Rosa Luxemburg


Die Krise der Sozialdemokratie


III

Allein noch tiefere Zusammenhänge und gründlichere Einsichten bereiteten unsere Partei darauf vor, das wahre Wesen, die wirklichen Ziele dieses Krieges zu durchschauen und sich von ihm in keiner Hinsicht überraschen zu lassen. Die Vorgänge und Triebkräfte, die zum 4. August 1914 führten, waren keine Geheimnisse. Der Weltkrieg wurde seit Jahrzehnten vorbereitet, in breitester Öffentlichkeit, im hellichten Tage, Schritt für Schritt und Stunde um Stunde. Und wenn heute verschiedene Sozialisten der „Geheimdiplomatie“, die diese Teufelei hinter den Kulissen zusammengebraut hätte, grimmig die Vernichtung ansagen, so schreiben sie den armen Schelmen unverdient geheime Zauberkraft zu, wie der Botokude, der seinen Fetisch für den Ausbruch des Gewitters peitscht. Die sogenannten Lenker der Staatsgeschicke waren diesmal, wie stets, nur Schachfiguren, von übermächtigen historischen Vorgängen und Verlagerungen in der Erdrinde der bürgerlichen Gesellschaft geschoben. Und wenn jemand diese Vorgänge und Verlagerungen die ganze Zeit über mit klarem Auge zu erfassen bestrebt und fähig war, so war es die deutsche Sozialdemokratie.

Zwei Linien der Entwicklung in der jüngsten Geschichte führen schnurgerade zu dem heutigen Kriege. Eine leitet noch von der Periode der Konstituierung der sogenannten Nationalstaaten, das heißt der modernen kapitalistischen Staaten, vom Bismarckschen Kriege gegen Frankreich her. Der Krieg von 1870, der durch die Annexion Elsaß-Lothringens die französische Republik in die Arme Rußlands geworfen, die Spaltung Europas in zwei feindliche Lager und die Ära des wahnwitzigen Wettrüstens eröffnet hat, schleppte den ersten Zündstoff zum heutigen Weltbrande herbei. Noch während Bismarcks Truppen in Frankreich standen, schrieb Marx an den Braunschweiger Ausschuß:

Wer nicht ganz vom Geschrei des Augenblicks übertäubt ist, oder ein Interesse hat, das deutsche Volk zu übertäuben, muß einsehen, daß der Krieg von 1870 ganz so notwendig einen Krieg zwischen Deutschland und Rußland im Schoße trägt, wie der Krieg von 1866 den Krieg von 1870. Ich sage notwendig, unvermeidlich, außer im unwahrscheinlichen Falle eines vorherigen Ausbruchs einer Revolution in Rußland. Tritt dieser unwahrscheinliche Fall nicht ein, so muß der Krieg zwischen Deutschland und Rußland schon jetzt als un fait accompli (eine vollendete Tatsache) behandelt werden. Es hängt ganz vom jetzigen Verhalten der deutschen Sieger ab, ob dieser Krieg nützlich oder schädlich. Nehmen sie Elsaß und Lothringen, so wird Frankreich mit Rußland Deutschland bekriegen. Es ist überflüssig, die unheilvollen Folgen zu deuten. [1]

Diese Prophezeiung wurde damals verlacht; man hielt das Band, das Preußen mit Rußland verknüpfte, für so stark, daß es als Wahnsinn galt, auch nur daran zu denken, das autokratische Rußland könnte sich mit dem republikanischen Frankreich verbünden. Die Vertreter dieser Auffassung wurden als reine Tollhäusler hingestellt. Und doch ist alles, was Marx vorausgesagt hat, bis zum letzten Buchstaben eingetroffen. „Das ist eben“ – sagt Auer in seiner Sedanfeier – „sozialdemokratische Politik, die klar sieht, was ist, und sich darin von jener Alltagspolitik unterscheidet, welche blind vor jedem Erfolg sich auf den Bauch wirft.“ [2]

