Karl Kautsky


Bernstein und das Sozialdemokratische Programm



Einleitung


In der Literatur der deutschen Sozialdemokratie bildet das Bernsteinsche Buch die erste Sensationsschrift. Wohl hat Bebels Frau an literarischem Erfolg unsere übrige Literatur weit hinter sich gelassen, aber eine eigentliche Sensationsschrift bildet sie doch nicht. Dass ein Sozialdemokrat ein sozialdemokratisches Buch schreibt, darin liegt ja nichts Sensationelles.

Ganz anders liegt die Sache, wenn ein hervorragender Sozialdemokrat, einer der „orthodoxesten“ Marxisten ein Buch schreibt, in dem er feierlich verbrennt, was er bisher angebetet, und anbetet, was er bisher verbrannt hat. Dass man vom bürgerlichen Demokraten sich zum Sozialdemokraten entwickelt, das ist ein alltäglicher Fall, und die bürgerliche Presse hat keine Ursache, solche Fälle an die große Glocke zu hängen. Ganz anders, wenn endlich, endlich einmal das Umgekehrte sich zu ereignen scheint. Ob dies bei Bernstein wirklich der Fall, ob seine Schrift wirklich den Abfall vom Sozialismus der Sozialdemokratie bedeutet, darüber ein Urteil zu fällen ist hier noch nicht am Platze. Offenkundig aber ist es, dass die bürgerliche Presse sein Buch in diesem Sinne auffasst und ausnützt und des Jubels darüber kein Ende weiß. Nach so vielen Niederlagen endlich ein Sieg! Endlich ein Anzeichen, dass in der stolzen, unüberwindlichen Sozialdemokratie wenigstens einer ihrer denkenden Köpfe anfängt, an seiner Partei irre zu werden und an Stelle der Siegeszuversicht Zweifel und Bedenken laut werden zu lassen. Solch frohe Botschaft konnte nicht laut genug verkündet werden.

Diese Haltung der Gegner allein musste schon die allgemeine Aufmerksamkeit auch der Parteigenossen auf das Bernsteinsche Buch lenken. Aber es wurde noch beachtenswerter dadurch, dass es innerhalb der Partei keineswegs einstimmige Verurteilung fand. Allerdings widersprachen sich die Fürsprecher Bernsteins in mannigfacher Weise. Während die einen erklärten, er bestätige nur, was bisher schon in unserer Partei gegolten, rühmten ihn andere als einen Reformator unserer praktischen Politik, die doch wichtiger sei, als die graue Theorie; von dritter Seite wieder wurde gegen seine praktische Politik eingewendet, das Neue an ihr sei nicht gut und das Gute nicht neu, aber Bernsteins Verdienst bestehe darin, dass er sich als selbständiger Denker auf dem Gebiete der Theorie erwiesen und das theoretische Denken, das zu sehr in den Hintergrund getreten, neu belebt habe. Die Mehrzahl der parteigenössischen Stimmen aber, die sich bisher vernehmen ließen, schloss sich zwar dem letzterwähnten Urteil über die praktische Politik Bernsteins an, erklärte aber seine Theorien für einen bloßen Abklatsch kathedersozialistischer Ladenhüter.

Diese Unterschiede in der Auffassung sind teils dem Umstande zuzuschreiben, dass, wie wir noch sehen werden, Bernstein seinen Standpunkt keineswegs immer völlig klar und widerspruchslos dargelegt hat, teils aber und vornehmlich dem Umstande, dass in unserer Partei selbst ziemlich gegensätzliche Strömungen in höchst wichtigen Fragen bestehen.

Das ist an sich noch kein Unglück. Seit jeher haben in unserer wie in jeder Partei Gegensätze bestanden, Gegensätze individueller, lokaler, beruflicher, theoretischer Natur. Der Junge und Heißblütige denkt anders als der Alte, Bedächtige, der Bayer anders als der Sachse und dieser wieder anders als der Hamburger; der Bergarbeiter anders als die Konfektionsarbeiterin, derjenige, der im gewerkschaftlichen Kampf oder im Genossenschaftswesen aufgeht, anders als jener, der mit Leib und Seele Parlamentarier und Wahlagitator ist; anders derjenige, der an der Hand von Marx und Engels in das Bereich des Sozialismus eintrat, als derjenige, der über Rodbertus zu uns kam usw.

