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Am 23, Juli wurde die österreichische Note in Belgrad übergeben. Sie war in Wirklichkeit ein Ultimatum, das binnen 48 Stunden bedingungslose Annahme der von Österreich erhobenen Forderungen verlangte. Der österreichische Gesandte in Belgrad, Freiherr von Giesl, hatte die Note am 23. in einem Telegramm nach Wien denn auch als „Ultimatum“ bezeichnet, erhielt aber daraufhin die Belehrung, sie sei nur eine „befristete Demarche“, da ihre Ablehnung nicht gleich mit der Kriegserklärung, sondern zunächst nur mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen beantwortet werden sollte.
Mit derartigen kleinlichen Haarspaltereien hofften die Staatsweisen vom Ballplatz, in Europa noch ein paar Tage länger den Schein ihrer Friedfertigkeit aufrecht erhalten zu können.
Am 24. Juli sollte die Note den Mächten überreicht werden, am 25. hatte Serbien sie zu beantworten. Diese unanständige Eile war nach so langem Zögern absichtlich gefordert worden, um jede Beratung Serbiens mit den Mächten und der Mächte untereinander unmöglich zu machen und jede Intervention auszuschließen.
Deutschland beeilte sich sofort, alle Welt und auch die eigenen Vertreter im Ausland zu versichern, daß es von der Note keine Kenntnis gehabt und auf sie nicht den mindesten Einfluß genommen habe, daß es von ihr ebenso überrascht worden sei, wie die übrigen Mächte.
So telegraphierte Jagow an den deutschen Gesandten in Stockholm am 23. Juli, 2 Uhr nachmittags:
„Allem Anschein nach soll Österreich-Ungarn, welches sich durch die großserbische Agitation in seiner Existenz bedroht fühlt, sehr ernste Forderungen in Belgrad stellen. Dieselben sind uns nicht bekannt, wir betrachten sie als interne Angelegenheit Österreich-Ungarns, auf welche uns Einwirkung auch nicht zustehen würde.“
An die Botschafter in Paris, London und Petersburg telegraphierte Zimmermann am 24. Juli;
„In hiesigen diplomatischen Kreisen ist Ansicht verbreitet, daß wir Österreich-Ungarn zu scharfer Note an Serbien veranlaßt und uns an deren Abfassung beteiligt haben. Gerücht scheint von Cambon auszugehen. Bitte ihm nötigenfalls dort entgegenzutreten. Wir haben keinerlei Einfluß auf Inhalt der Note geübt und ebensowenig wie andere Mächte Gelegenheit gehabt, dazu vor Publikation in irgend einer Weise Stellung zu nehmen.“
An dieser erbaulichen Instruktion ist nur das eine richtig, daß Cambon in der Tat von Anfang an den Braten roch.
Er berichtet am 24, Juli über eine Unterredung mit Jagow:
„Ich fragte ihn, ob wirklich das Berliner Kabinett die österreichischen Forderungen in keiner Weise gekannt habe, bevor sie Belgrad mitgeteilt wurden. Als er dies bejahte, sagte ich ihm. ich sei sehr überrascht, ihn so eifrig sich für Ansprüche ins Zeug legen zu sehen, deren Umfang und Tragweite er nicht gekannt hatte.
‚Wohl beachtet,‘ unterbrach mich Herr v. Jagow, ‚nur wei! wir persönlich mit einander plaudern, erlaube ich Ihnen, mir das zu sagen.‘“ (Französ. Gelbbuch von 1914, Nr.30.)
Die gleiche Versicherung des tugendhaft entrüsteten Jagow erhielt der britische Geschäftsträger, Sir H. Rumboldt, der darüber am 25. Juli nach London berichtete:
„Der Staatssekretär wiederholte sehr ernsthaft, daß, obwohl er bezichtigt worden sei, den ganzen Inhalt der Note gekannt zu haben, er tatsächlich diese Kenntnis nicht gehabt habe.“ (Blaubuch, 1914, Nr.18.)
Über diese Besprechung berichtete Cambon am gleichen Tage:
„Der britische Geschäftsträger hat sich ebenfalls, wie ich es gestern getan habe, bei Herrn v. Jagow erkundigt, ob Deutschland keine Kenntnis von der österreichischen Note gehabt habe, bevor sie abgeschickt worden sei, und hat eine so unzweideutig verneinende Antwort erhalten, daß er nicht weiter bei dem Thema bleiben konnte. Aber er konnte nicht umhin, seine Verwunderung über die Blankovollmacht auszusprechen, die Deutschland Österreich gegeben habe.“ (Gelbbuch, Nr.41.)
Sir Horace Rumboldt, der damafc jene Versicherungen bekam, war derselbe, dessen Äußerungen über „Deutschlands gewohnheitsmäßige Verlogenheit“ das Weißbuch vom Juni 1919 zitiert, wie wir schon gesehen haben. Vielleicht kam er Ende Juli 1914 zuerst zu dieser Auffassung.
Wenn dae Berliner Auswärtige Amt behauptete, es habe „keinerlei Einfluß auf den Inhalt der österreichischen Note geübt und ebensowenig wie andere Mächte Gelegenheit gehabt, dazu vor der Publikation“, also vor dem 24, Juli, „in irgend einer Weise Stellung zu nehmen“, so ist nach dem bisher schon Mitgeteilten klar, daß es damit eine bewußte Unwahrheit sagte. Die deutsche Regierung hat genau gewußt, die Note werde so gefaßt sein, daß kein Staat, der seine Selbstbestimmung achtete, sie annehmen konnte. Die deutsche Regierung hat diese Absicht Österreichs nicht nur gewußt, sonidern gebilligt und ermutigt.
Später hat ja das Auswärtige Amt sich über seine Kenntnis der Note vorsichtiger ausgedrückt. Es leugnete bloß die Kenntnis ihres Wortlauts. Den habe man nicht früher kennengelernt als die übrigen Mächte, also erst, nachdem die Note bereits in Belgrad überreicht war.
Nicht einmal diese Ausflucht ist stichhaltig.
Bereits am 21. Juli erhielt Tschirschky ein Exemplar der Note. Er telegraphierte sie nicht nach Berlin. Vielleicht um das Geheimnis des Chiffrenschlüssels nicht zu gefährden.
Er übersandte die Note brieflich. Sie langte daher erst am 22. Juli nachmittags im Auswärtigen Amte an. Die anderen Mächte erhielten die Note aber erst am 24,; es ist also, selbst wenn man nicht den Inhalt der Note, sondern nur ihre Schlußfassung in Betracht zieht, falsch, daß Deutschland die Note nicht früher kannte, als die andern Großmächte.
Herr Dr. Gooß muß diese unbequeme Tatsache zugeben, er sucht sich oder vielmehr die Bcthmannsche Regierung damit zu retten, daß er behauptet, der Text der Note konnte dem Auswärtigen Amt in Berlin
„doch erst in einem Zeitpunkt zukommen, in dem eine Beeinflussung des Wiener Kabinetts durch eingehende Beratung und Antragstellung nicht mehr möglich war.“
Herr v. Jagow berichtet in seinem Buch über den Ausbruch des Weltkriegs, daß Graf Szögyeny in iden Abendstunden des 22. Juli zwischen 7 und 8 Uhr zu ihm kam und ihm das Ultimatum brachte.
„Nach dem Besuche des Grafen Szögyeny wurde mir dann auch eine inzwischen eingegangene Mitteilung des Ultimatums seitens unseres Botschafters in Wien vorgelegt.“ (S.110.)
Diese Verspätung ist sicher auffallend. Über 24 Stunden brauchte das Ultimatum, um von Wien nach Berlin zu kommen! Aber auch da wäre es noch früh genug angekommen, daß man seine Übergabe in Belgrad zu verhindern vermochte, wenn man wollte, Jagow behauptet, er habe sofort gesagt, die Note sei „reichlich scharf und über den Zweck hinausgehend“. Der Reichskanzler sei derselben Ansicht gewesen.