Allerdings darf der Zusammenhang nicht in der Weise aufgefaßt werden, als ob die seit 1870 fällige Vergeltung für den Bismarckschen Raub nunmehr Frankreich wie ein unabwendbares Schicksal zur Kraftprobe mit dem Deutschen Reich getrieben hätte, als ob der heutige Weltkrieg in seinem Kern die viel verschriene „Revanche“ für Elsaß-Lothringen wäre. Dies die bequeme nationalistische Legende der deutschen Kriegshetzer, die von dem finsteren rachebrütenden Frankreich fabeln, das seine Niederlage „nicht vergessen konnte“, wie die Bismarckschen Preßtrabanten im Jahre 1866 von der entthronten Prinzessin Österreich fabelten, die ihren ehemaligen Vorrang vor dem reizenden Aschenbrödel Preußen „nicht vergessen konnte“. In Wirklichkeit war die Rache für Elsaß-Lothringen nur noch theatralisches Requisit einiger patriotischer Hanswürste, der „Lion de Belfort“ ein altes Wappentier geworden.

In der Politik Frankreichs war die Annexion längst überwunden, von neuen Sorgen überholt, und weder die Regierung noch irgendeine ernste Partei in Frankreich dachte an einen Krieg mit Deutschland wegen der Reichslande. Wenn das Bismarcksche Vermächtnis der erste Schritt zu dem heutigen Weltbrand wurde, so vielmehr in dem Sinne, daß es einerseits Deutschland wie Frankreich und damit ganz Europa auf die abschüssige Bahn des militärischen Wettrüstens gestoßen, andererseits das Bündnis Frankreichs mit Rußland und Deutschlands mit Österreich als unabwendbare Konsequenz herbeigeführt hat. Damit war dort eine außerordentliche Stärkung des russischen Zarismus als Machtfaktor der europäischen Politik gegeben – begann doch gerade seitdem das systematische Wettkriechen zwischen Preußen-Deutschland und der französischen Republik um die Gunst Rußlands –, hier war die politische Zusammenkoppelung des Deutschen Reichs mit Österreich-Ungarn bewirkt; dessen Krönung, wie die angeführten Worte des deutschen Weißbuchs zeigen, die „Waffenbrüderschaft“ im heutigen Krieg ist.

So hat der Krieg von 1870 in seinem Gefolge die äußere politische Gruppierung Europas um die Achse des deutsch-französischen Gegensatzes wie die formale Herrschaft des Militarismus im Leben der europäischen Völker eingeleitet. Diese Herrschaft und jene Gruppierung hat die geschichtliche Entwicklung aber seitdem mit einem ganz neuen Inhalt gefüllt. Die zweite Linie, die im heutigen Weltkrieg mündet und die Marxens Prophezeiung so glänzend bestätigt, rührt von Vorgängen internationaler Natur her, die Marx nicht mehr erlebt hat: von der imperialistischen Entwicklung der letzten 25 Jahre.

Der kapitalistische Aufschwung, der nach der Kriegsperiode der sechziger und siebziger Jahre in dem neukonstituierten Europa Platz gegriffen und der namentlich nach Überwindung der langen Depression, die dem Gründerfieber und dem Krach des Jahres 1873 gefolgt war, in der Hochkonjunktur der neunziger Jahre einen nie dagewesenen Höhepunkt erreicht hatte, eröffnete bekanntlich eine neue Sturm- und Drangperiode der europäischen Staaten: ihre Expansion um die Wette nach den nichtkapitalistischen Ländern und Zonen der Welt. Schon seit den achtziger Jahren macht sich ein neuer besonders energischer Drang nach Kolonialeroberungen geltend. England bemächtigt sich Ägyptens und schafft sich in Südafrika ein gewaltiges Kolonialreich, Frankreich besetzt Tunis in Nordafrika und Tonkin in Ostasien, Italien faßt Fuß in Abessinien, Rußland bringt in Zentralasien seine Eroberungen zum Abschluß und dringt in der Mandschurei vor, Deutschland erwirbt in Afrika und der Südsee die ersten Kolonien, endlich treten auch die Vereinigten Staaten in den Reigen und erwerben mit den Philippinen „Interessen“ in Ostasien. Diese Periode der fieberhaften Zerpflückung Afrikas und Asiens, die, von dem chinesisch-japanischen Krieg im Jahre 1895 [3] an, fast eine ununterbrochene Kette blutiger Kriege entfesselte, gipfelt in dem großen Chinafeldzug [4] und schließt mit dem russisch-japanischen Kriege des Jahres 1904 [5] ab.