Solche Unterschiede sind nicht bloß unvermeidlich, sondern notwendig, soll nicht das geistige Leben innerhalb der Partei erstarren. Aber diese ist eine kämpfende Armee, kein Disputierklub; die Gegensätze in ihrem Innern dürfen nicht so weit gehen, dass sie jedes gedeihliche Zusammenwirken unmöglich machen, ja nicht einmal so weit, dass sie Reibungen erzeugen, deren Überwindung Zeit- und Kraftverlust bedeutet und die Kampfesfreudigkeit lähmt. Die Ausdehnung der Partei darf nie auf Kosten ihrer Geschlossenheit und Einheitlichkeit geschehen. Nichts schlimmer als Zerfahrenheit in der Taktik.

Das Wesen der Taktik besteht eben in der Einheitlichkeit, in dem Zusammenfassen verschiedener Kräfte zu einer gemeinsamen planmäßigen Aktion. Auf der Einheitlichkeit beruht die große Überlegenheit eines Heeres über zusammengelaufene Haufen, selbst wenn letztere weit zahlreicher und an Ausrüstung nicht schlechter gestellt sind. In der Einheitlichkeit besteht die Überlegenheit einer geschlossenen Partei gegenüber der Masse der Indifferenten.

Man verwechsle nicht Taktik mit Agitationsweise. Diese muss sich individuellen und lokalen Verhältnissen anpassen. In der Agitation muss man es jedem Agitator überlassen, durch jene Mittel zu wirken, die ihm zu Gebote stehen; der eine wirkt am meisten durch seine Begeisterung, der andere durch schlagenden Witz, der dritte durch die Fülle der Tatsachen usw. Und wie nach dem Agitator muss sich die Agitation nach dem Publikum richten; man muss so sprechen, dass man verstanden wird, muss an das den Zuhörern Bekannte anknüpfen. Das ist ja selbstverständlich und gilt nicht bloß für die Bauernagitation. Man wird auch zu Droschkenkutschern anders sprechen als zu Seeleuten, und zu diesen wieder anders als zu Schriftsetzern. In der Agitation muss individualisiert werden, aber unsere Taktik, unser politisches Handeln muss einheitlich sein. Wir dürfen nicht bei einer das ganze Reich umfassenden Aktion, etwa einer Reichstagswahl, eine besondere Taktik für den Norden haben und eine andere für den Süden, eine besondere für das Land und eine andere für die Stadt. Auf der Einheitlichkeit der Taktik beruht die Einheit der Partei, und wo jene verloren geht, geht auch diese bald in die Brüche.

Einheitlichkeit der Taktik ist Einheitlichkeit im Handeln. Sie schließt Verschiedenheiten im Denken, Verschiedenheiten der theoretischen Auffassung nicht aus. Völlige Einheitlichkeit des Denkens ist höchstens in einer religiösen Sekte erreichbar und sie ist unvereinbar mit selbständigem Denken. Aber das besagt keineswegs, dass die theoretische Auffassung des einzelnen Parteimitglieds eine gleichgültige Angelegenheit, gewissermaßen Privatsache sei.

Die Parteitätigkeit bedingt wie jede gesellschaftliche Tätigkeit ein gewisses Opfer an Selbständigkeit des Individuums. Der Anarchist und der literarische Eingänger mögen wegen dieses Opfers mit Verachtung auf den Parteimann herabsehen; sie können die Tatsache nicht beseitigen, dass ohne gesellschaftliches Zusammenwirken nichts Großes in der praktischen Welt geschaffen werden kann. Aber es ist klar, dass der Verzicht auf Selbständigkeit, der von dem einzelnen Parteimitglied verlangt wird, nicht zu groß werden darf, soll nicht die Partei zu einer Horde willenloser Sklaven oder zu einer Herde gedankenloser Schafe herabsinken. Das heißt jedoch nichts anderes, als dass, je größer die theoretischen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der Partei, desto größer das Opfer an Selbständigkeit, das der Einzelne im Interesse des einheitlichen Handelns zu bringen hat, desto geringer die Begeisterung für das Wirken der Partei und desto größer die Gefahr, die ihrer Einheit droht. Anderseits aber wird man sich freilich hüten müssen, die Grenze zu eng zu ziehen, über die hinaus ein Abweichen des Einzelnen von dem theoretischen Standpunkt der Mehrheit unvereinbar wird mit seiner wirksamen Betätigung als Parteimitglied, über die hinaus eine Vereinbarung des einheitlichen Charakters der Partei mit der gleichzeitigen Selbständigkeit der Parteigenossen sich als unmöglich erweist.