„Graf Szögyeny erwiderte, da sei nun nichts mehr zu machen, denn das Ultimatum sei schon nach Belgrad gesandt und solle dort am nächsten Morgen übergeben werden.“
Und dabei beruhigten sich Reichskanzler und Staatssekretär.
In einer Fußnote bemerkte Jagow nach den Ausführungen im Text seines Buches nur beiläufig:
„Der Botschafter muß sich, falls nicht in Wien Schwankungen betr. des Moments der Übergabe stattgefunden haben, hier geirrt haben, denn in Wirklichkeit ist das Ultimatum erst abends um 6 Uhr überreicht.“
Das soll wohl heißen, daß Jagow durch Szogyeny über den Zeitpunkt der Überreichung des Ultimatums getäuscht wurde! Er hätte gegen diese Überreichung sicher protestiert, wenn er gewußt hätte, daß diese erst um 6 Uhr abends und nicht morgens stattfinden werde.
Wußte er das aber nicht? Wir haben doch eben gesehen (S.64), wie eifrig Jagow sich bemühte, herauszufinden, zu welcher Abendstunde am 23. Poincaré Petersburg verlasse. Und der Staatssekretär hatte noch am Abend des 22. eine Mitteilung darüber nach Wien telegraphiert, die bewirkte, idaß die Zeit der Überreichung von 5 auf 6 Uhr abends verschoben wurde. Und jetzt will er uns glauben machen, er habe gar nichts davon gewußt, und gemeint, die Note an Serbien werde schon am Morgen übergeben!
Am 11. August 1917 schrieb der Staatssekretär Zimmermann an den Unterstaatssekretär v.d. Bussche:
„Lieber Bussche.
Sachlich stimmte die Angabe der Evening News insofern, als wir allerdings das serbische Ultimatum etwa zwölf Stunden vor Übergabe erhielten. Dagegen ist mir durchaus nicht erinnerlich, daß ich dies einem amerikanischen Diplomaten auf die Nase gebunden habe. Ein Dementi kann danach erfolgen. Ob es indes mit Rücftsicht auf die schließlich doch nicht ewig zu verheimelnde Tatsache unserer Kenntnis zweckmäßig erscheint, lasse ich dahingestellt.
Besten Gruß
Ihr Zimmermann.“
Aber warum jener Eifer, alle Kenntnis von der Note zu leugnen, deren Inhalt und Text man später doch mit aller Macht verteidigte?
Hier wurde absichtlich ein falsches Spiel mit verteilten Rollen gespielt. Am 20. Juli war den österreichischen Botschaftern die Note zugegangen mit dem Auftrage, sie am 24. Juli bei den Regierungen, bei denen sie akkreditiert waren, zu überreichen.
Graf Szögyeny erlaubte sich daraufhin zu bemerken, mit Deutschland solle doch eine Ausnahme gemacht werden. Darauf erwiderte ihm Berchtold am 22. Juli:
„Der bewußte Erlaß hatte Deutschland gegenüber lediglich formale Bedeutung. Die offizielle Übergabe unserer Note sollte in Berlin unter denselben Modalitäten erfolgert, wie bei den anderen Signatarmächten. Streng vertraulich haben wir Herrn von Tschirschky die erwähnte Note schon gestern mitgeteilt. Sie ist durch den Herrn Botschüiter jedenfalls bereits nach Berlin vorgelegt worden.“
Also auch in bezug auf die Note sollte Europa absichtlich belogen werden.
Die deutsche Regierung hatte sehr gute Gründe, nicht merken zu lassen, daß sie vom österreichischen Ultimatum gewußt hatte oder gar, daß sie mit Österreich verschworen war.
Sie hatte, wie wir gesehen, zum Krieg gegen Serbien am 5. Juli ihren Segen gegeben. Sie war auch bereit, den Krieg gegen Rußland und Frankreich zu „riskieren“ – aber mehr wollte sie nicht. Sie rechnete auf Italiens Mitwirkung und Englands Neutralität. Sie bedurfte auch, um in den Krieg eintreten zu können, der Begeisterung des eigenen Volkes. Nun wußte sie ganz genau, daß dieses in seiner großen Mehrheit höchst friedliebend sei und ihr die schärfste Opposition erwachsen würde, wenn es erführe, daß das österreichische Verfahren gegen Serbien vom Kaiser und seinen Ministern nicht nur gekannt, sondern auch gebilligt und gefördert wurde. Die ganze Aktion wäre damit von vornherein aufs schwerste bedroht gewesen.
Unmittelbar nach dem Bekanntwerden des österreichischen Ultimatums an Serbien erließ der Vorstand der deutschen Sozialdemokratie einen Aufruf (25. Juli), in dem es hieß:
„Die vom österreichischen Imperialismus entfesselte Kriegsfurie schickt sich an, Tod und Verderben über ganz Europa zu bringen. Verurteilen wir auch das Treiben der groß serbischen Nationalisten, so fordert doch die frivole Kriegsprovokation der österreichisch-ungarischen Regierung den schärfsten Protest heraus. Sind doch die Forderungen dieser Regierung so brutal, wie sie in der Weltgeschichte noch nie an einen selbständigen Staat gestellt sind, und können sie doch nur darauf berechnet sein, den Krieg geradezu zu provozieren.
Das klassenbewußte Proletariat Deutschlands erhebt im Namen der Menschlichkeit und der Kultur flammenden Protest gegen dies verbrecherische Treiben der Kriegshetzer. Es fordert gebieterisch von der deutschen Regierung, daß sie ihren Einfluß auf die österreichische Regierung zur Aufrechterhaltung des Friedens ausübt.“
Hätte das deutsche Proletariat vom wirklichen Stande der Dinge eine Ahnung gehabt, hätte es“ gewußt, daß das „verbrecherische Treiben der Kriegshetzer“ ein abgekartetes Spiel zwischen Wien und Berlin war, dann wäre es nicht so naiv gewesen, die deutsche Regierung aufzufordern, auf die österreichische im Sinne des Friedens zu wirken, dann hätte es sich einmütig ebenso gegen die deutsche wie gegen die österreichische Regierung gewendet und große Massen auch der nichtproletarischen arbeitenden Schichten des deutschen Volkes hätten sich ihm angeschlossen. Bei einer solchen Stimmung hätte die deutsche Regierung unmöglich einen großen Krieg entfesseln können. Die deutsche Sozialdemokratie konnte den Weltfrieden retten, Ihr Ansehen und damit das des deutschen Volkes in der Welt wäre unendlich gewachsen durch die Niederlage, die sie der kriegerischen deutschen Regierung bereitete.
Das zu vermeiden, gab es nur ein Mittel: Die Mitwisserschaft und Mitschuld der deutschen Regierung mußte sorgfältig verschwiegen werden.
Nicht minder war das notwendig, wollte man Italiens Hilfe und Englands Neutralität gewinnen.
Beide wandten sich, wie übrigens alle Welt, sofort gegen Österreich, Da galt es für Deutschland, den überraschten friedlichen Nachbarn zu spielen, den wohl die Bundestreuc an die Seite der befreundeten Macht rufe, deren grenzenlose Bedrängnis die schnöde Bluttat von Serajewo enthüllt habe, der aber bereit sei, zu vermitteln und den Frieden zu erhalten. Wenn er dabei mit dem nimmersatten Rußland in Konflikt kam – ei nun, es kann der Beste bekanntlich nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.
Ein Unglück nur, daß Deutschland sich darauf versteifte, den Frieden in eigenartiger Form zu retten. Es verlangte nämlich die Lokalisierung des Streitfalles. Konnte es etwas Vernünftigeres geben? Man mußte trachten, daß der Konflikt örtlich begrenzt bleibe, nicht weitere Dimensionen annehme.