Alle diese Schlag auf Schlag erfolgten Vorgänge schufen neue außereuropäische Gegensätze nach allen Seiten: zwischen Italien und Frankreich in Nordafrika, zwischen Frankreich und England in Ägypten, zwischen England und Rußland in Zentralasien, zwischen Rußland und Japan in Ostasien, zwischen Japan und England in China, zwischen den Vereinigten Staaten und Japan im Stillen Ozean – ein bewegliches Meer, ein Hin- und Herwogen von scharfen Gegensätzen und vorübergehenden Allianzen, von Spannungen und Entspannungen, bei denen alle paar Jahre ein partieller Krieg zwischen den europäischen Mächten auszubrechen drohte, aber immer wieder hinausgeschoben wurde. Es war daraus für jedermann klar: 1. daß der heimliche, im stillen arbeitende Krieg aller kapitalistischen Staaten gegen alle auf dem Rücken asiatischer und afrikanischer Völker früher oder später zu einer Generalabrechnung führen, daß der in Afrika und Asien gesäte Wind einmal nach Europa als fürchterlicher Sturm zurückschlagen mußte, um so mehr, als der ständige Niederschlag der asiatischen und afrikanischen Vorgänge die steigenden Rüstungen in Europa waren, 2. daß der europäische Weltkrieg zur Entladung kommen würde, sobald die partiellen und abwechselnden Gegensätze zwischen den imperialistischen Staaten eine Zentralisationsachse, einen überwiegenden starken Gegensatz finden würden, um den sie sich zeitweilig gruppieren können. Diese Lage wurde geschaffen mit dem Auftreten des deutschen Imperialismus.

In Deutschland kann das Aufkommen des Imperialismus, das auf die kürzeste Zeitspanne zusammengedrängt ist, in Reinkultur beobachtet werden. Der beispiellose Aufschwung der Großindustrie und des Handels seit der Reichsgründung hat hier in den achtziger Jahren zwei charakteristische eigenartige Formen der Kapitalakkumulation hervorgebracht: die stärkste Kartellentwicklung Europas und die größte Ausbildung sowie Konzentration des Bankwesens in der ganzen Welt. Jene hat die Schwerindustrie, das heißt gerade den an Staatslieferungen, an militärischen Rüstungen wie an imperialistischen Unternehmungen (Eisenbahnbau, Ausbeutung von Erzlagern usw.) unmittelbar interessierten Kapitalzweig zum einflußreichsten Faktor im Staate organisiert. Dieses hat das Finanzkapital zu einer geschlossenen Macht von größter, stets gespannter Energie zusammengepreßt, zu einer Macht, die gebieterisch schaltend und waltend in Industrie, Handel und Kredit des Landes, gleich ausschlaggebend in Privat- wie in Staatswirtschaft, schrankenlos und sprunghaft ausdehnungsfähig, immer nach Profit und Betätigung hungernd, unpersönlich, daher großzügig, wagemutig und rücksichtslos, international von Hause aus, ihrer ganzen Anlage nach auf die Weltbühne als den Schauplatz ihrer Taten zugeschnitten war.

Fügt man hierzu das stärkste, in seinen politischen Initiativen sprunghafteste persönliche Regiment und den schwächsten, jeder Opposition unfähigen Parlamentarismus, dazu alle bürgerlichen Schichten im schroffen Gegensatz zur Arbeiterklasse zusammengeschlossen und hinter der Regierung verschanzt, so konnte man voraussehen, daß dieser junge, kraftstrotzende, von keinerlei Hemmungen beschwerte Imperialismus, der auf die Weltbühne mit ungeheuren Appetiten trat, als die Welt bereits so gut wie verteilt war, sehr rasch zum unberechenbaren Faktor der allgemeinen Beunruhigung werden mußte.