Diese Grenze genau zu bestimmen ist eine der wichtigsten Aufgaben einer jeden Partei; zu diesem Zwecke formuliert sie ihre Ziele und deren Begründung in einem Programm, das mehr noch der Organisation als der Propaganda dient. Unser Programm setzt nicht bloß unsere nächsten Forderungen fest, sondern auch jene Grundsätze, deren Anerkennung die Einheitlichkeit der Partei und ihre Kampfesfreudigkeit sichert. Der allgemeine Teil unseres Programms ist nicht bloß eine Verzierung des Parteigebäudes, ein harmloses Vergnügen, das die „Praktiker“ gern den „Theoretikern“ gönnen, das aber weiter keinen Zweck hat, er hat die eminent praktische Aufgabe, die Grenzscheide aufzubauen zwischen uns und nicht nur unseren entschiedenen Gegnern, sondern auch allen den stauen, unsicheren Kantonisten, die hie und da gerne mittäten, die aber nicht gesonnen sind, unseren Kampf zum Ende unter allen Umständen mitzukämpfen.

Aber gerade weil diese Aufgabe des Programms eine so wichtige, darf es nicht Tabu, nicht unnahbar für jede Kritik sein. Nichts Schlimmeres als ein Programm, das zu der Wirklichkeit in Widerspruch steht. Entweder verliert es jede praktische Geltung in der Partei, dann verliert diese aber auch jeden festen Zusammenhalt und jede feste Grenze gegenüber den benachbarten Elementen, dann strömen Krethi und Plethi ihr zu, an Stelle von Grundsätzen treten wechselnde Stimmungen und Augenblickseinflüsse geschickter Demagogen, an Stelle zielbewussten unaufhaltsamen Vorwärtsmarschierens tritt ein Zickzackkurs, an Stelle der Geschlossenheit Zerfahrenheit, an Stelle des Selbstvertrauens und der Begeisterung Zweifelsucht und Nörgelei. Oder aber, das Programm verliert nicht sein Ansehen innerhalb der Partei, da es aber mit der Wirklichkeit unvereinbar ist, verliert es seine propagandistische Kraft, degradiert die Partei zur Sekte und führt sie auf die Bahn unfruchtbarer Deklamationen oder verhängnisvoller Abenteuer.

Zeitweise Neuprüfung des Programms ist also nicht bloß gestattet, sondern sogar geboten. Aber angesichts seiner Bedeutung für das ganze Leben der Partei muss man verlangen, dass sie mit der größten Gewissenhaftigkeit vorgenommen werde, dass man nicht auf den ersten besten Einfall, die erste beste Kritik hin, die man gehört, das Programm der eigenen Partei in Frage stelle, dass man nicht ohne zwingende Gründe Zweifel an der Festigkeit der Grundlagen des Parteigebäudes erwecke, und dass man den alten Standpunkt nicht erschüttere, ehe man nicht einen neuen gewonnen und gefestigt hat.

Man muss begeistert sein, um große Dinge zu vollbringen, sagte St. Simon. Aber nur große Ziele können begeistern. Ist das Ziel unserer Bewegung hinfällig geworden, dann lenke man den Enthusiasmus auf ein anderes, besser begründetes, jedoch eben so hohes Ziel, aber man töte nicht jeden Enthusiasmus durch unfruchtbaren Zweifel.

Das sind die Grundsätze, die uns bei der Prüfung unseres Programms leiten müssen.

Wir durften erwarten, Bernstein werde uns in seinem Buche eine derartige Kritik unseres Programms geben; eine Kritik, die, wenn sie unser bisheriges Ziel beseitigt, ein neues, besseres an seine Stelle setzt; die, wenn sie die bisherige Begründung des Zieles und den Weg dahin verwarf, es verstand, eine bessere Begründung zu geben, einen besseren Weg anzuzeigen. Gerade jetzt, angesichts der Gegensätze in unseren eigenen Reihen, konnte eine derartige Kritik und die daran sich knüpfende Diskussion nur klärend und förderlich für unsere Sache wirken. Unsere Gegner freilich musste diese Kritik zum mindesten kalt lassen, ja um so mehr erbittern, je wirksamer sie sich erwies, denn um so mehr musste sie die Sozialdemokratie befestigen, statt sie zu erschüttern.

Wie und inwieweit Bernsteins Kritik unseres Programms diese Aufgabe erfüllt hat, wird sich zeigen. Auf keinen Fall trug es zur besseren Lösung der letzteren bei, dass Bernstein sich damit nicht begnügte, sondern von Grund auf demolierend neben dem Programm auch die Methode kritisierte, deren Resultat es ist. Selbst ein Mann von dem Genie und dem enzyklopädischen Wissen eines Marx oder Engels wäre davor zurückgeschreckt, im Raum einiger Bogen, innerhalb weniger Wochen eine Kritik der philosophischen Grundlagen unseres Programms, eine Kritik des Programms selbst und eine Darlegung der daraus sich ergebenden praktischen Konsequenzen zu geben. Engels Anti-Dühring umfasste im Wesentlichen bloß den ersten Teil dieser Aufgabe, Marx’ Anti-Proudhon behandelte bloß die wichtigsten Grundsätze der politischen Ökonomie.

