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Wir sind bei dem letzten Stadium der Bernsteinschen Kritik angelangt, demjenigen, das den breitesten Platz in seinem Buche einnimmt und uns doch am kürzesten beschäftigen wird. Hier wird die Zweiseelentheorie, die früher auf Marx und Engels angewandt wurde, auf die Sozialdemokratie übertragen: Zwei Seelen wohnen, ach, in ihrer Brust, die revolutionäre und die reformierende. Aber die erstere ist nur eine traditionelle; die zweite schöpft ihr Leben aus der wirklichen Gegenwart. Die revolutionäre Seele beherrscht nur noch die Worte der Sozialdemokratie, die reformierende ihre Taten. Sie habe den Mut, zu scheinen, was sie ist, eine demokratisch-sozialistische Reformpartei, und sie wird alle Widersprüche in ihrem Innern los werden und den gefährlichsten Angriffen der Gegner die Spitze abbrechen.
Man sollte also meinen, Bernsteins Kritik richte sich hier gegen bloße Worte. Der Widerspruch, den er erfährt, rührt nicht von sachlichen Differenzen her, sondern teils von einer sinnlosen Freude an berauschenden Phrasen, teils einer geistlosen Buchstabengläubigkeit, die es nicht vermag, sich zu selbständiger Auffassung der Dinge aufzuschwingen, sondern mechanisch die überkommenen Redensarten weiter nachredet.
Diese Auffassung ist sicher sehr schmeichelhaft für Bernstein und seine Anhänger in der Partei, die als die kühnen, selbständigen und verständigen Denker erscheinen gegenüber der stumpfsinnigen Masse der Gläubigen und den phantastischen Scharen der Schwarmgeister. Aber man tut gut, die Gründe von Parteigegensätzen nicht in der mangelnden Intelligenz der einen und der höheren Intelligenz der anderen zu suchen, sondern tiefer zu graben und nach Gegensätzen nicht nur der Worte und der Argumente, sondern auch der Dinge zu forschen.
Bernstein weist uns auf die Bedeutung des Genossenschaftswesens, der Gewerkschaften, des sogenannten Munizipalsozialismus hin. Kein Zweifel, dass auf allen diesen Gebieten Bedeutendes für den Emanzipationskampf des Proletariats geleistet werden kann und geleistet werden muss. Aber dagegen haben sich auch die entschiedensten Gegner Bernsteins nicht verschlossen. Parvus hat sogar mehrfach der Leitung unserer Partei den Vorwurf gemacht, sie kümmere sich zu wenig um die Gewerkschaften, und die Konsumgenossenschaften gedeihen nirgends so sehr als in Sachsen, dem Lande, wo Bernstein am heftigsten angegriffen wurde.
Darüber herrscht also gar keine Meinungsverschiedenheit. Diese beginnt erst dort, wo es sich darum handelt, die Grenzen dessen festzustellen, was auf den einzelnen dieser Gebiete für den Befreiungskampf des Proletariats geleistet werden kann. Hier setzen die Gegensätze ein, Bernstein hat sie jedoch nur empfunden, nicht aber scharf zum Ausdruck gebracht. Er streift gelegentlich dies Problem des Sozialismus, lässt es jedoch immer wieder fallen. Die Frage nach der Leistungsfähigkeit von Genossenschaften, Gewerkschaften, Kommunalpolitik, hängt aber aufs Engste zusammen mit der Frage ihres Verhältnisses zur Staatspolitik.
Bernstein hat diese Frage nicht aufgeworfen, wohl aber einer seiner Anhänger, der schon erwähnte Dr. Woltmann, sowohl in einer Artikelserie der Elberfelder Freien Presse über Bernsteins Buch, betitelt: Zur Diskussion über Endziel und Bewegung (April 1899), als auch früher schon in einem Vortrag über Politische und ökonomische Macht (gehalten zu Barmen, 22. Februar d. J.).
Hier wie dort vertritt er den Standpunkt, dass nur ökonomische Macht politische Macht verleiht. Das Streben des Proletariats nach politischer Macht ist also eitel, wenn es nicht vorher ökonomische Macht errungen hat durch gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisation. Wenn es im Erfurter Programm heißt: „Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendiger Weise ein politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann ihre ökonomischen Kämpfe nicht führen und ihre ökonomischen Organisationen nicht entwickeln ohne politische Rechte“, so bemerkt Woltmann dazu:
„Die Forderung ist ganz richtig, nur fragt es sich: wie kommt die Arbeiterklasse zu den politischen Rechten? Davon steht im Programm nichts. Man ist so naiv, dies im zweiten Teile vom Staat zu fordern. Auf Grund welchen Machttitels??
„Der Satz müsste umgekehrt lauten: ‚Der Kampf der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Ausbeutung ist notwendig ein wirtschaftlich-politischer Kampf. Die Arbeiterklasse kann politische Rechte und Einflüsse nicht erringen ohne wirtschaftliche Organisationen.‘“
Es ist sicher sehr naiv, politische Rechte vom Staate zu fordern, aber leider vergisst Woltmann, uns mitzuteilen, von wem sonst man politische Rechte fordern kann, als vom Staate und seinen Organen, der Regierung und dem Parlament. Gerade jetzt sind unsere belgischen Freunde wieder einmal so naiv, das allgemeine Wahlrecht von Parlament und Regierung zu fordern und nicht etwa von einem Konsumverein.
Aber auf Grund welchen Machttitels fordern wir politische Rechte? Beherrscht nicht die Ökonomie die Politik, müssen wir nicht zuerst ökonomische Macht haben, ehe wir politische Macht erringen können? Die Arbeiterklasse, sagt Woltmann, kann politische Rechte und Einflüsse nicht erobern ohne wirtschaftliche Organisationen.
Aber bedürfen diese nicht wieder politischer „Rechte und Einflüsse“, um sich entwickeln zu können? Was wird aus den Gewerkschaften und Genossenschaften ohne Koalitions- und Vereinsrecht? Hat nicht überall die Arbeiterklasse diese politischen Rechte erst erobern müssen, ehe sie an die Begründung ihrer wirtschaftlichen Organisationen gehen konnte? Und sind diese politischen Rechte in Osteuropa nicht heute noch den schlimmsten Anfechtungen ausgesetzt? Das Sozialistengesetz hat vor den Genossenschaften nicht Halt gemacht, und das Zuchthausgesetz ist heute noch nicht zu den Toten geworfen.
Aber andererseits steht fest, dass die politische Macht in letzter Linie nur der Ausfluss ökonomischer Macht ist. Welch verhängnisvolle Zwickmühle! Ohne ökonomische Macht gelangen wir nicht zu politischen Rechten und ohne politische Rechte nicht zu ökonomischer Macht!
Zum Glück gibt es ein höchst einfaches Mittel, dieser Zwickmühle zu entrinnen: man braucht bloß die Verwechslung von ökonomischer Macht und ökonomischer Organisation zu beseitigen, auf der das ganze Räsonnement Woltmanns beruht.
Besäße das Proletariat nicht ökonomische Macht, so könnte es sicherlich nicht politische Rechte erringen. Die Grundlage seiner ökonomischen Macht ist aber die Rolle, die es im Produktionsprozess spielt, und diese hängt nicht vom Gutdünken der Regierungen ab. Allenthalben sind Regierungen und Kapitalisten eifrigst bemüht, die kapitalistische Produktionsweise rasch auszudehnen, das heißt aber die Masse des Proletariats rasch zu vermehren, es auf einzelnen Punkten zu konzentrieren, es zu schulen und zu organisieren – zunächst nur für die Produktion, aber die Organisation der Fabrik wirkt dann im Klassenkampf nach. Regierungen und Kapitalisten wirken vereint emsig dahin, dass das ökonomische Leben der Nation immer mehr von der Lohnarbeiterschaft abhängt, und von ihr auch in dem Maße, in dem sie zum Bewusstsein ihrer Kraft kommt, immer mehr beherrscht wird.
Dieses Wachstum der ökonomischen Macht des Proletariats geht überall vor sich, in despotischen Ländern wie in demokratischen, in Russland ebenso wie in der Schweiz, und daraus zieht die Arbeiterklasse die Kraft zu jenem unaufhaltsamen Siegeslauf, der den wichtigsten Inhalt der Geschichte unseres Jahrhunderts bildet. Wären Bernsteins Einwände berechtigt, ginge die Konzentration des Kapitals und damit des Proletariats nicht in der Weise vor sich, wie es bereits das „Kommunistische Manifest“ annahm, dann könnte das Proletariat sich noch so eifrig um seine ökonomischen Organisationen bemühen, die Regierungen und die Kapitalisten wären stark genug, mit ihnen fertig zu werden. Dagegen reiben sie sich auf in einem hoffnungslosen Kampfe, wenn der Feind, den sie bekämpfen, nach jeder Niederlage zahlreicher und geschlossener wieder ersteht und immer unentbehrlicher wird für sie selbst.
Das ist der Machttitel, auf Grund dessen die Arbeiterklasse vom Staate politische Rechte fordert, auf Grund dessen sie auch schon politische Rechte erlangt hat und weiterhin erlangen wird.
Dass sie aber diese politischen Rechte anwendet, um sich eine Organisation zu geben und ihre Macht dadurch noch weiterhin zu vermehren, das ist ganz selbstverständlich. Niemand hat noch je bestritten, dass ein Proletariat, welches gewerkschaftlich stramm organisiert ist, über reiche Konsumvereine, über zahlreiche Druckereien, über eine weitverbreitete Presse verfügt, dass dieses auch an der Wahlurne und im Parlament ganz andere Erfolge erzielt, als ein Proletariat, dem alle diese Kampfmittel fehlen. Aber die grundlegende ökonomische Macht des Proletariats ist jene, die selbsttätig durch die ökonomische Entwicklung geschaffen wird. Und die höchste Form des Klassenkampfes, die allen anderen ihren Stempel ausdrückt, ist nicht der Kampf einzelner ökonomischer Organisationen, sondern der Kampf der Gesamtheit des Proletariats um die mächtigste der gesellschaftlichen Organisationen, den Staat, das ist also der politische Kampf. Er ist der in letzter Linie entscheidende.
Damit ist freilich keineswegs gesagt, dass das Verhältnis zwischen ökonomischem und politischem Kampfe zu allen Zeiten und unter allen Verhältnissen das gleiche sein muss, dass durch diesen stets die größten und raschesten Fortschritte der Arbeiterklasse erzielt werden, dass der Kampf um und durch die ökonomischen Organisationen immer in zweiter Linie stehen muss.
In der relativen Bedeutung von ökonomischem und politischem Kampfe lässt sich eine gewisse Fluktuation verfolgen, ähnlich der Wellenbewegung der kapitalistischen Industrie. So wie diese wechselt zwischen Prosperität und Krisis, so finden wir auch in der Politik Zeiten großer Kämpfe, raschen Fortschreitens auf politischem Gebiet – Zeiten politischer „Revolution“ – wechselnd mit Zeiten politischer Stagnation, in denen die Entwicklung der ökonomischen Organisationen, die soziale „Reform“ in den Vordergrund gerät. Und zwischen der einen und der anderen Wellenbewegung, der industriellen und der politischen, besteht nicht nur eine Ähnlichkeit, sondern auch ein Zusammenhang.
Die Zeiten der Prosperität sind naturgemäß jene, in denen die allgemeine gesellschaftliche Unzufriedenheit am geringsten, und das Streben, durch eigene Kraft sich emporzuarbeiten, am aussichtsreichsten, das Bedürfnis nach Anrufung des Staates am schwächsten. Nicht bloß die Kapitalisten, auch die Arbeiter legen da geringeren Wert auf die Politik und größeren auf ökonomische Unternehmungen und Organisationen, die sofort greifbare Vorteile versprechen.
In der Krisis schwindet die Aussicht, auf dem Boden der reinen Ökonomie vorwärts zu kommen, die mächtigste ökonomische Potenz, der Staat muss helfen, des Staates muss man sich bemächtigen, um wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, die gesellschaftliche Unzufriedenheit wächst, alle Gegensätze verschärfen sich und alles drängt auf den politischen Kampf hin.
Natürlich hängt die Intensität des politischen Kampfes und sein jeweiliges Zurücktreten hinter die rein ökonomische Tätigkeit nicht allein davon ab, ob eine industrielle Blüte oder eine Krisis vorhanden. Andere Faktoren wirken darauf ein, je nachdem hemmend oder fördernd. Aber auf jeden Fall übt der wirtschaftliche Zyklus einen mächtigen Einfluss auf das Verhältnis zwischen Ökonomie und Politik.
Die Revolution von 1848 brach los während einer wirtschaftlichen Krisis. Zu den Ursachen, die nach der Niederlage ihr Wiederaufleben unmöglich machten, gehörte neben der Furcht der Bourgeoisie vor dem Proletariat, das sich im Junikampf so wehrhaft erwiesen, vor allem die industrielle Blüte, die 1850 eintrat.
„Die industrielle Krisis“, schrieb 1885 Engels in seiner Einleitung zu den Enthüllungen über den Kommunistenprozess zu Köln (S. 15) „von 1847, die die Revolution von 1848 vorbereitet hatte, war überwunden: eine neue, bisher unerhörte Periode der industriellen Prosperität war angebrochen; wer Augen hatte zu sehen, und sie gebrauchte, für den musste es klar sein, dass die Revolution von 1848 sich allmählich erschöpfte.“
Schon 1850 erklärten Marx und Engels in der Revue der Neuen Rheinischen Zeitung:
„Bei dieser allgemeinen Prosperität, worin die Produktivkräfte der bürgerlichen Gesellschaft sich so üppig entwickeln, wie dies innerhalb der bürgerlichen Verhältnisse überhaupt möglich ist, kann von einer wirklichen Revolution keine Rede sein. Eine solche Revolution ist nur in den Perioden möglich, wo diese beiden Faktoren, die modernen Produktionskräfte und die bürgerlichen Produktionsformen, miteinander in Widerspruch geraten.“
Die nächste Periode unerhörten wirtschaftlichen Aufschwungs trat 1871 ein. Aber sie schloss sich nicht wie die von 1850 an eine misslungene, sondern an eine höchst gelungene europäische Revolution an, vollzogen allerdings nicht durch Volkserhebungen, sondern durch dynastische Kriege. Noch zitterten die Ereignisse von 1866 und 1870/71 nach, der Sturz des österreichischen Absolutismus und des französischen Kaiserreichs, die Einigung Deutschlands und die Gewährung des allgemeinen Wahlrechts, endlich der Heldenkampf der Kommune, das waren Ereignisse, nicht danach angetan, bei den Arbeitern das Interesse an der Politik einzulullen, den Glauben an rasche Erfolge politischer Kämpfe zu lähmen und das Streben nach Erhebung durch rein ökonomische Tätigkeit in den Vordergrund zu drängen. Um so weniger, als die Zeit des Aufschwungs so kurz war und, dank der Reaktion nach 1849, das gewerkschaftliche und genossenschaftliche Leben kaum begonnen hatte.