Dies kündigte sich bereits durch den radikalen Umschwung in der militärischen Politik des Reiches Ende der neunziger Jahre an, mit den beiden einander überstürzenden Flottenvorlagen der Jahre 1898 und 1899, die in beispielloser Weise auf plötzliche Verdoppelung der Schlachtflotte, einen gewaltigen, nahezu auf zwei Jahrzehnte berechneten Bauplan der Seerüstungen bedeuteten. [6] Dies war nicht bloß eine weitgreifende Umgestaltung der Finanzpolitik und der Handelspolitik des Reiches – der Zolltarif des Jahres 1902 [7] war nur der Schatten, der den beiden Flottenvorlagen folgte – in weiterer logischer Konsequenz der Sozialpolitik und der ganzen inneren Klassen- und Parteiverhältnisse. Die Flottenvorlagen bedeuteten vor allem einen demonstrativen Wechsel im Kurs der auswärtigen Politik des Reiches, wie sie seit der Reichsgründung maßgebend war. Während die Bismarcksche Politik auf dem Grundsatz basierte, daß das Reich eine Landmacht sei und bleiben müsse, die deutsche Flotte aber höchstens als überflüssiges Requisit der Küstenverteidigung gedacht war – erklärte doch der Staatssekretär Hollmann selbst im März 1897 in der Budgetkommission des Reichstags: „Für den Küstenschutz brauchen wir gar keine Marine; die Küsten schützen sich von selbst“ –, wurde jetzt ein ganz neues Programm aufgestellt: Deutschland sollte zu Lande und zur See die erste Macht werden. Damit war die Wendung von der Bismarckschen kontinentalen Politik zur Weltpolitik, von der Verteidigung zum Angriff als Ziel der Rüstungen gegeben. Die Sprache der Tatsachen war so klar, daß im Deutschen Reichstag selbst der nötige Kommentar geliefert wurde. Der damalige Führer des Zentrums, Lieber, sprach schon am 11. März 1896, nach der bekannten Rede des Kaisers beim fünfundzwanzigsten Jubiläum des Deutschen Reiches, die als Vorbote der Flottenvorlagen das neue Programm entwickelt hatte [8], von „uferlosen Flottenplänen“, gegen die man sich entschieden verwahren müsse. Ein anderer Zentrumsführer, Schädler, rief im Reichstag am 23. März 1898 bei der ersten Flottenvorlage: „Das Volk hat die Anschauung, wir können nicht die erste Macht zu Lande und die erste Macht zur See sein. Wenn mir soeben zugerufen wird, das wollen wir gar nicht – ja, meine Herren, Sie sind am Anfange davon; und zwar an einem sehr dicken Anfang.“ Und als die zweite Vorlage kam, erklärte derselbe Schädler im Reichstag am 8. Februar 1900, nachdem er auf all die früheren Erklärungen, daß man an keine neue Flottenvorlage denke, hingewiesen hatte: „Und heute diese Novelle, die nichts mehr und nichts weniger inauguriert, als die Schaffung der Weltflotte als Unterlage der Weltpolitik durch Verdoppelung unserer Flotte unter Bindung auf fast zwei Jahrzehnte hinaus.“ Übrigens sprach die Regierung selbst das politische Programm des neuen Kurses offen aus: am 11. Dezember 1899 sagte von Bülow, damals Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, bei der Begründung der zweiten Flottenvorlage: „Wenn die Engländer von einem Greater Britain [größeren Britannien – RL], wenn die Franzosen von einer Nouvelle France [neuen Frankreich – RL] reden, wenn die Russen sich Asien erschließen, haben auch wir Anspruch auf ein größeres Deutschland ... Wenn wir uns nicht eine Flotte schaffen, die ausreicht, unseren Handel und unsere Landsleute in der Fremde, unsere Missionen und die Sicherheit unserer Küsten zu schützen, so gefährden wir die vitalsten Interessen des Landes... In dem kommenden Jahrhundert wird das deutsche Volk Hammer oder Amboß sein.“ [9] [Hervorhebungen – RL] Streifte man die Redefloskeln von dem Küstenschutz, den Missionen und dem Handel ab, so bleibt das lapidare Programm: Größeres Deutschland, Politik des Hammers für andere Völker.

