Karl Kautsky


Bernstein und das Sozialdemokratische Programm



II. Das Programm
(Teil 2)

d) Die Aktiengesellschaften.

In der Diskussion wies Bernstein auf die Vermehrung der Börsenblätter als Beweis für die Zunahme der Besitzenden hin.

Ja, aber die beweist doch nur das, was niemand bestritten, wofür wir eben zahlreiche statistische Beweise gesehen, dass die Zahl der kapitalistischen Unternehmungen wächst, dass der Kapitalismus sich immer weiter ausbreitet, immer weitere Zweige des Erwerbslebens, immer weitere Gebiete der Erde in sein Bereich hineinzieht, dass der Weltmarkt sich rapid entwickelt und dass der einzelne Geschäftsmann immer weniger im Stande ist, ihn durch seine eigenen persönlichen Beziehungen zu überschauen, dass nur die Mittel einzelner großer Zeitungen im Stande sind, diese Übersicht zu liefern; endlich beweist diese rasche Vermehrung der Börsenblätter noch die raschen Fortschritte des Aktienwesens, die fortschreitende Zunahme jener kapitalistischen Unternehmungen, die einer gewissen öffentlichen Kontrolle unterliegen und der Öffentlichkeit bedürfen, jener „publicité“, die, wie die Panamaaffäre gezeigt, eine so vielgesuchte und teuere Ware geworden ist.

Aber die Zahl der Börsenblätter lässt uns absolut im Dunklen über die Zahl der Besitzenden. Jeder, der in Handel und Verkehr tätig ist, muss sie heutzutage lesen, einerlei, ob er Kapitalist oder bloß Angestellter eines Kapitalisten ist.

Für eine so offenkundige Tatsache, wie die Zunahme der Besitzenden, sollten etwas deutlichere Beweise zu finden sein.

Bernstein glaubt denn auch, solche noch gefunden zu haben im Aktienwesen.

Die Aktiengesellschaft, erklärt er, wirkt der Zentralisation der Vermögen durch Zentralisation der Betriebe in sehr bedeutendem Umfang entgegen.

„Leider fehlt es durchaus noch an zahlenmäßigen Nachweisen über die tatsächliche Verteilung der Stamm-, Prioritäts- etc. Anteile der heute einen so gewaltigen Raum einnehmenden Aktiengesellschaften, da in den meisten Ländern die Anteile anonym sind (d. h. wie anderes Papiergeld ohne Umstände den Inhaber wechseln können), während in England, wo die auf den Namen eingetragenen Aktien überwiegen und die Listen der so festgestellten Aktionäre von jedermann im staatlichen Registrieramt eingesehen werden können, die Aufstellung einer genaueren Statistik der Aktienbesitzer eine Riesenaufgabe ist, an die sich noch niemand herangewagt hat. Man kann ihre Zahl nur auf Grund gewisser Ermittlungen über die einzelnen Gesellschaften annähernd schätzen. Um jedoch zu zeigen, wie sehr die Vorstellungen täuschen, die man sich in dieser Hinsicht macht, und wie die modernste und krasseste Form kapitalistischer Zentralisation, der „Trust“, tatsächlich ganz anders auf die Verteilung der Vermögen wirkt, als es dem Fernstehenden erscheint, folgen hier einige Zahlen, die leicht verifiziert werden können.

„Der vor etwa Jahresfrist gegründete englische Nähgarn-Trust zählt nicht weniger als 12.300 Anteilsinhaber. Davon:

6.000 Inhaber von Stammaktien mit 1.200 Mark Durchschnittskapital

4.500 Inhaber von Prioritätsaktien mit 3.000 Mark Durchschnittskapital

1.800 Inhaber von Obligationen mit 6.300 Mark Durchschnittskapital

„Auch der Trust der Feingarnspinner hat eine anständige Zahl von Anteilsinhabern, nämlich 5.454.

2.904 Inhaber von Stammaktien mit 6.000 Mark Durchschnittskapital

1.870 Inhaber von Prioritätsaktien mit 10.000 Mark Durchschnittskapital

680 Inhaber von Obligationen mit 26.000 Mark Durchschnittskapital

„Ähnlich der Baumwoll-Trust P.u.T. Coats. Das sind einige Beispiele für die Zersplitterung der Vermögensteile an zentralisierten Unternehmungen. Nun sind selbstverständlich nicht alle Aktionäre in nennenswertem Umfange Kapitalisten und vielfach erscheint ein und derselbe große Kapitalist bei allen möglichen Gesellschaften. Aber bei alledem ist die Zahl der Aktionäre und der Durchschnittsbetrag ihres Aktienbesitzes in raschem Wachstum begriffen. Insgesamt wird die Zahl der Aktieninhaber in England auf weit über eine Million geschätzt.“ (S. 47–49)

Also, wir haben keine Statistik des Aktienbesitzes; nicht jeder, der eine Aktie besitzt, ist deswegen gleich ein Kapitalist, derselbe große Kapitalist erscheint bei allen möglichen Gesellschaften als kleiner Kapitalist wieder. Alles das gibt Bernstein selbst zu. Das heißt aber mit anderen Worten, alle die Daten, die er da bringt, sind als Zeichen der Zunahme der Besitzenden völlig wertlos. Sie beweisen noch weniger als die Einkommenssteuerstatistik, ihre Vorführung beweist bloß eins: die vollständige Ratlosigkeit Bernsteins, woher für seine Behauptung einen auch nur halbwegs plausiblen Beweis zu nehmen.

Nicht mehr als die Zahlen, die er bringt, beweisen die theoretischen Ausführungen, mit denen er sie einleitet. „Die Form der Aktiengesellschaft“, sagt er, „wirkt der Tendenz: Zentralisation der Vermögen durch Zentralisation der Betriebe in sehr bedeutendem Umfang entgegen.“ Warum? „Sie erlaubt eine weitgehende Spaltung schon konzentrierter Kapitale und macht Aneignung von Kapitalen durch einzelne Magnaten zum Zwecke der Konzentrierung gewerblicher Unternehmen überflüssig. Wenn nicht-sozialistische Ökonomen diese Tatsache zum Zwecke der Beschönigung der sozialen Zustände ausgenutzt haben, so ist das für Sozialisten noch kein Grund, sie sich zu verheimlichen oder hinwegzureden“ (S.47).

Also wieder eine Tatsache, die uns Sozialisten unbequem wird, die wir verheimlichen oder wegreden wollen. Aber worin besteht diese „Tatsache“? Ist es Tatsache, dass die Form der Aktiengesellschaft der Zentralisation der Vermögen entgegenwirkt? Mitnichten, das ist vielmehr zu beweisen. Die Tatsache besteht bloß darin, dass die Form der Aktiengesellschaft die Spaltung schon vorhandener Kapitale erlaubt, die Aneignung von Kapitalen durch einzelne Magnaten überflüssig macht. Aber es wäre sehr vorschnell, wollte man deswegen es gleich als „Tatsache“ hinstellen, dass in Wirklichkeit diese Erlaubnis auch wirksam benutzt wird und dass die Kapitalmagnaten deswegen sich nicht mehr Kapitale aneignen, weil das überflüssig geworden ist.

Aktien werden in dieser schnöden Welt nicht verschenkt, sondern verkauft, sie bringen nicht Geldbesitz, sondern setzen ihn voraus. Durch die Gründung einer Aktiengesellschaft wird an der bestehenden Besitzverteilung gar nichts geändert. Die Form der Aktiengesellschaft ermöglicht nur, was auch die Sparkassen und Banken leisten, dass kleine Geldsummen, die nicht zur Betreibung eines kapitalistischen Unternehmens ausreichen, zu Kapital werden. Die Form der Aktiengesellschaft vermehrt daher die der kapitalistischen Produktion zu Gebote stehende Kapitalsmenge, sie erlaubt es, Besitz in Kapital zu verwandeln, der sonst nicht zu Kapital würde, sondern unverzinst als Schatz liegen bliebe, aber sie ändert zunächst gar nichts an der bestehenden Verteilung des vorhandenen Besitzes.

Die Zunahme der Zahl der Aktionäre beweist gar nicht die Zunahme der Zahl der Besitzenden; sie beweist nur, dass in der kapitalistischen Gesellschaft die Form der Aktie immer mehr die vorherrschende Form des Besitzes wird.

Der Hinweis auf die Form der Aktiengesellschaft löst also keineswegs das Problem, woher denn dies angebliche Wachstum der Besitzerzahl stammt. Sie kann dieses Wachstum, wenn es stattfindet, ausdrücken, sie kann es aber nicht erzeugen.

Woher soll es aber kommen angesichts der Zunahme der Proletarier? Darüber gibt uns Bernstein keine nähere Auskunft. Sollen etwa in steigendem Maße Proletarier aus ihrem Lohne so viel ersparen, dass sie Kapitalisten werden können? Bernstein legt zwar vor Schulze-Delitzsch eine ebenso große Achtung an den Tag, wie vor Herrn Julius Wolf. Aber so lange er es nicht direkt ausspricht, nehme ich nicht an, dass er glaubt, die Zunahme der Besitzenden könne dem Sparen der Arbeiter entspringen. Bleibt nur jener Grund, den er selbst andeutet: Spaltung schon konzentrierter Kapitale.

Solche Spaltungen kommen vor, sie gehen ununterbrochen vor sich. Ihre Ursache ist das Erbrecht. Wenn das feudale Erbrecht die Enterbung aller anderen Kinder eines Ehepaars zu Gunsten eines einzigen festsetzt, bestimmt das bürgerliche die gleichmäßige Verteilung des Erbes unter alle Kinder. Das ist eine Einrichtung, die freilich der Zentralisation der Kapitalien sehr erheblich entgegenwirkt, sonst ginge diese noch weit schneller vor sich. Aber sollte die Erbteilung der Kapitalien dazu führen, dass die Zahl der Kapitalisten schneller wächst, als die Bevölkerung, müsste auch ihre natürliche Vermehrung eine schnellere sein. Bekanntlich ist aber gerade das Gegenteil der Fall. Die Proletarier führen nicht umsonst ihren Namen, sie erzeugen eine zahlreiche Proles (Nachkommenschaft). Dagegen ist die ganze Familienpolitik der Kapitalisten daraufhin zugeschnitten, den dezentralisierenden Folgen der Erbteilung möglichst entgegenzuwirken. Die Ehen werden möglichst so geschlossen, dass sie zur Vereinigung zweier inbrünstig nach einander verlangenden Kapitalien führen, und das Zweikindersystem wird unter den Besitzenden immer allgemeiner. Dass diese eine verhältnismäßig zahlreichere Nachkommenschaft hervorbringen als die Proletarier, ist demnach von vornherein ausgeschlossen. Woher aber dann die „weitgehende Spaltung schon konzentrierter Kapitale“? Die Kapitalisten verschenken doch keine Kapitalien? Wo steckt denn dann jene Tatsache, die den Sozialisten so unbequem ist, dass sie versuchen, sie zu verheimlichen oder hinwegzureden? Wir können Bernstein nicht zwingen, an die Ehrlichkeit seiner bisherigen Kampfesgenossen zu glauben, aber wir möchten doch wenigstens wissen, worin unsere Unehrlichkeit besteht.

Sollte Bernstein vielleicht meinen, dass die „Form der Aktiengesellschaft“, wenn sie auch direkt an der Besitzverteilung nichts ändert, so doch aus sich heraus Tendenzen entwickelt, die zur Dezentralisation der Kapitalien führen? Er sagt das nicht, und es liegt auch nicht der mindeste Grund vor, es anzunehmen. Alles spricht für das Gegenteil.

Sichere, sich gut verzinsende Aktien werden von den großen Kapitalisten mit Beschlag belegt. Für die kleinen Leute bleiben von den höher sich verzinsenden nur die unsicheren Papiere, die nicht ein Mittel sind, Besitzlose in Besitzende zu verwandeln, sondern eines, Spargroschen des Kleinbürgertums und der proletarischen Elite in die Taschen der Spekulanten zu locken.

Selbst der gerade nicht schwarzmalende Leroy Beaulieu muss in seinem schon mehrfach zitierten Buche gestehen:

„Bisher haben die Aktiengesellschaften zwar dem Unternehmungsgeist einen mächtigen Anstoß gegeben und die Produktion entwickelt, aber sicher auch dahin gewirkt, eine große Ungleichheit im Besitz zu schaffen. Sie haben den Finanzleuten der Hauptstadt erlaubt, sich eines sehr großen Teiles der Ersparnisse des Publikums zu bemächtigen; sie sind in viel höherem Grade als die Industrie und der Handel der Ursprung kolossaler Vermögen gewesen. Sie haben ohne Zweifel zu maßloser Bereicherung einiger geschickten Glücksritter und zur Verarmung zahlreicher naiver Gemüter geführt“ (S. 335, 338).

Die Erlaubnis „zur weitgehenden Spaltung schon konzentrierter Kapitale“ nimmt hier eine andere Form an, als bei unserem Marxisten.

Freilich tröstet sich Leroy Beaulieu hier wie auch sonst mit der Erwartung, die Schattenseiten des Aktienwesens seien wahrscheinlich nur vorübergehende. Das schrieb er gerade zu der Zeit, als die Panamagesellschaft gegründet wurde.

Ist die Form der Aktiengesellschaft das auserlesene Mittel, Gimpel zu sangen und zu rupfen, so ist sie andererseits ein Mittel, den großen Kapitalisten neue Machtmittel zur Verfügung zu stellen, da sie nichts ist als eine besondere Form des Kredits. Das Kreditwesen „wird nicht nur selbst zu einer neuen gewaltigen Waffe im Konkurrenzkampf. Durch unsichtbare Fäden zieht es die über die Oberfläche der Gesellschaft in größeren oder kleineren Massen zersplitterten Geldmittel in die Hände individueller oder assoziierter Kapitalisten. Es ist die spezifische Maschine zur Konzentration der Kapitale.“ (Marx)

Bernstein meint, die Form der Aktiengesellschaft mache „Aneignung von Kapitalen durch einzelne Magnaten zum Zwecke der Konzentrierung gewerblicher Unternehmen überflüssig“. Aber was nützt uns das, wenn die „Magnaten“ sich dadurch nicht beirren lassen, sondern vielmehr diese selbe Form benützen, fremde Kapitale ihren eigenen dienstbar zu machen und so „gewerbliche Unternehmungen“ von einer Ausdehnung zu schaffen und auszubeuten, zu denen ihre eigenen Mittel allein nicht ausreichen würden?

Erst jüngst lasen wir in einer amerikanischen Zeitung, der Nominalwert der Zertifikate des Standard-Oil-Trusts betrage 97.250.000 Dollars. John D. Rockefeller besitzt deren im Werte von 49.000.000. Er hat also die Mehrheit der Stimmen, und die Aktienform ist ein Mittel, ihm die freie Verfügung über fast das Doppelte seines eigenen Einsatzes zu gewähren. Das mag gleichgültig scheinen vom bloßen Standpunkt der Verteilung des Profits. Aber das entscheidende soziale Moment ist nicht die Verteilung, sondern die Produktion, und auf diesem Gebiete wird die Macht, damit aber auch das Einkommen des einen Rockefeller durch die Einzahlungen seiner Mitaktionäre enorm gesteigert.