So blieb für das Proletariat (mit Ausnahme Englands) der politische Kampf im Vordergrund, es blieb „revolutionär“.
Seit einigen Jahren sind wir abermals in einer Periode der Prosperität; aber diese ist länger andauernd als die von 1871; sie findet bereits stärkere wirtschaftliche Organisationen vor und sie fällt in eine schon länger andauernde Zeit politischer Stagnation, welche dadurch eine weitere Verstärkung erfährt.
Wir haben also eine ähnliche Situation wie 1850: politische Reaktion und industrieller Aufschwung. Aber dazwischen liegt ein halbes Jahrhundert kapitalistischer Entwicklung und proletarischer Klassenkämpfe, ein Menschenalter der Geltung der Koalitionsfreiheit. Wenn die Situation von 1850 ein völliges Aufhören jeder Arbeiterbewegung auf dem Festland Europas bedeutete, so bedeutet die von 1899 bloß, dass der ökonomische Kampf in den Vordergrund tritt, dass die arbeitenden Massen zu der Ansicht kommen, sie könnten durch gewerkschaftliche und genossenschaftliche Organisation im Moment mehr erreichen, als durch politische Tätigkeit.
In dieser Situation liegt zum Teil die Stärke des Bernsteinschen Buches. Seine Betonung der praktischen ökonomischen Kleinarbeit entspricht einem tatsächlich vorhandenen Bedürfnis; sein Zweifel an der Wahrscheinlichkeit großer und rasch eintretender politischer Veränderungen – Katastrophen – entspricht den Erfahrungen der letzten Jahre. Den „Praktikern“ aber, die das Bernsteinsche Buch lesen, sind seine Theorien sehr gleichgültig; sie interessieren nur seine Ausführungen über Aufgaben und Bedingungen der Gegenwart.
Jedoch gerade darin, dass Bernsteins Buch einer besonderen Situation entspricht, liegt auch seine Schwäche. Denn es will nicht von den Voraussetzungen unserer nächsten Fortschritte handeln, sondern von den Voraussetzungen des Sozialismus, nicht von den Aufgaben des heutigen Tages, sondern von den Aufgaben der Sozialdemokratie im Allgemeinen.
Als 1850 die Ära der Prosperität kam, zogen Marx und Engels daraus ihre Schlüsse für die Taktik der nächsten Jahre, aber sie warfen nicht sofort ihre aus dem Studium der gesamten kapitalistischen Entwicklung gewonnenen Ergebnisse in die Rumpelkammer. Wäre Bernstein aufgetreten und hätte erklärt, unter der heutigen Ära der Prosperität und der Reaktion ist auf politischem Gebiet nichts Großes zu erreichen, werfen wir uns, so lange das dauert, mit voller Kraft auf die reformierende Kleinarbeit in Gewerkschaften, Gemeinden, Genossenschaften etc., so hätte das volle Beachtung und vielfache Zustimmung in den Kreisen unserer Partei gefunden.
Aber Bernstein erklärt den augenblicklichen ökonomischen und politischen Zustand für den Normalzustand der Gesellschaft, erklärt die politische Stagnation für ein langsames, aber sicheres Fortschreiten auf dem Wege der Demokratie und der Sozialreform, denkt sich die heutige unerhörte Prosperität ins Endlose verlängert und gelangt so zu einem Optimismus in der Auffassung des Entwicklungsgangs von Staat und Gesellschaft, der völlig haltlos ist und zusammenbrechen muss, sobald politische Stagnation und ökonomische Prosperität ein Ende haben.
Was Bernstein als Gegensatz von traditioneller revolutionärer Phrase und wirklicher reformierender Gesinnung erscheint, ist zum Teil nichts anderes, als der Gegensatz zwischen einer Auffassung, die aus der Gesamtheit der bisherigen Erscheinungen unserer Produktionsweise geschöpft ist, und einer, die nur eine ihrer Phasen in Betracht zieht.
Er spricht von einer „auf Katastrophen zugespitzten Taktik“. Wo er eine solche in der deutschen Sozialdemokratie findet, verrät er nicht. Tatsächlich ist, gerade durch ihre theoretische Basis, nichts anpassungsfähiger, als die Taktik der Sozialdemokratie. Sie ist auf jede Eventualität gerüstet und auf kein bestimmtes Tempo der Entwicklung angewiesen. Sie rechnet mit der Krise wie mit der Prosperität, mit der Reaktion wie mit der Revolution, mit Katastrophen und mit langsamer, friedlicher Entwicklung. In dieser Anpassungsfähigkeit der Sozialdemokratie liegt großenteils ihre Lebenskraft. Sie hat keine Ursache, sie zu beeinträchtigen durch Zuspitzung ihrer allgemeinen Taktik auf eine besondere Situation, nicht durch Zuspitzung ihrer Taktik auf Katastrophen, aber auch nicht durch ihre Zuspitzung auf die friedliche Kleinarbeit für alle Zeiten. Ihr frommt ebenso wenig eine Taktik, die von Krisen, Katastrophen, Revolutionen grundsätzlich absieht, wie eine Taktik, die auf dergleichen spekuliert. Sie nutzt jede Situation aus und bindet sich nie im Voraus die Hände.
Hinter dem Gegensatz von überlebter revolutionärer Phraseologie und tatsächlicher demokratisch-sozialistischer Reformbewegung scheint mir, wie eben erwähnt, der Gegensatz einer allgemeinen, umfassenden Anschauung der kapitalistischen Produktionsweise und einer, auf augenblickliche Erscheinungen basierten und Augenblicksbedürfnissen dienenden zu stehen.
Aber nicht dieser allein, sondern noch ein zweiter, praktisch viel wichtigerer. Denn der erstere wird vornehmlich nur auf dem Gebiet der Propaganda sich geltend machen, der zweite auch in unserem praktischen Handeln.
Es ist der Gegensatz von selbständiger und unselbständiger Klassenpolitik.
Soll das Proletariat sich als eine selbständige Klassenpartei organisieren oder soll es mit anderen Klassen zusammen eine große demokratische Partei bilden?
Man sollte glauben, diese Frage wäre schon im Kommunistischen Manifest theoretisch, seit Lassalles Auftreten für Deutschland praktisch gelöst. Aber sie taucht wieder von neuem auf in einer neuen Form. Heute handelt es sich dabei nicht mehr um die Sozialdemokratie als Propagandagesellschaft, sondern als politischer Machtfaktor ersten Ranges. Und sie kann fast nirgends mehr lauten: sollen die Proletarier die Sozialdemokratie aufgeben, um sich der bürgerlichen Demokratie anzuschließen, sondern nur noch: sollen wir Programm und Taktik der Sozialdemokratie derartig gestalten, dass sie allen demokratischen Klassen oder Schichten geöffnet ist?
Um Klassen und Schichten handelt es sich, nicht um Individuen. Dass der Sozialdemokratie jeder willkommen ist, welcher Klasse immer er entstammen mag, der bereit ist, den Klassenkampf des Proletariats mitzukämpfen, ist selbstverständlich. Die Frage ist die, ob die Sozialdemokratie auch den Klasseninteressen nichtproletarischer Klassen dienstbar gemacht werden soll.
Ihre Bejahung wird aufs heißeste gewünscht von den weiter blickenden Elementen der bürgerlichen Demokratie, die in rapidem Verfall ist und nur in einer derartigen „Mauserung“ der Sozialdemokratie, wenn auch nicht dem Namen, so doch der Sache nach, eine machtvolle Auferstehung erwarten darf. Sie wird aber auch gewünscht von manchen Elementen unserer Partei, die darin das sichere Mittel sehen, sie raschest groß und weit eher regierungsfähig zu machen, als sonst zu erwarten wäre. Diese Elemente scharen sich um Bernstein, und in der Tat bietet ihnen sein Buch eine Reihe von Argumenten, so die Unterschätzung der proletarischen Klassensolidarität und des Klassengegensatzes zwischen Arbeiter und Bourgeois; der Hinweis auf die Demokratie, die prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft bedeute; die Mahnung, in Kriegserklärungen an den Liberalismus vorsichtig zu sein; die Bevorzugung der jetzigen Taktik der englischen Arbeiter vor der der Chartisten.
Ich habe in meiner Kritik des Bernsteinschen Buches im Vorwärts wie in der Neuen Zeit bereits darauf hingewiesen, dass seine Stellung zum Klassenkampf eine dunkle.
„Nur eines geht aus seinen Ausführungen hervor, das Bestreben, die Klassensolidarität der Proletarier untereinander und ebenso den Klassengegensatz zwischen ihnen und den Kapitalisten recht gering erscheinen zu lassen.“ (Neue Zeit, XIII, 2, S. 70)
Bernstein sieht in diesem Satze eine „schwere Anklage“. (a.a.O., S. 578) Ich sehe darin bloß die Konstatierung einer Tatsache. Ich habe doch nicht behauptet, dass Bernsteins Ausführungen nicht seiner Überzeugung entsprechen, man kann aber sehr wohl die Überzeugung haben, dass die Klassensolidarität des Proletariats eine geringe sei und doch ein sehr ehrenwerter Mann bleiben. Es handelt sich auch nicht um „sittliche Entrüstung und dogmatische Abkanzlung“, sondern um die Untersuchung der Frage, ob die Tatsachen der Bernsteinschen Auffassung entsprechen oder nicht.
Er sagt z. B. auf Seite 89:
„Ich habe bei einer früheren Gelegenheit die Bemerkung gemacht, dass die moderne Lohnarbeiterschaft nicht die gleichgeartete, in Bezug auf Eigentum, Familie etc. gleich ungebundene Masse sei, die das Kommunistische Manifest voraussieht, dass sich gerade in den vorgeschrittensten Fabrikindustrien eine ganze Hierarchie differenzierter Arbeiter finde, zwischen deren Gruppen nur ein mäßiges Solidaritätsgefühl bestehe.“
Wohl erkennt er an, dass es zwischen der Arbeiteraristokratie und den unteren Proletarierschichten gewisse Sympathien gibt, die auch in England nicht fehlen.
„Aber zwischen solcher politischen oder sozialpolitischen Sympathie und ökonomischen Solidarität ist noch ein großer Unterschied, den starker politischer und ökonomischer Druck neutralisieren mag, der aber in dem Maße, als dieser Druck hinwegfällt, sich schließlich immer wieder in der einen oder anderen Weise bemerkbar machen wird. Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, dass England hier prinzipiell eine Ausnahme macht. In anderer Form zeigt sich heute in Frankreich dieselbe Erscheinung. Ähnlich in der Schweiz, den Vereinigten Staaten, und, wie gesagt, bis zu einem gewissen Grade auch in Deutschland.“
Daraufhin erwiderte ich, dass England allerdings eine Ausnahme mache. Kämpfe rivalisierender Gewerkschaften untereinander um bestimmte Arbeitsgebiete seien eine England eigene Erscheinung. Dem entgegnet er, dass solche Kämpfe in England zum großen Teile beseitigt seien und – dass auch Deutschland seine „aus der wirtschaftlichen Differenzierung erwachsenden oder auf wirtschaftlichen Interessenkonflikten beruhenden Kämpfe von Arbeiter gegen Arbeiter“ aufzuweisen hat. „An gewissen Orten stehen sich noch zentralistische Gewerkschaften und Lokalorganisation, in einzelnen Industriezweigen Industrieverband und Fachverein konkurrierend gegenüber.“
Darauf habe ich nur zu bemerken, dass das Aufhören der Kämpfe von Gewerkschaft gegen Gewerkschaft in England nichts gegen mich bewiese, der ich solche Kämpfe für Ausnahmen erklärt hatte. Übrigens deutet die jüngste Ausschließung der großen Gewerkschaft der Vereinigten Maschinenbauer vom Gewerkschaftskongress wegen Streikbrecherei gerade nicht ein Aufhören der gewerkschaftlichen Rivalitäten in England an. Was aber die Reibereien zwischen zentralisierten und lokalorganisierten Gewerkschaften, sowie zwischen Fachvereinen und Industrieverbänden anbelangt, so beruhen sie auf allem andern, als auf Mangel an Solidaritätsgefühl oder auf Interessenkonflikten zwischen den Arbeitern verschiedener Industriezweige. Die Kämpfe, auf die Bernstein hier anspielt, entspringen teils aus Meinungsverschiedenheiten über die beste Organisationsform, teils aus Kompetenzkonflikten, keineswegs aber aus Interessengegensätzen. Man muss wirklich schon sehr in Verlegenheit um andere Beweise sein, wenn man diese Erscheinungen als Beleg dafür ansieht, dass zwischen einzelnen Gruppen der Arbeiter „nur ein mäßiges Solidaritätsgefühl besteht“.
Aber, fragt Bernstein, was wird bei dieser Solidarität aus dem historischen Materialismus und der Dialektik? Da haben wir Arbeiter der verschiedensten Branchen und Einkommensstufen.