In dem von Eisner veröffentlichten Bericht der Berliner bayerischen Gesandtschaft vom 18. Juli hieß es;
„(Im Interesse der Lokalisierung des Krieges wird die Reichsleitimg sofort nach Übergabe der österreichischen Note in Belgrad eine diplomatische Aktion bei den Großmächten einleiten.)
Sie wird mit dem Hinweis darauf, daß der Kaiser auf der Nordlandsreise und der Chef des großen Generalstabs sowie der preußische Kriegsminister in Urlaub seien, vorgeben, durch die Aktion Österreichs genau so überrascht worden zu sein, wie die andern Mächte.
(Sie wird darauf hinarbeiten, daß die Mächte sich auf den Standpunkt stellen, daß die Auseinandersetzung zwischen Österreich und Serbien eine Angelegenheit dieser beiden Staaten sei.)“
Die in Klammern gesetzten Stellen fehlen in der Eisnerschen Publikation. Sie gehören zu denjenigen, durch deren Weglassung Eisner den Sinn des Berichtes in einer für Deutschland ungünstigen Weise entstellt haben soll. Das kann nur jemand sagen, der sich einbildet, das Streben nach Lokalisierung des Krieges sei eine ernsthafte Friedensaktion gewesen. In Wirklichkeit bedeutete es eine Störung und Sabotierung jeder Friedensaktion. Die Behauptung, daß die Niederwerfung Serbiens durch Österreich bloß diese beiden Staaten angehe, hieß nichts anderes, als daß Österreich allein künftighin auf dem Balkan etwas zu sagen habe, hieß verlangen, daß Rußland seine Ausschaltung dort freiwillig zugebe, daß es sich für geschlagen erkläre, ehe es einen Kanonenschuß abgefeuert. Dies Streben nach Lokalisierung des Konfliktes stellte Rußland vor die Alternative: entweder sich unterwerfen oder Österreich den Krieg erklären.
Die Forderung der Lokalisierung war also das richtige Mittel, Rußland geradezu zum Krieg zu zwingen.
Die Alternative der „Lokalisierung“ des Konfliktes war seine Lösung durch die Intervention Europas, das heißt, entweder durch ein Schiedsgericht oder durch die Vermittlung der nicht direkt beteiligten Großmächte. Nur diese Europäisierung des Problems bot die Aussicht, daß der lokale Krieg nicht ein europäischer wurde. Aber freilich, sie bot Österreich nicht die Aussicht, daß ihm freie Hand bei der militärischen Zerschmetterung Serbiens gelassen werde. Und deshalb mußte auf der feuergefährlichen Methode der Lokalisierung mit aller Zähigkeit bestanden werden. Sie Bedeutete wieder, wie in der Annexionskrise von 1909, eine Spekulation auf Rußlands Schwäche und daneben auf Englands und Frankreichs Friedfertigkeit. In der Tat heißt es in dem bayerischen Bericht weiter:
„Herr Zimmermann nimmt an, daß sowohl England wie Franksreich, denen ein Krieg zurzeit kaum erwünscht wäre, auf Rußland in friedlichem Sinne einwirken werde; außerdem baut er darauf, daß das Bluffen eines der beliebtesten Requisite der russischen Politik sei und daß der Russe zwar gern mit dem Schwerte droht, es im entscheidenden Moment aber doch nicht gern für andere zieht.“
Wenn es aber anders kam, bot die Forderung der „Lokalisierung“ des Krieges immer noch ihre großen Vorteile. Sie konnte nur scheitern an den Ansprüchen Rußlands: so stand man vor der Welt oder wenigstens vor dem eigenen Volke als die Macht da, die den Frieden gewollt hatte – und dabei auf Rußlands Widerstand gestoßen war. Nun versuchte man, diese Macht als den Friedensbrecher zu denunzieren.
Die Forderung der Lokalisierung des Krieges wurde wieder ein neues Moment, das die strengste Geheimhaltung des Einvernehmens zwischen Deutschland und Österreich erheischte. Denn es ist klar, daß Deutschland nicht erklären konnte, der ganze Konflikt gehe nur Österreich und Serbien unter Ausschluß jeder anderen Macht an, wenn es selbst an der Vorbereitung dieses Konfliktes ganz energisch mitgewirkt hatte.
Wir sehen, Deutschland wie Österreich hatten allen Grund, ihr Zusammenwirken von den Potsdamer Entschlüssen am 5. Juli an bis zur Überreichung des Ultimatums in Belgrad am 23. Juli vor aller Welt zu verheimlichen.
Es war nicht leicht, gleichzeitig um den Frieden ernstlich besorgt zu erscheinen und Österreich „seinen“ Krieg mit Serbien zu sichern, sowie diesen zu „lokalisieren“, das heißt, Rußland vor die Alternative zu stellen, entweder Österreich den Krieg zu erklären oder sich ihm kampflos zu unterwerfen.
Vor allem galt es, die Mächte nicht zur Besinnung und Verständigung kommen zu lassen, immer wieder neue vollzogene Tatsachen zu schaffen, ehe eine Intervention Platz zu greifen vermochte.
Am 23. Juli, abends, überreichte der österreichische Gesandte die Note seiner Regierung in Belgrad. Erst am Tage darauf wurde sie den Regierungen Frankreichs, Englands, Italiens, Rußlands übermittelt. Am 25. aber wurde schon die Antwort Serbiens verlangt! Paschitsch erteilte diese Antwort trotzdem zum gewünschtem Zeitpunkte. Es war ein ausführliches Schriftstück, das wider Erwarten im Wesentlichen allen Forderungen der österreichischen Regierung zustimmte, trotz ihrer unerhörten Härte,
Und Östereich? Amtlich wurde aus Wien gemeldet:
„Minister Präsident Paschitsch erschien wenige Minuten vor sechs Uhr in der k.u.k. Gesandtschaft in Belgrad und erteilte eine ungenügende Antwort auf die österreichisch-ungarische Note. Baron Ciesl notifizierte ihm hierauf den Abbruch der diplomatischen Beziehungen und verließ mit dem Gesandtschaftspersonal um sechs Uhr dreißig Minuten Belgrad.“
Also ganze dreißig Minuten nach Übergabe der Note war die österreichische Gesandtschaft schon unterwegs nach Wien. Baron Giesl hatte den Abbruch der diplomatischen Beziehungen verkündigt, ehe er die serbische Antwort nur recht gelesen, geschweige denn geprüft zu haben vermochte.
Während Wien sich dieser Eile befleißigte, um zum ersehnten Kriege mit Serbien zu kommen, ehe Europa recht wußte, was vorging, zeigte Berlin nicht die mindeste Eile, Europa erkennen zu lassen, wie es über diese Vorkommnisse dachte.
Am 27. Juli fand Herr von Jagow den Mut, dem französischen Botschafter in Berlin zu sagen, er habe noch nicht Zeit gefunden, die serbische Antwort zu lesen.
Es war für die Großmächte nicht leicht, sich bei diesem Vorgehen zurechtzufinden. Aber so wenig Zeit sie hatten, sich untereinander zu verständigen, eins wurde ohne weiteres klar: Der Weltfriede war aufs äußerste bedroht, wenn es zum Krieg zwischen Österreich und Serbien kam. Ebenso sehr wie Österreich zu diesem Kriege drängte (und mit ihm Deutschland, was damals freilich noch niemand wußte), ebenso sehr suchten Rußland, Frankreich, England ihn zu verhindern. Nicht weil ihre Regenten die reinen Friedensengel waren, sondern weil Rußland und Frankreich für den Waffengang unzureichend gerüstet waren. Und auch England wurde durch seine irischen Verlegenheiten gehemmt. Insofern hatten also die Zentralmächte richtig gerechnet. Die Mächte kamen daher alle von selbst übereinstimmend dahin, auf der einen Seite eine Verlängerung der für die Antwort gestellten Frist von Öserreich anzustreben, um Zeit zu Verhandlungen zu finden und anderseits Serbien zur Nachgiebigkeit zu raten. Sowohl Frankreich wie Italien und England, ja selbst Rußland bemühten sich in diesem Sinne, so weit es bei der Kürze der Zeit möglich war.