Weit entfernt, die Wirkungen der Konzentration der Kapitalien aufzuheben, ist das Aktienwesen vielmehr das Mittel, sie auf die Spitze zu treiben. Die Form der Aktiengesellschaft erst ermöglicht riesige Unternehmungen, denen das Einzelkapital nicht gewachsen ist. Sie ist die Form, in der sich die Monopolisierung einzelner Betriebszweige vollzieht. Ist die Monopolstellung der Trusts, der Eisenbahnen, der großen Banken, deswegen eine geringere, weil sie Aktiengesellschaften sind? Und sind sie deshalb weniger die Werkzeuge einzelner Finanzmagnaten, „welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren“?

Wir haben keine Statistik der Verteilung des Aktienbesitzes, aber alles weist darauf hin, dass im Aktienwesen derselbe Prozess der Akkumulation und Zentralisation von Kapital vor sich geht, den wir an den kapitalistischen Unternehmungen beobachten können.

Was durch das Aktienwesen offenbar vergrößert wird, das ist nicht die Zahl der Besitzenden, sondern innerhalb dieser Klasse die der müßigen Besitzenden. Es enthebt die Kapitalisten von Funktionen, die sie im ökonomischen Getriebe haben und macht sie bereits in der kapitalistischen Gesellschaft überflüssig. Diese Tatsache wird durch das rasche Anwachsen der Zahl der Aktiengesellschaften allerdings drastisch illustriert.

„Die stete Zunahme der ‚Treuhand’-Gesellschaften, die den Kapitalisten die Sorge um die Anlage ihrer Vermögen abnehmen“, auf die sich Bernstein als ein Zeichen der Zunahme der Besitzenden beruft, beweist ebenfalls nur die Zunahme der Zahl der müßigen Besitzenden, beweist, wie rasch die Kapitalistenklasse für das ökonomische Getriebe der Gesellschaft überflüssig wird, wie sehr sie immer mehr zum Parasiten am gesellschaftlichen Körper heranwächst.

Nicht die Zunahme der Besitzenden wird durch die rasche Zunahme der Aktiengesellschaften bewiesen, sondern die wachsende Überflüssigkeit kapitalistischer Produktion, die wachsende Möglichkeit, ja Notwendigkeit sozialistischer Produktion.

Aber Bernstein hat noch einen Beweis für die Zunahme der Besitzenden:

„Wenn wir die Tatsache nicht durch Einkommens- und Berufsstatistik empirisch festgestellt vor uns hätten, so würde sie sich auch auf rein deduktivem Wege als die notwendige Folge der modernen Wirtschaft nachweisen lassen.

„Was die moderne Produktionsweise vor allem auszeichnet, ist die große Erhöhung der Produktivkraft der Arbeit. Die Wirkung ist eine nicht minder große Steigerung der Produktion – Massenproduktion von Gebrauchsgütern. Wo bleibt dieser Reichtum? Oder, um gleich die Frage auf den Kern der Sache zuzuspitzen: wo bleibt das Mehrprodukt, das die industriellen Lohnarbeiter über ihren eigenen, durch ihren Lohn begrenzten Konsum hinaus produzieren? Die „Kapitalmagnaten“ möchten zehnmal so große Bäuche haben, als der Volkswitz ihnen nachsagt, und zehnmal so viel Bedienung halten, als sie in Wirklichkeit tun, gegenüber der Masse des jährlichen Nationalprodukts – man vergegenwärtige sich, dass ja die kapitalistische Großproduktion vor allem Massenproduktion ist – wäre ihr Konsum noch wie eine Feder in der Wage ... Wo bleibt also die Warenmenge. die die Magnaten und ihre Dienerschaft nicht verzehren? Wenn sie nicht doch in der einen oder anderen Weise den Proletariern zufließt, so muss sie eben von anderen Klassen aufgefangen werden. Entweder steigende relative Abnahme der Zahl der Kapitalisten und steigende Wohlhabenheit des Proletariats oder eine zahlreiche Mittelklasse, das ist die einzige Alternative, die uns die fortgesetzte Steigerung der Produktion lässt“ (S. 51, 52).

Das ist Bernsteins theoretischer Beweis seiner These, die, wie wir gesehen, durch die Einkommens- und Berufsstatistik nichts weniger als „empirisch festgestellt“ ist. Allerdings ein Beweis eigener Art, ein Beweis, der in einer Frage besteht: Wo bleibt der Reichtum? Bernstein zeigt nicht, wie und warum der steigende gesellschaftliche Reichtum die Zahl der Besitzenden vermehrt, es genügt ihm, dass er nicht weiß, wo der Reichtum sonst hingelangen könnte.

Versuchen wir, die Antwort zu geben, die Bernstein selbst hätte geben müssen.
 

e) Die Verwendung des Mehrwerts

Da haben wir zunächst die Kapitalmagnaten selbst. Dass der Luxus, die Verschwendung in ihren Reihen enorm wächst, oft geradezu wahnwitzige Formen annimmt, das zeigt ein Blick auf das Leben und Treiben der „Créme“ der Gesellschaft in New York, Paris, London, an der Riviera und sonstigen eleganten Badeorten. Die Villen, Schlösser, Yachten, Jagdgründe dieser Leute, ihre Feste, ihre Liebhabereien, ihre Maitressen, ihre Spielverluste, alles das kostet jedem Einzelnen der „Magnaten“ immer größere Summen, denn die Lebenshaltung dieser braven Leute ist in schwindelndem Aufstieg begriffen, so dass selbst Könige nicht immer mittun können und zu den ordinärsten Schwindelmanövern greifen, um nicht ganz aus den Reihen der Lebewelt deklassiert zu werden. Dass um die Magnaten ein stets wachsender Schweif von Parasiten aller Art sich ansammelt, und dass diese zur „Spaltung schon konzentrierter Kapitale“ viel beitragen, ist richtig. Aber als Bernstein von der Zunahme der „Besitzenden“ sprach, dachte er doch nicht an diese Parasiten, Professionsspieler, Jockeys, Huren und dergleichen.

Während aber der Luxus und die Verschwendung der einzelnen Magnaten wächst, nimmt auch ihre Zahl rapid zu, viel rascher als die Bevölkerung oder die Arbeiterklasse. Diese Zunahme lässt sich besser als ihre Verschwendung zahlenmäßig fixeren. Als ein Anzeichen der raschen Ausdehnung des Kreises der Kapitalmagnaten kann die Tatsache gelten, dass im Deutschen Reiche von 1892 bis 1895 die Zahl der gewerblichen Betriebe nur um 4,6 Prozent stieg, die Bevölkerung um 14,5 Prozent, die der Riesenbetriebe mit mehr als 1000 Arbeitern dagegen um 100 Prozent! Dieselbe Entwicklung zeigt, wie wir gesehen, die ziemlich zuverlässige sächsische Einkommensstatistik. Die Gesamtzahl der eingeschätzten physischen Personen wuchs von 1879 bis 1894 um 37,4 Prozent, von 1.084.751 auf 1.490.558, dagegen die der physischen Personen mit einem Rieseneinkommen von mehr als 54.000 Mark um 272 Prozent, von 238 auf 886. Die Zahl dieser Besitzenden ist allerdings in rascher Zunahme begriffen.

Aber es wächst nicht nur die Zahl der Verschwender und ihre Verschwendung in einem Maße, wie es ohne Ruinierung der Bevölkerung nur das erstaunliche Wachsen der Produktivität der Arbeit unter dem kapitalistischen Regime erlaubt. Es wächst auch die, man kann sagen unpersönliche, mit diesem Regime notwendig Verknüpfte Verschwendung. Bernstein selbst weist auf zwei Ursachen solcher Verschwendung hin: „Krisen und unproduktive Ausgaben für Heere etc. verschlingen viel, haben aber doch“, so wendet er ein, „in neuerer Zeit immer nur Bruchteile des Gesamtmehrprodukts absorbiert.“ Das haben sie wohl nicht nur in neuerer Zeit getan. Es fragt sich bloß, wie erheblich diese Bruchteile sind. Die Verluste durch Krisen lassen sich ziffernmäßig nicht feststellen, wohl aber die Kosten der Armeen.

Im Deutschen Reiche beliefen sich die Kosten des Landheers, der Marine und der Verzinsung der Reichsschulden, die doch nur durch das Kriegswesen nötig wurden, 1874 auf 368 Millionen Mark, für 1899 dagegen waren sie auf 809 Millionen angesetzt. Sie haben sich also mehr als verdoppelt, während die Bevölkerung inzwischen nur von 41 (1871) auf 52 Millionen (1895) anwuchs.

Aber die Verschwendung ist damit nicht erschöpft, man bedenke, dass das stehende Heer auch jährlich Hunderttausende von Männern im arbeitsfähigsten Alter unproduktiv festhält. 1874 waren es 400.000, heute sind es 600.000 Mann, deren Arbeitskraft in dieser Weise vergeudet wird. Rechnen wir, dass jeder derselben Produkte im Werte von bloß 1000 Mark jährlich schaffen könnte – Lohnsumme und Mehrwert zusammengenommen –, so würde die Verschwendung durch Brachlegung der Arbeitskräfte des stehenden Heeres bereits den Betrag von 600 Millionen erreichen. Dazu die Geldkosten des Kriegswesens addiert, erhalten wir heute eine Summe von fast anderthalb Milliarden gegen etwa 800 Millionen vor 25 Jahren, die der Volkswirtschaft jährlich entzogen wird. Innerhalb 25 Jahren ist das Deutsche Reich durch seine Armee um circa 25 Milliarden, den sechsfachen Betrag der französischen Kriegsentschädigung, ärmer geworden. Das ist denn doch schon ein recht ansehnlicher „Bruchteil des Gesamtmehrprodukts“. Dass der Militarismus trotzdem nicht notwendiger Weise zu absoluter Verarmung der Völker führt, dass er, wie ja das Deutsche Reich selbst beweist, mit einem erheblichen Anwachsen des gesellschaftlichen Reichtums Hand in Hand gehen kann, das verdankt er nur der enormen Produktivität der Arbeit unter dem kapitalistischen Regime. Um so verderblicher wird er freilich jenen Nationen, die nicht eine starke und kapitalkräftige Großindustrie aufweisen können. Dort wird der „Bruchteil des Gesamtmehrprodukts“, den er absorbiert, ein so großer, dass das ökonomische Leben dem Drucke erliegt, wie Italien und Spanien uns deutlich zeigen.

Aber der Militarismus und die Krisen sind nicht die einzigen Ursachen von Verschwendung in der kapitalistischen Gesellschaft. Auf andere Ursachen hat der Schreiber dieses 1889 in der Neuen Zeit in einem Artikel über Die Verschwendung in der kapitalistischen Produktionsweise hingewiesen. (S. 25 ff.) Es sei gestattet, einige der dortigen Ausführungen zu wiederholen.

Eine nicht unwichtige Ursache von Verschwendung ist die Mode. Der Wechsel der Mode ist keineswegs ein Naturgesetz, sondern eine Eigentümlichkeit gewisser Gesellschaftszustände.

„Man liebt es heutzutage, gesellschaftliche Erscheinungen durch naturwissenschaftliche Schlagworte zu erklären. Man fand die Wurzeln der historisch so jungen ‚freien Konkurrenz‘ im ‚ewigen Naturgesetz‘ des ‚Kampfes ums Dasein‘, und die Narrheit der wechselnden Kleidermoden ward zur Naturnotwendigkeit, indem man sie auf die geschlechtliche Zuchtwahl zurückführte. Man übersah dabei die Kleinigkeit, dass das Wesen der Mode der Wechsel ist, indes die Charaktere, die der geschlechtlichen Zuchtwahl entstammen, in historischen Zeiträumen unveränderliche sind. Im Menschengeschlecht selbst finden wir, dass naturwüchsige Völker zäh an ihren Trachten und ihrer Architektur hängen und dieselbe unverändert von Generation zu Generation überliefern.

„Nur unter bestimmten gesellschaftlichen Zuständen finden wir einen raschen Wechsel der Moden: in revolutionären Zeiten, in denen der Charakter der Gesellschaft rasch wechselt, und in Zeiten eines üppigen Luxus, in denen einerseits die herrschenden Klassen so viel an Mehrwert oder Mehrprodukt erhalten, dass sie mindestens einen Teil davon verschwenden müssen, um ihn wieder los zu werden und in denen anderseits die Prostitution eine gesellschaftliche Macht wird.

„Die gesellschaftliche Zuchtwahl in der Tierwelt ruft auffallende Charaktere unter den Männchen hervor, Mähnen, buntes Gefieder, Geweihe, Singstimmen etc. Die ‚geschlechtliche Zuchtwahl’, die von den höheren und niederen Dirnen geübt wird, ruft dagegen auffallende weibliche Trachten hervor ... Das Auffallendste ist aber das Neue. Daher der stete Wechsel der Moden ... Aber das ist’s nicht allein, was den Wechsel der Mode hervorruft. Stets nach der neuesten Mode gekleidet zu sein, ist ein Zeichen von Wohlstand, und zwar um so mehr, je rascher die Moden wechseln. Man will nicht bloß stets neu gekleidet sein, man will das auch zeigen, das Neue soll nicht bloß neu, es soll auch anders sein als das Alte. Nichts, was in der letzten Saison galt, soll in der neuen verwendbar sein ... Aber nicht bloß die Damen der vornehmen Welt wechseln heute rasch die Kleidertrachten. Wir wissen, wie billig und schlecht die Arbeiter kaufen müssen. Die Kleider der Mädchen und Frauen aus dem Volke verschleißen heute so rasch, dass sie bald wieder durch neue ersetzt werden müssen. Wenn neue, warum nicht moderne? Es entspricht das ganz dem Zuge unserer Zeit, die die äußerlichen Standesunterschiede immer mehr zu verwischen sucht und in der alles in beständigem Flusse begriffen ist, alles nach Neuem drängt. Ehedem war der Wechsel der Moden ein Vorrecht der obersten Zehntausend. Heute bemerken die ‚Damen‘ voll moralischer Entrüstung, dass selbst unter Dienstmädchen und Fabrikarbeiterinnen immer mehr die ‚Sucht‘ sich verbreitet, stets modern gekleidet zu erscheinen. Ein Modenwechsel geht heute nicht mehr in engem Kreise vor sich, seine Wirkungen erstrecken sich durch die ganze Gesellschaft und machen sich in der Produktion deutlich sichtbar. Mit einem Schlage entwertet er eine Unzahl halb- oder gar nicht gebrauchter Fabrikate, die als Ladenhüter verschimmeln oder als Lumpen weggeworfen werden, wenn man nicht das Material, aus dem sie bestehen, noch einmal verarbeiten kann. Ein solcher Modenwechsel bedeutet eine enorme Verschwendung von Produkten aller Art. Aber eben dadurch hilft er etwas der Überproduktion ab und erzeugt eine Nachfrage nach neuen Produkten. Es sind daher nicht zum Mindesten die Händler und Fabrikanten der betreffenden Waren, welche die raschen und schroffen Modenwechsel begünstigen, mitunter geradezu hervorrufen.

„In den unteren Schichten des Volkes erstreckt sich der Wechsel der Mode nur auf die Kleidung; bei den Wohlhabenden auch auf die Ausschmückung des Hauses. Dank der Stil- und Charakterlosigkeit unserer Zeit sind sie in der angenehmen Lage, mit den Stilen ihrer Wohnräume nach Belieben zu wechseln: heute ist deutsche Renaissance en vogue, morgen verrückter Zopfstil, übermorgen der fade Stil des ersten französischen Kaiserreichs, bis man schließlich bei einem Durcheinander von orientalischem Krimskrams anlangt. Dass dieses ewige Wechseln in den Möbeln, Tapeten etc. eine bedeutende Verschwendung von Arbeit und Material bedingt, liegt auf der Hand ...