„Ist es nicht die nächstliegende Folgerung des historischen Materialismus, dass sich Unterschiede in Lebensstellung und Lebensweise auch in der Denkweise und dem gegenseitigen Verhältnis der betreffenden Schichten zu einander geltend machen? Und entspricht eine solche Annahme nicht gerade der dialektischen Betrachtungsweise?“
Wie dialektisch und materialistisch Bernstein plötzlich wird! Aber dass Unterschiede in der Denkweise der verschiedenen Arbeiterschichten vorkommen, habe ich nie geleugnet; es handelt sich jedoch darum, ob diese Unterschiede derartige sind, dass sie dem allen gemeinsamen Gegensatz gegen das Kapital entgegenwirken und so die proletarische Solidarität aufheben oder doch schwächen.
Etwas derartiges, behaupte ich, tritt nur dort ein, wo Proletarier eine privilegierte Stellung einnehmen. Das ist aber stets nur eine Ausnahme und nirgends eine dauernde Ausnahme. Das Kapital selbst trachtet, jedes Privilegium der Bildung, der Geschicklichkeit, der Organisation der Arbeiter zu überwinden und zu brechen, und früher oder später gelingt es ihm auch. Eine Schicht nach der anderen von jenen Arbeitern, die sich etwas Besseres zu sein dünken als Proletarier, wird herabgedrückt auf die gleiche Stufe mit den andern und wird zum Bewusstsein der Solidarität mit der Gesamtmasse gebracht. Dieser Prozess vollzieht sich vor unseren Augen und die Zänkereien zwischen lokalen und zentralen Organisationen beweisen nicht das Mindeste dagegen.
Bernstein meint, zwischen politischer oder sozialpolitischer „Sympathie und ökonomischer Solidarität ist noch ein großer Unterschied, den starker politischer und ökonomischer Druck neutralisieren mag, der aber in dem Maße, als dieser Druck hinwegfällt, sich schließlich immer wieder in der einen oder anderen Weise bemerkbar machen wird. Es ist ein großer Irrtum, anzunehmen, dass England hier prinzipiell eine Ausnahme macht“. (S. 90)
Ja, dass die proletarische Solidarität ein Ende nimmt, wenn politischer und ökonomischer Druck aufhört, das will ich nicht bestreiten; sie ist ja gerade ein Ergebnis dieses Druckes. Ich gebe auch gerne zu, dass dort, wo starker politischer und ökonomischer Druck zusammenfallen, das Gefühl der Solidarität in der Regel noch gesteigert werden wird, aber der starke ökonomische Druck der Kapitalistenklasse auf das Proletariat, ist der nicht eine Lebensbedingung der kapitalistischen Ausbeutung? Entspringt nicht gerade daraus der Klassengegensatz zwischen beiden? Ob ich behaupte, Bernstein erscheint der Klassengegensatz zwischen Proletariat und Kapital weniger schroff, als er in Wirklichkeit der Fall, oder ob ich sage, der Druck der Kapitalistenklasse erscheine ihm geringer, das kommt wohl auf das Gleiche hinaus.
Eng verwandt mit dieser Anschauung ist die, die Demokratie sei „prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie auch noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist“ (S.126). Man kann „Demokratie mit Abwesenheit von Klassenherrschaft übersetzen, als Bezeichnung eines Gesellschaftszustandes, wo keiner Klasse ein politisches Privilegium gegenüber der Gesamtheit zusteht“ (S.122).
Wir wollen absehen von der Frage, ob man die Demokratie passend einen „Gesellschaftszustand“ nennen kann, aber sicher ist es, dass die Definierung der Demokratie als einer Organisationsform, in der keiner Klasse ein politisches Privilegium zusteht, eine sehr einseitige ist. Die Rechtsgleichheit ist ein Charakteristikum, aber nicht das Charakteristikum der Demokratie. Bernstein kann der Übersetzung des Wortes Demokratie mit Volksherrschaft keinen Geschmack abgewinnen, denn damit wird „nur eine ganz äußerliche, rein formale Definition gegeben, während fast alle, die heute das Wort Demokratie gebrauchen, darunter mehr wie eine bloße Herrschaftsform verstehen.“
Mehr als bloße Herrschaftsform – aber doch Herrschaftsform. Und der Begriff der Volksherrschaft schließt den der Rechtsgleichheit in sich, während das Umgekehrte nicht der Fall ist. Auch in der römischen Kaiserzeit finden wir Rechtsgleichheit aller Klassen, keiner stand ein politisches Privilegium zu, alle waren politisch gleich rechtlose römische Bürger. Und ein anarchistischer Gesellschaftszustand bedingt auch Abwesenheit aller politischen Privilegien, und doch wollen die Anarchisten, und von ihrem Standpunkt mit Recht, von der Demokratie nichts wissen, eben deswegen, weil sie eine Herrschaftsform ist. Sie ist die Form der Herrschaft der Majorität.
Dabei bedeutet aber, wie auch Bernstein nicht leugnen kann, die Demokratie nicht die faktische Aufhebung der Klassen. Bei gleichem Gesellschaftszustand bleiben die Klassen, ihre Gegensätze und ihre ökonomischen Machtmittel in der Demokratie dieselben wie unter einem politischen System der Herrschaft der Minderheit. Warum soll also die Demokratie im Prinzip gleichbedeutend sein mit der Aufhebung der Klassenherrschaft? Sie bedeutet die Herrschaft jener Klassen, welche die Mehrheit bilden oder welche die Mehrheit ökonomisch oder intellektuell in Abhängigkeit von sich halten.
Sicher ist die Demokratie die unentbehrliche Vorbedingung der Aufhebung der Klassenherrschaft, aber deswegen, weil sie die einzige politische Form bildet, in der das Proletariat zur Klassenherrschaft kommen kann, die es, als unterste Klasse, naturgemäß dazu benutzen muss, alle Klassenunterschiede aufzuheben. Ohne Klassenherrschaft des Proletariats keine Aufhebung der Klassen.
Bernstein aber graut es vor dieser Klassenherrschaft, er sucht daher in der Demokratie das Mittel, das die Klassenherrschaft „im Prinzip“ aufhebt und dadurch die des Proletariats überflüssig macht.
Er findet, dass der „Gedanke der Unterdrückung des Individuums durch die Mehrheit dem modernen Bewusstsein unbedingt widerstrebt. Wir finden heute die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit undemokratisch. In der Praxis hat sich gezeigt, dass je länger in einem modernen Staatswesen demokratische Einrichtungen bestanden, um so mehr die Achtung und Berücksichtigung der Rechte der Minderheiten zunahm und die Parteikämpfe an Gehässigkeit verlieren.“ (S. 123, 124)
Wo diese „Praxis“ zu finden, sagt er uns nicht. Auch hier, wie gegenüber der Prosperität, finden wir, dass Bernstein als allgemeines Gesetz der modernen Entwicklung angibt, was eine Augenblickserscheinung ist, und zwar im vorliegenden Falle in einem einzelnen Lande, in England.
Dort herrscht momentan politische Windstille. Die Unterschiede zwischen den beiden großen Regierungsparteien gleichen sich immer mehr aus und der Kampf zwischen England und Irland hat in den letzten Jahren an Schärfe verloren. Es ist allerdings noch nicht lange her, dass das „moderne Bewusstsein“ der Engländer den grausamsten Misshandlungen ihrer irischen Gegner „unbedingt“ zujubelte, und dass diese mit Dolch und Dynamit antworteten. Seitdem Gladstone vor den Iren kapitulierte, hat jedoch diese Art des Kampfes ein Ende genommen.
Aber dass die Engländer der Unterdrückung der Minderheiten oder der Schwächeren durchaus nicht unbedingt widerstreben, zeigen sie in ihrer Kolonialpolitik, in Südafrika, im Sudan, in Indien. Und das demokratische Amerika? Nie lynchte es seine Neger mit größerer Wollust als jetzt, nie wurden Streikende leichtfertiger niedergeschossen als jetzt, nie zeigten sich die Amerikaner blutdürstiger und tyrannischer gegenüber den Minderheiten. Der Krieg gegen die Filipinos wird ihre Sitten nicht verbessern.
Oder zeigt uns das demokratische Frankreich, dass die Parteikämpfe an Gehässigkeit verlieren, das Individuum höher geschätzt wird und die politische Entwicklung immer mildere Formen annimmt? Von Österreich und Italien nicht zu reden, die ja durch ihr Wahlrecht auch schon einigermaßen in die demokratischen Staaten rangieren.
Aber wozu in die Ferne schweifen? Was finden wir im Deutschen Reiche nach einem Menschenalter der Geltung des allgemeinen Wahlrechts? Die Zuchthausvorlage und eine Gerichtspraxis, die drastisch illustriert wird durch das Löbtauer Urteil!
Bernstein weist den Gedanken einer Diktatur des Proletariats entrüstet zurück. Ob man mit Elementen nach der Art der preußischen Junker, der Stumm und Kühnemänner, der Rockefeller und Jay Gould, der höheren und niederen Banditen, die sich um den französischen Generalstab sammeln, und anderer nach einer schneidigen Politik lüsterner Patrone auf dem Wege vollster Achtung vor ihrer Individualität fertig wird, erscheint mir etwas fraglich. Und nichts deutet darauf hin, dass die Gegensätze sich mildern und abschleifen. Im Gegenteil! Ich will nicht darauf schwören, dass die Klassenherrschaft des Proletariats die Formen einer Klassendiktatur annehmen muss. Aber dass die demokratischen Formen bereits genügen, die Klassenherrschaft des Proletariats für seine Emanzipation überflüssig zu machen, wird durch die bisherige Praxis und ihre weiteren Aussichten keineswegs bewiesen.
Man missverstehe mich nicht. Es fällt mir nicht ein, zu leugnen, dass unter sonst gleichen Umständen die Demokratie mit ihren Freiheiten und ihrer klaren Einsicht in die Machtverhältnisse der verschiedenen Parteien und Klassen am ehesten geeignet ist, überflüssige Verschärfungen des Klassenkampfes fernzuhalten. Das hat die Sozialdemokratie stets anerkannt. Aber darum handelt es sich hier nicht, sondern um die Frage, ob die Demokratie der notwendig aus der ökonomischen Entwicklung eintretenden Verschärfung der Klassengegensätze in einer Weise entgegenwirken kann, dass sie die Klassenherrschaft des Proletariats überflüssig macht. Dagegen sprechen sowohl Theorie wie Praxis.
Die Entscheidung über das Problem der proletarischen Diktatur können wir wohl ganz ruhig der Zukunft überlassen. Auch da brauchen wir uns nicht die Hände zu binden. Aber es hat insofern für die Gegenwart eine Bedeutung, als von unseren Erwartungen über das Aufhören der Klassenherrschaft in der Demokratie unser Festhalten an der selbständigen Klassenorganisation des Proletariats bestimmt wird.
Noch mehr muss darauf Einfluss haben unsere Stellung zum Liberalismus.
Bernstein empfiehlt uns, „in Kriegserklärungen gegen den ‚Liberalismus’ etwas Maß zu halten. Es ist ja richtig, die große liberale Bewegung der Neuzeit ist zunächst der kapitalistischen Bourgeoisie zu Gute gekommen und die Parteien, die sich den Namen liberal zulegten, waren oder wurden im Verlauf reine Schutzgarden des Kapitalismus. Zwischen diesen Parteien und der Sozialdemokratie kann natürlich nur Gegnerschaft herrschen. Was aber den Liberalismus als weltgeschichtliche Bewegung anbetrifft, so ist der Sozialismus nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach sein legitimer Erbe, wie sich das übrigens auch praktisch bei jeder prinzipiellen Frage zeigt, zu der die Sozialdemokratie Stellung zu nehmen hatte. Wo irgendeine wirtschaftliche Forderung des sozialistischen Programms in einer Weise oder unter Umständen ausgeführt werden sollte, dass die freiheitliche Entwicklung dadurch ernsthaft gefährdet erschien, hat die Sozialdemokratie sich nie gescheut, dagegen Stellung zu nehmen. Die Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheit hat ihr stets höher gestanden, als die Erfüllung irgendeines wirtschaftlichen Postulats. Die Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit ist der Zweck aller sozialistischen Maßregeln, auch derjenigen, die äußerlich sich als Zwangsmaßregeln darstellen ... Die (französische) Verfassung von 1793 war der folgerichtige Ausdruck der liberalen Ideen der Epoche, und wie wenig sie dem Sozialismus im Wege war oder ist, zeigt ein flüchtiger Durchblick ihres Inhalts. Babeuf und die Gleichen sahen denn auch in ihr einen trefflichen Ansatzpunkt für die Verwirklichung ihrer kommunistischen Bestrebungen und schrieben demgemäß die Wiederherstellung der Konstitution von 1793 an die Spitze ihrer Forderungen. Was sich später als politischer Liberalismus gab, sind Abschwächungen und Anpassungen, wie sie den Bedürfnissen des kapitalistischen Bürgertums nach Sturz des alten Regimes entsprachen oder genügten, gerade wie die sogenannte Manchesterlehre nur eine Abschwächung und einseitige Darstellung der von den Klassikern des wirtschaftlichen Liberalismus niedergelegten Grundsätze war. Tatsächlich gibt es keinen liberalen Gedanken, der nicht auch zum Ideengehalt des Sozialismus gehörte. Selbst das Prinzip der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit, das anscheinend so ganz und gar manchesterlich ist, kann meines Erachtens vom Sozialismus weder theoretisch negiert, noch unter irgend denkbaren Umständen außer Wirksamkeit gesetzt werden.“ (S. 129, 130)
Das „Prinzip der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit“ in allen Ehren, ebenso die „staatsbürgerliche Freiheit“ und „die Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit“, aber mit diesen Prinzipien und Freiheiten erscheint mir das Wesen des Liberalismus nicht ganz erschöpft. Wir haben ihn doch ebenso wie den Sozialismus als bestimmte historische Erscheinung aufzufassen und nicht etwa als jenseits von Zeit und Raum stehende Freiheitsformel. Wenigstens ist jener Liberalismus, gegen den die Sozialdemokratie Kriegserklärungen loslässt, eine sehr konkrete Erscheinung: die liberalen Parteien, von denen Bernstein selbst sagt, dass sie „reine Schutzgarden des Kapitalismus“ sind. Aber auch der Liberalismus in seiner reinsten Gestalt, das Ideal der Mehrzahl der Denker der Aufklärungsphilosophie, ist in seinem sozialen Inhalt nichts weniger als sozialistisch, weder direkt noch auch nur indirekt, in seinen Konsequenzen. Anders steht es freilich mit dem politischen Inhalt des Liberalismus, der Demokratie. Die muss der Sozialismus selbstverständlich akzeptieren, aber seit wann macht die Sozialdemokratie in Kriegserklärungen an die demokratischen Ideen? Der ganzen Argumentation Bernsteins liegt hier das Zusammenwerfen von Demokratie und ökonomischem Liberalismus zu Grunde, wie seine Berufung auf die Konstitution von 1793 und Babeuf klar beweist.
