungen an.
„Für die Stadt Petrograd und ihre Vororte wird hiermit der Belagerungszustand verhängt. Alle Zusammenrottungen und Versammlungen auf den Straßen, wie überhaupt unter freiem Himmel, sind bis auf weiteres verboten.
Der Vorsitzende des Revolutionären Militärkomitees
N. Podwoiski.“
Als wir heimgingen, war die Luft von Lärm erfüllt: Autohupen, Schreien, entferntes Schießen.
In der Telefonzentrale war in aller Frühe bei den auf ihre Ablösung wartenden Wachmannschaften eine Kompanie Offiziersschüler erschienen, die als Soldaten des Semjonowski-Regiments verkleidet waren. Sie kannten die bolschewistische Parole und übernahmen die Zentrale, ohne Verdacht zu erregen. Einige Minuten später erschien Antonow, der eine Inspektionsrunde machte. Er wurde festgenommen und in einen kleinen Raum gesperrt. Als die wirkliche Ablösung kam, empfing sie eine Gewehrsalve, und einige Soldaten wurden getötet.
Die Konterrevolution begann ...
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Zuletzt aktualisiert am 15.7.2008