„Nur noch einer der kapitalistischen Produktionsweise eigentümlichen Form der Verschwendung sei hier gedacht, der durch das Anwachsen der Großstädte hervorgerufenen ...

„Aus der Zusammendrängung großer Menschenmassen auf geringem Raum ergeben sich immer größere Missstände, erwachsen für den Gesundheitstechniker immer größere Probleme. Aufgaben, die auf dem flachen Lande nur geringe oder gar keine Schwierigkeiten verursachen, wie z. B. die Beschaffung von Trinkwasser oder die Abfuhr und Verwendung der Abfallstoffe, die Zufuhr von Lebensmitteln, die Schaffung von Spiel- und Erholungsplätzen, werden in der Großstadt Veranlassung zur Anlegung kostspieliger Parks, zur Schaffung riesenhafter Bauten, Schlachthöfe, Wasserleitungen, Kanalisationen etc. Mit Stolz und Entzücken weisen die Lobredner unserer Gesellschaft auf diese modernen Weltwunder hin, welche die des Altertums so hoch überragen: und doch sind diese Triumphe des Menschengeists nur Palliative, um die unerträglich gewordenen Missstände zu mildern, die der Naturmensch gar nicht kennt. Nur wenige Jahrzehnte, oft Jahre genügen, dass ihre Wirkung durch das weitere Anwachsen der städtischen Bevölkerung illusorisch wird, neue, noch großartigere, noch kostspieligere Bauten notwendig werden, wenn die Stadt überhaupt noch bewohnbar bleiben soll. In Paris projektiert man bereits eine Wasserleitung aus der Schweiz und einen Unratskanal nach dem Meere. Derlei riesenhafte Bauten wären in einer Gesellschaft, in der der Gegensatz zwischen Stadt und Land aufgehoben, höchst überflüssig. Ihre Herstellung bedeutet eine Vergeudung, die aber unter der modernen Produktionsweise unabweisbar ist. Welche Verschwendung von Dungstoffen damit verbunden, ist bekannt.

„Für die Entwicklung des Baugewerbes ist dieses stets steigende Bedürfnis nach Anlagen der erwähnten Art natürlich sehr günstig. Das Anwachsen der Großstädte fördert es noch in anderer Weise. Immer mehr verödet das flache Land, seine Bewohner ziehen in die Stadt ... Die Bauernhäuser werden leer, ihre bisherigen Bewohner bedürfen neuer Wohnungen in der Stadt. Eine große Bautätigkeit wird erforderlich, nicht durch das Anwachsen der Bevölkerung, sondern bloß durch deren Ortswechsel, einen Wechsel, der nicht hervorgerufen wird durch die Lockungen einer gesünderen, lieblicheren oder fruchtbareren Gegend, nicht durch das Verlangen, die eigene Arbeit produktiver zu gestalten, sondern bloß durch das Bedürfnis, dem großen Markte näher zu sein, auf dem jede Ware, auch die Ware Arbeitskraft, eher Aussicht hat, einen Käufer zu finden, als in den Einöden, die abseits vom Weltmarkt liegen.

„Das Anwachsen der Großstädte verursacht aber gleichzeitig auch eine gewisse Bautätigkeit auf dem flachen Lande. Trotz aller hygienischen Vorsichtsmaßregeln und Einrichtungen werden die Großstädte immer ungesunder, immer notwendiger wird es für die Städter, um diese Wirkung wenigstens einigermaßen zu mildern, dass sie einen Teil des Jahres über außerhalb der Stadt in frischer Landlust, im Gebirge oder an der See, verbringen. Was ehedem als besonderer Luxus des Hofadels galt, eine Wohnung in der Residenz und gleichzeitig eine auf dem Lande zu besitzen, wird jetzt immer mehr ein allgemeines Erfordernis jeder, auch der bescheideneren, bürgerlichen Familie. Neben den sich leerenden Bauernhäusern erstehen Villen und Hotels, die einige Wochen im Jahre überfüllt sind, jedoch die andere Zeit über leer stehen.

„Das Anwachsen der Großstädte führt also zur steten Zunahme der Zahl von Häusern, die nur unvollständig benutzt werden, deren Erbauung eine Verschwendung bedeutet.

„In demselben Maße, in dem die Großstadt wächst, gehen auch in ihrem Inneren beständige Änderungen vor sich. Das ganze Geschäftsleben konzentriert sich in ihrem Mittelpunkt, in einem verhältnismäßig kleinen Stadtteil. Dahin strömt tagsüber die Bevölkerung, soweit sie am Geschäftsleben beteiligt, dahin drängen die gesamten Warenmassen, die die Großstadt konsumiert oder deren Stapelplatz sie ist; von dort strömen Menschen und Waren wieder hinaus zur Peripherie oder in die Kanäle des Welthandels. Das stete Auf- und Abwogen der Menschen- und Warenmassen wächst von Jahr zu Jahr, erfordert eine stete Verbreiterung der Verkehrswege in der inneren Stadt, von Zeit zu Zeit große Neuanlagen solcher Wege, neuen Raum für Bahnhöfe und dergleichen. Und während so der für Häuser bleibende Raum immer enger wird, wächst die Nachfrage nach Komptoirs, nach Magazinen, nach Verkaufsläden in der inneren Stadt. Um dieser zu genügen, heißt es, die alten niederen Häuser durch neue, immer höhere ersetzen. Die Folge von alledem ist eine stete Revolutionierung der inneren Stadt – ein stetes Niederreißen und Neuausbauen von Gebäuden, nicht erfordert durch die Vermehrung der Bevölkerung, nicht durch technische Rücksichten, etwa wegen Baufälligkeit, sondern nur durch gewisse Eigentümlichkeiten der modernen Produktionsweise.

„Auch hier wie auf allen Gebieten, die sie beherrscht, zeigt sie sich als revolutionäre Produktionsweise comme il faut, die nichts Dauerndes kennt; heute entwertet sie, was sie gestern geschaffen, sucht alles unbrauchbar zu machen, ehe es unbrauchbar geworden, und erklärt leichten Herzens heute die ganze Arbeit für vergeudet, die im Gestern steckt, um neue Arbeit für das Morgen vergeuden zu können.“

Dies noch weiter zu illustrieren und zu begründen, würde zu weit führen. Nur auf eine Art von Verschwendung sei noch hingewiesen: Die kapitalistische Entwicklung führt zu steter Vermehrung der industriellen Reservearmee, wie Marx dargetan und wie auch Bernstein nicht leugnen wird – er spricht sich darüber allerdings nicht aus. Ein Teil dieser Reservearmee tritt zu Tage als Arbeitslose; ein anderer in der Form aller möglichen parasitischen Existenzen, von denen der kleine Zwischenhandel die verbreitetste ist.

Miteinander vergleichbare statistische Angaben über die Zahl der Arbeitslosen aus verschiedenen Zeiten haben wir nicht. Ihre Zahl selbst schwankt mit der Geschäftslage. Alle Indizien weisen darauf hin, dass sie in der Krisis der achtziger Jahre eine bedrohliche Höhe erreichte. Nicht minder während der Depression im Anfang dieses Jahrzehnts, namentlich 1892 bis 1894; aber selbst in den Zeiten der Prosperität werden wir die Arbeitslosen nie völlig los. 1895 wurden die Arbeitslosen im Deutschen Reiche gezählt. Damals begann bereits der wirtschaftliche Aufschwung. Man fand am 14. Juni 299.352 und am 2. Dezember 771.005, das macht 1,9 Prozent resp. 4,8 Prozent der damals gezählten Lohnarbeiter.

Von den Gezählten waren arbeitslos:

Wegen Krankheit

 

Aus anderen Ursachen

     14. Juni     

2. Dezember

     14. Juni     

2. Dezember

120.348

217.365

179.004

553.640

Danach hätten die nicht wegen Krankheit Arbeitslosen bloß 1,11 Prozent der Lohnarbeiter im Sommer und 3,43 Prozent im Winter betragen.

Enorm waren die Schwankungen der Arbeitslosigkeit in einzelnen Berufen. So zählte man:

 

Arbeitslose
(nicht Kranke)

Arbeitslose
in Prozent der
Lohnarbeiter

Auf 100
Arbeitslose im
Juni kommen
im Dezember

     14. Juni     

2. Dezember

     14. Juni     

2. Dezember

Landwirtschaft

18.442

158.340

0,33

2,82

858,06

Industrie der Steine und Erden

  3.058

  20.615

0,65

4,40

674,01

Baugewerbe

19.408

145.121

1,68

12,60

747,74

Besonders stark äußert sich die Arbeitslosigkeit in einzelnen Großstädten. Man zählte Arbeitslose (ohne die Kranken):

Am 14. Juni 1895

      

Prozent
der Arbeiter

Am 2. Dezember 1895

Prozent
der Arbeiter

in Hamburg

6,24

in Altona

9,51

in Altona

5,79

in Danzig

9,09

in Berlin

4,70

in Königsberg

7,57

in Leipzig

4,05

in Stettin

7,19

 

in Hamburg

6,94

in Berlin

6,36

in Magdeburg

6,11

Diese Zahlen sind gerade bedeutend genug. Sie wären aber offenbar ganz anders ausgefallen, wenn man statt zwei Momentaufnahmen zu liefern, jeden gezählt hätte, der einmal im Laufe eines Jahres arbeitslos gewesen, und wenn man jeden zu den Arbeitslosen gerechnet hätte, der in seinem Hauptberuf beschäftigungslos war.

In England betrug unter den organisierten Arbeitern, bei denen die Arbeit eine viel ständigere als bei der Masse der Unorganisierten, die Zahl der Arbeitslosen 1893 7,5 Prozent, 1894 6,9 Prozent und 1895 5,8 Prozent der Gewerkschaftsmitglieder.

Die beste Zählung der Arbeitslosen dürfte die in den Vereinigten Staaten bei ihrem letzten Zensus vorgenommene sein. Sie beruht nicht auf einer „Momentaufnahme“, sondern umfasst alle, die im Laufe eines Jahres (1. Juni 1889 bis 31. Mai 1890) einmal in ihrem Beruf beschäftigungslos gewesen. Man zählte 3.013.117 männliche und 510.613 weibliche Arbeitslose, 16 Prozent bzw. 13 Prozent der Erwerbstätigen (nicht bloß der Lohnarbeiter) des betreffenden Geschlechts. Das war in einer Periode wirtschaftlicher Blüte!

Die Arbeitslosen verteilten sich unter die einzelnen Produktionszweige in folgender Weise:

Beschäftigung

Männliche Erwerbstätige über 10 Jahre

 

Weibliche Erwerbstätige über 10 Jahre

Im Ganzen

Davon arbeitslos

Im Ganzen

Davon arbeitslos

Zahl

Prozent

Zahl

Prozent

Landwirtschaft, Fischerei, Bergbau

  8.333.813

1.120.827

13,45

   679.523

108.973

16,04

Freie Berufsarten etc. (professional service)

      632.646

      54.654

   8,64

    311.657

   87.920

28,21

Persönliche Dienste

  2.692.879

   689.307

25,60

1.667.698

130.774

  7,84

Handel und Verkehr

  3.097.701

   247.757

   8,00

    228.421

   15.114

   6,62

Industrie

  4.064.051

   900.572

22,16

1.027.242

167.832

16,34







Zusammen

18.821.090

3.013.117

16,01

3.914.541

510.613

13,00

Die meisten Arbeitslosen wiesen also Industrie und persönliche Dienste auf – fast ein Viertel ihrer Erwerbstätigen!

Von den Gezählten waren arbeitslos durch:

Arbeitslose

 

1–3 Monate

 

4–6 Monate

 

7–12 Monate

Zahl

 

Prozent

Zahl

 

Prozent

Zahl

 

Prozent

Männliche

1.553.750

51,57

1.179.426

39,14

279.932

9,29

Weibliche

   265.106

51,92

   188.992

37,01

  56.515

11,07

Also fast die Hälfte war über vier Monate im Jahre arbeitslos! Nach der Berechnung des Zensuskompendiums sind durchschnittlich in jedem Monat des Jahres über eine Million Arbeitslose im Lande zu finden, rund fünf Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung.

Wie sich die Ziffern während einer Krisis gestalten, darüber liegt noch nirgends eine Zählung vor.

Aber die Arbeitslosen sind nur ein Teil jener relativen Überbevölkerung, die das Fortschreiten des Kapitalismus schafft. Wer in seinem Beruf arbeitslos wird, nicht einer Organisation angehört, die ihn unterstützt und nicht Aussicht hat, bald wieder eine Stelle im Beruf zu finden, sucht wenigstens vorübergehend einen Unterschlupf in einem anderen Erwerbszweig; dazu eignet sich am besten der parasitische Kleinhandel, dessen selbständige „Unternehmungen“ – Hausierer, Kolporteure, Krämer etc. – vielfach nichts anderes sind, als etwas über den Bettel erhabene Existenzformen der Arbeitslosigkeit.

Von 1882 bis 1895 ist im Deutschen Reiche die Zahl der Erwerbstätigen der Landwirtschaft fast völlig gleich geblieben, in der Industrie ist sie um 29,5 Prozent gewachsen, im Handel und Verkehr dagegen um 49 Prozent.

Bei dieser Gelegenheit sei als Illustration des oben über das Baugewerbe Zitierten bemerkt, dass, während die Zahl der Erwerbstätigen in der gesamten Industrie um 29,5 Prozent zunahm, die im Baugewerbe, das doch rein lokaler Natur, keine Exportindustrie, um 42,9 Prozent wuchs, indes die Gesamtbevölkerung sich nur um 14,5 Prozent vermehrte.

Diese Beispiele zeigen bereits eine Reihe von Erscheinungen, welche im Stande sind, auch ohne Zunahme der Zahl der Besitzenden die Produkte einer wachsenden Produktivität zu absorbieren. Auf der einen Seite stetige Zunahme der Verschwendung von Arbeitskräften, Zunahme der unproduktiven Elemente in der Gesellschaft; auf der anderen zunehmende Verschwendung von Arbeitsprodukten.

Dabei haben wir aber den wichtigsten Abflusskanal für den beständig anwachsenden Produktenüberschuss noch gar nicht genannt: die Akkumulation des Kapitals.

Bernstein tut so, als lebten wir noch im Zeitalter der Naturalwirtschaft, wo die Ausbeuter mit dem ihnen in Naturalien zufließenden Mehrprodukt, das sie ihren Untertanen erpresst, nichts anderes anzufangen wussten, als es mit ihren Kumpanen und Dienern zu verzehren:

„Die Kapitalmagnaten möchten zehnmal so große Bäuche haben, als der Volkswitz ihnen nachsagt, und zehnmal so viel Bedienung halten, als sie in Wirklichkeit tun, gegenüber der Masse des jährlichen Nationalprodukts wäre ihr Konsum immer noch wie eine Feder in der Waage.“

Also nach Bernstein wissen die Kapitalmagnaten mit ihren jährlichen Einkommen nichts anderes zu tun, als sich und ihre Diener zu mästen! Kein Wunder, dass er fragt, wo bleibt das Mehrprodukt?