Der ökonomische Gehalt des Liberalismus entspricht den Bedürfnissen der entwickelten Warenproduktion. Das Grundrecht, das er fordert, ist das volle, uneingeschränkte Recht des Privateigentums, nicht bloß an Konsumtions-, sondern auch an Produktionsmitteln: die Grundfreiheit, die er fordert, ist die Freiheit, zu produzieren und zu verkaufen, das laissez faire, laissez passer – welches Prinzip nicht auf „einer Abschwächung und einseitigen Darstellung der von den Klassikern des wirtschaftlichen Liberalismus niedergelegten Grundsätze“ beruht, sondern bereits von den ersten derselben, den Physiokraten, formuliert wurde.
Auch die Verfassung von 1793, obwohl sie der Schreckensherrschaft der untersten Volksmassen entsprang, erkannte diese zwei Grundzüge des Liberalismus an. Sie erklärte:
„Das Eigentumsrecht ist das jedem Staatsbürger zustehende Recht, nach Belieben (à son gré) über seine Güter, sein Einkommen, die Früchte seiner Arbeit und seines Fleißes zu verfügen ... Keine Art der Arbeit, der Bodenkultur, des Handels kann den Staatsbürgern versagt werden.“
Anders hatte der Verfassungsentwurf gelautet, den Robespierre den Jakobinern vorgelegt hatte. Da hieß es:
„Das Eigentumsrecht ist das Recht jedes Staatsbürgers, über jenen Teil der Güter zu verfügen, den das Gesetz ihm gewährleistet. Das Eigentumsrecht ist, wie jedes andere Recht, beschränkt durch die Verpflichtung, die Rechte anderer zu achten. Es darf weder die Sicherheit, noch die Freiheit, noch die Existenz, noch das Eigentum der Mitmenschen bedrohen. Jeder Besitz, jeder Erwerb, der diesen Grundsatz verletzt, ist unerlaubt (illicite) und unmoralisch.“
So der gewiss nicht sozialistische Robespierre.
Und Babeuf soll geglaubt haben, in den ökonomischen Grundsätzen der Verfassung von 1793 treffliche Ansatzpunkte zur Einführung der Gütergemeinschaft zu finden?
Davon war gar keine Rede.
Aber die Konstitution von 1793 enthielt nicht nur die Anerkennung des Privateigentums und des laissez faire, sie enthielt auch eine demokratische Organisation des Staates, die in der Verfassung von 1795 wieder beseitigt wurde. Sie enthielt vor allem das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht, an dessen Stelle die letztere Verfassung die Zensuswahl und indirekte Wahlen setzte. Und deshalb verlangte Babeuf die Ersetzung der Verfassung von 1795 durch die von 1793. Er verlangte ihre Wiederherstellung, weil sie, wie es in einem seiner Plakate heißt,
„allen Bürgern das unveräußerliche Recht sicherte, über die Gesetze abzustimmen, die politischen Rechte auszuüben, sich zu versammeln, zu fordern, was sie für notwendig halten, sich zu unterrichten, nicht Hungers zu sterben – Rechte, welche der gegenrevolutionäre Akt von 1795 durchgängig und offenkundig verletzt hat.“ (zitiert von G. Deville in seinem Gracchus Babeuf, deutsch von Bernstein, S. 24)
In derselben Schrift sagt Deville weiter (S. 26):
„Weit entfernt, notwendiger Weise zum Kommunismus zu führen, wie der phantasievolle Geschichtsschreiber H. v. Sybel behauptet, erklärte die Konstitution von 1793 das Eigentum für ein absolutes Recht, proklamierte sie die volle Unabhängigkeit für Industrie und Handel. Wenn Kommunisten wie Babeuf vor allem ihre Einführung verlangten, so deshalb, weil sie zwar den Gemeinschaftlichkeitszustand, nach dem sie strebten, nicht aus den Augen verloren, aber der Überzeugung waren, dass die Revolution nur bis zum 9. Thermidor (1794) ihren wahrhaften Weg genommen habe und dass sie sie daher, um ihr das zu geben, was sie für ihren natürlichen Abschluss hielten, an dem Punkte wieder aufnehmen mussten, wo sie an jenem Tage angelangt war.“
Babeuf und die Gleichen forderten also die Verfassung von 1793 wegen ihres demokratischen Inhalts, trotz, nicht wegen ihres ökonomischen Liberalismus. Sich auf Babeuf und diese Verfassung berufen zum Beweis dafür, dass der Liberalismus dem Sozialismus nicht im Wege steht, dass, wie Bernstein sich einmal ausdrückt, der Liberalismus ein „Gesellschaftsprinzip ausdrückt, dessen Vollendung der Sozialismus sein wird“ (S. 132), heißt doch sich die Tatsachen der Geschichte gar zu bequem zurechtlegen.
Viel schlechter als Babeuf und die „Gleichen“ kommen die Chartisten bei Bernstein weg und doch waren sie gegen jene die reinen Waisenknaben: hier der Versuch, durch eine Verschwörung in den Kommunismus hineinzuspringen, dort die Forderung des allgemeinen Wahlrechts und des Zehnstundentags. Trotzdem finden sie nicht den Beifall Bernsteins, denn sie wollten ihre Ziele erreichen unabhängig vom, ja im Gegensatz zum „radikalen Bürgertum“.
Er bemerkt, je mehr die Sozialdemokratie sich entschließt, das scheinen zu wollen, was sie ist – eine demokratisch-sozialistische Reformpartei –, um so mehr werden auch ihre Aussichten wachsen, politische Reformen durchzusetzen.
„Die Furcht ist gewiss ein großer Faktor in der Politik, aber man täuscht sich, wenn man glaubt, dass Erregung von Furcht alles vermag. Nicht als die Chartistenbewegung sich am revolutionärsten gebärdete, erlangten die englischen Arbeiter das Stimmrecht, sondern als die revolutionären Schlagworte verhallt waren und sie sich mit dem radikalen Bürgertum für die Erkämpfung von Reformen verbündeten. Und wer mir entgegenhält, dass Ähnliches in Deutschland unmöglich sei, den ersuche ich, nachzulesen, wie noch vor fünfzehn und zwanzig Jahren die liberale Presse über Gewerkschaftskämpfe und Arbeitergesetzgebung schrieb und die Vertreter dieser Parteien im Reichstag sprachen und stimmten, wo darauf bezügliche Fragen zu entscheiden waren. Er wird dann vielleicht zugeben, dass die politische Reaktion durchaus nicht die bezeichnendste Erscheinung im bürgerlichen Deutschland ist.“ (S. 167)
Es ist richtig, die Chartisten erlangten nicht das Stimmrecht, aber sie erlangten etwas anderes: den Zehnstundentag. Der ist auch nicht zu verachten. Will aber Bernstein behaupten, sie erhielten das allgemeine Stimmrecht nicht, weil sie sich „revolutionär gebärdeten“? Aber um dieselbe Zeit, als die Nachfolger der Chartisten das Stimmrecht erhielten, bekamen es auch die deutschen und französischen Arbeiter, und in weit ausgedehnterem Maße als die englischen, obwohl sie sich sehr „revolutionär gebärdeten“ und dem liberalen Bürgertum durchaus nicht entgegenkamen.
Gerade die Engländer sind am wenigsten die Leute, sich durch bloße „Gebärden“ beeinflussen zu lassen. Schon gar nicht konnte die englische Bourgeoisie in den Zeiten der Freihandelsagitation durch die Sprache und Agitation der Chartisten abgestoßen werden, da ihre eigene Sprache und Agitation an „revolutionären Gebärden“ sich kühn mit jener messen konnte. Was die Bourgeois gegen die Chartisten erbitterte, war der Umstand, dass sie selbständig und im Gegensatz zu den Freihändlern agitierten und sich organisierten. Das verziehen sie ihnen ebenso wenig, als die preußischen Fortschrittler das gleiche Verbrechen Lassalle verziehen, trotzdem dieser sich gerade nicht „revolutionär gebärdete“.
Schon aus der eigenartigen Gegenüberstellung zweier Momente, die gar keinen notwendigen Gegensatz bilden – revolutionäre Gebärden und Bündnis mit dem radikalen Bürgertum – erhellt deutlich, dass es Bernstein bei der Bekämpfung der ersteren hauptsächlich um die Ermöglichung des letzteren zu tun ist. Dies Bündnis ist aber in zwei Formen möglich: als zeitweises Zusammengehen des selbständig in einer besonderen Partei organisierten Proletariats mit bürgerlichen Parteien zu bestimmten Zwecken – eine Taktik, die schon das Kommunistische Manifest für unter Umständen notwendig erklärt hat – und Erweiterung der proletarischen Demokratie in eine große, alle demokratischen Elemente umfassende Volkspartei, wie sie in England nach dem Einschlafen des Chartismus sich bildete, im Gegensatz zur kontinentalen Entwicklung, und wie sie jüngst auch von der reformerischen Richtung unserer Partei anfängt gefordert zu werden.
Was spricht für diese Erweiterung? Die Erwartung, dass eine solche große demokratische Partei weit eher die Majorität erlangen kann, als das Proletariat für sich allein; dass sie durch den Verzicht auf die „Fresslegende“ und sonstige revolutionäre Gebärden eher regierungsfähig wird, dass also das Proletariat eher in Stand gesetzt wird, zwar nicht die Macht, aber Macht zu erlangen. Wohl kann das Proletariat auf diesem Wege nicht alle seine Forderungen durchsetzen, es muss sich bescheiden und auf die Volksgenossen Rücksicht nehmen, aber der Spatz in der Hand ist bekanntlich besser als die Taube auf dem Dache, und keine Maxime ist schlechter als die: Alles oder nichts. Wenn wir unsere Partei nicht aus einer Partei der Lohnarbeiter in eine der Volksmasse umwandeln, verurteilen wir uns auf unabsehbare Zeit zur Impotenz, zu völlig unfruchtbarer Opposition.
Dies die Argumentation der Sozialreformer. Sie vergessen, dass die Sozialdemokratie eine umfassende positive Tätigkeit übt, auch wenn sie keine Ministerposten zu vergeben hat. Wohl vermag die Furcht nicht alles, und ich glaube, die direkte, physische Furcht vor der Sozialdemokratie hat noch nicht viel bewirkt. Und trotzdem sehen wir, dass unsere ganze innere Politik schon seit Jahren sich um die Sozialdemokratie dreht. Das entspringt nicht der Furcht, unsere Partei könnte, wenn man sie nicht bei guter Laune erhält, eines schönen Tages alles kurz und klein schlagen, sondern der Furcht, die Sozialdemokratie könnte eines schönen Tages die gesamten Arbeitermassen um sich scharen.
Das Wachstum der Zahl und Kraft des Proletariats und das Wachstum des Einflusses der Sozialdemokratie auf dieses Proletariat – die Notwendigkeit für die anderen Parteien, mit unserer Partei in Konkurrenz zu treten, um diesen stets bedeutender werdenden Machtfaktor nicht völlig ihren Händen entkommen zu lassen, das sind die Faktoren, welche die bürgerlich-demokratischen Parteien zur Sozialreformerei zwingen, welche in der liberalen Presse jenen Umschwung hervorgerufen haben, der Bernstein so bezeichnend erscheint für den guten Willen des deutschen Bürgertums.
Auf diese Weise wirkt die Sozialdemokratie, lange bevor sie im Stande ist, selbst zur Macht zu gelangen, durch Umbildung der bürgerlich-demokratischen Parteien, die wenigstens einen Teil der Forderungen unserer Partei zu den ihren machen müssen, soll ihnen die Arbeiterklasse, die stärkste Klasse der Nation, nicht vollends entschlüpfen.
Wenn also die Sozialdemokratie die reine Klassenpartei des kämpfenden Proletariats bleibt, so verzichtet sie damit durchaus nicht, auf jede positive Tätigkeit. Wollte sie dagegen ihr Programm und ihre Taktik so einrichten, dass sie fähig wird, auch andere Klassen in sich aufzunehmen und deren Klassenkämpfe zu führen, so würde sie dadurch selbst ihre Angriffskraft lähmen und mit ihrer Einheitlichkeit auch ihre Einheit preisgeben.
Das Opfer würde ihr kaum etwas nützen – auch als bloße demokratische Partei bliebe sie eine Partei, in der das Proletariat den Ausschlag gibt; proletarischer Führung unterwerfen sich aber die anderen Klassen nicht. Eine demokratische Sammelpartei ist nur möglich unter bürgerlicher Führung. Ist eine allgemeine Demokratie unter solcher Führung nicht mehr möglich – und sie ist überall im Zerfallen – dann ist sie mit dem Proletariat als führender Klasse erst recht unmöglich.
