Karl Kautsky


Bernstein und das Sozialdemokratische Programm



Vorwort


Nach dem Erscheinen meiner Artikel gegen Bernstein im Vorwärts und der Neuen Zeit (im April dieses Jahres) wurde ich mehrfach aufgefordert, sie im Separatabdruck als besondere Broschüre erscheinen zu lassen. Das sei schon deswegen wünschenswert, weil das Bernsteinsche Buch in Kreise drang, die weder den Vorwärts noch die Neue Zeit lesen, die nur wieder durch eine besondere Schrift erreichbar seien. Eine solche dürfte aber auch Manchem willkommen sein, der die Artikel gelesen aber nicht gesammelt habe.

Ich kam gern dieser Anregung nach, bei einer bloßen Separatausgabe wollte ich’s jedoch nicht bewenden lassen. Im Buche stand mir weit mehr Raum zu Gebote, als im Vorwärts, ich konnte daher die Untersuchungen über die Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Gesellschaft dort erheblich ausdehnen, und das schien mir von äußerster Wichtigkeit. Gerade diese Seite war bisher von der Kritik des Bernsteinschen Buches sehr stiefmütterlich behandelt worden, ganz naturgemäß, da eine Zeitung zu solchen Exkursen keinen Raum hat. Die geringe Beachtung dieser Seite wurde aber von der gegnerischen Presse dahin gedeutet, dass wir darüber nichts zu sagen wüssten. Und doch bildet dies Thema den praktisch wichtigsten Teil seines Buches; es enthält Fragen, deren Beantwortung über die Lebensfähigkeit der sozialistischen Bewegung entscheidet.

Die bisher versäumte Abrechnung mit Bernstein auf diesem Gebiet ist zum Hauptinhalt meiner Schrift geworden, so sehr, dass ich, um die letztere nicht allzu sehr anschwellen zu lassen, die einleitenden Kapitel über die Methode viel kürzer fasste, als ich es in den entsprechenden Artikeln der Neuen Zeit getan. Ich hielt mich zu dieser Kürzung um so eher berechtigt, als die Fragen der Methode doch nicht in dem gegebenen Rahmen erledigt werden konnten. Ihre erschöpfende Erörterung in einer populären Gelegenheitsschrift war von vornherein ausgeschlossen. Da ich trotz der Verkürzung der Kapitel noch die Entgegnungen in Betracht zog, die Bernstein in der Neuen Zeit und im Vorwärts veröffentlichte, bildet auch der Abschnitt über die Methode nicht einen Separatabdruck, sondern ist fast völlig neu geschrieben.

Ebenso kurz wie diesen habe ich den Abschnitt über die Taktik gehalten. Wohl lag die Versuchung nahe, in dem einen wie in dem anderen auf alle die Einzelfragen einzugehen, die Bernstein teils in seinem Buche selbst, teils im Laufe der Diskussion aufgeworfen. Aber im Interesse der Lesbarkeit und des knappen Umfangs der Schrift musste ich mich auf das Notwendigste beschränken. Eine solche Selbstbeschränkung ist für einen Autor während einer Polemik sehr hart, aber sie ist unumgänglich, soll man nicht vom Hundertsten ins Tausendste kommen und den Leser ermüden, statt ihn zu überzeugen. Ich konnte mich bei der Behandlung der Fragen der Taktik um so eher kurz fassen, als das Meiste von dem, was hier zu sagen war, bereits von anderen Seiten gesagt wurde.

Übrigens muss ich gestehen, dass zur Kürze meiner Ausführungen über die Taktik auch ein äußerliches Moment beitrug: der Wunsch, rasch fertig zu werden, um meine Schrift noch vor dem Parteitag in Hannover an die Öffentlichkeit zu bringen.

Nicht als ob ich erwartete, sie werde den Parteitag beeinflussen. Wenn sie erscheint, haben sicher alle Jene, die dorthin delegiert werden, sich ihr Urteil schon gebildet. Sollte der Eine oder der andere sich so wenig um den Gegenstand gekümmert haben, dass er noch nicht weiß, welche Stellung er einzunehmen hat, so wäre der Betreffende sicher der letzte, vorliegende Seiten noch zu lesen.

Nein, wenn ich wünschte, noch vor dem Parteitag meine Arbeit fertig zu stellen, so entsprang das der Erwartung und Hoffnung, er werde einen Abschluss der Diskussion mit Bernstein bringen.

Ich habe Disputationen nie große Erwartungen entgegengebracht, kaum je hat sich eine solche als ein Mittel erwiesen, zu zeigen, auf welcher Seite die Wahrheit liegt. Aber in der Regel sind sie vortrefflich geeignet, vorhandene Gegensätze zu enthüllen und scharf zum Ausdruck zu bringen und dadurch aufklärend zu wirken. Dies erwartete ich auch von der Diskussion über das Bernsteinsche Buch. Sie hat mich sehr enttäuscht, mehr noch als das Buch selbst; die Artikelserie über die Probleme des Sozialismus hatte etwas anderes erwarten lassen. Wir können es uns heute nicht verhehlen, dass die ganze Diskussion über das Bernsteinsche Buch recht unfruchtbar geblieben ist. Je mehr sie fortschreitet, desto mehr fühlt sich Bernstein missverstanden – absichtlich missverstanden – und desto weniger wissen wir, was er eigentlich will und welchen Zweck sein so großes Aufsehen erregender Vorstoß eigentlich hatte, da ja doch alles beim Alten bleiben soll.