Wenn er sich des Marxschen Kapital noch zu anderen Zwecken als denen des Aufspürens von Widersprüchen und tendenziösen Entstellungen erinnern würde, dann wüsste er noch, dass das 22. Kapitel, welches die Verwandlung von Mehrwert in Kapital darstellt, eines der wichtigsten und schönsten in dem Buche ist. Die jährliche Einnahme des Kapitalisten teilt sich in zwei Teile: den individuellen Konsumtionsfonds und den Akkumulationsfonds. Je größer der eine, desto geringer der andere. Die gesellschaftliche Aufgabe des Kapitalisten besteht aber vornehmlich im Akkumulieren, im Aufspeichern von Kapital. In den Anfängen der kapitalistischen Produktionsweise, wo die Produktivität der Arbeit und die Rate des Mehrwerts, also auch die Revenue des Durchschnittskapitalisten gering, wird die Akkumulation von Kapital durch eine verschwenderische Lebensweise des Kapitalisten gar sehr in Frage gestellt. Die Verschwendung gilt in jenen Tagen als ein adeliges Laster, dem die Sparsamkeit, ja der Geiz als bürgerliche Tugend gegenübersteht. Aber je mehr die Produktivität der Arbeit wächst, desto mehr kann die Akkumulation beschleunigt werden und gleichzeitig der Luxus der Kapitalisten wachsen. Der „Magnat“ kann seinen gröberen und feineren Neigungen freieren Lauf lassen und doch jedes Jahr eine größere Quote des Mehrwerts, den er einsackt, in neue Produktionsmittel verwandeln.

Wenn Bernstein fragt: wo bleibt das Mehrprodukt, so sehe er sich die neuen Maschinen an, die neben alten aufgestellt werden, die neuen Fabriken, Eisenwerke, Bergwerke, Eisenbahnen, die neben den alten erstehen, er sehe hin, wie in Ländern, die vor wenigen Jahrzehnten, oft nur Jahren, noch Wildnisse oder die Heimat primitiver Barbaren waren, eine entwickelte kapitalistische Landwirtschaft, kapitalistisches Transportwesen, kapitalistische Industrie erstehen: alle diese unendliche Menge neuer Produktionsmittel, sie ist das Produkt der Mehrarbeit, welche die Proletarier dem Kapital leisten. Sie sind ebenso „Mehrprodukt“, das der Kapitalist sich aneignet, wie seine Trüffeln und Austern, seine Rennpferde und Schlösser, die Diamanten seiner Frau und die seiner Maitressen.

Die Kapitalistenklasse entfaltet einen Luxus, wie er seit den Tagen des römischen Kaiserreichs nicht erhört worden; sie verbindet damit eine Erweiterung der Produktivkraft der Arbeit und eine Erweiterung des Bereichs kapitalistischer Produktion binnen wenigen Jahrzehnten, deren Rapidität in der Weltgeschichte nicht auch nur im Entferntesten ihres Gleichen fand; und angesichts dieser so krassen, geradezu fabelhaften Entwicklung fragt Bernstein: Was geschieht mit dem Mehrprodukt? Und er meint, das gesamte Mehrprodukt, das nicht in den dicken Bäuchen der Magnaten Platz hat, müsse die Bäuche anderer Besitzenden füllen, und da jeder Bauch, auch der des größten Millionärs, nur eine beschränkte Fassungskraft hat, heißt Zunahme der Masse des Mehrwerts für ihn notwendigerweise Zunahme der Bäuche, die ihn zu fassen haben, und Verwandlung der Inhaber dieser Bäuche in Besitzende.

Auf diese Weise erhebt Bernstein das Marxsche Kapital auf eine höhere Stufe der Wissenschaftlichkeit, indem er dessen Widersprüche und Sophismen auflöst im Magensaft der Besitzenden.

Soviel über die Zunahme der Masse des Mehrwerts und die Zunahme der Besitzenden. Wir sehen, die erstere Erscheinung bedingt keineswegs notwendigerweise die zweite. Ebenso wenig wie die Zahlen der Einkommensteuerstatistik und das Aktienwesen beweist das Wachstum der Zahl der Lohnarbeiter, der Produktivität ihrer Arbeit und das der Ausbeutung – und aus alledem resultiert das Wachstum der Masse des Mehrwerts – auch nur im Mindesten, dass die Verteilung der Vermögen in anderer Richtung sich entwickelt als das sich konzentrierende Kapital.

Damit wäre dieser Punkt erledigt, aber um nicht Missverständnisse aufkommen zu lassen, müssen wir noch einige Betrachtungen daran knüpfen.

Wir haben gesehen, dass Bernstein nicht klar erkennen lässt, was er unter der Zunahme der Besitzenden versteht, ob Zunahme der Zahl der Kapitalisten, Hebung der Lebenshaltung der Bevölkerung im Allgemeinen oder Erstehen eines neuen Mittelstandes an Stelle des versinkenden alten. Das sind drei sehr verschiedene Erscheinungen, die von einander streng gesondert werden müssen.

Wie es mit der Zunahme der Zahl der Kapitalisten steht, haben wir gesehen. Wir finden bisher rasche Zunahme der großen Kapitalisten, dagegen relativen Rückgang in der Zahl der kleineren Unternehmer, und gar keine Anzeichen dafür, dass dieser Rückgang durch das Aktienwesen in eine Zunahme der kleineren Kapitalvermögen umgewandelt wird.

Eine andere Frage ist die der „Verelendung“ der Volksmasse. Es ist klar, der allgemeine Wohlstand der Lohnarbeiterschaft kann steigen, bei gleichzeitiger Abnahme der Zahl der kleinen Kapitalisten.

Bernstein hält diese Frage für erledigt, er hält es für überflüssig, sich näher mit ihr zu befassen:

„Die Elendstheorie ist nun so ziemlich allgemein aufgegeben worden, wenn nicht mit allen Konsequenzen und gerade heraus, so doch mindestens in der Form, dass man sie möglichst hinweginterpretiert.“ (S. 140)

So einfach und bequem liegt denn die Sache doch nicht, und da gerade diese „Theorie“ in letzterer Zeit in Parteikreisen selbst, auch abgesehen von Bernstein, Anfechtungen erfahren, erscheint es uns am Platze, ihr hier einige Betrachtungen zu widmen.
 

f) Die Verelendungstheorie

Ebenso wenig, wie die Worte „Zusammenbruchstheorie“ und „Katastrophentheorie“, stammt das Wort „Verelendungstheorie“ von Marx oder Engels her, sondern von Kritikern ihrer Anschauungen.

Marx hat allerdings in seinem Kapitel über die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Akkumulation ein Wachstum „der Masse des Elends, des Druckes, der Knechtung, der Degradation, der Ausbeutung“ behauptet, „aber auch die Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse“.

Bernstein bestreitet, dass man darauf schließen kann, Marx spreche hier von wachsender Reife und Macht des Proletariats:

„Ob im Marxschen Satze über den Zusammenbruch die Stelle, die von wachsender Zahl, Vereinigung und Schulung des Proletariats spricht, mit wachsende Reife und Macht des Proletariats übersetzt werden kann, hängt davon ab, wie man diese letzteren mit der zunehmenden Entartung und Knechtschaft desselben Proletariats vereinen kann. Es liegt mir gewiss fern, kleinliche Wortklauberei zu treiben, aber ich kann nur sagen, dass für mich bei solcher Voraussetzung zwischen wachsender Zahl, Vereinigung und Schulung – die doch hier vornehmlich als politische Schulung zu verstehen ist – und wachsender Reife und Macht noch ein großer Unterschied besteht, ein Unterschied, wie er dem zwischen zeitweiligem Siegen und dauernder Herrschaft entspricht.“ (Vorwärts, 21. April)

Es wäre allerdings schlimm, wenn wir „kleinliche Wortklauberei“ zu treiben hätten, um uns über den Sinn der zitierten Stelle klar zu werden. Aber so vieldeutig sie auch für sich allein sein mag, sie steht am Ende eines 800 Seiten umfassenden Werkes, eines Werkes, das den Abschluss einer wissenschaftlichen und politischen Tätigkeit von mehr als zwei Jahrzehnten bildet. Will man den lapidaren Satz des Resümees verstehen, dann heißt es, nicht Wortklauberei treiben, sondern das gesamte Wirken von Marx und den Gesamtinhalt seiner Schriften sich vor Augen führen. Vor allem aber haben wir die Tatsachen der Wirklichkeit selbst zu betrachten.

Tun wir das, dann finden wir drei Deutungsmöglichkeiten der „Verelendungstheorie“, drei, die einander nicht ausschließen, sondern ergänzen und in engstem Zusammenhang miteinander stehen.

Zunächst kann man den Satz auffassen als Kennzeichnung zweier einander widerstrebender Tendenzen – einer nach Herabdrückung und einer nach Erhebung des Proletariats. Der Gegensatz dieser beiden Tendenzen ist aber nichts, als der Gegensatz der Kapitalisten und der Lohnarbeiter selbst. Die Kapitalisten sind ununterbrochen bestrebt und werden durch den Zwang der Konkurrenz dahin getrieben, ihre Arbeiter immer mehr herabzudrücken, deren Arbeitszeit zu verlängern, deren Löhne zu verringern, deren Abhängigkeit zu steigern etc. Aber ebenso notwendig empört sich früher oder später dagegen die geknechtete und herabgedrückte, aber auch durch den Produktionsprozess selbst vereinte und organisierte Arbeiterschaft.

Das ist ja eine allbekannte Erscheinung. Nun kommt aber die liberale Ökonomie und erklärt: ja, das ist richtig, die Tendenz zur Verelendung des Proletariats ist jedoch nur eine vorübergehende Anfangserscheinung der kapitalistischen Produktionsweise, die mit der Zeit überwunden wird.

Das ist jedoch nicht richtig. Was überwunden wird, das sind manche Wirkungen der Tendenz zur Verelendung, nicht diese selbst. Sie ist mit dem kapitalistischen Ausbeutungssystem untrennbar verknüpft und kann nur durch seine Beseitigung überwunden werden.

Das Bestreben der Unternehmer, die Lage der Arbeiter herabzudrücken, oder doch den Versuchen nach Hebung ihrer Lage den äußersten Widerstand entgegenzusetzen, ist eine naturnotwendige Folge der kapitalistischen Produktionsweise, der Konkurrenz und der Prositjagd, die zu beständiger Ersparung an allen Produktionskosten, also auch an den Kosten der Arbeit antreiben. Unter Umständen kommen ja manche Fabrikanten so weit – es sind immer nur weiße Raben unter ihnen, die so weit kommen – dass sie erkennen, wie sehr gute Löhne und kurze Arbeitszeit die Arbeit produktiver machen, aber dadurch wird ihr Streben nach „Verelendung“ nicht beseitigt. Gerade diese intelligenten Fabrikanten sind in der Regel auch jene, die am meisten danach trachten, durch arbeitssparende Methoden und Maschinen Arbeiter entbehrlich zu machen, und höhere durch niedere Arbeitskräfte zu verdrängen. Und überall sehen wir Unternehmerverbände sich bilden, um die Knechtung und Degradation der Arbeiter zu willenlosen Sklaven zu vollenden.

Dort, wo es den Arbeitern gelingt, die Unternehmer etwas zu erziehen, wie dies in England der Fall, mildern sich die Formen des Kampfes zwischen der kapitalistischen Tendenz nach Verelendung und der proletarischen nach Erhebung, der Kampf selbst bleibt und nimmt immer riesenhaftere Dimensionen an, da Masse, Geschlossenheit und Kampffähigkeit der Streitkräfte auf beiden Seiten beständig wachsen.

Also in dem Sinne einer Tendenz, einer auf dem Boden der kapitalistischen Gesellschaft unausrottbaren Tendenz, die stets massenhafter sich geltend macht, ist das Wort von der Zunahme des Elends und der Knechtung wie der Empörung vollkommen richtig.

Aber noch eine andere Auffassung ist mit den Tatsachen vereinbar. Das Wort Elend kann physisches Elend bedeuten, es kann aber auch soziales Elend bedeuten. Das Elend in ersterem Sinne wird an den physiologischen Bedürfnissen des Menschen gemessen, die allerdings nicht überall und zu allen Zeiten dieselben sind, aber doch bei Weitem nicht so große Unterschiede aufweisen, wie die sozialen Bedürfnisse, deren Nichtbefriedigung soziales Elend erzeugt.

Fasst man das Wort im physiologischen Sinne auf, dann dürfte allerdings der Marxsche Ausspruch unhaltbar sein. Gerade in den vorgeschrittensten kapitalistischen Ländern ist eine allgemeine Zunahme physischen Elends nicht mehr zu konstatieren; alle Tatsachen weisen vielmehr darauf hin, dass dort das physische Elend im Rückschreiten begriffen ist; wenn auch äußerst langsam und nicht allenthalben. Die Lebenshaltung der arbeitenden Klassen ist heute eine höhere, als sie vor fünfzig Jahren war. Freilich wäre es irrtümlich, wenn man ihr Wachstum am Steigen der Geldlöhne messen wollte. Man vergesse nicht, wie sehr die Lebensmittel sich seitdem verteuert haben. Die Getreidepreise sind in den letzten Jahren gesunken, auch die Fleischpreise hin und wieder, dagegen sind die Wohnungsmieten und die Steuern sehr in die Höhe gegangen und auch die sonstigen Anforderungen an die Arbeiterklasse sind gewachsen. Man weist auf das Sinken der Zahl der Armen hin, wie es z. B. in England verfolgt werden kann, und vergisst, dass dafür die Gewerkschaften und andere Unterstützungskassen mit den Beiträgen der Arbeiter zahlreiche Arbeitslose, Kranke, Invalide erhalten müssen, die sonst dem Armenhaus oder gar dem Zuchthaus verfallen wären. Diese Kosten, die ehedem als Armenunterstützung von den Steuern hauptsächlich der Wohlhabenden hätten bestritten werden müssen, sind von den gestiegenen Löhnen abzuziehen, wenn man das Heute mit dem Ehedem vergleicht.

Der Fortschritt ist bei Weitem nicht so groß, wie er an den Geldlöhnen gemessen aussieht, und auch die Umrechnung der Geldlöhne in Getreidelöhne gibt viel zu günstige Resultate, weil sie gerade jene Lebensbedürfnisse, die teurer geworden sind, außer Acht lässt.