Österreich lehnte jede Fristverlängerung ab unter stiller Mithilfe Deutschlands. Die Antwort Serbiens aber fiel, wie schon bemerkt, äußerst entgegenkommend aus. Nichtsdestoweniger brach Österreich am 25. die diplomatischen Beziehungen ab, begann sofort zu mobilisieren und erklärte am 28. Juli den Krieg. Am 29. bombardierte es Belgrad. Jeder dieser Schritte war eine neue Provokation, brachte eine neue Steigerung der allgemeinen Erregung, eine neue Erschwerung jeder friedlichen Lösung. Trotzdem schritt Österreich unbeirrt auf der eingeschlagenen Bahn weiter vorwärts und wurde dabei von Deutschland gestützt, das gleichzeitig von Friedensbeteuerungen überfloß.
Österreich lehnte alle Vermittlungsvorschläge ab, die gemacht wurden, und von denen keiner von Deutschland ausging. Dieses begnügte sich damit, die Vorschläge anderer entweder einfach weiterzugeben oder sie gleich von vornherein als unvereinbar mit Österreichs Selbständigkeit zurückzuweisen. Auch das dringendste Befragen konnte ihm keinen eigenen Vorschlag entlocken, während England wie Rußland sich in Versuchen überboten, einen Ausweg aus der verfahrenen Situation zu finden.
Sehr gut hat schon Fürst Lichnowsky diese Situation gekennzeichnet:
„Es hätte natürlich nur eines Winkes von Berlin bedurft, um den Grafen Berchtold zu bestimmen, sich mit einem diplomatischen Erfolg zu begnügen und sich bei der serbischen Antwort zu beruhigen. Dieser Wink ist aber nicht ergangen. Im Gegenteil, es wurde zum Krieg gedrängt. Es wäre ein zu schöner Erfolg gewesen! ...
Der Eindruck befestigte sich immer mehr, daß wir den Krieg unter allen Umständen wollten. Anders war unsere Haltung in einer Frage, die uns doch direkt gar nichts anging, nicht zu verstehen. Die inständigen Bitten und bestimmten Erklärungen des Herrn Sasonow, später die geradezu demütigen Telegramme des Zaren, die wiederholten Vorschläge Sir Edwards, die Warnungen des Marquis San Giuliano und des Herrn Bollati, meine drängenden Ratschläge, alles nützte nichts, in Berlin blieb man dabei: Serbien muß massakriert werden.“ (S.29, 30.)
Die Telegramme des Zaren durfte man in der Tat „demütige“ nennen. Er flehte darin förmlich darum, daß man ihm die furchtbare Alternative erspare zwischen dem Krieg oder der bedingungslosen Unterwerfung, die er beide gleich fürchtete, weil die eine wie die andere ihn mit einer Katastrophe, mit dem Untergang bedrohte.
Aber ließen gerade diese demütigen Telegramme nicht erwarten, man würde wieder, wie 1909, Rußland auf die Knie zwingen, diesmal aber noch gründlicher, wenn man nur fest blieb?
So schien alles nach Wunsch für die Mittelmächte zu gehen.
Wilhelm zeigte sich in jenen Tagen noch seiir übermütig imd aggressiv.
Wie er über die österreichische Note dachte, ehe er die serbische Antwort gelesen, zeigen seine Bemerkungen zu einem Telegramm aus Belgrad vom 24, Juli, von ihm gelesen am 25. -Es teilt mit:
„Der energische Ton und die präzisen Forderungen der österreichischen Note sind der serbischen Regierung vollständig unerwartet gekommen.“
Wilhelm:
„Bravo! Man hatte es den Wienern nicht mehr zugetraut!“
Das Telegramm fährt fort:
„Seit heute früh tagt der Ministerrat unter dem Vorsitz des Kronprinzen-Regenten.“
Wilhelm:
„Es scheint. Seine Majestät haben sich gedrückt!“
Der hohe deutsche Herr ahnte nicht, wie noch manche Majestät sich „drücken“ sollte, und zwar noch in ganz anderer Weise!
Telegramm:
„Der Ministerrat kann aber zu keinem Entschluß kommen.“
Wilhelm:
„Die stolzen Slawen!“
Zum Schluß des Telegramms bemerkt er:
„Wie hohl zeigt sich der ganze sogenannte serbische Großstaat. So ist es mit allen slawischen Staaten beschaffen. Nur feste auf die Füße des Gesindels getreten!“
Das war die Sprache des Friedenskaisers unmittelbar vor Ausbruch des Krieges! Weit entfernt, das österreichische brüske Vorgehen unangenehm zu empfinden, tadelte er jedes auch nur scheinbare Einlenken, ja jede Geste der Höflichkeit des Bundesgenossen.
Am 24. Juli telegraphierte Tschirschky aus Wien:
„Um Rußland seine guten Dispositionen zu zeigen, hat Graf Berchtold heute vormittag den russischen Geschäftsträger zu sich gebeten.“
Dazu bemerkte Wilhelm am 26, Juli:
„Gänzlich überflüssig. Wird den Eindruck der Schwäche erwecken und den Eindruck der Entschuldigung hervorrufen, was Rußland gegenüber unbedingt falsch ist und vermieden werden muß. Österreich hat seine guten Gründe, hat daraufhin den Schritt getan, nun kann er nicht hinterher quasi zur Diskussion gestellt werden.“
Tschirschky läßt Berchtold weiter sagen:
„Österreich werde kein serbisches Territorium beanspruchen.“
Das veranlaßt Wilhelm zu dem Ausruf:
„Esel! Den Sandschak muß es wieder nehmen, sonst kommen die Serben an die Adria.“
Berchtold:
„Österreich wolle keine Verschiebung der Machtverhältnisse au) dem Balkan herbeiführen.“
Wilhelm:
„Die kommt ganz von selbst und muß kommen. Österreich muß auf dem Balkan präponderant werden den anderen kleineren gegenüber auf Kosten Rußlands, sonst gibt’s keine Ruhe.“
Zum Schluß des Berichts bemerkt er:
„Schwächlich!“
Mit Ungeduld empfand er die Notwendigkeit, sich selbst wenigstens äußerlich zurückzuhalten, wie das die Deutschland zugeteilte Rolle verlangte.
Am 26. Juli, als Wilhelm sich anschickte, wieder deutschen Boden zu betreten, telegraphierte ihm Bethmann;
„Sollte Rußland sich zum Konflikt mit Österreich anschicken, beabsichtigt England Vermittlung zu versuchen und erhofft dabei französische Unterstützung. Solange Rußland keinen feindlichen Akt vornimmt, glaube ich, daß unsere auf eine Lokalisierung gerichtete Haltung auch eine ruhige bleiben muß. General von Moltke ist heute aus Karlsbad zurückgekehrt und teilt diese Ansicht.“
Hinter dem Wort „Lokalisierung“ macht Wilhelm ein Ausrufungszeichen und zu den Worten „eine ruhige bleiben muß“ bemerkt er sarkastisch:
„Ruhe ist die erste Bürgerpflicht! Nur Ruhe, immer nur Ruhe!! Eine ruhige Mobilmachung ist eben auch was Neues.“
Als es wirklich zur Mobilmachung kam, verging Wilhelm allerdings der Sarkasmus.
Zu alledem stimmt sehr gut eine Depesche, die Graf Szögyeny am 25. Juli von Berlin nach Wien richtete. Sie lautet:
„Hier wird allgemein vorausgesetzt, daß auf eventuelle abweisende Antwort Serbiens sofort unsere Kriegserklärung verbunden mit kriegerischen Operationen erfolgen werde. Man sieht hier in jeder Verzögerung des Beginns der kriegerischen Operationen große Gefahr betreffs Einmischung anderer Mächte. Man rät uns dringendst, sofort vorzugehen und die Welt vor ein fait accompli zu stellen.“
Das bedeutet doch das energischste Drängen zu raschestem Losschlagen.