Welche Klassen aber kämen für die Demokratie neben dem Proletariat in Betracht? Kleinbürger, Bauern, die Intelligenz. Bereits heute ist keinem Mitglied dieser Klassen der Eintritt in unsere Partei verwehrt, wenn er sich als Proletarier fühlt, den proletarischen Klassenkampf mitkämpfen will. Wie wollen aber Kleinbürger und Kleinbauern, die auf jenem proletarischen Standpunkt nicht stehen, ihre Lage verbessern? Vor Allein dadurch, dass sie aus kleinen Ausbeutern große Ausbeuter werden, Kapitalisten, Großbauern, und dadurch, dass sie in der Ausbeutung ihrer Arbeitskräfte keine Schranken finden. Je kleiner der Ausbeuter, desto empfindlicher trifft ihn jede Reform. Das Proletariat kann sich mit diesen Elementen zeitweise zur Erreichung bestimmter politischer Ziele und Verwaltungsformen verbinden, nie aber dauernd mit ihnen in einer Organisation zusammenwirken.
Und die Intelligenz? Gewiss, die hat zum größten Teile kein Interesse an der Ausbeutung der Lohnarbeit, sie gehört zum Teile selbst zu den Ausgebeuteten. Aber schwach an Zahl, ist sie noch schwächer an Kraft. Sie bildet die am wenigsten zu einem energischen Klassenkampf geeignete Volksschicht, und so sehr sie auch im Herzen das kapitalistische Regime hassen mag, bleibt sie ihm doch untertänig. Gewiss, die Sozialdemokratie bedarf der Intelligenzen, zahlreicher Intelligenzen, aber sie kann bloß jene in ihren Reihen willkommen heißen, die entschlossen sind, alle Brücken hinter sich abzubrechen und rücksichtslos den Kampf gegen die bürgerliche Gesellschaft aufzunehmen. Wer das nicht kann oder will, der bleibe der proletarischen Bewegung fern. Schließlich muss entweder sie ihn enttäuschen oder er sie verraten.
Gerade die Intelligenz aber ist es, deren Reihen die lebhaftesten Bestrebungen nach Erweiterung der Sozialdemokratie aus einer Klassenpartei in eine Volkspartei entspringen. Bauern und Kleinbürger bezeigen kein sehr großes Bedürfnis danach.
Wie Bernstein sich zu dieser Frage stellt, ist aus seiner Schrift nicht klar ersichtlich. Er spricht sich nicht bestimmt darüber aus, wohl aber sind seine Argumente in der Frage der Taktik derartige, dass sie zu Gunsten der Umwandlung unserer Partei in eine Volkspartei benutzt werden können und auch benutzt werden. Und darum war es notwendig, sie zu erwähnen und zu zeigen, wie wenig sie das beweisen, was sie angeblich beweisen sollen.
Wir müssen hier nochmals auf den schon oben erwähnten Artikel Bernsteins zurückkommen, der während des Druckes dieser Bogen im „Vorwärts“ erschien und seine Stellung zum theoretischen Teile des Erfurter Programms behandelte.
Er ist unter anderem gegen jenen Passus des Erfurter Programms, der erklärt, die Umwandlung der Gesellschaft könne nur das Werk der Arbeiterklasse sein. Er möchte sagen: muss in erster Linie das Wert der Arbeiterklasse sein. Das besagt entweder dasselbe oder es drückt einen anderen Gedanken sehr verschwommen aus. Wir haben schon darauf hingewiesen, dass es sich hier um den Kampf von Klassen, nicht von Individuen handelt. An dem Emanzipationskampf des Proletariats können Individuen der verschiedensten Klassen teilnehmen. Das Erfurter Programm hindert niemand daran. Aber die Frage ist die, ob der Emanzipationskampf des Proletariats ein Kampf für nicht proletarische Klasseninteressen kein kann. Diese Frage wird durch das Erfurter Programm entschieden verneint, durch die Bernsteinsche Fassung unentschieden gelassen. Jedoch spricht die letztere dafür, dass Bernstein den Boden schaffen will für die Umwandlung der Sozialdemokratie in eine Partei der demokratischen Sammlung, dass sie nicht den Muth haben soll, zu scheinen, was sie ist, sondern den Mut etwas ganz anderes zu werden, als sie bisher war, dass sie brechen soll mit dem Grundsatz der Internationale, „die Emanzipation der Arbeiterklasse muss durch die Arbeiterklasse selbst erobert werden“.
Je nach dem Charakter der Sozialdemokratie, ob proletarische, ob Volkspartei, müssen sich aber ihre Endziele anders gestalten.
Eine jede politische Partei muss sich die Aufgabe stellen, die politische Macht zu erobern, um ihren Anschauungen entsprechend den Staat zu gestalten und die Staatsgewalt auf die Gesellschaft wirken zu lassen. Eine jede lebenskräftige Partei muss aber auch darauf gefasst sein, dass ihr die Staatsgewalt zufällt, sie muss daher jederzeit wissen, welchen Zwecken sie diese Gewalt dienstbar machen will. Sie muss auf diese Frage stets Antwort geben können, will sie propagandistische Kraft entfalten. Eine Partei, die von vornherein erklärte, sie könne nur in der Opposition sich ersprießlich betätigen, sie strebe nur nach Macht, nicht aber nach der Macht, würde sich selbst lahmlegen und alles Vertrauen der Volksmasse verlieren.
In diesem Sinne muss also jede Partei ein „Endziel“ haben, nicht als Abschluss der sozialen Entwicklung: diese hat kein Ende und kein Endziel, sondern als Endzweck ihres praktischen Wirkens.
Es ist klar, dass eine Volkspartei, in der die Klasseninteressen der Bauernschaft und des Kleinbürgertums maßgebenden Einfluss haben, stets, und wenn sie noch so arbeiterfreundlich ist, auf dem Boden der gegebenen Gesellschaftsordnung, des Privateigentums an den Produktionsmitteln, der Freiheit der Privatproduktion stehen bleiben muss. Sie kann über die Konstitution von 1793, über das Prinzip des Liberalismus, nicht hinaus, sie kann, und mag sie sich noch so rabiat gebärden, nie etwas anderes sein, als eine demokratisch-sozialistische Reformpartei, wobei das Wort sozialistisch nichts ist als Schall und Rauch, Erinnerung an die schöne Zeit einer süßen Jugendeselei oder der dämmernde Traum irgendeines Paradieses, dessen kommen nach fünfhundert Jahren zu wünschen jedem freisteht; es ist aber in diesem Zusammenhang nichts, was irgendwie praktisch verpflichtet.
Anders muss sich das Endziel einer rein proletarischen Partei gestalten. Das Proletariat hat kein Interesse an der Aufrechterhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln. Selbst wenn es noch so friedlich und gesetzlich zur Macht kommt und noch so eifrig von dem Drange beseelt ist, nichts zu überstürzen und ja nicht vom Wege der „organischen Entwicklung“ abzuweichen, und wenn es noch so skeptisch sich verhalten sollte gegenüber den sozialistischen „Utopien“, so wird es doch bei der Vertretung seiner Interessen auf die Erhaltung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und auf die Erhaltung der Privatproduktion keinen Wert legen.
Zweierlei muss dagegen ein proletarisches Regime überall anstreben: Einmal die Aufhebung des privaten Charakters der großen kapitalistischen Monopole und dann die Beseitigung der Arbeitslosigkeit, die Aufhebung der industriellen Reservearmee.
Damit aber trifft es die kapitalistische Produktionsweise ins Herz. Ohne monopolistischen Unternehmerverband und ohne Arbeitslose, die bereit sind, die Stellen Streikender einzunehmen, wird die Stellung des organisierten Proletariats gegenüber den Kapitalisten übermächtig. Wenn diese heute schon über den Terrorismus des Proletariats klagen, so ist das eine alberne Redensart. Dagegen muss ihm die Diktatur in der Fabrik notwendiger Weise zufallen, wenn es einmal die Herrschaft im Staate erlangt hat. Die Lage der Kapitalisten, die nach der Verstaatlichung der Kartelle und Trusts noch bleiben, muss dann eine unerträgliche werden; sie haben nur noch das Risiko ihres Betriebs zu tragen, ohne länger seine Herren zu sein. Viel mehr noch als heute die Arbeiter werden dann die Kapitalisten nach einer vorteilhaften Vergesellschaftlichung ihrer Betriebe streben müssen, sie werden weit mehr Kraft und Intelligenz auf eine möglichst rasche und schmerzlose Lösung dieses Problems aufwenden, als heute zur Bekämpfung der proletarischen Bewegung. Der Übergang zu sozialistischer Produktion würde sich dem siegreichen Proletariat selbst dann aufdrängen, wenn es sie nicht von vornherein anstrebte, sondern sich einfach von der Logik seiner Klasseninteressen treiben ließe.
Mit anderen Worten: kapitalistische Produktion und politische Herrschaft des Proletariats sind unvereinbar miteinander. Mehr zu sagen ist freilich nicht möglich. Wir wissen weder wann noch wie diese Herrschaft kommen wird, ob in einem großen Sturm oder in mehreren Katastrophen oder in allmählicher gradweiser Verwirklichung; wir wissen auch nicht, wie die Gesellschaft und das Proletariat zu Beginn seiner Herrschaft aussehen werden, da sich beide Faktoren ununterbrochen ändern; wie viele Voraussetzungen des Sozialismus, die heute noch fehlen, bis dahin sich eingestellt haben, wie schwer oder leicht dadurch die Aufgaben des proletarischen Regimes gemacht werden. Wir können nur die Notwendigkeit erkennen, mit der das siegreiche Proletariat getrieben werden wird, an Stelle der kapitalistischen eine sozialistische Produktion zu setzen.
Organisiert sich das Proletariat als selbständige politische Partei, die bewusst den Klassenkampf kämpft, dann muss die Aufhebung des Privateigentums an den kapitalistischen Produktionsmitteln und die Aufhebung der kapitalistischen Privatproduktion ihr Ziel werden, sie muss den Sozialismus nicht als Vollendung, sondern als Überwindung des Liberalismus zu ihrem Panier machen, sie kann nicht eine Partei sein, die sich auf demokratisch-sozialistische Reformen beschränkt, sie muss eine Partei der sozialen Revolution werden.
Es handelt sich hier natürlich nicht um den Begriff der Revolution im Polizeisinn, im Sinne des bewaffneten Aufstands. Eine Partei müsste wahnsinnig sein, die sich prinzipiell für den Weg des Aufstands entschlösse, solange ihr andere, weniger opfervolle und sicherere Wege für ihr Wirken zur Verfügung stehen. In diesem Sinne ist die Sozialdemokratie nie prinzipiell revolutionär gewesen, sondern nur in dem Sinne, dass sie sich dessen bewusst ist, sie könne, wenn im Besitz der politischen Macht, diese gar nicht anders anwenden, als zur Überwindung jener Produktionsweise, auf der die heutige Gesellschaftsordnung beruht. Ich schäme mich, diese ollen Kamellen nochmals wiederholen zu müssen, aber nach der Verwirrung, die Bernstein mit seinem Polemisieren gegen unsere „auf Katastrophen zugespitzte Taktik“ angerichtet, bleibt nichts anderes übrig.
Er erklärt ausdrücklich, dass er das Wort Revolution „ausschließlich in der politischen Bedeutung des Wortes gebraucht, als gleichbedeutend mit Aufstand, bzw. außergesetzlicher Gewalt“. (S. 87) Dazu bemerkt er:
„Es ist bekannt, dass Marx und Engels bis ziemlich spät diesen letzteren als den fast überall unumgänglichen Weg betrachteten und verschiedenen Anhängern der Marxschen Lehre erscheint er noch heute als unvermeidlich. Vielfach wird er auch für den kürzeren Weg gehalten.“
Als Beleg zu diesem famosen Satz zitiert er einen Ausspruch Jules Guesdes aus dem Jahre 1877, wo dieser meines Wissens noch kein durchgebildeter Marxist war.
Und wie lautet dieser Satz? Ich gebe ihn vollständig wieder, nicht in der Bernsteinschen Verstümmelung. Der Satz in eckiger Klammer fehlt in seinem Zitat: „Aber wem dürfte nicht einleuchten, dass für die großen Städte, wo ja die Arbeiter die überwiegende Mehrheit bilden, wenn sie einmal [die beiden vorerwähnten Punkte (die Republik und das Selbstbestimmungsrecht der Gemeinden) errungen,] zur unbeschränkten Verfügung über die öffentliche Gewalt, über ihre Verwaltung und ihre Gesetzgebung gelangt wären – die ökonomische Revolution nur die Frage von Monaten, ja vielleicht nur von Wochen gewesen wäre?“ (Berliner Zukunft, S. 87)
Das Wort Revolution scheint auf Bernstein bereits eine so erregende Wirkung zu üben, wie auf manchen sächsischen Gendarmen. Sonst hätte schon die ausdrückliche Bezeichnung „ökonomische Revolution“ ihm sagen müssen, dass hier von Aufstand keine Rede. In der Tat meint Guesde hier nichts anderes, als dass in den größeren Städten, wo die Arbeiter die Mehrheit bilden, sobald einmal die Republik und die Selbstverwaltung der Gemeinde errungen, die Sozialisten leicht die Gesetzgebung und Verwaltung in die Hand bekommen könnten, um so die Kommune vielleicht schon binnen wenigen Monaten sozialistisch zu organisieren. Diese Erwartung erscheint auch mir sehr optimistisch. Aber sicher handelt es sich dabei um eine sehr gesetzliche Eroberung der öffentlichen Gewalt durch den Stimmzettel, sonst bedürfte es nicht der Voraussetzung der Republik und des Selbstbestimmungsrechts der Gemeinden. Bernstein hat freilich diese beiden wesentlichen Voraussetzungen weggelassen, ich weiß nicht, aus welchem Grunde, und so dem Satze einen anderen Charakter verliehen. Aber dadurch wird sein Hinweis auf ihn als Zeugnis; der marxistischen Schwärmerei für den bewaffneten Aufstand gerade nicht schöner.