Nirgends sind die Verhältnisse der Entwicklung der Arbeiterklasse so günstig gewesen, wie in England. Ein so nüchterner und zu Übertreibungen so wenig geneigter Forscher wie Sidney Webb hat die Veränderungen in der Lage des englischen Proletariats seit den dreißiger Jahren verfolgt und Folgendes gefunden:

„In jeder Beziehung kann man zeigen, dass zwar eine bedeutende Schicht der Lohnarbeiterschaft seit 1837 große Fortschritte gemacht hat, andere Schichten dagegen nur geringen, wenn überhaupt welchen Anteil an dem allgemeinen Fortschritt des Reichtums und der Zivilisation erlangt haben. Wenn wir die verschiedenen Lebens- und Arbeitsbedingungen nehmen und ein Niveau festsetzen, unter dem der Arbeiter nicht anständig leben kann, dann werden wir finden, dass in Bezug auf Löhne, Arbeitszeit, Wohnverhältnisse und allgemeine Kultur der Prozentsatz derjenigen, die unterhalb dieses Niveaus stehen, heute geringer ist als 1837. Aber wir werden auch finden, dass das niedrigste erreichte Niveau heute ebenso niedrig ist wie damals und dass die Gesamtzahl derjenigen, die unter dem von uns angenommenen Existenzniveau stehen, an absoluter Größe heute wahrscheinlich die von 1837 überragt. Die Tiefe der Armut ist heute ebenso groß, wie sie nur jemals gewesen; ihre Ausdehnung ist ebenso groß oder noch größer; der Bodensatz von 1837 bleibt in der Tat unvermindert zu unseren Füßen und in unserem Gewissen.“ (Labour in the longest reign, S. 18)

Schon ein Jahrzehnt vorher war Friedrich Engels fast zu demselben Resultat gekommen. In der Neuen Zeit schrieb er 1885 über die englische Arbeiterklasse:

„Eine dauernde Hebung (seit 1848) findet sich nur bei zwei beschützten Abteilungen der Arbeiterklasse. Davon sind die erste die Fabrikarbeiter. Die gesetzliche Feststellung eines, wenigstens verhältnismäßig rationellen Normalarbeitstags zu ihren Gunsten hat ihre Körperkonstitution relativ wieder hergestellt und ihnen eine noch durch ihre lokale Konzentration verstärkte moralische Überlegenheit gegeben. Ihre Lage ist unzweifelhaft besser als vor 1848 ... Zweitens die großen Trade Unions. Sie sind die Organisationen der Arbeitszweige, in denen die Arbeit erwachsener Männer allein anwendbar ist oder doch vorherrscht. Hier ist die Konkurrenz weder der Weiber- und der Kinderarbeit, noch der Maschinerie bisher im Stande gewesen, ihre organisierte Stärke zu brechen. Die Maschinenschlosser, Zimmerleute und Schreiner, Bauarbeiter, sind jede für sich eine Macht, so sehr, dass sie selbst, wie die Bauarbeiter tun, der Einführung der Maschinerie erfolgreich widerstehen können. Ihre Lage hat sich unzweifelhaft seit 1848 merkwürdig verbessert; der beste Beweis dafür ist, dass seit mehr als fünfzehn Jahren nicht nur ihre Beschäftiger mit ihnen, sondern auch sie mit ihren Beschäftigen äußerst zufrieden gewesen sind. Sie bilden eine Aristokratie in der Arbeiterklasse; sie haben es fertig gebracht, sich eine verhältnismäßig komfortable Lage zu erzwingen, und diese Lage akzeptieren sie als endgültig. Sie sind die Musterarbeiter der Herren Leone Levi und Giffen und auch des Biedermanns Lujo Brentano, und sie sind in der Tat sehr nette, traktable Leute für jeden verständigen Kapitalisten im Besonderen und für die Kapitalistenklasse im Allgemeinen.

„Aber was die große Masse der Arbeiter betrifft, so steht das Niveau des Elends und der Existenzunsicherheit für sie heute ebenso niedrig, wenn nicht niedriger als je. Das Ostende von London ist ein stets sich ausweitender Sumpf von stockendem Elend und Verzweiflung, von Hungersnot, wenn unbeschäftigt, von physischer und moralischer Erniedrigung, wenn beschäftigt.“

Das stimmt sehr gut zu dem Bilde, das Webb gezeichnet.

Sind aber diese beiden Schilderungen richtig, sind in dem Eldorado des Trade Unionismus, des Genossenschaftswesens, des Muntzipalsozialismus die Arbeiter nicht weiter gelangt, dann darf man den Fortschritt, den sie anderswo gemacht, erst recht nicht allzuhoch anschlagen.

Ist aber die Erhebung der Arbeiterklasse aus dem physischen Elend ein so langsamer Prozess, dann folgt daraus schon ein stetes Wachstum der Zunahme ihres sozialen Elends, denn die Produktivität der Arbeit wächst ungemein rasch. Es heißt das nichts anderes, als dass die Arbeiterklasse in steigendem Maße ausgeschlossen bleibt von den Fortschritten der Kultur, die sie selbst erzeugt, dass die Lebenshaltung der Bourgeoisie rascher steigt als die des Proletariats, dass der soziale Gegensatz zwischen beiden wächst.

Man sollte meinen, dass in einer sozialen Theorie der Begriff des Elends vor allem im sozialen Sinne zu nehmen sei. Bernstein ist anderer Meinung. In der Auffassung des Elends als einer sozialen Erscheinung sieht er nichts anderes, als das Aufgeben der „Elendstheorie“, allerdings nicht „gerade heraus“, dessen sind wir „Apologeten und Fabulisten“ nicht fähig, aber „doch mindestens in der Form, dass man sie möglichst weginterpretiert“.

„Einen solchen Weginterpretierungsversuch“, sagt er, „macht H. Cunow in seinem Zusammenbruchsartikel. Wenn Marx am Schlusse des ersten Bandes des Kapital von der ‚wachsenden Masse des Elends‘ spreche, die mit dem Fortgang der kapitalistischen Produktion eintrete, so sei damit, schreibt er, nicht ein bloß absoluter Rückgang der wirtschaftlichen Existenzlage des Arbeiters zu verstehen, sondern ‚nur ein Rückgang seiner gesellschaftlichen Gesamtlage im Verhältnis zur fortschreitenden kulturellen Entwicklung, also im Verhältnis zur Zunahme der Produktivität und der Steigerung der allgemeinen Kulturbedürfnisse‘.“ Der Begriff des Elends sei kein feststehender. „Was dem einen Arbeiter einer bestimmten Kategorie, den von seinem ‚Arbeitsherrn‘ eine tiefe Bildungsdifferenz trennt, als ein erstrebenswerter Zustand erscheint, das mag dem qualifizierten Arbeiter einer anderen Kategorie, der geistig seinem ‚Arbeitsherrn‘ vielleicht überlegen ist, als eine solche Menge des ‚Elends und des Druckes‘ erscheinen, dass er sich in Empörung dagegen auflehnt.“ (Neue Zeit, XVII, 1, S. 402–403)

„Leider spricht Marx in dem betreffenden Salze nicht bloß von der steigenden Masse des Elends, des Druckes, sondern auch von der ‚der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung‘. Sollen wir nun auch diese alle im besagten – pickwickschen Sinne verstehen? Etwa eine Entartung des Arbeiters annehmen, die nur eine relative Entartung ist im Verhältnis zur Steigerung der allgemeinen Gesittung? Ich bin nicht dazu geneigt, und Cunow wohl auch nicht. Nein, Marx spricht an der betreffenden Stelle ganz positiv: ‚beständig abnehmende Zahl der Kapitalmagnaten‘, welche ‚alle Vorteile‘ des kapitalistischen Umwandlungsprozesses ‚usurpiert’, und ‚Wachstum der Masse des Elends, des Druckes‘ etc. etc. (Kapital, Bd. l, Kap. 24, 7) Auf diese Gegenüberstellung kann man die Zusammenbruchstheorie begründen, auf das moralische Elend über geistig inferiore Vorgesetzte, wie es in jeder Schreibstube, in allen hierarchischen Organisationen zu finden ist, nicht.“ (S. 148)

Das nenne ich doch den Kernpunkt der Sache treffen. Aus dem sozialen Elend, aus dem wachsenden Gegensatz zwischen bürgerlicher und proletarischer Lebenshaltung wird bei Bernstein plötzlich das moralische Elend über geistig inferiore Vorgesetzte, wie es in jeder Schreibstube zu finden ist, das moralische Elend des verkannten Genies. Das Elend als eine soziale, nicht als eine physische Erscheinung auffassen, heißt bei Bernstein dem Worte einen pickwickschen Sinn unterschieben. Stimmt das, dann ist der Klub dieser Pickwickier ein recht ansehnlicher.

Ich erinnere an die bekannte Stelle in Lassalles Antwortschreiben:

„Alles menschliche Leiden und Entbehren hängt nur von dem Verhältnis der Befriedigungsmittel zu den in derselben Zeit vorhandenen Bedürfnissen und Lebensgewohnheiten ab. Alles menschliche Leiden und Entbehren und alle menschlichen Befriedigungen, also jede menschliche Lage, bemisst sich somit nur durch den Vergleich mit der Lage, in welcher sich andere Menschen derselben Zeit in Bezug auf die gewohnheitsmäßigen Lebensbedürfnisse derselben befinden. Jede Lage einer Klasse bemisst sich somit immer nur durch ihr Verhältnis zu der Lage der anderen Klassen derselben Zeit.“ (Bernsteinsche Ausgabe, II, S. 426)

Ähnlich drückte sich Rodbertus bereits 1850 in seinem ersten sozialen Brief an v. Kirchmann aus:

„Armut ist ein gesellschaftlicher, d. h. relativer Begriff. Nun behaupte ich, dass der berechtigten Bedürfnisse der arbeitenden Klassen, seitdem diese im Übrigen eine höhere gesellschaftliche Stellung eingenommen haben, bedeutend mehrere geworden sind, und dass es unrichtig sein würde, heute, wo sie diese höhere Stellung eingenommen haben, selbst bei gleichgebliebenem Lohne nicht von einer Verschlimmerung ihrer materiellen Lage zu sprechen ... Wenn noch dazu kommt, dass die Zunahme des Nationalreichtums die Mittel zur Erhöhung ihres Einkommens bietet, während sie lediglich den anderen Klassen zu Gute kommt, so ist es wohl klar, dass in diesem Zwiespalt zwischen Anspruch und Befriedigung, zwischen Reiz und notgedrungener Entsagung, die ökonomische Lage der arbeitenden Klassen zerrüttet werden muss.“ (Der Brief ist abgedruckt bei Zeller, Zur Erkenntnis unserer staatswirtschaftlichen Zustände, S. 272)

Dass Marx ebenso dachte, erhellt daraus, dass er von der Zunahme des Elends im Kapital spricht, dem Werke, das die physische Wiedergeburt der englischen Arbeiterklasse durch die Fabrikgesetze so stark betont. Und Engels bemerkte 1891, dem Jahre der Abfassung des Erfurter Programms, der wachsende Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit rühre daher, dass die Kapitalistenklasse den größten Teil der steigenden Produktenmasse für sich behält, „während der der Arbeiterklasse zufallende Teil (auf die Kopfzahl berechnet) entweder nur sehr langsam und unbedeutend, oder auch gar nicht steigt und unter Umständen sogar fallen kann, nicht fallen muss.“ (Vorwort zu Marx’ Lohnarbeit und Kapital, S. 9. Vergl. auch die Vorrede zur zweiten Auflage seiner Lage der arbeitenden Klassen in England, S. 10.)

Unser Pickwickierklub bildet also keine so üble Gesellschaft. Und diese Pickwickier begannen mit dem „Weginterpretieren“ ihrer Behauptungen schon damals, als sie sie aufstellten.

Wie steht’s aber mit der „Entartung“? Nun, wenn wir „kleinliche Wortklauberei“ schon einmal treiben wollen, dann müssen wir vor allem bemerken, dass Marx nicht von „Entartung“ sprach, sondern von „Degradation“. In den späteren Auflagen des Kapital hat Engels die nichtdeutschen Worte vielfach durch deutsche ersetzt, und so heißt es dort statt „Degradation“ „Entartung“. Ich würde das Wort „Erniedrigung“ vorziehen, das weniger den Sinn eines physiologischen und mehr den eines sozialen Herabkommens in sich trägt. Ich habe auch in meinem Programmvorschlag von 1891 von wachsender „Erniedrigung“ nicht „Entartung“ gesprochen.

Aber auch das Wort „Entartung“ lässt sich verteidigen. Wir sehen, dass die Selbstmorde und die Irrsinnsfälle zunehmen, die Ziffer der Aushebungen zeigt uns, dass die Entartung bereits aus den Städten auf das flache Land hinausgreift, welches den ersteren sonst frisches Blut zuführte – von einer Entartung, allerdings nicht der Arbeiterklasse allein, sondern der gesamten Bevölkerung der kapitalistischen Gesellschaften kann man also sehr wohl reden. Aber ich glaube, Marx hat in dem fraglichen Satze den steigenden sozialen Gegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat zeichnen wollen, und der wird durch das Wachstum physischer Entartung aller Klassen nicht verschärft – außer etwa in der Form, dass er alle Beteiligten nervöser macht.

Wie dem auch sein möge, die Bernsteinsche Witzelei über die „relative Entartung“ braucht uns an der sozialen Auffassung des Elends nicht irre zu machen.

Das Wachstum des Elends im sozialen Sinne aber wird uns von den Bourgeois selbst bezeugt, nur haben sie der Sache einen anderen Namen gegeben; sie benennen sie Begehrlichkeit. Auf den Namen kommt’s uns nicht an. Das Entscheidende ist die Tatsache, dass der Gegensatz zwischen den Bedürfnissen der Lohnarbeiter und der Möglichkeit, sie aus ihrem Lohne zu befriedigen, damit aber auch der Gegensatz zwischen Lohnarbeit und Kapital immer mehr wächst. In diesem wachsenden Elend einer physisch und geistig kräftigen Arbeiterschaft, nicht in der wachsenden Verzweiflung halb vertierter skrofulöser Horden sah der Autor des Kapital die mächtigste Triebkraft zum Sozialismus. Ihr Wirken wird durch den Nachweis einer steigenden Lebenshaltung der Arbeiterschaft nicht widerlegt.

Der zahlenmäßige Beweis für das Anwachsen des sozialen Elends ist allerdings kaum zu erbringen. Wir müssten genaue Angaben aus verschiedenen Jahrzehnten über die Masse der jährlich geschaffenen Werte und ihre Verteilung unter die Proletarier und Kapitalisten haben, sollten wir bemessen können, in welchem Maße die Ausbeutung der ersteren gestiegen ist und damit ihre soziale Lage verschlechtert wurde.

Aber wir haben Indizien, aus denen wir die Richtung der Entwicklung erkennen können.

Marx hat uns in seinem Kapital das große Mittel gezeigt, durch welches die Unternehmer das Elend der Arbeiterklasse selbst dort vermehren, wo die Arbeitskraft zu ihrem Werte bezahlt wird, wo der Lohn nicht unter die Reproduktionskosten der Arbeiterklasse herabgedrückt ist. Es ist das Streben nach Vermehrung des absoluten und des relativen Mehrwerts.

Die einfachste Form der Vergrößerung des ersteren ist die der Verlängerung des Arbeitstags. Diese findet bald ihre natürliche Grenze in der Erschöpfung des Arbeiters. Über ein gewisses Maß kann sie nicht hinausgehen, von da an ist nur eine Entwicklung im Sinne der Verkürzung möglich. Für diese wirken bei entwickelter kapitalistischer Produktion auch eine Reihe von Faktoren, die hier näher zu beschreiben unmöglich, die alle das Resultat erzielen, dass in dem Kampfe um den Arbeitstag in den kapitalistischen Ländern während der letzten Jahrzehnte sich überall die Tendenz zu fortschreitender Verkürzung der Arbeitszeit durchsetzt. In dieser Beziehung kann man von Zunahme des Elends also nicht reden. Aber die Verkürzung der Arbeitszeit wird in der Regel wett gemacht durch vermehrte Auspumpung von Arbeit in kürzerem Zeitraum, durch Intensifikation der Arbeit, wobei oft die raffiniertesten Systeme der Akkordarbeit, des Prämiensystems, der Gewinnbeteiligung in Anwendung gebracht werden. Immerhin wird man sagen dürfen, dass die Herabdrückung der Arbeiter durch Vermehrung des absoluten Mehrwerts in den Ländern entwickelter kapitalistischer Produktion ihre Schranke gefunden hat.

Aber je mehr dem Kapital dieser Weg nach Vergrößerung des erpressten Mehrwerts verschlossen wird, desto eifriger wendet es sich den Methoden zu, den relativen Mehrwert dadurch zu steigern, dass es trachtet, durch fortschreitende Arbeitsteilung und Vervollkommnung der Maschinen an Stelle gelernter Arbeiter ungelernte zu setzen, an Stelle männlicher weibliche, an Stelle reifer unreife. Auch dies letztere Bestreben wird etwas eingedämmt durch die Arbeiterschutzgesetze, aber doch nur in sehr unvollkommener Weise. Der Schutz der Kinder über 14 Jahren ist selbst in den besten Arbeiterschutzgesetzgebungen ein unzureichender, und zahlreiche Arten der Kinderausbeutung, darunter die schlimmsten, wie in der Hausindustrie, sind noch von jeder Schranke frei.