Die Herren Prof. Hans Delbrück, Max Weber und Menidelssohn-Bartholdy sowie der Herr Graf Montgelas fassen in ihren Darlegungen über den Ursprung des Krieges (Weißbuch vom Juni 1919) das Telegramm viel gemütlicher auf. Sie sagen:
,Das Telegramm des österreichisch-ungarischen Botschafters des Grafen Szögyeny vom 25. Juli 1914, das für den Fall einer Kriegserklärung auf raschen Beginn der militärischen Operationen drängt, hält sich in dem Rahmen der schon erörterten Auffassung, daß eine örtliche Begrenzung des Streits, somit auch eine rasche Erledigung dieses Streites das beste Mittel zur Vermeidung einer Ausdehnung des Brandes sei.“ (S.39.)
Das Telegramm verlangt klipp und klar sofortige Kriegserklärung, verbunden mit kriegerischen Operationen. Der Kommentar der vier Herren verwandelt das unvermerkt in die Forderung sofortiger kriegerischer Operationen für den Fall einer Kriegserklärung! Und aus der Forderung, die Welt vor ein fait accompli zu stellen, wird ein Wunsch nach einer „raschen Erledigung dieses Streits“.
Das Telegramm so zu deuten, dazu gehört unglaublich viel guter Wille. Außerhalb Deutschlands wird der schwer zu finden sein. Dem Telegramm des Grafen Szögyeny vom 25. Juli sollte durch eine sehr freie Umdeutung sein unbequemer Inhalt genommen werden. Dieses Auskunftsmittel versagt bei einer anderen Depesche desselben Diplomaten vom 27. Juli.
Beide Telegramme waren der im Januar 1919 gebildeten „Kommission der alliierten und assoziierten Regierungen für die Feststellung der Verantwortlichkeit der Urheber des Krieges und die aufzuerlegenden Strafen“ in die Hände gefallen und wurden in ihrem Berichte veröffentlicht, der eine ebenso kurze wie im wesentlichen zutreffende Skizze der Entstehung des Krieges gibt.
Die deutsche Regierung konnte darauf mit einer Veröffentlichung der Akten des Auswärtigen Amtes über die Urheberschaft am Kriege antworten oder schweigen, Sie tat weder das eine noch das andere, sondern beauftragte die bereits genannten vier Herren, als „unabhängige Deutsche“, dem Bericht der Kommission eine Kritik entgegenzusetzen. Nach welchen Methoden diese arbeiteten, haben wir eben an der Behandlung gesehen, die sie dem einen Telegramm Szögyenys zuteil werden ließen. Vielleicht wäre es zweckmäßiger gewesen, wenn man nicht „unabhängige Deutsche“, sondern „deutsche Unabhängige“ mit dem ßericht betraut hätte.
Nicht besser machten sie es mit dem andern Telegramm vom 27. Juli. Es ist an Berchtold gerichtet und lautet:
„Staatssekretär erklärte mir in streng vertraulicher Form sehr entschieden, daß in der nächsten Zeit eventuell Vermittelungsvorschläge Englands durch die deutsche Regierung zur Kenntnis Ew. Exz. gebracht würden.
Die deutsche Regierung versichert aufs bündigste, daß sie sich in keiner Weise mit den Vorschlägen identifiziere, sogar entschieden gegen deren Berücksichtigung sei und dieselben nur, um der englischen Bitte Rechnung zu tragen, weitergibt.“
Diese Depesche ist sicher eine sehr ernsthafte Sache, Sie erheischte von Seiten der vier unabhängigen Deutschen vor allem, daß sie prüften, ob sie im Einklang stehe zu der Politik, die Deutschland bis zum 27. getrieben. Sie erinnert an Jagows Telegramm vom 18. Juli, in dem er mitteilt, die milde Sprache der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung sei nur zur Irreführung der „europäischen Diplomatie“ bestimmt und dürfe Berchtold nicht beeinflußen. Die vier Historiker haben es vorgezogen, anders zu verfahren:
„Die Kommission hat sich sowohl an den ehemaligen Reichskanzler von Bethmann Hollweg sowie an den Staatssekretär von Jagow gewendet und von beiden übereinstimmend die Auskunft erhalten, daß der Bericht unmöglich zutreffend sein könne. Wir halten die Mitteilungen dieser beiden Männer für glaubwürdig.“
Es fragt sich bloß, ob diese Versicherung der Angeklagten allein schon genügt, der übrigen Menschheit das gleiche Zutrauen zu ihrer Unschuld beizubringen. Die Glaubwürdigkeit der beiden Männer ist ja gerade das, was in Frage gestellt ist durch das Zeugnis eines ihnen durchaus nicht feindseligen Mannes, der alles Interesse hatte, die Wahrheit über sie zu berichten, und der unmittelbar nach der Unterredung mit Jagow seine Angaben über sie niederschrieb, in der bestimmtesten Form. Und zwar wiederholt. Die chen angeführte Stelle steht am Anfang des Berichts, An dessen Ende heißt es:
„Zum Schlüsse wiederholte mir Staatssekretär seine Stellungnahme und bat mich, um jedwedem Mißverständnis vorzubeugen, Ew. Exzellenz zu versichern, daß er auch in diesem eben angeführten Fall dadurch, daß er als Vermittler aufgetreten sei. absolut nicht für eine Berücksichtigung des englischen Wunsches sei.“
Ein so bestimmtes Zeugnis kann doch nicht auf die vage Auskunft der Angeschuldigten „es könne unmöglich zutreffend sein“ ohne weiteres von der Hand gewiesen werden.
Doch der Rettungskommission kommt Hilfe. Zur rechten Zeit reicht ihr Dr. Gooß die rettende Planke, und durch ihn fühlt sie sich berechtigt, das so bestimmte Zeugnis Szögyenys für unglaubwürdig zu erklären, weil er – „über seine Jahre gealtert war“. (S.39.)
Eine besondere Ehrenrettung des damaligen Regimes ist darin gerade nicht zu finden. Man bedenke die damalige Situation, Die deutsche und die österreichische Regierung bereiteten einen Krieg vor, bei dem es auf Leben und Tod der Staaten gehen konnte. Da hieß es, die besten Kräfte auf die entscheidenden Posten stellen. Das dringendste Erfordernis war, daß zwischen den beiden verbündeten Regierungen nicht das geringste Mißverständnis aufkam, jeder genau über die AJbsichten des andern unterrichtet war. Der österreichische Botschafter in Berlin bildete das verbindende Mittelglied zwischen den beiden Staaten; von seiner Klugheit, Klarheit und Korrektheit hing das Leben von Völkern und Regierungen ab. Nur zweierlei ist möglich: Entweder Graf Szögyeny war wirklich der senile Trottel, als den ihn die Weißwäscher Wilhelms und seiner „Handlanger“ jetzt hinstellan, dann handelte die österreichische Regierung unglaublich leichtfertig und gewissenlos, daß sie an diesem wichtigsten Posten einen verblödeten Faselhans ließ, und nicht minder leichtfertig und gewissenlos die deutsche Regierung, daß sie ihre schwierigsten und wichtigsten Aufträge in solcher Situation einem Idioten anvertraute, der nicht recht wußte,. worüber man mit ihm sprach. Eine schwerere Anklage gegen beide Regierungen ist nicht denkbar. Die Entschuldigung ist in diesem Falle schlimmer als das Verbrechen selbst. Denn es ist für eine Nation immer noch besser, von klugen und kenntnisreichen Hallunken geführt zu werden, als von ehrlichen Trotteln. Jene werden das Volk nicht leichtfertig in Situationen hineinführen, die den ganzen Staat und daunit auch seine Leiter gefährden. Das kann nur ein Dummkopf. Am schlimmsten natürlich ist es, wenn Unehrlichkeit, Leichtsinn und Dummheit sich vereinigen. Die eine Alternative, die wirkliche Senilität Szögyenys, exkulpiert also die deutsche Regierung nicht, sie verlegt nur ihre Schuld auf ein anderes Gebiet, als das angegebene.