Seit Lassalle bemüht sich die Sozialdemokratie, den Unterschied zwischen der Revolution mit Heugabel und Dreschflegel und der sozialen Revolution klar zu machen und zu erweisen, dass sie prinzipiell bloß die letztere anstrebt. Wir dursten uns schmeicheln, diese Auffassung sogar den Staatsanwälten näher gebracht zu haben – und heute tritt einer unserer ältesten und hervorragendsten Wortführer auf und setzt die ökonomische Revolution dem Aufstand gleich, hält es für notwendig, die deutsche Sozialdemokratie vor unüberlegten Aufständen zu warnen!
Wenn die Bernsteinsche Schrift eine Wirkung hätte, müsste es vor allem die sein, alle die konfusen Vorstellungen, welche unsere Gegner über uns verbreiten und die klarzustellen ein gut Teil unserer Lebensarbeit absorbierte, wieder von neuem zu beleben und zu kräftigen.
Es ist klar, dass das Proletariat als selbständige politische Partei nicht im Polizeisinn revolutionär sein muss, sondern im Sinne der politischen Ökonomie. Bernstein schlägt für die „prinzipielle Änderung der Gesellschaftsordnung“ das Wort „soziale Umgestaltung“ vor, aber niemand wird behaupten wollen, dass in letzterem Worte der grundsätzliche Gegensatz der neuen zur alten Gesellschaftsordnung einen Ausdruck findet – ein Gegensatz, den stellenweise Bernstein selbst leugnet. Sein Sozialismus ist die Vollendung des Liberalismus.
Ich gebe gern zu, dass das Wort Revolution irre führen kann, ich halte es auch für vorteilhaft, es ohne triftige Veranlassung nicht zu gebrauchen, aber ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist, der Irreführung vorzubeugen, wenn man das Wort selbst in dem irrigen Sinne gebraucht. Oder sollen wir es gar nicht gebrauchen? Zur Kennzeichnung bestimmter Vorgänge ist es unentbehrlich. Wo es gilt, den Gegensatz zwischen einer Richtung zu bezeichnen, die prinzipiell über Reformen im Rahmen der bestehenden Gesellschaft nicht hinaus will, und einer Richtung, die eine höhere, auf neuen Grundlagen beruhende Gesellschaftsordnung anstrebt, wird das Ziel der letzteren Richtung nicht durch das Wort „soziale Umgestaltung“, sondern nur durch das Wort „soziale Revolution“ deutlich bezeichnet werden können, wobei niemand, der unsere Parteiliteratur auch nur oberflächlich kennt, darüber im Zweifel sein kann, dass soziale Revolution und politischer Aufstand zwei ganz verschiedene Begriffe sind. Die soziale Revolution ist ein Ziel, das man sich prinzipiell setzen, der Aufstand ein Mittel zum Zweck, das man stets nur nach Gründen der Zweckmäßigkeit beurteilen kann.
Aber nicht bloß die soziale, auch die politische Revolution wird man nicht dem Aufstand gleichsetzen dürfen. Der nichtpolizeiliche Sprachgebrauch bezeichnet mit politischer Revolution jede große politische Erschütterung, die das politische Leben der Nation beschleunigt und aufs Kraftvollste pulsieren lässt, im Gegensatz zur Gegenrevolution, einer Erschütterung, die das politische Getriebe stillsetzt. Der Aufstand oder die „außergesetzliche Gewaltanwendung“ kann eine Episode, eine sehr wichtige Episode in einer solchen Erschütterung bilden, aber er ist nie die Revolution selbst. Die höchst gesetzliche Einberufung der Generalstände bildet ebenso ein Stück der großen Revolution, wie die Erstürmung der Bastille. Niemand wird vom großen französischen Aufstand von 1789 reden wollen. Schon gar nicht wird man Aufstände oder außergesetzliche Gewalttaten, die auf das politische Leben keine Wirkung haben, etwa die Widersetzlichkeiten indischer Eingeborener gegen die englischen Pestkommissionen, Revolutionen nennen.
Um „Missverständnisse auszuschließen“, wendet also Bernstein das Wort Revolution gerade in dem Sinne an, in dem es dem wissenschaftlichen und politischen Sprachgebrauch nicht entspricht, in dem es in der Regel nur von Polizisten und Staatsanwälten gebraucht wird, die in einer Revolution bloß jene Akte interessieren, welche mit dem Strafgesetzbuch kollidieren.
Die soziale Revolution, nicht im Bernsteinschen Sinne, sie ist das notwendige Endziel, auf das jede selbständige politische Organisation des Proletariats mit Notwendigkeit hinwirkt. Wer das Proletariat als selbständige politische Partei organisiert, bereitet damit auch in ihm den Boden für den Gedanken der sozialen Revolution vor, mag er noch so friedfertig und nüchtern sein und noch so skeptisch der Zukunft entgegensehen. Und umgekehrt wird jeder, der das Proletariat von den übrigen politischen Parteien abziehen und politisch selbständig machen will, dies Ziel um so rascher erreichen, je klarer er in der Arbeiterschaft das Bewusstsein von der Notwendigkeit der sozialen Revolution erweckt.
Auf der anderen Seite haben wir gesehen, dass die Politik der demokratischen Sammlung, des Aufgehens des Proletariats in einer Volkspartei, den Verzicht auf die Revolution, die Beschränkung auf die soziale Reform in sich schließt.
So erhält die Stellung zur Frage der sozialen Revolution eine eminent praktische Bedeutung für die Gegenwart. Man mag glauben, es sei unnütz, über die Revolution zu streiten; das hieße, über ungelegten Eiern brüten. Augenblicklich wollen in der Arbeiterbewegung beide Richtungen praktisch dasselbe: sozialpolitische und demokratische Reformen. Also strebe man diese an und störe nicht die Einigkeit durch den Streit über Dinge, von denen kein Mensch wissen kann, wie sie kommen werden. Aber es hat sich gezeigt, dass die Frage des Endziels unserer Politik: ob Revolution oder Beschränkung auf die Reform, aufs Engste verknüpft ist mit der Frage der Organisation und Propaganda des Proletariats als politische Partei in der Gegenwart.
Wenn dem nicht so wäre, dann erwiese sich allerdings das Betonen des revolutionären Standpunkts bei der einen Richtung als zwecklos, nicht minder aber die heftigen Angriffe der Reformer gegen das, was sie die „revolutionäre Phrase“ nennen. Dagegen wird die Schärfe der Gegensätze begreiflich, wenn man sieht, dass hinter dem anscheinenden Kampfe um Redensarten sich der Kampf um eine Frage birgt, deren Beantwortung eine Lebensfrage für die Sozialdemokratie wie für die bürgerliche Demokratie ist, die Frage, ob das Proletariat seinen Klassenkampf als selbständige politische Organisation oder als Teil einer alle demokratischen Schichten umfassenden Volkspartei führen soll.
Das ist im Ernst die Frage, die Bernstein stellt und – verneint.
Wir haben gesehen, dass jede lebenskräftige politische Partei danach streben muss, die politische Macht zu erringen, dass sie sich nicht darauf beschränken darf, eine Oppositionspartei bleiben zu wollen. Das soll nach Bernstein nicht für die Sozialdemokratie gelten. Sie kann für absehbare Zeit nur als Opposition nützlich wirken.
Das Proletariat ist viel zu schwach, meint er, als dass es so bald erwarten dürfte, die politische Macht zu erobern. Gelänge ihm das aber, so könnte es nur Unfug stiften, denn es sei noch zu unentwickelt, um seine Macht ordentlich zu gebrauchen, und die Verhältnisse seien für die Verwirklichung des Sozialismus noch nicht reif. „Haben wir die zur Abschaffung der Klassen erforderte Höhe der Entwicklung der Produktivkräfte schon erreicht?“ fragt er. (S. 185) Seine Antwort lautet sehr pessimistisch.
Und die Arbeiter? „Trotz der großen Fortschritte, welche die Arbeiterklasse in intellektueller, politischer und gewerblicher Hinsicht seit den Tagen gemacht hat, wo Marx und Engels schrieben, halte ich sie doch selbst heute noch nicht für entwickelt genug, die politische Herrschaft zu übernehmen.“ (S. 183)
Bereits in einem früheren Teile seiner Schrift hat Bernstein dieselben Fragen behandelt. Auf seine dort erhobenen Bedenken gegen die Reife der modernen Produktionsweise sind wir auch schon zu sprechen gekommen (S. 54) und haben gezeigt, dass es unmöglich sei, ein bestimmtes Stadium der Produktionsentwicklung anzugeben, von dem an man erklären kann, die Gesellschaft sei für den Sozialismus reif. Das bewusste Eingreifen des Proletariats in das ökonomische Getriebe muss offenbar ganz andere Formen bei geringerer als bei größerer kapitalistischer Entwicklung annehmen, die politische Herrschaft des Proletariats muss andere Wirkungen haben in einem Lande mit altem als in einem Lande mit jungem Kapitalismus. Das ist alles, was man sagen kann. Aber es wäre absurd, eine Grenze berechnen zu wollen, von der an man erst den Sozialismus für durchführbar erklären kann.
In dem späteren Teile seiner Schrift beseelt Bernstein offenbar dieselbe Empfindung, die dem Schreiber dieser Zeilen momentan innewohnt: das Bedürfnis, rasch zu Ende zu kommen, da man nun einmal dem Schlusse so nahe ist. So gibt er da auch keine weiteren Details, sondern begnügt sich mit dem Hinweis auf einige Autoritäten.
Dabei ist er jedoch recht unglücklich.
Von den drei Autoren, auf die er sich beruft, gibt er bei zweien (Engels und Atlanticus) ihre Ansichten falsch wieder, und von dem dritten, Neupauer, wird eine Anschauung als höchst beachtenswert bezeichnet, die nichts ist als eine hypothetische, nicht näher begründete Bemerkung. Auf meine Darlegung, dass Engels und Atlanticus beide in der entschiedensten Weise das Gegenteil dessen erklärt hätten, wofür Bernstein sie als Zeugen aufruft (Neue Zeit, XVII, 2, S. 74), weiß er nichts Besseres zu erwidern, als dass Engels und Atlanticus in den Punkten, worin sie von ihm abwichen, ihm nicht einwandfrei erschienen (Neue Zeit, XVII, 2, S. 582 ff.), jedenfalls eine sonderbare Manier, um seine Berufung auf jene Autoren zu rechtfertigen, doch will ich auf diese nebensächlichen Details hier nicht weiter eingehen und verweise den, der sich dafür interessiert, auf die angegebenen Stellen in der Neuen Zeit.
Es genügt, festzustellen, dass für seine Behauptung, die Produktivkräfte seien zur Aufhebung der Klassen noch nicht genügend entwickelt, Bernstein nicht den geringsten Beweis beigebracht hat, dass vielmehr seine Gewährsmänner sich gegen ihn wenden.
Aber die vom Kapitalismus geschaffene Höhe der Produktionsentwicklung ist erst einer der Faktoren, welche zum Sozialismus führen. Er bleibt tot, ohne den zweiten, der ihm Leben einhaucht: ein kraftvolles, politisch reifes Proletariat. Haben wir ein solches in einem Ausmaß, das es in Stand setzte, die Zügel des Staates zu ergreifen? Ja, dürfen wir nur überhaupt erwarten, in absehbarer Zeit zu einem derartigen Proletariat zu gelangen?
Auch diese Frage verneint Bernstein. Er behandelt sie ebenso wie die der materiellen Vorbedingungen des Sozialismus zweimal in seiner Schrift, einmal in der Mitte (S. 87 ff.) und dann wieder am Schlusse.
Wer ist das moderne Proletariat? fragt er (S. 88) und antwortet:
„Rechnet man alle Besitzlosen, alle, die kein Einkommen aus dem Besitz oder aus privilegierter Stellung haben, dazu, so sind das allerdings die absolute Mehrheit der Bevölkerung der vorgeschrittenen Länder. Nur dass alsdann dieses ‚Proletariat’ ein Gemisch von außerordentlich verschiedenartigen Elementen ist, von Schichten, die sich untereinander noch mehr unterscheiden wie das ‚Volk’ von 1789, die zwar, solange die jetzigen Eigentumsverhältnisse bestehen, mehr gemeinsame oder wenigstens gleichartige als gegensätzliche Interessen haben, aber, sobald die jetzt Besitzenden und Herrschenden abgesetzt oder ihrer Position beraubt sind, sehr bald sich der Verschiedenartigkeit ihrer Bedürfnisse und Interessen bewusst werden würden.“
In diesen Sätzen liegt eine ebenso große Unterschätzung auf der einen Seite, wie eine Übertreibung auf der anderen.
Eine Unterschätzung, wenn Bernstein gerade bloß zugibt, das Proletariat bilde die „absolute Mehrheit“ der Bevölkerung der vorgeschrittenen Länder. So stark ist das Proletariat freilich nicht, wie Bernsteins Hauptzeuge gegen den Sozialismus behauptet, der famose Feuilletonist der British Review, der es 1851 schon 94 Prozent der Bevölkerung Englands ausmachen ließ. Wir haben gesehen, dass es Baxter 1867 auf circa 80 Prozent schätzte. Im Deutschen Reiche betrugen 1895 die Selbständigen 26,84 Prozent sämtlicher Erwerbstätigen, 1882 noch 29,25 Prozent. Die unselbständigen Arbeiter machen also weit über 70 Prozent, fast drei Viertel der Erwerbstätigen aus. Das ist schon eine starke „absolute Majorität“.
Dabei zählte die Reichsstatistik zu den „Selbständigen“ nicht bloß selbständige Unternehmer, als da sind Kapitalisten, Handwerker, Kleinhändler, Großgrundbesitzer, Bauern, sondern auch Hausindustrielle, abhängige Leiter von Unternehmungen (z. B. Direktoren von Aktiengesellschaften), „Offiziere, höhere Beamte, Geistliche, Direktions-, Lehr-, ärztliches Personal, Schauspieler, Musiker, Künstler, Privatgelehrte, Privatsekretäre.“ (Statistik des Deutschen Reiches, N.F., Bd. III, S. 62, 63)
Dass unter diesen Selbständigen sehr viele sind, die kein „Einkommen aus dem Besitz oder aus privilegierter Stellung“ haben, bedarf keiner Erläuterung.