Weniger in Bernsteins Schrift wäre mehr gewesen. Eine Kritik des Programms hatte nur dann einen Zweck, wenn Bernstein die Methode für richtig anerkannte, durch die es gewonnen war. Ist diese Methode irrig, dann schwebt von vornherein das Programm in der Luft, dann heißt es vorallem die neue Methode feststellen, nach der gearbeitet werden muss; erst nachher kann man an den Aufbau eines neuen Programms gehen.

Mit Recht bemerkte Antonio Labriola, schon vom rein formellen Standpunkt aus leide das Buch Bernsteins an dem schweren Fehler, zu enzyklopädisch zu sein. (Mouvement Socialiste, Nr. 8, S. 455) Wer ihn kritisieren wolle, sei gezwungen, ein ganzes Buch zu schreiben.

Ja, wollte man Bernstein erschöpfend kritisieren, müsste man eine ganze Bibliothek schreiben, denn er sieht seine Aufgabe vornehmlich darin, Probleme zu stellen, deren Lösung er anderen überlässt. Dabei ist aber Bernsteins Schrift eine Gelegenheitsschrift, eine Sensationsschrift, die im Moment viel Staub aufwirbelt, deren nachhaltige Wirkung aber nicht feststeht. Der Kritiker kann sich nicht Jahre lang Zeit lassen, seine Gegenenzyklopädie zu schreiben, sie muss möglichst bald erscheinen, soll sie einen Zweck haben.

Zu alledem gesellt sich noch eine weitere Schwierigkeit. Bernsteins Schrift leidet in Folge des Übermaßes von Problemen, die auf einen engen Raum rasch hingeworfen wurden, nicht nur an dem Mangel positiver Ergebnisse, sondern auch an Unklarheit der Darstellung. Die Gedanken drängen sich, überstürzen sich, keiner kommt zu voller Entfaltung. Dabei hat Bernstein, wie er selbst in seiner Vorrede anführt, es nicht immer über sich bekommen, diejenige Form und diejenigen Argumente zu wählen, durch die seine Gedanken am schärfsten zum Ausdruck gelangt wären. Er zwang sich zu dieser Beschränkung aus Rücksicht auf seine toten Freunde und Meister. Wir werden noch sehen, ob er ihrem Andenken dadurch sehr genützt hat. Sicher aber hat es die Auseinandersetzung mit ihm sehr erschwert.

Alles das bewirkt, dass es dem Kritiker des Bernsteinschen Buches fast unmöglich ist, erhebliche, greifbare Resultate zu erzielen. Die Aufgabe, vor die es ihn stellt, ist eine ungeheure, den Einzelnen erdrückende; die Überfülle der Themata wie der Mangel an positivem Gehalt in dem kritisierten Buche schließen es fast völlig aus, durch die Kritik zu einer Vertiefung und Lösung der einzelnen Probleme zu gelangen, und da die wichtigsten Gedanken nicht zu Ende gedacht und präzis dargestellt sind, bleibt es nur zu oft dem Leser überlassen, ihre Konsequenzen zu ziehen und daraus den Standpunkt des Verfassers zu erschließen.

So kommt es, dass der Haupteinwurf Bernsteins gegenüber seinen Kritikern der ist, sie verstünden ihn nicht und stellten seine Anschauungen falsch dar. Dabei ereignet sich aber das Merkwürdige, dass diejenigen, die Bernstein entgegentreten, alle sein Buch in gleicher Weise auffassen. Dagegen sind es seine Verteidiger, die es auf die verschiedensten Arten auslegen. Die einen fassen es auf als vollständigen Bruch mit den bisherigen Prinzipien und Äußerungen der Sozialdemokratie, die anderen als Bestätigung des wirklichen Charakters unserer Bewegung, als bloßes Abstreifen einiger veralteten Äußerlichkeiten.

Alles das macht eine umfassende Kritik des Bernsteinschen Buches weder zu einer leichten, noch zu einer angenehmen und erfolgverheißenden Arbeit. Aber die Aufgabe ist gegeben; sie muss gelöst werden. Wir werden trachten, die Lösung so viel als möglich mit positivem Gehalt zu erfüllen.



Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012