Szögyeny war sicherlich 1914 schon ein alter Herr, 73 Jahre alt, dem mitunter ein Lapsus in der Berichterstattung passierte. Doch erweist sich auch vieles von dem, was er vorbringt, als vollständig richtig und in dem vorliegenden Fall ist seine Aussage, wie schon bemerkt, sehr bestimmt. Sie ist daher sicher zu prüfen.
Bei näherem Zusehen finden wir tatsächlich, daß sehr wichtige Punkte des Berichts ihre Bestätigung in den deutschen Akten finden.
Auch die Wiedergabe der Motivierung, mit der Jagow seine bedenkliche Äußerung vom 27, begründete, entspricht vollständig den damaligen Gedankengängen der deutschen Regierung. Szögyeny gibt sie mit den Worten wieder:
„Die deutsche Regierung gehe von dem Gesichtspunkte aus, daß es von der größten Bedeutung sei, daß England im jetzigen Moment nicht gemeinsame Sache mit Rußland und Frankreich mache. Daher müsse alles vermieden werden, daß der bisher gut funktionierende Draht zwischen Deutschland und England abgebrochen werde. Würde nun Deutschland Sir Edward Crey glatt erklären, daß es seine Wünsche an Österreich-Ungarn, von denen England glaubt, daß sie durch Vermittlung Deutschlands eher Berücksichtigung bei uns finden, nicht weitergeben will, so würde eben dieser vorerwähnte, unbedingt zu vermeidende Zustand eintreten.“
Man sieht, der Herr Graf war sicher kein glänzender Stilkünstler; jedoch inhaltlich, wenn auch nicht formell in dem gleichen Sinne, wie es hier Szögyeny darstellt, äußert sich am selben Tage Bethmann in einem Telegramm an Tschirschky, in dem er Greys Vorschlag mitteilt und dann fortfährt:
„Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine abzuweisen. Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als die eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen. Unsere Situation ist um so schwieriger, als Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat. Wir könnnen daher die Rolle des Vermittlers nicht abweisen und müssen den englischen Vorschlag dem Wiener Kabinett zur Erwägung unterbreiten, zumal London und Paris fortgesetzt aul Petersburg einwirken. Erbitte Graf Berchtolds Ansicht über die englische Anregung ebenso wie über Wunsch Herrn Sasonows mit Wien direkt zu verhandeln.“
Dieser sonderbare Vermittler sah eine Schwierigkeit der Situation darin, daß die Serben nachgaben, was eine Schwierigkeit nur für den war, der den Krieg suchte, gleichzeitig aber als der zum Krieg gezwungene dastehen wollte. Er empfiehlt auch nicht den englischen Vorschlag, sondern gibt, ihn bloß weiter und entschuldigt sich, daß die Verhältnisse ihn dazu nötigten.
Nach London aber telegraphiert er:
„In dem von Sir Edward Grey gewünschten Sinne haben wir Vermittlungsaktion in Wien sofort aufgenommen.“
Der Erfolg dieser „Vermittlungsaktion“ war am 28. Juli die Kriegserklärung Österreichs an Serbien,
Trotzdem machte England noch einen Versuch zur Rettung des Weltfriedens. Am 29. berichtete Lichnowsky in einem Telegramm, das uns in einem anderen Zusammenhang noch eingehend beschäftigen wird:
„Sir E. Grey wiederholte seine bereits gemeldete Anregung, daß wir uns an einer solchen Vermittlung zu vieren, die wir grundsätzlich bereits angenommen hätten, beteiligen sollten ... Sollten Ew. Exzellenz jedoch die Vermittlung übernehmen, die ich heute früh in Aussicht stellen konnte, so wäre ihm das natürlich ebenso recht.“
Die beiden gesperrt gedruckten Sätze fehlen in der für Wilhelm angefertigten Abschrift des Telegramms. Sollte das Zufall sein? Es läßt annehmen, man habe dem Kaiser verheimlichen wollen, daß man jene Art der Vermittlung , grundsätzlich angenommen hätte“. Das würde sehr gut zu der Politik Jagows passen, über die Szogyeny berichtete.
Wie es sich mit dessen Bericht auch verhalten möge, auf jeden Fall war die deutsche Politik in den ersten Tagen nach der Überreichung des Ultimatums der Art, daß sie mit Recht steigendes Mißtrauen auch der Neutralen zu ihrer Ehrlichkeit und Friedensliebe hervorrief.
Ein Wechsel in ihrer hartnäckigen Sabotierung jeglicher Friedensarbeit bereitet sich vor am 28. Juli.
Wir wissen bereits, daß die deutsche Regierung wohl den Krieg Österreichs mit Serbien wollte, auch vor dem mit Rußland und eventuell mit Frankreich nicht zurückschcutc, aber dabei das dringen'de Bedürfnis hatte, ihr eigenes Volk hinter sich und Italien neben sich, sowie England nicht gegen sich zu haben.
Dies wurde ihr ungemein erschwert durch Österreichs Tolpatschigkeit und Verbohrtheit auf der einen Seite und auf der anderen durch Serbiens Klugheit.
Als Wilhelm die Antwort las, die Serbien auf das österreichische Ultimatum vom 25. erteilte, mußte er sich gestehen, daß seine eigene Sache dadurch sehr ins Unrecht gesetzt v/ar. Das vsmr^ie ihm sichtlich unangenehm.
Er las am 28. Juli die Antwort der serbischen Regierung und machte dazu die Bemerkung:
„Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden! Das ist mehr als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien, aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen! Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung empfohlen.“
Das hinderte ihn freilich nicht, am 4. August in seiner Thronrede emphatisch zu erklären:
„Mein hoher Verbündeter, der Kaiser und König Franz Josef, war gezwungen, zu den Waffen zu greifen.“
Am 28. Juli las man’s anders, und nicht bloß in einer flüchtigen Bemerkung. Am gleichen Tage schrieb Wilhelm einen Brief an Bethmann Hollweg, den die Deutsche Politik vom 18. Juli d.J. bereits abgedruckt hat. Wir teilen ihn nochmals mit, weil er wichtig ist. Die beiden in Klammem befindlichen, sehr bemerkenswerten Äußerungen sind in der Wiedergabe der Deutschen Politik fortgefallen.
Der Brief lautet:
Ew. Exzellenz.
Nach Durchlesung der serbischen Antwort, die ich heute morgen erhielt, bin ich der Überzeugung, daß im großen und ganzen die Wünsche der Donaumonarchie erfüllt sind. Die paar Reserven, welche Serbien zu einzelnen Punkten macht, können m.E. durch Verhandlungen wohl geklärt werden. Aber die Kapitulation (demütigster Art) liegt darin orbi et urbi verkündet und durch sie entfällt jeder Grund zum Kriege.