Der Fortschritt des Maschinenwesens und die Zunahme der Frauenarbeit bleiben auf jeden Fall uneingeschränkt und müssen es bleiben, will man nicht die ökonomische Entwicklung lähmen. Diese beiden wirksamsten Methoden, die Lage der Arbeiter herabzudrücken, können den Kapitalisten unter keinen Umständen verwehrt werden, und diese machen von ihnen um so mehr Gebrauch, je mehr man ihnen die anderen erschwert.

Die Zunahme der Kinder- und Frauenarbeit ist bereits ein untrügliches Symptom des wachsenden Elends der Arbeiterklasse, nicht notwendigerweise wachsenden physischen Elends, aber stets wachsenden Unvermögens, mit dem Lohne des Mannes allein die Bedürfnisse der Arbeiterfamilie zu decken. Es ist keineswegs gleichgültig, ob das daher rührt, dass der Lohn sinkt oder daher, dass die Bedürfnisse steigen, in letzterem Falle wird das Elend viel eher zur Empörung führen und die Empörung viel eher dauernde Erfolge erzielen als in ersterem Falle; aber in dem einen wie in dem anderen Falle wird man von Zunahme des Elends sprechen können. Wo der Lohn des Mannes nicht ausreicht, Weib und Kind zu erhalten, da führt dies auf der einen Seite dazu, dass die Kinder und Ehegattinnen der Lohnarbeiter in die Fabrik müssen, um verdienen zu helfen, auf der anderen Seite dazu, dass die Männer sich der Ehe enthalten und in der Prostitution ein Ersatzmittel für sie suchen. Dadurch wird die Zahl der unverheirateten Mädchen vermehrt, die ihrerseits ebenfalls gezwungen werden, sich der Lohnarbeit zuzuwenden. So löst die kapitalistische Produktionsweise die überkommene bürgerliche Familie auf, ohne eine andere Familienform an ihre Stelle zu setzen, und schafft dadurch eine der wichtigsten Quellen der Verelendung und Entartung.

Die Zahl der Eheschließungen schwankt mit dem Wechsel günstiger und ungünstiger Geschäftslage, nimmt aber im Allgemeinen ab. Auf je 1000 Einwohner kommen Eheschließungen:

 

In
Deutschland

In
Österreich

In
Frankreich

In Groß-
britannien

1872

10,3

9,3

9,7  

8,5

1873

10,0

8,9

8,8  

8,6

1874

  9,5

9,0

8,3  

8,3


1880

  7,5

7,6

7,4  

7,3

1881

  7,5

8,0

7,5  

7,5

1882

  7,1

8,2

7,4  

7,6


1890

  8,0

7,6

7,07

7,6

1891

  8,0

7,8

7,5  

7,7

1895

  7,9

7,9

7,5  

7,4

Dabei nimmt die Zahl der Erwachsenen in der Bevölkerung zu.

Nach der Zählung von 1880 machten im Deutschen Reiche die Kinder unter 15 Jahren 35,4 Prozent der Bevölkerung aus, 1890 35,15 Prozent. Die Zahl der Verheirateten, Verwitweten, Geschiedenen nahm in dem gleichen Zeitraum von 18.100.000 auf 19.800.000 zu, um 9,3 Prozent, die der Ledigen über 15 Jahren wuchs von 11.100.000 auf 12.300.000, um 10,2 Prozent.

Gleichzeitig hat die Frauenarbeit enorm zugenommen. Im Deutschen Reiche hat sich die Zahl der Erwerbstätigen Frauen seit 1882 bis 1895 von 5.541.517 auf 6.578.350, um über eine Million vermehrt. In Industrie und Handel nahmen im gleichen Zeitraum zu die:

 

 

Männliche

 

Weibliche

 

Zusammen

Angestellten

115,6 %

245,7 %

118,9 %

Lohnarbeiter

  52,8 %

104,9 %

  62,6 %

Die Zunahme der weiblichen Lohnarbeiter war also eine doppelt so rasche wie die der männlichen.

Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt: die weiblichen Arbeiter sind im Vergleich zur Gesamtarbeitszahl in folgenden Gewerben:

Besonders häufig

Prozent aller Arbeiter
des Gewerbezweiges

 

Besonders selten

Prozent aller Arbeiter
des Gewerbezweiges

Beherbergungs- und Erquickungsgewerbe

66,9

Verkehrsgewerbe

0,9

Textilindustrie

50,8

Baugewerbe

1,1

Bekleidungs- und Reinigungsindustrie

37,6

Industrie und Maschinen

2,6

Papierindustrie

35,9

Bergbau

3,1

Handelsgewerbe

29,2

Tierzucht und Fischerei

4,0

Kunstgärtnerei

24,6

Industrie der Holz- und Schnitzstoffe

6,1

Nahrungs- und Genussmittelindustrie

20,1

Versicherungsgewerbe

6,4

Die Zunahme der Frauenarbeit ist ein sicherer Anzeiger der Zunahme des Elends. Aus ihm entsprossen, erzeugt sie neues Elend. Denn die kapitalistische Gesellschaft bildet keine höheren Formen des Haushalts, durch die der Einzelhaushalt ersetzt würde. Die Lohnarbeit der Frau führt zu ihrer eigenen Abrackerung, da zur Arbeit des Haushalts Lohnarbeit sich gesellt, zur Verkümmerung des proletarischen Haushalts, zur Verwahrlosung der proletarischen Jugend, zur Begünstigung des Wirtshausbesuchs, zur Vergeudung an Material aller Art durch die überbürdete, zu den Geschäften der Hauswirtschaft nicht erzogene, des Kochens und Nähens unkundige Lohnarbeiterin. Was nützt dem Lohnarbeiter das Steigen der Löhne, das Sinken der Getreidepreise, wenn seine Frau nicht mehr versteht, aus dem Mehle in sparsamer Weise wohlschmeckende, nahrhafte Gerichte zu bereiten! Was nützt ihm das Sinken des Preises von Kleidungsstücken, wenn seine Frau die abgetragenen nicht flicken kann, so dass er jetzt doppelt so viel anschaffen muss, wie ehedem! Wie leicht führt die Lohnarbeit der Frau zu physischem, nicht bloß sozialem Elend!

Aber freilich, diese Ursache zunehmender Degradation wird auch zu einer Ursache zunehmender Empörung, denn sie treibt die um Lohn arbeitende Frau in die Reihen des kämpfenden Proletariats, die als bloße Hausfrau seinem Ringen viel eher verständnislos gegenüber stünde.

Neben der Ausbeutung der Frauen durch Lohnarbeit ist auch die der jugendlichen Arbeitskräfte in Zunahme begriffen. Leider ging die Zählung der Erwerbstätigen unter 20 Jahren in der deutschen Berufsstatistik 1895 nach einem anderen Modus vor sich, als 1882, so dass die Entwicklung der Lohnarbeit einzelner Altersklassen unter 20 Jahren sich nicht verfolgen lässt. Wir können nur den Anteil der gesamten Altersklassen unter 20 Jahren an der Erwerbs- bzw. Lohnarbeit in den beiden Zählungsjahren miteinander vergleichen.

Da finden wir, dass unter 20 Jahre alt waren von je hundert Lohnarbeitern:

 

 

Landwirtschaft

 

Industrie

 

Handel

 

Zusammen

1882

 

1895

1882

 

1895

1882

 

1895

1882

 

1895

Lohnarbeiter

30,51

32,61

28,41

28,80

23,09

25,03

29,20

30,11

Die Wirkungen des Maschinenwesens und andere herabdrückende Faktoren zu behandeln, mangelt der Raum. Auf die Arbeitslosigkeit haben wir schon in einem anderen Zusammenhang hingewiesen. Hier sei nur noch eine zusammenfassende Stelle aus dem Kapital angeführt:

„Es zeigte sich im vierten Abschnitt bei Analyse der Produktion des relativen Mehrwerts, dass alle Methoden zur Steigerung der gesellschaftlichen Produktivkraft der Arbeit in der kapitalistischen Form sich auf Kosten des individuellen Arbeiters vollziehen; dass alle Mittel zur Entwicklung der Produktion in Beherrschungs- und Ausbeutungsmittel des Produzenten umschlagen, dass sie den Arbeiter in einen Teilmenschen verstümmeln, ihn zum Anhängsel der Maschine entwürdigen, mit der Qual der Arbeit ihren Inhalt vernichten, ihm die geistigen Potenzen des Arbeitsprozesses entfremden, im selben Maße, worin derselbe sich die Wissenschaft als selbständige Potenz einverleibt; dass sie die Bedingungen, innerhalb deren er arbeitet, beständig anormaler machen, ihn während des Arbeitsprozesses der kleinlichst gehässigen Despotie unterwerfen, seine Lebenszeit in Arbeitszeit verwandeln, sein Weib und Kind unter das Juggernautrad des Kapitals schleudern. Aber alle Methoden zur Produktion des Mehrwerts sind zugleich Methoden der Akkumulation, und jede Ausdehnung der Akkumulation wird umgekehrt Mittel zur Entwicklung jener Methoden. Es folgt daher, dass im Maße, wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, sich verschlechtert. Das Gesetz endlich, welches die relative Überbevölkerung oder industrielle Reservearmee stets mit Umfang und Energie der Akkumulation in Gleichgewicht hält, schmiedet den Arbeiter fester an das Kapital, als den Prometheus die Keile des Hephästos an den Felsen. Es bedingt eine der Akkumulation von Kapital entsprechende Akkumulation von Elend. Die Akkumulation von Reichtum auf dem einen Pol ist also zugleich Akkumulation von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit, Brutalisierung und moralischer Degradation auf dem Gegenpol, das heißt, auf Seite der Klasse, die ihr eigenes Produkt als Kapital produziert.“ (Kapital, 1, 2. Aufl., S. 671)

Von einem Sinken der Löhne spricht Marx da nicht. Manche der Tendenzen, die er hier schildert, z. B. die auf Verwandlung der Lebenszeit des Arbeiters in Arbeitszeit, haben seitdem einige Einschränkungen erfahren, aber die weitaus meisten sind heute noch so wirksam wie nur je, und sie berechtigen uns vollauf, von einem Wachstum der Masse des Elends, der Knechtschaft, der Degradation, der Ausbeutung zu sprechen. Dieser Satz kann jedoch noch in einem dritten Sinne verstanden werden.

Wir haben bisher nur von der Lohnarbeiterklasse gehandelt, aber Marx spricht in dem Paragraphen über die Tendenzen der kapitalistischen Akkumulation auch von anderen Klassen des Volkes.

Ist die Lage der Proletarier eine elende und geknechtete, so muss die Masse des Elends und der Knechtschaft innerhalb des gesamten Volkes in dem Grade wachsen, in dem das Proletariat an Zahl den übrigen Volksklassen gegenüber zunimmt; und dass es allenthalben wächst, ist eine unleugbare Tatsache.

Aber die Zunahme der Zahl der Proletarier im Volke ist selbst wieder nur ein Symptom, freilich auch wieder eine Ursache wachsenden Elends in den anderen Volksklassen.

Auf Gebieten, die der kapitalistischen Industrie neu erobert werden und auf ihren Grenzgebieten – das Wort „Gebiet“ hier im ökonomischen wie im geographischen Sinne genommen – äußert sich diese verelendende Wirkung des Kapitalismus besonders energisch und massenhaft, in einer Weise, die nicht bloß soziales, sondern hochgradiges physisches Elend, direkten Hunger, Entbehrung des Notwendigsten, völliges Verkommen herbeiführt.

Das ist eine bekannte und auch allgemein anerkannte Erscheinung. Aber der bürgerliche Ökonom tröstet sich auch hier damit, dass sie bloß vorübergehend sei, dass sie bloß ein Übergangsstadium darstelle, der dann die Erhebung der herabgedrückten Volksklassen folge.

Das ist richtig für einzelne Gegenden und Industriezweige, nicht aber für die Gesamtheit der kapitalistischen Gesellschaft. Eine Erhebung aus physischem Elend tritt allerdings früher oder später für viele Schichten der Lohnarbeiterschaft ein. Aber die kapitalistische Produktionsweise ist in ständigem Fortschreiten begriffen, erobert beständig neue Gewerbszweige und neue Gegenden, in denen sie die Besitzer von selbständigen Kleinbetrieben degradiert, proletarisiert, ins Elend schleudert, und dieser Prozess kann kein Ende nehmen, außer mit der kapitalistischen Produktionsweise selbst, denn diese kann nur existieren durch beständige Erweiterung ihres Bereichs.

Bernstein weist mit Befriedigung darauf hin, wie zahlreich noch der Kleinbetrieb allenthalben sei. Wir haben gesehen, wie wenig diese Tatsache gegen die Konzentration des Kapitals beweist. Wohl aber beweist sie etwas für die „Verelendungstheorie“. Die Kleinhandwerker, Kleinkrämer, Zwergbauern, sie verelenden immer mehr. Steigt die Lebenshaltung der Bourgeoisie schneller als die der Lohnarbeiterschaft, so erhebt sich diese, wenigstens in einzelnen Schichten, über die der Inhaber kleiner Betriebe. Die anscheinend selbständigen zwerghaften Existenzen hören immer mehr auf, das Mittelglied zwischen Bourgeoisie und Proletariat zu sein, sie werden das Mittelglied zwischen Lohnarbeiterschaft und Lumpenproletariat. Ihnen und nicht dem Lohnproletariat strömt immer mehr die Überbevölkerung zu. So erneuert sich der Kleinbetrieb immer wieder, findet immer wieder neue Rekruten, wie viele Lücken auch der in seinen Reihen grassierende Bankrott reißen mag. Der Kleinbetrieb verschwindet nicht, aber er verkommt.

Aber noch rascher und auffallender und unbestrittener wächst das Elend in jenen Ländern, die dem kapitalistischen Regime neu erschlossen werden. Nun mag man freilich meinen, es brauche die Arbeiter Deutschlands, Englands, Frankreichs, Amerikas wenig zu interessieren, was im Ausland geschehe. Sie seien Mustermenschen im Sinne der ethischen Nationalökonomie, also mit einem gesunden und kurzsichtigen Egoismus begabt. Was kümmere es sie, wenn Hunger und Elend in Italien, in den slawischen und ungarischen Landesteilen Österreichs, in den Balkanländern, in Russland, in China, in Ostindien zunehmen? Wenn nur ihre eigene Lage sich verbessere, dann könnten sie wohl mit der kapitalistischen Gesellschaft zufrieden sein.

Diese famosen „Praktiker“ und „Ethiker“ vergessen, dass es kaum ein Land gibt, das nicht noch Gegenden aufweist, die, wenig berührt von kapitalistischer Großindustrie, weite Verelendungsgebiete darstellen. Ob Irland schon aufgehört hat, ein solches für England zu sein, ist sehr fraglich. Die stete Abnahme seiner Bevölkerung weist nicht darauf hin. Deutschland hat noch sein Schlesien, die amerikanische Union noch ihre Südstaaten.

Aber auch die internationale Solidarität des Proletariats ist kein leerer Wahn. Je tiefer das Elend in den einen Gegenden, je höher die proletarische Lebenshaltung in den anderen, je entwickelter die Kommunikationsmittel, desto mehr strömen die verelendeten Massen in die Gebiete höherer Lebenshaltung. Verelenden die Italiener, Polen, Slowaken, Kulis, so exportieren sie ihr Elend in Länder einer höheren Kultur, eines entwickelten Widerstands gegen die degradierenden Tendenzen des Kapitals; sie drücken diese Kultur herab und lähmen diesen Widerstand.