Jedenfalls zeigt diese Aufzählung, dass, wenn man von einem „Gemisch außerordentlich verschiedenartiger Elemente“ sprechen will, die Selbständigen, die Nichtproletarier ein solches darstellen. Bernstein hat aber hier nur ein Auge für die Zerklüftung innerhalb des Proletariats, und er kann sie nicht stark genug schildern; es ist „ein Gemisch von Schichten, die sich untereinander noch mehr unterscheiden wie das ‚Volk‘ von 1789“.
Eine kühne Behauptung in der Tat! Das Proletariat von heute besteht aus Lohnarbeitern; das „Volk von 1789“ bestand nicht bloß aus Lohnarbeitern, sondern auch aus Handwerkern, Händlern, Bauern und Lumpenproletariern, welch letztere im damaligen Volke keine unwichtige Rolle, auch politisch, spielten. Will man gar das „Volk von 1789“ als gleichbedeutend mit dem dritten Stande nehmen, dann kommen noch Kapitalisten und die Intelligenz dazu. Welch buntes Gemisch, das da die Feudalität stürzte! Bernstein aber behauptet, die heutige Lohnarbeiterschaft bestehe aus Schichten, die sich untereinander noch mehr unterscheiden, als das Volk von 1789! Und derselbe, der diese Behauptung aufstellt, macht sich in einem Atem über die „wirklich asiatische Gemütsruhe“ lustig, mit der Parvus – man denke! – die 5.600.000 Lohnarbeiter der Landwirtschaft der Armee des Proletariats einreiht. Sollte er sie etwa der Armee jener einreihen, die aus Besitz oder privilegierter Stellung ihr Einkommen ziehen?
Als Beweis für die tiefen Gegensätze innerhalb der Lohnarbeiterschaft werden uns die großen Unterschiede vorgeführt, die zwischen industriellen, kaufmännischen, landwirtschaftlichen Lohnarbeitern, sowie innerhalb jeder dieser Kategorien bestehen. Was von gewerkschaftlichen Differenzen zu halten, haben wir gesehen. Dass Unterschiede innerhalb der Lohnarbeiterschaft vorhanden, wer wollte das leugnen? Dass die Interessen des kaufmännischen Beamten nicht identisch mit denen des industriellen Lohnarbeiters und diese nicht identisch mit denen des Kuhjungen, wer sähe das nicht? Aber entspringen aus diesen Unterschieden Interessengegensätze, die ein dauerndes Zusammenwirken dieser verschiedenen Schichten in einer politischen Partei unmöglich machen? Das ist die Frage, auf die Bernstein aber gar nicht eingeht, denn alle seine Hinweise betreffen die Schwierigkeiten des gewerkschaftlichen, nicht des politischen Zusammenwirkens.
Wenn man Bernstein hört, dann wäre die Vorbedingung jeder geschlossenen Parteiorganisation vollständige Uniformität aller Interessen ihrer Mitglieder. Wie käme man dann überhaupt zu einer politischen Partei?
Wenn das Proletariat nicht im Stande ist, herrschende Klasse zu werden, wegen der Interessenunterschiede seiner einzelnen Schichten, wie kam dann die Bourgeoisie dazu, zu herrschen? Man sehe sich doch einmal nicht bloß die Unterschiede, sondern die Gegensätze innerhalb der Bourgeoisie an: sie setzt sich zusammen aus Kapitalisten und aus der Intelligenz. Jede dieser Schichten zerfällt wieder in zahllose Unterschichten, die sich gegenseitig oft auf das Bitterste bekämpfen: da haben wir große und kleine Kapitalisten; wir haben das industrielle, das Handelskapital, das Leihkapital und die hohe Finanz, die sie alle in die Tasche steckt; wir haben innerhalb des industriellen Kapitals die Gegensätze von Produzenten und Konsumenten der Rohmaterialien usw. Und in der Intelligenz, welche Solidarität besteht wohl zwischen dem Arzte und dem Advokaten, dem Ingenieur und dem Philologen?
Und doch bildeten alle diese Elemente zusammen die große politische Partei des Liberalismus.
Schon die. Bourgeoisie allein ist mehr gespalten, als das Proletariat; von der Behauptung, dass dieses heute mehr zerklüftet sei, als 1789 das ganze Volk, welches neben dem Proletariat noch so viele andere Klassen umfasste, gar nicht zu reden. Diese Behauptung wird Bernstein bei ruhigerem Zusehen selbst nicht aufrecht erhalten. Ja selbst das Proletariat von 1789 war mehr gespalten als das heutige: damals bestanden noch die Gegensätze zwischen zünftigem und nicht zünftigem Arbeiter, der einzelne Arbeiter war in Handwerk und Manufaktur viel mehr zeitlebens an die gleiche Beschäftigung gebunden, der Übergang von einer zur anderen nicht so leicht wie heutzutage.
Wollen wir die Aussichten des Proletariats in den politischen Kämpfen untersuchen, dann dürfen wir nicht bloß bei ihm allein jene Punkte hervorheben, die seine Kampffähigkeit zu beeinträchtigen scheinen. Wir müssen auch die andere Seite betrachten. Wenn Bernstein im „Gemisch der Schichten“, in der Verschiedenartigkeit der Interessen den Faktor zu sehen glaubt, der die politische Herrschaft des Proletariats unmöglich macht, so müssen wir dem entgegenhalten, dass das Gemisch der Schichten, die Verschiedenartigkeit der Interessen bei den Gegnern weit größer ist, weshalb auch Marx und Engels sich stets gegen das Wort von der „reaktionären Masse“ wehrten.
Gerade in der Einheitlichkeit der entscheidenden Interessen, die sie vertritt, beruht der große Vorteil, den die Sozialdemokratie vor den bürgerlichen Parteien voraus hat. Sie ist die einzige der bestehenden Parteien, die sich nur auf eine Klasse zu stützen braucht, weil diese die große Mehrheit des Volkes bildet.
Jede der anderen Parteien muss sich auf verschiedenartige Klassen stützen, darunter auf Teile des Proletariats selbst, will sie die Mehrheit erlangen und behaupten. Gerade an Geschlossenheit und Einheitlichkeit ist daher die Sozialdemokratie jeder anderen Partei überlegen. Und gerade darin beruht nicht zum wenigsten ihre Kraft.
Wenn aber schon die Unterschiede innerhalb des Proletariats hinreichend wären, die Sozialdemokratie zu spalten und unfähig zur politischen Herrschaft zu machen, was würde dann erst aus ihr werden, wenn man zu diesen Gegensätzen noch andere hinzugesellte durch Erweiterung der Sozialdemokratie aus einer proletarischen zu einer Volkspartei?
Dass die Proletarier uniform sind, hat noch niemand behauptet. Die Unterschiede zwischen ihnen werden uns oft genug fühlbar gemacht in der Agitation. Da merkt man es deutlich genug, dass nicht alle Proletarierschichten der sozialistischen Ideenwelt und der politischen und gewerkschaftlichen Organisation in gleichem Maße zugänglich sind. Die Industriearbeiter bilden die Pioniere, die Handelsarbeiter und schon gar die Landarbeiter bleiben im Nachtrab. Kein Zweifel, diese letzteren Schichten werden uns noch manche harte Nuss zu knacken geben, ehe sie völlig für uns gewonnen sind. Aber das beweist doch bloß, dass die Sozialdemokratie noch nicht am Ende ihrer Aufgabe steht, was sich wohl niemand unter uns eingebildet hat, aber nicht, dass diese Aufgabe in absehbarer Zeit unlösbar ist.
Die ökonomische Entwicklung unterstützt dabei sehr wirksam unsere Propaganda, indem sie die dem Sozialismus am ehesten zugänglichen Proletarier –schichten am meisten vermehrt. In den Städten dominiert die industrielle Bevölkerung, und die Städte bekommen immer mehr das Übergewicht über das flache Land. Es betrug im Deutschen Reiche:
Ortsklassen |
Bevölkerungszu- oder Abnahme |
|
Prozentanteil der Ortsklassengrößen |
||
absolut |
Prozent |
1882 |
1895 |
||
Großstädte |
+ 3.703.095 |
+ 111,29 |
7,36 |
13,58 |
|
Mittelstädte |
+ 1.228.807 |
+ 26,62 |
9,17 |
10,39 |
|
Kleinstädte |
+ 1.379.148 |
+ 24,22 |
12,59 |
13,66 |
|
Landstädte |
+ 582.738 |
+ 10,16 |
12,68 |
12,20 |
|
|
|||||
Stadt |
+ 6.893.788 |
+ 36,47 |
|
41,80 |
49,83 |
Flaches Land |
− 345.617 |
− 1,31 |
58,20 |
50,17 |
|
Gesamtbevölkerung |
+ 6.548.171 |
+ 14,48 |
100,00 |
100,00 |
Die Stadt ist also heute schon der Volkszahl nach so stark wie das flache Land, ganz abgesehen von ihrer ökonomischen, intellektuellen, politischen Überlegenheit.
Von 1000 Bewohnern jeder Ortsgrößenklasse kommen auf die einzelnen Berufsabteilungen:
|
|
Im Reiche |
|
In den Städten |
|
Auf dem flachen Lande |
|||||
1882 |
|
1895 |
1882 |
|
1895 |
1882 |
1895 |
||||
Landwirtschaft |
425,1 |
357,4 |
119,3 |
95,0 |
644,7 |
618,0 |
|||||
Industrie |
355,1 |
391,2 |
509,3 |
530,0 |
244,4 |
253,4 |
|||||
Handel |
100,2 |
115,2 |
171,6 |
180,0 |
48,9 |
50,9 |
|||||
Andere |
119,6 |
136,2 |
199,8 |
195,0 |
62,0 |
77,7 |
Die Industrie ist allenthalben im Vordringen, in den Städten lebt die Mehrheit der Bevölkerung von ihr. Auf dem flachen Lande macht sie Fortschritte auf Kosten der Landwirtschaft. An, stärksten ist sie in den Kleinstädten. Dort umfasst sie 571,9 Promille der Bewohner, in den Großstädten bloß 508,6. In den letzteren ist der Handel stärker als anderswo entwickelt, auf ihn entfallen 261,1 Promille der Einwohnerschaft. Doch hat er in den Großstädten gegen 1882, wo auf ihn 266,1 Promille kamen, abgenommen, der Anteil der Industrie dagegen ist auch in den Großstädten gestiegen von 473,4 auf 508,6.
Man sieht, wie sehr die ökonomische Entwicklung jene Schwierigkeiten überwinden hilft, die sich unserer Agitation in den Weg stellen.
Wenn aber Bernstein diese Schwierigkeiten maßlos übertrieben darstellt, so verkleinert er dafür die schon erreichten Resultate unserer Agitationsarbeit.
Er weist darauf hin, wir hatten in Deutschland gegen 4,5 Millionen erwachsener Arbeiter in der Industrie und bloß 2,1 Millionen sozialistische Wähler. (S. 91)
Da werden sehr inkommensurable Dinge miteinander verglichen – erwachsene Arbeiter und Wähler. Nicht jeder erwachsene Arbeiter ist ein Wähler. Unter den 4,5 Millionen (genauer 4.475.653) erwachsenen Industriearbeitern sind nicht weniger als 624.136 weibliche, die leider bisher das Stimmrecht nicht haben.
Männliche Arbeiter über 20 Jahren gibt es in der Industrie nur 3.851.517 samt Angestellten. Davon standen im Alter von 20 bis 30 Jahren 1.603.583; wir dürfen annehmen, dass ungefähr die Hälfte davon unter 25 Jahre war. Also statt 4,5 Millionen industrieller Arbeiterwähler finden wir bloß 3 Millionen. Es geht aber doch nicht an, die Stimmen der Wähler, die zu Hause geblieben sind, einfach den Gegnern zuzuzählen. Nehmen wir an, dass die Zahl der Wahlenthaltungen unter der Arbeiterschaft ebenso groß war, wie in der übrigen Bevölkerung, dann finden wir, dass die Stimmenzahl der deutschen Sozialdemokratie und die Zahl der wählenden Industriearbeiter sich fast völlig deckt. Die Gegnerschaft, welche die Sozialdemokratie noch in manchen Schichten, namentlich der katholischen Industriearbeiterschaft findet, wird so gut wie völlig aufgewogen durch den Zuzug aus anderen Proletarierschichten.
Wenn Bernstein erklärt: „Mehr als die Hälfte der gewerblichen Arbeiterschaft Deutschlands steht zur Zeit der Sozialdemokratie noch teils gleichgültig und verständnislos, teils aber sogar gegnerisch gegenüber“, so beruht dieser Pessimismus zum Glück auf einem Rechenfehler, einem Fehler, der an jenen erinnert, welcher Bernstein wenige Seiten vorher passiert, wo er von Hunderttausenden von Betrieben mit mehr als 20 Personen spricht, die ein sozialistisches Regime zu verstaatlichen hätte, eine kaum lösbare Aufgabe. Wir haben gesehen (S.55), dass die Zahl dieser Betriebe sich im Deutschen Reiche auf nicht ganz 49.000 beläuft.
Wenn die deutsche Sozialdemokratie auf ihre Wahlerfolge blickt, hat sie durchaus keine Ursache zu einer pessimistischen Auffassung der Dinge. Eine Partei, die binnen drei Jahrzehnten von völliger Nichtigkeit zur stärksten Partei des Reiches geworden ist, deren Rekrutierungsgebiet bereits drei Vierteile der Nation umfasst und immer mehr sich ausdehnt; die dadurch, dass sie auf eine einzige große Klasse sich zu stützen braucht, zu einer Geschlossenheit und Einheitlichkeit gelangt, deren keine andere Partei fähig ist, und die in ihrer Propaganda und Organisation aufs Stärkste von der ökonomischen Entwicklung unterstützt wird – eine solche Partei braucht nicht den Zeitpunkt, an dem sie zur Herrschaft gelangt, in die graue Ferne zu verlegen, mit der man praktisch nicht rechnen kann. Was binnen drei Jahrzehnten zur stärksten Partei geworden, kann binnen weiteren drei Jahrzehnten zur herrschenden Partei werden, vielleicht schon früher.