Gegen wen sich diese Provokationen in erster Linie richteten, war allen klar: die neue aggressive Flottenpolitik sollte Deutschland zum Konkurrenten der ersten Seemacht, Englands, machen. Und sie ist auch nicht anders in England verstanden worden. Die Flottenreform und die Programmreden, die sie begleiteten, riefen in England die größte Beunruhigung hervor, die seitdem nicht nachgelassen hat. Im März 1910 sagte im englischen Unterhause Lord Robert Cecil bei der Flottendebatte wieder: er fordere jedermann heraus, irgendeinen denkbaren Grund dafür anzugeben, daß Deutschland eine riesige Flotte baue, es sei denn, daß damit beabsichtigt werde, einen Kampf mit England aufzunehmen. Der Wettkampf zur See, der auf beiden Seiten seit anderthalb Jahrzehnten dauerte, zuletzt der fieberhafte Bau von Dreadnoughts und Überdreadnoughts, das war bereits der Krieg zwischen Deutschland und England. Die Flottenvorlage vom 11. Dezember 1899 war eine Kriegserklärung Deutschlands, die England am 4. August 1914 quittierte.

Wohlgemerkt hatte dieser Kampf zur See nicht das geringste gemein mit einem wirtschaftlichen Konkurrenzkampf um den Weltmarkt. „Das englische Monopol“ auf dem Weltmarkt, das angeblich die kapitalistische Entwicklung Deutschlands einschnürte und von dem heute so viel gefaselt wird, gehört in das Reich der patriotischen Kriegslegenden, die auch auf die immergrimmige französische „Revanche“ nicht verzichten können. Jenes „Monopol“ war schon seit den achtziger Jahren zum Schmerz englischer Kapitalisten ein Märchen aus alten Zeiten geworden. Die industrielle Entwicklung Frankreichs, Belgiens, Italiens, Rußlands, Indiens, Japans, vor allem aber Deutschlands und der Vereinigten Staaten hatte jenem Monopol aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und bis in die sechziger Jahre ein Ende bereitet. Neben England trat in den letzten Jahrzehnten ein Land nach dem anderen auf den Weltmarkt, der Kapitalismus entwickelte sich naturgemäß und mit Sturmschritt zur kapitalistischen Weltwirtschaft.

Die englische Seeherrschaft aber, die heute sogar manchen deutschen Sozialdemokraten den ruhigen Schlaf raubt und deren Zertrümmerung nach diesen Braven für das Wohlergehen des internationalen Sozialismus dringend notwendig erscheint, diese Seeherrschaft – eine Folge der Ausdehnung des britischen Reichs auf fünf Weltteile – störte den deutschen Kapitalismus bisher so wenig, daß dieser vielmehr unter ihrem „Joch“ mit unheimlicher Schnelligkeit zu einem ganz robusten Burschen mit drallen Backen aufgewachsen ist. Ja, gerade England selbst und seine Kolonien sind der wichtigste Eckstein des deutschen großindustriellen Aufschwungs, wie auch umgekehrt Deutschland für das britische Reich der wichtigste und unentbehrliche Abnehmer geworden ist. Weit entfernt, einander im Wege zu stehen, sind die britische und die deutsche großkapitalistische Entwicklung aufs höchste aufeinander angewiesen und in einer weitgehenden Arbeitsteilung aneinander gekettet, was namentlich durch den englischen Freihandel in weitestem Maße begünstigt wird. Der deutsche Warenhandel und dessen Interessen auf dem Weltmarkt hatten also mit dem Frontwechsel in der deutschen Politik und mit dem Flottenbau gar nichts zu tun.