Die Frage der „Verelendung“ ist, wie man sieht, keine einfache, sondern eine sehr komplizierte. Das Elend nimmt die verschiedensten Formen an und jede dieser Formen hat ihre besonderen Bewegungen, aber sie alle enden in dem Resultat: Verschärfung der sozialen Gegensätze, Verschärfung des proletarischen Kampfes gegen das kapitalistische Joch.

Wir haben gesehen, wie die kapitalistische Produktionsweise dort, wo sie einen Gewerbszweig oder ein Land neu ergreift, eine Masse physischen Elends schafft; in Gewerbszweigen und Gegenden, in denen sie hochentwickelt, gewinnen die Widerstände gegen die physische Verelendung namentlich durch Erstarken des Proletariats allmählich die Oberhand über die herabdrückenden Tendenzen, aber die soziale Verelendung nimmt auch dort ihren Fortgang durch den Fortschritt der Arbeitsteilung und des Maschinenwesens, welche die Arbeit monoton und widerwärtig machen, durch Ausdehnung der Frauenarbeit, vielfach auch der Kinderarbeit, Verdrängung qualifizierter Arbeit, durch Vermehrung der Existenzunsicherheit, durch das Zurückbleiben der Erhöhung proletarischer Lebenshaltung hinter der gleichzeitigen Erhöhung bürgerlicher Lebenshaltung. Besonders auserlesenen, vom Glück begünstigten Arbeiterschichten mag es vielleicht vergönnt sein, auch dies Stadium der Verelendung zu überwinden und zu einer Lebenshaltung aufzusteigen, die selbst an bürgerlichem Maßstabe gemessen nicht elend zu nennen ist. Aber auch für sie bleibt die das ganze kapitalistische Getriebe beherrschende Tendenz nach Verelendung bestehen; sie sind beständig der Gefahr ausgesetzt, durch eine Krisis, eine Erfindung, eine Fabrikantenkoalition, die Konkurrenz tiefer stehender Arbeiterschichten aus ihrer privilegierten Stellung vertrieben und in das allgemeine Klassenelend herabgestoßen zu werden. Also überall Elend in der kapitalistischen Produktionsweise, eine um so größere Masse des Elends, je mehr Proletarier vorhanden sind, je mehr Kleinbetriebe vom Kapital degradiert oder abhängig gemacht werden, aber auch desto mehr Kampf gegen das Elend, desto mehr Empörung der Arbeiterklasse gegen die kapitalistische Herrschaft.

Das ist nach meiner Auffassung jene Marxsche Theorie, die von den Kritikern des Marxismus die Verelendungstheorie genannt wird. Bernstein erklärt sie für abgetan, aber er hat nicht gezeigt, was gegen sie spricht, ja er hat nicht einmal gezeigt, was unter ihr zu verstehen ist.

Die Bewegungen der verschiedenen Formen des Elends, die wir hier angedeutet, sind sämtlich mit den im Kapital niedergelegten Marxschen „Dogmen“ vereinbar, sie sind in ihren wesentlichsten Momenten gerade dort auf klassische Weise erforscht. Es bliebe uns also nur noch zu untersuchen, ob die hier geschilderten Tendenzen in dem einen Satze des Kapital den präzisesten Ausdruck gefunden. Diese Wortklauberei kann ich mir wohl ersparen. Mir erscheint die Fassung dieses Satzes für jeden, der das Kapital selbst kennt, vollkommen klar, unzweideutig und unanfechtbar, ich habe ihn auch nie in einem anderen als dem hier entwickelten Sinne aufgefasst. Aber diese Frage ist von sehr sekundärer Bedeutung. Die Ausführungen des Kapital über die Entwicklung der Lage des Proletariats werden nicht dadurch widerlegt, dass Bernstein die Worte Elend und Degradation in dem Sinne auslegt, in dem sie am wenigsten mit der Wirklichkeit stimmen.

Wenden wir uns von der Verelendungstheorie wieder zu der Frage: wo bleibt der steigende Reichtum der kapitalistischen Gesellschaft, so können wir nun auf sie antworten: Jene Theorie schließt keineswegs aus, dass ein Teil des Reichtumszuwachses auch den arbeitenden Klassen zufällt. Allerdings hat die kapitalistische Produktionsweise stetig die Tendenz, die Lohnarbeiterschaft wie die übrige Volksmasse herabzudrücken und sie erzeugt dadurch immer wieder neues Elend, aber sie erzeugt auch Tendenzen, die das Elend einzuschränken suchen. Es ist nicht das physische, sondern das soziale Elend, das beständig wächst, nämlich der Gegensatz zwischen den Kulturbedürfnissen und den Mitteln des einzelnen Arbeiters, ihnen zu genügen, mit anderen Worten, die Masse der Produkte, die auf den Kopf des Arbeiters entfallen, kann zunehmen, der Anteil des Arbeiters an der von ihm geschaffenen Produktenmenge nimmt ab.
 

g) Der neue Mittelstand

Ehe wir uns von dem Thema der Zunahme der Besitzenden zu einem anderen wenden, wollen wir noch kurz die Auffassung untersuchen, als meine Bernstein mit dieser Zunahme nicht die der Kapitalisten, sondern die jener Schichten der Bevölkerung, die ihrem Einkommen nach die mittleren bilden. Das würde es allerdings erklären, warum er auf die Einkommensteuerstatistik so großen Wert legt, die doch über die Besitzesverteilung gar nichts sagt. Auch weisen manche seiner Äußerungen auf eine derartige Auffassung hin, wenn er auch an anderen Stellen unzweideutig von der Zunahme der Zahl der Kapitalisten spricht.

Hätte Bernstein nichts Weiteres sagen wollen, als dass der Mittelstand nicht ausstirbt, sondern nur an Stelle des alten ein neuer tritt, an Stelle der selbständigen Handwerker und kleinen Kaufleute die „Intelligenz“, so hätten wir ihm das ohne weiteres zugegeben. Ich darf hier wohl darauf hinweisen, dass ich schon 1895 in einer Artikelserie der Neuen Zeit über Die Intelligenz und die Sozialdemokratie das Auftauchen dieses Mittelstandes anerkannte und es für eine der wichtigsten Aufgaben unserer Partei bezeichnete, die Bedingungen der Gewinnung dieser Bevölkerungsschicht zu studieren. „Ein neuer, an Zahl sehr starker und ununterbrochen zunehmender Mittelstand bildet sich, dessen Wachstum im Stande ist, unter Umständen den Rückgang des gesamten Mittelstandes zu verdecken, der durch den Niedergang des Kleinbetriebs verursacht wird.“ (Neue Zeit, XIII, 2, S. 16)

Die Hauptursache des Anwachsens dieser Bevölkerungsschicht rührt daher, dass die herrschenden und ausbeutenden Klassen ihre Funktionen immer mehr an bezahlte intelligente Arbeiter übertragen, die ihre Leistungen entweder nach Stück – Ärzte, Advokaten, Künstler – oder gegen festes Gehalt verkaufen, Beamte aller Art. Im Mittelalter lieferte die Geistlichkeit die Gelehrten, die Ärzte, die Künstler und einen Teil der Verwaltungsbeamten, der Adel besorgte ebenfalls Geschäfte der öffentlichen Verwaltung, des Gerichts und Polizeiwesens und vor allem den Kriegsdienst. Durch das Aufkommen des modernen Staates und der modernen Wissenschaft wurden den beiden genannten Klassen ihre Funktionen genommen, diese Klassen aber blieben, sie verloren nur mit ihrer sozialen Bedeutung zum größten Teil auch ihre Unabhängigkeit.

Die ihnen abgenommenen Funktionen selbst aber wurden seitdem immer mehr erweitert und die Zahl der sie besorgenden Arbeitskräfte wächst von Jahr zu Jahr, je größer die Aufgaben werden, welche die soziale Entwicklung dem Staat, den Gemeinden, der Wissenschaft stellt.

Aber auch die Kapitalistenklasse hat schon frühzeitig angefangen, sich ihrer Funktionen in Handel und Industrie zu entledigen und sie an bezahlte Arbeiter, Kaufleute und Techniker zu übertragen. Zuerst waren diese nur Hilfsarbeiter des Kapitalisten, denen er solche Teile seiner Funktionen der Überwachung, Antreibung, Organisierung der Arbeit, des Ankaufs der Produktionsmittel, des Verkaufs der Produkte übertrug, die er bei den wachsenden Anforderungen an spezielle Ausbildung der einzelnen Funktionen nicht bewältigen konnte, schließlich aber wurde der Kapitalist völlig überflüssig gemacht durch das Aktienwesen, das sogar die Oberleitung des Unternehmens einem Mietling übergibt. Dass das Aktienwesen dazu beiträgt, die Zahl der gut bezahlten Angestellten zu vermehren, und dass es auf diese Weise die Bildung des Mittelstandes fördert, daran ist gar nicht zu zweifeln. Wenn Bernstein mittlere Einkommen und Besitzende einander gleichsetzt, dann kann er allerdings sagen, dass die Aktiengesellschaften zu ihrer Vermehrung beitragen – aber nicht durch die Zersplitterung der Kapitalien, die sie ermöglichen.

Die Intelligenz ist diejenige Bevölkerungsschicht, die am raschesten anwächst. Nach der deutschen Gewerbezählung wuchs im Gewerbe von 1882 bis 1895 die Zahl der Lohnarbeiter um 62,6 Prozent, die der Angestellten dagegen um 118,9 Prozent. Indes war dieses rasche Anwachsen noch nicht genügend, den relativen Rückgang des Unternehmertums zu paralysieren, das absolut nur um 1,3 Prozent wuchs. Vom Betriebspersonal waren in Prozenten

 

 

1882

 

1895

Unternehmer

39,6

28,7

Angestellte

   2,8

   4,4

Lohnarbeiter

57,6

 66,9

Also selbst wenn wir die Angestellten mit den Unternehmern zusammen als „Besitzende“ rechnen wollten, wäre ihr Prozentsatz 1882 bis 1895 von 42,4 auf 33,1 gesunken. Auch bei dieser Rechnung kämen wir nicht zu dem Bernsteinschen Resultat.

Das Ergebnis bleibt das Gleiche, wenn wir, wie die Berufsstatistik es gestattet, auch die Landwirtschaft in Betracht ziehen. Man zählte im deutschen Reiche von je 100 Erwerbstätigen:

 

Selbstständige

Angestellte

    Arbeiter    

Landwirtschaft

1882

27,78

  0,81

71,41

1895

30,98

  1,16

67,86


Industrie

1882

34,41

  1,55

64,04

1895

24,90

  3,18

71,92


Handel

1882

44,67

  9,02

46,31

1895

36,07

11,20

52,73


Zusammen

1882

32,03

  1,90

66,07

1895

28,94

  3,29

67,77

Langsamer als die Zunahme der Angestellten im Gewerbe, aber immer noch schneller als der Bevölkerungszuwachs (14,5 Prozent) war die Zunahme der Beamten im Staats-, Gemeinde-, Kirchendienst und der in den freien Berufsarten Beschäftigten. Ihre Zahl wuchs von 579.322 auf 794.983, um 37,2 Prozent.

Diese Elemente sind also in raschem Zunehmen begriffen. Aber wir begingen einen gewaltigen Irrtum, wollten wir sie einfach den Besitzenden zuweisen. Der neue Mittelstand erwächst auf ganz anderen Grundlagen als der alte, der das feste Bollwerk des Privateigentums an den Produktionsmitteln bildete, weil darauf seine Existenz beruhte.

Auf ganz anderer Grundlage ruht der neue Mittelstand. Das Privateigentum an den Produktionsmitteln spielt für ihn meist keine Rolle. Dort, wo er als selbständiger Arbeiter fungiert, sind sie fast stets von minimalem Werte – z. B. bei Malern, Ärzten, Schriftstellern. Dort, wo die Produktionsmittel als Kapital fungieren, treten die „Kopfarbeiter“ in ihrer Masse als Lohnarbeiter, nicht als Kapitalisten auf.

Allerdings wäre es ebenso unrichtig, den neuen Mittelstand ohne weiteres dem Proletariat zuzurechnen.

Er ist aus der Bourgeoisie hervorgegangen, mit ihr durch die mannigfachsten verwandtschaftlichen und sozialen Bedingungen verbunden, steht ihr in der Lebenshaltung gleich. Und eine ganze Reihe von Berufen der Intelligenz sind noch enger mit ihr verknüpft, das sind jene, die den Kapitalisten dadurch überflüssig machen, dass sie seine Funktionen als Direktoren und Unterbeamte seiner Betriebe übernehmen. Aber mit den Funktionen des Kapitalisten kommt auch seine Gesinnung über sie, sein Gegensatz gegen das Proletariat. Bei einer anderen Reihe von Berufen der Intelligenz involviert die Berufstätigkeit die Bekundung einer bestimmten politischen oder religiösen Gesinnung. Das ist der Fall bei politischen Journalisten, manchen Gerichtsbeamten, z. B. Staatsanwälten, bei Polizisten, Geistlichen usw. Vom Staate, der Kirche, den kapitalistischen Verlegern etc. werden in diesen Berufen nur Leute beschäftigt, welche entweder die Gesinnung ihrer „Arbeitgeber“ teilen oder bereit sind, eine fremde Gesinnung gegen Bezahlung zu vertreten. Auch daraus ergibt sich ein Gegensatz zahlreicher „Intelligenzen“ gegen das Proletariat.

Aber der am weitesten greifende Gegensatz zwischen Intelligenz und Proletariat wird dadurch erzeugt, dass die erstere eine privilegierte Klasse bildet. Ihre bevorzugte Stellung beruht auf dem Privilegium der Bildung. Sie hat wohl alles Interesse daran, dass die Volksmasse weit genug gebildet sei, um die Bedeutung der Wissenschaft zu begreifen und sich vor ihr und ihren Vertretern zu beugen, aber ihr Interesse gebietet ihr, allen Bestrebungen entgegenzutreten, die den Kreis der einer höheren Fachbildung Teilhaftigen erweitern.

Wohl bedarf die kapitalistische Produktionsweise großer Massen von Intelligenzen. Die Schuleinrichtungen des Feudalstaats reichten nicht aus, sie zu produzieren. Das bürgerliche Regime hat daher überall auf eine Verbesserung und Erweiterung nicht bloß des niederen, sondern auch des höheren Unterrichts hingedrängt. Man glaubte, damit nicht nur die Entwicklung der Produktion zu fördern, sondern auch die Klassengegensätze zu mildern; denn da höhere Bildung zu einer bürgerlichen Stellung emporhob, erschien es als selbstverständlich, dass allgemeine Verbreitung höherer Bildung eine allgemeine Hebung des Proletariats zu bürgerlichen Lebensbedingungen bedeuten würde.

Aber der bürgerliche standard of life ist bloß dort das notwendige Korrelat der höheren Bildung, wo diese ein Privilegium. Wo sie allgemein wird, hebt sie nicht den Proletarier ins Bürgertum, sondern degradiert sie den „Kopfarbeiter“ zum Proletarier. Auch das ist eine Teilerscheinung des Verelendungsprozesses der Volksmasse.