Ich muss offen gestehen, dass es mich große Überwindung kostete, angesichts dieser Erkenntnis vorliegende Schrift zu Ende zu schreiben. Ich hätte es vielleicht nicht getan, wäre ich nicht angespornt worden durch das Triumphgeschrei von Liberalen und Anarchisten, die Sozialdemokratie hätte der Bernsteinschen Kritik ihres Programms, namentlich seinen statistischen Daten, nichts entgegenzuhalten vermocht. Meine Arbeit richtet sich in der Tat weit weniger gegen Bernstein selbst, als gegen jene Sozialliberalen und „Edelanarchisten“ und ihre Helfershelfer, denen sein Buch eine willkommene Sammlung von Materialien zu Angriffen gegen unsere Partei geworden ist.

Diesen Elementen den Spaß etwas zu verderben, den ihnen Bernsteins Schrift gemacht hat, ist der Hauptzweck der vorliegenden Kritik. Erschien sie aber nach dem Parteitag, so drohte sie eine Diskussion von neuem zu entfachen, deren weitere Fortführung auf der von Bernstein gegebenen Grundlage immer unfruchtbarer wird, die in Hannover zu einem Abschluss zu bringen wohl der Wunsch aller Beteiligten ist.

Ich persönlich wenigstens darf sagen, dass ich diese Schrift als mein Schlusswort in der Angelegenheit betrachte. Die Gegenwart bietet uns so viele wichtige Probleme, die zu studieren sind, der Marxsche Nachlass so viele Schätze, die noch ungehoben sind, dass man sicher sein darf, ich werde ohne Not über die Probleme des Bernsteinschen Sozialismus nicht mehr das Wort ergreifen.

Das Schweigen wird mir um so leichter fallen, je schwerer mir in dieser Sache das Reden geworden ist. Die Polemik gegen einen alten Freund hat immer etwas Peinliches.

Freilich muss die Freundschaft verstummen, sobald wissenschaftliche oder politische Überzeugung mit ihr in Konflikt kommt. Dass ich dies nicht beachtet, dass ich der Freundschaft in meiner Stellung Bernstein gegenüber zu großen Einfluss eingeräumt, soll mir nach einem Bericht der Sächsischen Arbeiterzeitung Liebknecht in einem Referat in Dresden vorgeworfen haben. Danach wäre Bernstein ein wissenschaftlich und politisch unbedeutender Mensch, dessen Artikel in der Neuen Zeit ich nur aus Freundschaft aufnahm. Ich habe auf diesen Vorwurf nicht reagiert, einmal, weil er viel mehr mich als Bernstein herabsetzte, und zu meiner persönlichen Verteidigung ergreife ich nur ungern das Wort. Dann aber auch, weil ich es für unmöglich hielt, dass Liebknecht so gesprochen, da niemand, der die Neue Zeit auch nur oberflächlich kennt, im Zweifel darüber sein kann, was Bernstein für sie bedeutet. Aber da einige Schlauköpfe aus meinem Schweigen geschlossen haben, ich hielte den Bernstein und mir gemachten Vorwurf für zutreffend, so ist es vielleicht nicht ganz überflüssig, dass ich dem hier widerspreche. Wenn Professor Diehl in den Conradschen Jahrbüchern meint, in Bernstein „hat der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus einen seiner talentvollsten, klarsten und gelehrtesten Anhänger verloren“, so stimme ich dieser Wertschätzung der Tätigkeit, welche Bernstein für unsere Sache entfaltete, vollständig zu.

Ob seine letzte Schrift, die wir hier kritisieren, dann ein theoretischer Rückschritt und wie dieser zu erklären, das ist eine Frage, die uns hier in der Vorrede noch nicht zu beschäftigen braucht. Mir erscheint der jetzige Standpunkt Bernsteins – oder wenn man will, der Mangel an einem ausgesprochenen Standpunkt – verderblich, und ich halte es für meine Pflicht, ihn auf das Entschiedenste zu bekämpfen. Aber unsere Gegnerschaft darf uns nicht blind machen für das, was Bernstein uns gewesen. Ich persönlich schulde ihm nicht bloß jene Anregungen und Belehrungen, die er uns Allen im Sozialdemokrat und der Neuen Zeit geboten, sondern auch jene mächtige geistige Förderung, die aus dem engsten und verständnisvollsten Zusammenarbeiten vieler Jahre sich ergibt. Sollte es mir gelungen sein, auf den folgenden Seiten triftige Argumente gegen Bernsteins jetzige Anschauungen vorgebracht zu haben, so verdanke ich das nicht bloß Marx und Engels, sondern auch Eduard Bernstein.

Berlin-Friedenau, September 1899

K. Kautsky



Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012