Ebensowenig führte der bisherige deutsche Kolonialbesitz an sich zu einem gefährlichen Weltgegensatz und zur Seekonkurrenz mit England. Die deutschen Kolonien bedurften keiner ersten Seemacht zu ihrem Schutze, weil sie bei ihrer Beschaffenheit kaum jemand, England am wenigsten, dem Deutschen Reich neidete. Daß sie jetzt im Kriege von England und Japan weggenommen worden sind, daß der Raub den Besitzer wechselt, ist eine übliche Maßnahme und Wirkung des Krieges, so gut wie jetzt der Appetit der deutschen Imperialisten ungestüm nach Belgien schreit, ohne daß vorher, im Frieden, ein Mensch, der nicht ins Irrenhaus gesperrt werden wollte, den Plan hätte entwickeln dürfen, Belgien zu schlucken. Um Südost- und Südwestafrika, um das Wilhelmsland oder um Tsingtau wäre es nie zu einem Krieg zu Lande oder zur See zwischen Deutschland und England gekommen, war doch knapp vor dem Ausbruch des heutigen Krieges zwischen Deutschland und England sogar ein Abkommen fix und fertig, das eine gütliche Verteilung der portugiesischen Kolonien in Afrika zwischen den beiden Mächten einleiten sollte. [10]

Die Entfaltung der Seemacht und des weltpolitischen Paniers auf deutscher Seite kündigte also neue und großartige Streifzüge des deutschen Imperialismus in der Welt an. Es wurde mit der erstklassigen aggressiven Flotte und mit den parallel zu ihrem Ausbau einander überstürzenden Heeresvergrößerungen erst ein Apparat für künftige Politik geschaffen, deren Richtung und Ziele unberechenbaren Möglichkeiten Tür und Tor öffneten. Der Flottenbau und die Rüstungen wurden an sich zum grandiosen Geschäft der deutschen Großindustrie, sie eröffneten zugleich unbegrenzte Perspektiven für die weitere Operationslust des Kartell- und Bankkapitals in der weiten Welt. Damit war das Einschwenken sämtlicher bürgerlicher Parteien unter die Fahne des Imperialismus gesichert. Dem Beispiel der Nationalliberalen als des Kerntrupps der imperialistischen Schwerindustrie folgte das Zentrum, das gerade mit der Annahme der von ihm so laut denunzierten weltpolitischen Flottenvorlage im Jahre 1900 definitiv zur Regierungspartei wurde; dem Zentrum trabte bei dem Nachzügler des Flottengesetzes – dem Hungerzolltarif – der Freisinn nach; die Kolonne schloß das Junkertum, das sich aus einem trutzigen Gegner der „gräßlichen Flotte“ und des Kanalbaus [11] zum eifrigen Krippenreiter und Parasiten des Wassermilitarismus, des Kolonialraubs und der mit ihnen verbundenen Zollpolitik bekehrt hatte. Die Reichstagswahlen von 1907, die sogenannten Hottentottenwahlen [12], enthüllten das ganze bürgerliche Deutschland in einem Paroxismus der imperialistischen Begeisterung unter einer Fahne fest zusammengeschlossen, das Deutschland von Bülows, das sich berufen fühlt, als Hammer der Welt aufzutreten. Und auch diese Wahlen – mit ihrer geistigen Pogromatmosphäre – ein Vorspiel zu dem Deutschland des 4. August – waren eine Herausforderung nicht bloß an die deutsche Arbeiterklasse, sondern an die übrigen kapitalistischen Staaten, eine gegen niemand im besonderen, aber gegen alle insgesamt ausgestreckte geballte Faust.

Anmerkungen

1. Brief Karl Marx’ vom 1. September 1870 an den Braunschweiger Ausschuß, in W. Bracke jr., Der Braunschweiger Ausschuß der sozialdemokratischen Arbeiter-Partei in Lötzen und vor dem Gericht, Braunschweig 1872, S. 9.

2. I. Auer, Sedanfeier und Sozialdemokratie, Rede gehalten in einer Versammlung zu Berlin am 4. September 1895, S. 9.

3. Der chinesisch-japanische Krieg um die Vorherrschaft in Korea, der am 1. August 1984 mit der Kriegserklärung Japans an China begonnen hatte, wurde am 17. April 1895 mit dem Frieden von Shimonoseki zugunsten Japans beendet. China wurde gezwungen, die Gebietsforderungen Japans anzuerkennen. Damit begann die Phase der Aufteilung Chinas in Einflußsphären der imperialistischen Mächte.