Ja, vielleicht schon früher – liegt darin nicht gerade die größte Gefahr für die Sozialdemokratie? Wenn sie in nächster Zeit ans Staatsruder käme, müsste sie nicht kläglich zusammenbrechen? Die Arbeiterklasse hält Bernstein auch heute noch nicht für entwickelt genug, die politische Herrschaft zu übernehmen. „Nur Literaten, die nie in intimer Beziehung zur wirklichen Arbeiterbewegung gestanden haben, können in dieser Beziehung anders urteilen ... Wir haben die Arbeiter so zu nehmen, wie sie sind. Sie sind weder so verpaupert, wie es im Kommunistischen Manifest vorausgesehen wird, noch so frei von Vorurteilen und Schwächen, wie es ihre Höflinge uns glauben machen wollen.“ (S. 184)
An Entschiedenheit lassen diese Sätze nichts zu wünschen übrig. Ich bin leider nicht in der Lage, ebenso apodiktisch antworten zu können.
Zunächst muss ich beschämt gestehen, dass ich über das Unheil, das uns droht, wenn wir sofort an die Macht kommen, vor Bernsteins Broschüre recht wenig nachgedacht habe. Die Gefahr, wir konnten morgen als Diktatoren von Deutschland aufwachen, war stets die geringste meiner Sorgen.
Aber auch jetzt, nachdem mich Bernstein zum Nachdenken über den Gegenstand angeregt, vermag ich mich nicht zu einem apodiktischen Urteil aufzuschwingen und kann nur Vermutungen hegen. Wir sind eben leider noch nicht so weit, die einzelneu Klassen einer politischen Maturitätsprüfung zu unterwerfen, und ihnen, je nach deren Ausfall, ein Zeugnis politischer Reife und der Befähigung zur politischen Herrschaft auszustellen oder zu versagen. Die einzige Prüfung, deren Zeugnis in der Geschichte gilt, ist die Praxis, die Erfahrung.
Wir haben sicher keine Garantie dafür, dass die Sozialdemokratie sich im Besitz der Staatsgewalt behaupten könnte, wenn sie morgen schon durch einen plötzlichen politischen Sturmwind in die Höhe getragen würde. Vielleicht würde ihr, wie den demokratischen Klassen in der englischen Revolution des siebzehnten Jahrhunderts oder denen der französischen Revolution, früher oder später das Staatsruder wieder entgleiten oder entrissen werden. Aber wie lässt sich einem derartigen vorzeitigen Siege mit Sicherheit vorbeugen? Nur dadurch, dass die Sozialdemokratie sich selbst auflöst. Eine Partei, die existiert, muss kämpfen, und kämpfen heißt um den Sieg ringen. Und wer um den Sieg ringt, muss immer mit der Möglichkeit rechnen, dass er Sieger bleibt.
Wollen wir also sicher davor sein, dass uns nicht vorzeitig die Macht zufällt, dann bleibt uns nichts übrig, als – uns schlafen zu legen.
Das wird selbst Bernstein nicht wollen, und so zwingt uns eine traurige Notwendigkeit, mit dem drückenden Bewusstsein, wir könnten noch unseren Sieg erleben, den Kampf fortzusetzen.
Aber steht die politische Unreife des Proletariats wirklich so bombensicher, dass nur Literaten, welche mit den Arbeitern nichts zu tun haben, anderer Meinung sein können? Welche Beweise bringt Bernstein vor?
Erstens, alle Arbeiter, mit denen er darüber gesprochen, sind derselben Meinung. Das beweist bloß ihre Bescheidenheit und ihre Überschätzung der Weisheit, mit der die Welt regiert wird.
Zweitens, die Arbeiter sind nicht so frei von Vorurteilen und Schwächen, wie uns ihre Höflinge glauben machen wollen. Um nicht in den Verdacht so feiler Höflingschaft zu verfallen, beeile ich mich, zu bemerken, dass ich dem vollständig zustimme. Aber es handelt sich hier nicht um einen Tugendpreis, sondern um politische Reife. Will Bernstein behaupten, dass die heute herrschenden Klassen „so frei von Vorurteilen und Schwächen“ sind?
Wir dürfen doch nicht die Proletarier mit irgendeinem Maßstab idealer Vortrefflichkeit messen, sondern sie mit den anderen Klassen vergleichen. Fällt dieser Vergleich wirklich so sehr zu Ungunsten der Arbeiterschaft aus?
Wäre das Proletariat wirklich noch politisch unreif, so würde damit weit mehr bewiesen, als Bernstein lieb sein kann.
Auch wer nichts weniger als ein Höfling der Arbeiter sein will, wird zugeben müssen, dass sie sich den anderen großen demokratischen Schichten der Gesellschaft, den Kleinbürgern und Kleinbauern, heute bereits an politischer Reife überlegen erweisen. Sind sie trotzdem unfähig zu politischer Herrschaft, dann sind es diese beiden Klassen erst recht. Was wird aber dann aus der Demokratie, was wird aus der Selbstverwaltung, wenn die große Masse des Volkes unfähig dazu ist?
Hat Bernstein recht, dann ist nicht nur die Herrschaft des Proletariats, sondern schon die Herrschaft des allgemeinen Wahlrechts ein Unding. Dann fort mit der Demokratie, dann sichert uns nur die Herrschaft der Bourgeoisie den Fortbestand der Zivilisation, dann richten wir nur gleich ein Zensuswahlrecht als Wall gegen die modernen Vandalen auf!
Natürlich nicht für immer, sondern nur für so lange, bis das Proletariat die nötige Reife erlangt hat. Diese Versicherung haben uns die Gegner des allgemeinen Wahlrechts stets gegeben.
Eine fortschrittliche Demokratie ist in einem modernen Industriestaat nur noch möglich als proletarische Demokratie. Darum der Niedergang der fortschrittlichen bürgerlichen Demokratie. Überwiegt bei den bürgerlichen Demokraten die Furcht vor der Herrschaft des Proletariats, dann werden sie Altliberale. Halten sie fest an der fortschrittlichen Demokratie, dann müssen sie sich mit dem Gedanken der Herrschaft des Proletariats befreunden. Furcht vor der Herrschaft des Proletariats verbreiten und gleichzeitig die politischen Rechte der unteren Volksklassen erhalten oder gar erweitern wollen, heißt, mit der einen Hand niederreißen, was die andere aufbaut. Nur die Überzeugung von der Notwendigkeit der Herrschaft des Proletariats und von seiner politischen Reife kann heute noch dem demokratischen Gedanken werbende Kraft verleihen.
Vergleicht man aber das Proletariat nicht mit irgendeinem idealen Maßstab, sondern mit den anderen Klassen, dann findet man, dass seine politischen Fähigkeiten nicht bloß mit denen des Kleinbürgertums und der Bauernschaft, sondern auch mit denen der Bourgeoisie selbst getrost den Vergleich aushalten. Sehen wir hin in die Parlamente, die Gemeinden, die Unterstützungskassen, in denen ausschließlich die Bourgeoisie und ihre Beamten herrschen, und wir finden dort Stagnation, Korruption, Impotenz. Sobald die Sozialdemokratie eindringt, erwacht neues Leben; sie bringt Initiative, Ehrlichkeit, Kraft und Grundsätze mit sich und regeneriert durch ihre Konkurrenz auch ihre Gegner. In jeder Machtposition, welche die Sozialdemokratie im letzten Jahrzehnt, ja in den letzten Jahrzehnten, eroberte, hat sie sich behauptet, hat sie sich ihren Gegnern an positivem Schaffen überlegen gezeigt. In welcher Organisation immer sie die Herrschaft errang, überall erwies sie sich der Situation gewachsen. Bernstein zeige mir auch nur einen einzigen Fall, in welchem die Sozialdemokratie einer politischen Aufgabe, die ihr zufiel, nicht gerecht geworden wäre. Und das alles leistete sie allein, angewiesen auf ihre eigenen Kräfte, die Partei der Armen und Unwissenden. Welchen Grund haben wir anzunehmen, sie müsse scheitern, wenn die gesamte ökonomische und intellektuelle Macht des Staates ihr zur Verfügung gestellt wird?
Freilich meint Bernstein, wir dürften uns wohl „des großen Fonds von Intelligenz, Entsagungsmut und Tatkraft freuen, den die moderne Arbeiterbewegung teils enthüllt und teils erzeugt hat, aber übertragen wir nicht, was von der Elite – sage, von Hunderttausenden – gilt, kritiklos auf die Masse, auf die Millionen“ (S. 106), aber darauf ist zu bemerken, dass an dem Klassenkampf keiner Klasse die Gesamtheit der Klassenmitglieder mitkämpft. Überall finden wir bloß eine Elite im Vorkampf, deren politische Fähigkeiten für die Reife der Klasse entscheidend sind. Die Masse folgt in jeder Klasse teils der Elite, ohne eigene Initiative, teils hält sie sich ganz vom Kampfe fern. Die politische Herrschaft des Proletariats bedeutet also zunächst tatsächlich nur die Herrschaft seiner Elite – wie wir dies bei der Bourgeoisie, beim Junkertum, bei jeder herrschenden Klasse finden. Und es ist nicht zu erwarten, dass die Sozialdemokratie früher in den Besitz der Staatsgewalt gelangt, als bis diese Elite mit den Massen, die ihr anhangen, stark genug geworden ist, sie zu erobern.
Nein, wir haben durchaus keinen Grund anzunehmen, dass die Sozialdemokratie naturnotwendig scheitern müsste, selbst wenn Zufälle, die ganz unberechenbar und nicht wahrscheinlich sind, sie in einem der entwickelten Länder Europas morgen schon zur Mehrheit im Parlament machten und an die Regierung brachten.
Und was heißt scheitern? Wenn man nach Äußerlichkeiten geht, dann vollzog sich der gesamte Fortschritt der Bourgeoisie in gescheiterten Revolutionen, von der englischen der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts bis zu der europäischen der Mitte des neunzehnten. Tatsächlich hat die Bourgeoisie in keiner dieser Revolutionen ihre Alleinherrschaft behaupten können. Und doch erzeugte jede derselben einen mächtigen Anstoß nach vorwärts; eine jede brach so viele morsche Einrichtungen nieder, die nie wieder aufgebaut werden konnten, eröffnete so viele neue Wege für die soziale Entwicklung, dass sie nach ihrem anscheinenden Zusammenbruch die Gesellschaft auf einer höheren Entwicklungsstufe hinterließ. Möchte, könnte man eine einzige dieser „verfrühten“, „fehlgeschlagenen“ Revolutionen in der Geschichte des gesellschaftlichen Fortschritts missen? Und ist es denkbar, dass eine dieser Revolutionen hätte aufgeschoben werden können, bis die demokratischen Klassen politisch reifer waren?
Wenn es aber absurd ist, von dem Aufschub eines historischen Ereignisses zu reden, was haben dann die Kassandrarufe von der mangelnden politischen Reife des Proletariats für einen Sinn?
Wir sind nicht die Lenker der historischen Entwicklung. Diese hängt von Faktoren ab, die weit mächtiger sind, als einzelne Parteien und ihre frommen Wünsche. Ob das Proletariat jetzt schon weit genug ist, die politische Herrschaft zu übernehmen, ob es dereinst, wenn es die politische Macht erobert, in allen Punkten schon die nötigen politischen Fähigkeiten entwickeln, ob es der ungeheuren historischen Aufgabe, die ihm zufällt, ohne weiteres gewachsen sein wird, ob seine Siege durch Niederlagen unterbrochen sein werden, ob die kommende politische Entwicklung eine langsame oder schnelle sein wird – wer könnte darauf antworten? Wenn man aber diese Fragen nicht beantworten kann, wird alles Spintisieren über die heutige politische Reife des Proletariats zwecklos, und es kommt auf kein höheres Niveau durch die Verdächtigung derjenigen, die in die apodiktische Impotenzerklärung des Proletariats nicht mit einstimmen.
Unsere Aufgabe besteht nicht darin, das Proletariat mitten im Kampfe zu entmutigen durch grundloses Verkleinern seiner politischen Fähigkeiten, sondern darin, die höchsten Anforderungen an die politischen Fähigkeiten des Proletariats zu stellen und daher alles aufzubieten, sie möglichst zu steigern, so dass jeder Moment es auf der größten Höhe seiner Leistungsfähigkeit findet.
Zu dieser Aufgabe gehört es aber nicht nur, dass wir das Proletariat organisieren und ihm bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen erkämpfen helfen. Dazu gehört es auch, dass wir den Blick des Proletariats erweitern über den Kreis seiner Augenblicks- und Berufsinteressen hinaus, dass wir es die großen Zusammenhänge aller proletarischen Interessen untereinander und mit den allgemeinen gesellschaftlichen Interessen erkennen lassen. Es gehört dazu, dass wir ihm große Zwecke setzen, mit denen es selbst zu höherem Geistesleben heranwächst, dass wir es erheben über die alltägliche Kleinarbeit, die unentbehrlich ist und die das Leben dringend erheischt, die es uns aber eben deshalb von selbst aufdrängt, ohne dass wir nötig hätten, dazu besonders eifrig zu mahnen. Sorgen wir dafür, dass nicht Kleinheitswahn das Proletariat und seine Ziele degradiert, dass nicht an Stelle einer weitausblickenden grundsätzlichen Politik das Fortwursteln von Fall zu Fall eintritt, mit anderen Worten, dass nicht die nüchterne Alltäglichkeit den Idealismus überwuchert, dass nicht das Bewusstsein der großen historischen Aufgaben verloren geht, die dem Proletariat gestellt sind.
Wenn wir in diesem Sinne unsere volle Kraft einsetzen, haben wir unsere Pflicht als Sozialdemokraten getan: der Erfolg unseres Wirkens steht in der Hand von Faktoren, die wir nicht beherrschen.
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Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012