Dennoch ist dem Stück Papier wie seinem Inhalt nur beschränkter Wert beizumessen, so lange er nicht in die Tat umgesetzt wird. Die Serben sind Orientalen, daher verlogen, falsch und Meister im Verschleppen. Damit diese schönen Versprechungen Wahrheit und Talsache werden, muß eine douce violence geübt werden. Das würde dergestalt zu machen sein, daß Österreich ein Faustpfand (Belgrad) für die Erzwingung und Durchführung der Versprechungen besetzte und so lange behielte, bis tatsächlich die petita durchgeführt sind. Das ist auch notwendig, um der zum drittert Male umsonst mobilisierten Armee eine äußere satisfaction d’honneur zu geben, den Schein eines Erfolges dem Ausland gegenüber, und das Bewußtsein, wenigstens auf fremdem Boden gestanden zu haben, ihr zu ermöglichen. Ohnedem dürfte bei Unterbleiben eines Feldzugs eine sehr üble Stimmung gegen die Dynastie aufkommen, die höchst bedenklich wäre. Falls Ew. Exz. diese meine Auffassung teilen, so würde ich vorschlagen, Österreich zu sagen: der Rückzug Serbiens (in sehr demütigender Form) sei erzwungen und man gratuliere dazu. Natürlich sei damit ein Kriegsgrund nicht mehr vorhanden. Wohl aber eine Garantie nötig, daß die Versprechungen ausgeführt würden. Das würde durch die vorübergehende militärische Besetzung eines Teiles von Serbien wohl erreichbar sein. Ähnlich wie wir 1871 in Frankreich Truppen stehen ließen, bis die Milliarden gezahlt ivaren. Auf dieser Basis bin ich bereit, den Frieden in Österreich zu vermitteln. Dagegenlaufende Vorschläge oder Proteste anderer Staaten würde ich unbedingt abweisen, um so mehr als alle mehr oder weniger offen an mich appellieren, den Frieden erhalten zu helfen. Das werde ich tun auf meine Manier und so schonend für das österreichische Nationalgefühl und für die Waffenehre seiner Armee als möglich. Denn an letztere ist bereits seitens des obersten Kriegsherrn appelliert worden, und sie ist dabei, dem Appell zu folgen. Also muß sie unbedingt eine sichtbare satisfaction d’honneur haben, das ist Vorbedingung für meine Vermittlung. Daher wollen Ew. Exz. in dem skizzierten Sinne einen Vorschlag mir unterbreiten, der nach Wien mitgeteilt werden soll. Ich habe in obigem Sinne an Chef des Generalstabs durch Plessen schreiben lassen, der ganz meine Ansicht teilt.
Wilhelm I. R.
Die Deutsche Politik bemerkt dazu:
„All das zeigt einwandfrei, daß auch der Kaiser nicht einmal den österreichisch-serbischen Krieg gewollt hat.“
In Wirklichkeit könnte man höchstens sagen: in jenem Moment nicht gewollt hat. Daß er früher mit dem Kriege einverstanden war, ja zu ihm drängte, haben wir gesehen. Noch am 25. Juli hatte er gefunden, man müsse „dem Gesindel auf die Füße treten“.
Auch am 28. Juli ist sich Wilhelm des Ernstes der Situation nicht völlig bewußt. Er spielt immer noch mit dem Feuer, wenn er eine „douce violence“, einen sanften Zwang, gegenüber den Serben verlangt, die in so auffallendem Gegensatz zu den Wahrheitsfanatikern unter den Österreichern und Deutschen „verlogen und falsch“ sind. Und es ist sehr charakteristisch für sein militärisches Denken, aber auch für sein Komödiantentum, daß er sagt, der „zum drittenmal umsonst mobilisierten Armee“ müsse jetzt endlich einmal eine „äußere satisfaction d’honneur“, „der Schein eines Erfolges“ gegeben werden – das ist „Vorbedingung für meine Vermittlung“, von der der Frieden der Welt abhängt! Die Befriedigung der Offizierseitelkeit steht ihm noch über dem Weltfrieden!
Die Erkenntnis vom 28. verdichtete sich auch noch nicht zu einem ernstlichen Druck auf Österreich, das just an diesem Tage den Krieg erklärte und am nächsten Belgrad bombardierte, um doch nicht zum drittenmal umsonst mobilisiert zu haben,
Wilhelm lehnt nach wie vor die besten Vorschläge ab, aus der gespannten Situation herauszukommen. Das bezeugen seine Bemerkungen zu einem Bericht des deutschen Militärbevollmächtigten in Petersburg, Chelius vom 28. Juli, den Wilhelm am 29, Juli las. Er lautet:
„Für S.M. Fürst Trubetzkoi aus der Umgebung des Kaisers äußerte sich heute zu mir wie folgt: Nachdem nunmehr die Antwort Serbiens veröffentlicht ist, muß man seinen guten Willen anerfiennen (das war zu erwarten. W.), den Wünschen Österreichs voll und ganz nachzukommen, sonst hätte Serbien nicht in so freundnachbarlichem Ton die unerhört scharfe Note Österreichs beantwortet, sondern sie einfach —— (ein Wort unverständlich). Die beiden strittigen Punkte konnte Serbien nicht einfach annehmen, ohne Gefahr einer Revolution und will sie einem Schiedsspruch unterbreiten (Kann sich Österreich nicht darauf einlassen. W.). Dies ist durchaus loyal und Österreich würde eine schwere Verantwortung auf sich nehmen, durch Nichtanerkennung dieser Haltung Serbiens einen europäischen Konflikt heraufzubeschwören. (Das ist die Sorge, die mich erfüllt nach Durchlesung der Serbenantwort. W.)
Als ich erwiderte, die Verantwortung fiele auf Rußland, welches doch außerhalb des Konfliktes stände (richtig! W.), sagte Fürst Trubetzkoi: ... Wir können unsere Brüder nicht im Stiche lassen (Königs- und Fürstenmörder. W.). Österreich kann sie vernichten (will es nicht. W.) und das können wir nicht zugeben ... Wir glauben, daß der Deutsche Kaiser dem verbündeten Österreich einen wohlmeinenden Rat geben wird, den Bogen nicht zu überspannen (das sind vage Phrasen, um die Verantwortung auf mich abzuschieben. Das lehne ich ab. W.), den guten Willen Serbiens mit den gegebenen Versprechungen anzuerkennen und die Mächte oder den Haager Schiedsspruch die strittigen Punkte entscheiden zu lassen (Blödsinn. W.) ... Die Rückkehr Ihres Kaisers hat uns alle sehr beruhigt, denn wir vertrauen S.M. und wollen keinen Krieg, auch Kaiser Nikolaus nicht. Es wäre gut, wenn sich die beiden Monarchen einmal telegraphisch verständigen. (Ist erfolgt. Ob eine Verständigung erfolgt, ist mir zweifelhaft. W.) Dies ist die Ansicht eines der einflußreichsten Männer des Hauptquartiers und wohl die Ansicht der ganzen Umgebung.“
Man sieht, auch am 29. besieht noch Wilhelm darauf, einen Appell an das Haager Schiedsgericht oder an eine Konferenz der Mächte als „Blödsinn“ zu erklären. Anderseits zweifelt er selbst daran, daß eine direkte Verständigung Deutschlands mit Rußland Erfolg verspricht. Danach scheint er doch mit der Unvermeidlichkeit des allgemeinen Krieges zu rechnen, und die Sorge, die ihn erfüllt, und der er in einer seiner Glossen Ausdruck gibt, scheint nicht die Sorge vor dem europäisclien Konflikt zu sein, sondern die Sorge, daß man durch Österreichs Dummheit mit dem Odium belastet wird, den Krieg selbst heraufbeschworen zu haben. Auch aus manchen Äußerungen Bethmanns geht nicht immer klar hervor, ob ihm die Erhallung des Friedens am Herzen liegt, oder ob er nur nach dem Muster Bismarcks von 1871 dafür besorgt ist, daß die andern als das Karnickel erscheinen, das angefangen hat. Man erinnere sich der Depesche vom 27. Juli an Tschirschky. in der er sagt, daß wir als „die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen“.
Auf den gleichen Ton ist die Depesche gestimmt, die der Reichskanzler an den Botschafter in Wien am 28. Juli sandte. Er beschwerte sich, daß Österreich Deutschland trotz wiederholter Anfragen im Unklaren über seine Absichten gelassen habe.
„Die nunmehr vorliegende Antwort der serbischen Regierung auf dasösterreichische Ultimatum läßt erkennen, daß Serbien den österreichischen Forderungen doch in so weHgehendem Maße entgegengekommen ist, daß bei einer völlig intransigenten Haltung der österreichisch-ungarischen Regierung mit einer allmählichen Abkehr der öffentlichen Meinung von ihr in ganz Europa gerechnet werden muß.