4. 1899 war in Nordchina der antiimperialistische Volksaufstand der Ihotuan ausgebrochen, der 1900 durch die vereinigten Armeen von acht imperialistischen Staaten unter Führung des deutschen Generals Alfred Graf von Waldersee niedergeworfen worden. In eine Abschlußprotokoll von 1901 wurde China u. a. gezwungen, etwa 1,4 Millionen Mark Kontributionen zu zahlen und die Errichtung von Stützpunkten für die Interventionsarmeen zuzustimmen.

5. Der Russisch-Japanische Krieg, der vom Februar 1904 bis September 1905 um die Vorherrschaft über Gebiete Chinas geführt wurde, endete mit einer Niederlage Rußlands.

6. Am 28. März 1898 war vom Reichstag die erste Flottenvorlage angenommen worden, wonach die deutsche Kriegsflotte bis 1904 mit einem Kostenaufwand von etwa 482 Millionen Mark wesentlich vergrößert werden sollte. Damit begann der deutsche Imperialismus das Wettrüsten zu See, das zur Verschärfung des Gegensatzes zwischen dem deutschen und dem englischen Imperialismus führte. Das im Juli 1900 beschlossene zweite Flottengesetz sah die Verdoppelung der in der Flottenvorlage von 1898 vorgesehene Schlachtflotte vor.

7. Der am 14. Dezember 1902 im Reichstag beschlossene und 1906 in Kraft getretene Zolltarif sah stark erhöhte Tarife für alle eingeführten Waren, vor allem landwirtschaftliche Produkte, vor. Dadurch stiegen die Lebensunterhaltungskosten sprunghaft an.

8. Wilhelm II. hatte am 18. Januar 1896 bei einem Festmahl anläßlich des 25jährigen Bestehens des Deutschen Reiches unter dem Vorwand, die in überseeischen Gebieten lebenden Deutschen und die Handelsflotte schützen sowie die Kolonien fester an das Reich binden zu müssen, indirekt erhöhte Mittel zur weiteren Aufrüstung gefordert.

9. Stenographische Berichte. Verhandlungen der Reichstags, X. Legislaturperiode, I. Session, 1898/1900, Vierter band, Berlin 1900, S. 3293–3295.

10. Am 15. Juni 1914 waren Verhandlungen zwischen Deutschland und Großbritannien über die Abgrenzung ihrer Interessen in bezug auf die Baghdadbahn und den Erwerb von teilen des portugiesischen Kolonialreiches abgeschlossen worden. Der fertige Vertrag wurde auf Grund des Kriegsausbruchs nicht unterzeichnet

11. Am Widerstand der ostelbischen Junker scheiterte 1899 und 1901 im preußischen Abgeordnetenhaus eine von der preußischen Regierung mit Unterstützung von Industrie- und Militärkreisen eingebrachte Vorlage über den Bau eines Verbindungskanals zwischen Rhein und Elbe, da die Agrarier das Sinken der Getreidepreise infolge der billigen Einfuhrmöglichkeiten für ausländisches Getreide befürchteten. Erst im Februar 1905 wurde die Vorlage angenommen, nachdem die Regierung auf Grund des erneuten Widerstandes der Junker auf das entscheidende Mittelstück, die Verbindung zwischen Hannover und Elbe, verzichtet hatte.

12. Unter Leitung des Reichskanzlers Bernhard von Bülow war der Wahlkampf zu den Reichstagswahlen am 25. Januar 1907 durch eine Hetzkampagne der Reaktion gegen alle oppositionellen Kräfte, besonders gegen die Sozialdemokratie, und durch chauvinistische Propaganda für die Weiterführung des Kolonialkrieges gegen die Hereros und Hottentotten in Afrika (s. Teil VIII, Anm.1) gekennzeichnet. Trotz der größten Stimmenzahl erhielt die Sozialdemokratie auf Grund der veralteten Wahlkreiseinteilung sowie der Stichwahlbündnisse der bürgerlichen Parteien gegen die Sozialdemokraten nur 43 Mandate gegenüber 81 im Jahre 1903.


Zuletzt aktualisiert am 14.1.2012