Nach Angaben des österreichischen Generalstabes wird ein aktives militärisches Vorgehen gegen Serbien erst am 12. August möglich sein. Die kaiserliche Regierung kommt infolgedessen in die außerordentlich schwierige Lage, daß sie in der Zwischenzeit den Vermittlungsund Konferenzvorschlägen der anderen Kabinette ausgesetzt bleibt, und wenn sie weiter an ihrer bisherigen Zurückhaltung solchen Vorschlägen gegenüber festhält, das Odium, einen Weltkrieg verschuldet zu haben, schließlich auch in den Augen des deutschen Volkes auf sie zurückfällt. Auf einer solchen Basis aber läßt sich ein erfolgreicher Krieg nach drei Fronten nicht einleiten. Es ist eine gebieterische Pflicht, daß die Verantwortung für das eventuelle Übergreifen des Konfliktes auf die nicht unmittelbar Beteiligten unter allen Umständen Rußland trifft.“
Bethmann Hollweg rät daher Wien, seine bestimmte Erklärung zu wiederholen, daß es territoriale Erwerbungen in Serbien nicht suche und nur vorübergehend Belgrad und mehrere Punkte in Serbien besetzen wolle, als Garantie für die Erfüllung der österreichischen Forderungen.
„Erkennt die russische Regierung die Berechtigung dieses Standpunkts nicht an, so wird sie die öffentliche Meinung ganz Europas gegen sich haben, die im Begriffe steht, sich von Österreich abzuwenden. Als eins weitere Folge wird sich die allgemeine diplomatische und wahrscheinlich auch die militärische Lage sehr wesentlich zugunsten Österreich-Ungarns und seiner Verbündeten verschieben.
Ew. Exz. wollen sich umgehend in diesem Sinne dem Grafen Berchtold gegenüber nachdrücklicli aussprechen und eine entsprechende Demarche in Petersburg anregen. Sie werden es dabei sorgfältig zu vermeiden haben, daß der Eindruck entsteht, als wünschten wir Österreich zurückzuhalten. Es handelt sich lediglich darum, einen Modus zu finden, der die Verwirklichung des von Österreich-Ungarn angestrebten Ziels, der großserbischen Propaganda den Lebensnerv zu unterbinden, ermöglicht, ohne gleichzeitig einen Weltkrieg zu entfesseln, und wenn dieser schließlich nicht zu vermeiden ist, die Bedingungen, unter denen er zu führen ist, für uns nach Tunlichkeit zu verbessern.“
Man wird zugeben, daß es schwer ist, zu entscheiden, was dem Reichskanzler noch am 28. Juli mehr am Herzen lag: den Weltkrieg zu vermeiden oder „die Bedingungen, unter denen er zu führen ist, für uns nach Tunlichkeit zu verbeserrn.“
Wilhelm selbst äußerte sich durchaus nicht sehr entgegenkommend gegenüber dem Hilferuf, den der Zar an ihn richtete, in seinem ersten Telegramm vom 29. Juli. Es lautete in deutscher Übersetzung:
„An S.M. den Kaiser.
Neues Palais.
Ich bin froh, daß Du zurück bist. In diesem so ernsten Augenhlick bitte ich Dich inständig, mir zu helfen. Ein unwürdiger Krieg (! ! W.) ist an ein schwaches Land erklärt worden. Die Entrüstung darüber, die ich völlig teile, ist in Rußland ungeheuer. Ich sehe voraus, daß sehr bald der über mich gebrachte Drucfi mich überwältigen wird, und ich gezwungen sein werde, weitgehende Maßregeln zu treffen, die zum Kriege führen werden. Um zu versuchen, ein solches Unheil, wie ein europäischer Krieg, abzuwenden, bitte ich Dich im Namen unserer alten Freundschaft, zu tun, was Du fiannst, um Deinen Bundesgenossen zu hindern, zu weit zu gehen? (Worin besteht das? W.)
Niky.“
Angesichts dessen, daß Wilhelm selbst eben erklärt hatte, zum Kriege gegen Serbien liege gar keine Veranlassung vor, sollte man annehmen, dieser Hinweis auf die furchtbaren Folgen des kriegerischen Vorgehens Österreichs gegen Serbien müßte Wilhelm zu raschem Eingreifen veranlassen. Nichts von alledem. Nikolaus bittet ihn, alles aufzubieten, um Österreich zu hindern, daß es nicht zu weit geht, Wilhelm fragt: Worin besteht das?
Wilhelm hält den Krieg gegen Serbien für völlig unbegründet, und protestiert doch durch zwei Ausrufungszeichen dagegen, daß dieser Krieg ein „unwürdiger“ (ignoble, im deutschen Weißbuch übersetzt mit „schmählich“, was zu stark ist) genannt wird.
Doch Wilhelm begnügt sich damit nicht. Er hängt dem Telegramm noch folgende Reflexionen an:
„Eingeständnis der Schwäche seiner selbst und Versuch, dit Verantwortung mir zuzuschieben. Das Telegramm enthält eint versteclite Drohung und einem Befehl ähnliche Aufforderung, den Allierten in den Arm zu fallen. Falls Ew. Ex. mein Telegramm gestern Abend abgesandt haben, muß es sich mit diesem gekreuzt haben. [1]
Wir werden nun sehen, wie das meine wirkt. Der Ausdruck, „ignoble war“ (unwürdiger Krieg. K.) läßt nicht auf monarchisches Solidaritätsgefühl des Zaren schließen, sondern auf eine panslavistische Auffassung, das heißt, die Sorge vor einer capitis diminutio auf dem Balkan im Fall österreichischer Erfolge. Diese konnten ruhig in ihrer Gesamtwirkung erst abgewartet werden. Es ist später immer noch Zeit zum Verhandeln und eventuell zum Mobilmachen, wozu jetzt gar kein Grund für Rußland ist. Statt uns die Sommation zu stellen, den Allierten zu stoppen, sollte S.M. sich an den Kaiser Franz Iosef wenden und mit ihm verhandeln, um die Absichten S.M. kennen zu lernen.
Sollten nicht Kopien der beiden Telegramme an S.M. den König nach London zur Information gesandt werden?
Die Sozi machen antimilitaristische Umtriebe in den Straßen; das darf nicht geduldet werden, jetzt auf keinen Fall.
Im Wiederholungsfall werde ich Belagerungszustand proklamieren und die Führer samt und sonders tutti quanti einsperren lassen. Loebell und Jagow dahin instruieren. Wir können jetzt keine Soz. Propaganda mehr dulden!“
Diese Propaganda richtete sich jjegen den Krieg Österreichs mit Serbien, den Wilhelm selbst als völlig imgerechtfertigt bezeichnete. Statt dem den Weltfrieden gefährdenden Verbündeten in den Arm zu fallen, will der Kaiser jene „tutti quanti einsperren lassen“, die gegen den Krieg protestieren und er verlangt, daß man Österreichs Kriegführung gewähren lasse, und die „Gesamtwirkung“ ihrer Erfolge erst abwarte.
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1. Das war in der Tat der Fall. Das Telegramm des Zaren traf am 29. Juli 1 Uhr morgens in Berlin ein, das Telegramm des Kaisers an den Zaren war am 28. 10:45 abends nach einem Konzept Stumma fertiggestellt und am 29. um 1:45 morgens zum Berliner Haupttelegraphenamt gegeben. Es ging also erst ab, nachdem das Telegramm des Zaren bereits in Berlin war, dieses bildet nicht eine Beartwortung des Kaisertelegramms, wie man nach dem deutschen Weißbuch annehmen muß, wo das Telegramm Wilhelms vom 28. um 10:45 nachmittags, und das des Zaren vom 29. um 1 Uhr nachmittags datiert ist. K.
Zuletzt aktualisiert am: 27.11.2008