In Ländern, in denen die Volksbildungsanstalten weit genug entwickelt sind, um der Bildung ihre bisherige privilegierte Stellung zu rauben, beginnt daher Bildungsfeindlichkeit in der Intelligenz sich einzunisten. Diese bildungsfeindlichen Schichten geraten damit in Gegensatz zu den Bedürfnissen der modernen Produktionsweise, sie werden fortschrittsfeindlicher als die Kapitalisten selbst, und finden sich mit den reaktionärsten der Reaktionäre, mit Zünftlern und Agrariern zusammen. Es ist die Blüte der modernen Wissenschaft, es sind Professoren und Studenten der Universitäten, die am meisten gegen das Frauenstudium eifern, die die jüdische Intelligenz von aller Mitbewerbung um Stellen und Funktionen ausgeschlossen sehen möchten, die danach trachten, das höhere Studium möglichst zu verteuern und die Unbemittelten davon auszuschließen.

Hierbei stoßen sie auf die energischste Gegnerschaft des Proletariats, das, wie jedes Privilegium, so auch das der Bildung aufs Entschiedenste bekämpft.

Trotz aller Hindernisse macht die Ausbreitung der Volksbildung Fortschritte, damit verfällt aber eine Schicht der Intelligenz nach der anderen der Proletarisierung. Man bedenke die Unmasse von Kaufleuten, die unsere Handelsschulen, der Musiker, die unsere Musikschulen, der Bildhauer und Zeichner, die unsere Kunstschulen, der Mechaniker und Chemiker, die unsere Gewerbeschulen jahraus jahrein produzieren. Und der kapitalistische Konzentrationsprozess setzt auch auf den Gebieten des Handels, der Kunst, der angewandten Wissenschaft ein, die Kapitalsumme wird immer größer, die notwendig ist, auf diesen Gebieten ein selbständiges lebensfähiges Unternehmen zu begründen. In demselben Maße also, in dem die Zahl der gelernten Arbeitet auf diesen Gebieten wächst, vermindern sich die Aussichten für sie, selbständige Unternehmer zu werden, wird immer mehr lebenslängliche Lohnarbeit ihr Loos. Gleichzeitig kommt aber in Folge der raschen Vermehrung der geschulten Arbeiter für eine der Schichten der Intelligenz nach der anderen die Zeit, in der es hoffnungslos für sie wird, durch zünftige Absperrung und künstliche Beschränkung des Kreises der Konkurrenten auf einen grünen Zweig kommen zu wollen. Auch hier beginnt der Prozess sozialer Verelendung, der um so schmerzlicher empfunden wird, weil das eigene Elend direkt an der steigenden Lebenshaltung der Bourgeoisie gemessen wird. Diese Lebenshaltung wenigstens zum Scheine aufrecht zu halten, ist eine Lebensfrage für den Kopfarbeiter. Äußert sich beim Handarbeiter physische Verelendung vor allem im Schlechterwerden der Wohnung, dann in der Kleidung, erst zuletzt in der Nahrung, so ist es beim Kopfarbeiter umgekehrt. Bei der Nahrung wird zuerst gespart.

Aber so sehr man am bürgerlichen Scheine hängt, für jede dieser proletarisierten Schichten der Intelligenz kommt die Zeit, wo sie ihr proletarisches Herz entdeckt, Interesse am proletarischen Klassenkampf gewinnt und schließlich tatkräftig an ihm teilnimmt. So die Handlungsgehilfen, die Bildhauer, die Musiker. Weitere werden folgen.

Wenn die liberale Ökonomie auf das rasche Anwachsen der „Intelligenz“ hinweist als Zeichen davon, dass die kapitalistische Produktionsweise einen eigenen Mittelstand schafft, so vergisst sie, dass, je schneller dies Anwachsen vor sich geht, desto rascher auch der Prozess der Proletarisierung innerhalb des neuen Mittelstandes sich vollzieht.

Zwischen den entschieden antiproletarischen, kapitalistisch gesinnten und den entschieden proletarisch fühlenden Schichten der Intelligenz bleibt aber eine breite Schicht, die weder proletarisch noch kapitalistisch fühlt, ihrer Ansicht nach über den Klassengegensätzen steht.

Diese Mittelschicht der neuen Mittelschicht hat mit dem alten Kleinbürgertum die Zweideutigkeit der sozialen Stellung gemein. Sie ist daher dem Proletariat gegenüber ebenso unverlässlich und wankelmütig, wie dieses. Entrüstet sie sich heute über die Habgier des Kapitals, so morgen über die schlechten Manieren des Proletariats. Ruft sie dieses heute zur Wahrung seiner Menschenwürde auf, so fällt sie ihm morgen zur Wahrung des sozialen Friedens in den Rücken.

Aber zwei Momente unterscheiden sie, das eine in günstiger, das andere in ungünstiger Weise, vom alten Kleinbürgertum. Sie unterscheidet sich von ihm einmal durch ihren weiten geistigen Horizont und ihr geschultes Vermögen abstrakten Denkens. Sie ist jene Bevölkerungsschicht, die am leichtesten dahin kommt, sich über Klassen- und Standesborniertheit zu erheben, sich idealistisch erhaben zu fühlen über Augenblicks- und Sonderinteressen und die dauernden Bedürfnisse der gesamten Gesellschaft ins Auge zu fassen und zu vertreten.

Aber auf der anderen Seite unterscheidet sie sich vom alten Kleinbürgertum durch den Mangel an Kampffähigkeit. War das Kleinbürgertum, ehe das Kapital ihm das Rückgrat gebrochen, eine höchst kampffähige und kampfeslustige Klasse, so entbehren dagegen die zwischen Proletariat und Kapitalismus stehenden Schichten der Intelligenz aller Mittel, gegen die herrschenden Klassen einen ausdauernden Kampf zu führen. Schwach an Zahl, ohne einheitliche Klasseninteressen und daher auch ohne geschlossene Organisation, ohne größeren Besitz, aber mit den Bedürfnissen einer kapitalistischen Lebenshaltung, können sie nur kämpfen im Anschluss an andere Klassen, die selbst vermögend genug sind, ihnen die Mittel des Kampfes und der Existenz zu gewähren. Die Mittelschicht der Intelligenz, die „geistige Aristokratie“, konnte daher in Masse oppositionell sein, so lange das Bürgertum oppositionell war; sie verliert ihre oppositionelle Kampfeslust und Kampfesfähigkeit, wo dieses sich politisch zur Ruhe setzt, sie wird zimperlich und zaghaft, erklärt alle Mittel des Fortschritts, außer der Gewinnung des Wohlwollens der Machthaber durch Überredung, für unmoralisch, wird feig und byzantinisch.

Der Klassenkampf ist ihnen verhasst, sie predigen seine Beseitigung oder doch seine Abschwächung. Der Klassenkampf, das ist ihnen die Auflehnung, die Rebellion, die Revolution; sie soll überflüssig gemacht werden durch die soziale Reform.

Es war ohne jede polemische Spitze gegen Bernstein, dessen Wandlung damals erst sich vorbereitete, als ich meinte,

„dass es unter denen, die nicht direkt an der kapitalistischen Ausbeutung interessiert sind, kaum noch einen selbständig denkenden und ehrlichen Gebildeten gibt, der nicht auf dem ‚sozialpolitischen‘ Standpunkt stünde, welcher besagt, es muss etwas geschehen für die Arbeiter – welches ‚etwas‘ allerdings die verschiedensten Dinge bezeichnen kann. Stumm und Eugen Richter, der patriarchalisch-absolutistische Unternehmer und der Manchestermann, haben in der Intelligenz keinen Anhang mehr, der ins Gewicht fiele. Die Anklage gegen das Kapital und die Sympathie mit dem Proletariat – mindestens mit dem ausgebeuteten, wenn auch nicht mit dem kämpfenden Proletariat – sind in die Mode gekommen, und Harcourts Wort: Wir sind heute alle Sozialisten, beginnt für diese Kreise wahr zu werden. Allerdings ist es nicht der proletarische, revolutionäre Sozialismus, dem unsere Dichter und Maler, unsere Gelehrten und Journalisten etc. in ihren Salons und Cafes, ihren Ateliers und Hörsälen, huldigen, sondern eine Sorte Sozialismus, die verzweifelt viel Ähnlichkeit mit dem ‚wahren Sozialismus‘ hat, den das Kommunistische Manifest 1847 kennzeichnete.

„Vielfach erklären diese Elemente, von der Sozialdemokratie trenne sie nichts, als die proletarische Brutalität, aber was sie in Wahrheit abstößt, ist nicht eine Äußerlichkeit, sondern der eigene Mangel an Einsicht oder Charakter. Wenn sie auch an Einsicht den bornierten Kapitalisten weit überragen, so begreifen sie doch noch nicht, dass es unmöglich ist, die bestehende Gesellschaft zu retten und den Sieg des Proletariats aufzuhalten, sie begreifen nicht ihre Ohnmacht dem gesellschaftlichen Entwicklungsgang gegenüber, oder es fehlt ihnen die nötige Selbstlosigkeit, Mut und Kraft, sich das einzugestehen und mit der bürgerlichen Gesellschaft zu brechen.“ (Neue Zeit, XIII, 2, S. 76, 77)

Nur wenige wagen diesen Bruch und können ihn wagen. Wohl hat das Proletariat treue Freunde auch unter den Rittern vom Geiste, aber es sind stille Anhänger, die ihm Sieg wünschen, jedoch offen erst dann hervortreten können, wenn ihm der Sieg zugefallen. Auf starken Zuzug von Kämpfern hat es aus den Reihen der Geistesritter nicht zu rechnen, aber es hat auch nur wenige hartnäckige Widersacher aus ihren Reihen zu fürchten.

Diese wenigen Andeutungen zeigen schon, dass die anwachsende Intelligenz eine Klasse ist, die für das kämpfende Proletariat wichtige und interessante Probleme in sich birgt. Sie ganz für das Proletariat in Anspruch zu nehmen, wäre übertrieben, aber noch irriger wäre es, sie einfach den „Besitzenden“ zuzurechnen. Wir finden in dieser Schicht in engem Rahmen alle die sozialen Gegensätze vereinigt, die die gesamte kapitalistische Gesellschaft kennzeichnen, wir finden aber auch in diesem Mikrokosmos ebenso wie im gesellschaftlichen Gesamtkörper das proletarische Element im Fortschreiten.

Damit wäre auch der letzte Einwand Bernsteins gegen das, was er die Marxsche Zusammenbruchstheorie nennt, erledigt.

Die Zunahme des neuen Mittelstands der Intelligenz ist ebenso wenig zu leugnen, wie die Zunahme des physischen Wohlstands einzelner Arbeiterschichten. Aber weder die eine noch die andere Erscheinung steht im Widerspruch zu den Marxschen Lehren von der Konzentration des Kapitals, der Zunahme der Ausbeutung des Proletariats und der Verschärfung der sozialen Gegensätze. Wohl stünde die Zunahme der Zahl der Besitzenden im Widerspruch mit der Zusammenbruchstheorie. Diese Zunahme hat aber Bernstein nicht erwiesen. Die Zahlen der Statistik ebenso wie die Erwägungen der Theorie sprechen dagegen.
 

h) Die Krisentheorie

Gegenüber der Theorie von der Konzentration des Kapitals und von der Verschärfung der sozialen Gegensätze ist die Theorie der periodischen wirtschaftlichen Krisen nur sekundärer Natur. Sie verstärken die Wirkungen der erstgenannten Entwicklung, beschleunigen den Konzentrationsprozess des Kapitals, vermehren die Masse der Proletarier und die Unsicherheit ihrer Lage. Aber an dem Endergebnis dieser Entwicklung würde es nichts ändern, wenn die periodischen Krisen nicht notwendig im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise begründet wären.

Indes geht Bernstein nicht so weit, dies mit Bestimmtheit zu behaupten. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass er in einem seiner Artikel über Probleme des Sozialismus die Krisentheorie eines großen Unbekannten bekämpfte, derzufolge der Sozialismus das Resultat einer demnächst hereinbrechenden Weltkrise sein werde. Marx und Engels haben eine solche Behauptung nie aufgestellt; ebenso wenig ist sie in einer der bekannteren marxistischen Schriften zu finden. Trotzdem hat Bernstein die Ausführungen aus seinen Artikeln in seine Schrift über Die Voraussetzungen des Sozialismus hinübergenommen, aber ohne Bezugnahme auf die besondere Anschauung, gegen die sie ursprünglich gerichtet waren. Man wird daher über den Zusammenhang dieser Ausführungen mit der Untersuchung der Voraussetzungen: des Sozialismus nicht recht klar, und man fragt sich vergebens, was damit bewiesen werden soll, wenn gezeigt wird, dass eine Weltkrisis in nächster Zeit nicht unbedingt notwendig eintreten muss, und dass möglicher Weise die kommenden Krisen in der Form von Krisen einzelner Industriezweige und einzelner Länder auftreten. Ihre oben erwähnten verschärfenden Wirkungen blieben dieselben.

Man kann also die Krisen aus den von Bernstein untersuchten Voraussetzungen des Sozialismus ganz ruhig ausscheiden und wir dürfen über diese Frage um so eher zur Tagesordnung übergehen, als wir uns ihrer großen Schwierigkeiten bewusst sind, deren erfolgreiche Überwindung mehr Zeit und Raum in Anspruch nehmen würde, als uns im Moment zu Gebote steht.

Wenn wir trotzdem noch einige Bemerkungen darüber machen, geschieht es nur, um einige Missverständnisse aus dem Wege zu räumen, welche das Kapitel über die Krisen hervorgerufen.

Einige weise Leute haben es fertig gebracht, zu behaupten, Bernstein habe die Marxsche Krisentheorie vollständig überwunden, denn er habe nachgewiesen, dass der zehnjährige Krisenzyklus nicht existiere.

Darauf ist vor allem zu bemerken, dass der zehnjährige Krisenzyklus keine Theorie von Marx, sondern eine empirisch festgestellte Tatsache ist. Wir haben große industrielle Krisen 1815, 1825, 1836, 1847, 1857. Dann kamen die großen Kriege, der italienische Krieg, der amerikanische Sezessionskrieg, der dänische, der preußisch-österreichische, der deutsch-französische Krieg, seitdem ist der ungefähr zehnjährige Zyklus gestört. Die nächste allgemeine Krisis kam 1873, ihr folgte eine Depression von unerhört langer Dauer – anderthalb Jahrzehnte; endlich trat gegen das Ende der achtziger Jahre erneuter Aufschwung ein; nach wenigen Jahren wieder eine Periode allgemeinen ungünstigen Geschäftsgangs, mit starken Krisen einzelner Länder, so 1890 in Argentinien, 1893 in den Vereinigten Staaten; nun seit etwa drei Jahren haben wir wieder eine Zeit allgemeiner Prosperität. Ist sie der Vorbote einer neuen Krisis oder ist sie bestimmt, eine fortdauernde Ära ungetrübten kapitalistischen Glückes einzuleiten?

Die Börse bereitet sich bereits auf den kommenden Krach vor. Sie scheint weitsichtiger zu sein als manche unserer jüngeren Sozialisten, denen ein paar Jahre guten Geschäftsgangs genügen, die Erfahrungen des ganzen Jahrhunderts und die Theorien, in denen diese ihren Ausdruck gefunden, über Bord zu werfen. Einige mehr oder weniger sozialistische Theoretiker mögen die Marxsche Krisentheorie für überwunden halten. Die ganz bürgerlichen Praktiker rechnen bereits mit einer Krisis, die sie binnen wenigen Jahren erwarten.

Marx hat den Krisenzyklus nicht erfunden, sondern beobachtet und erklärt. Dass der Zyklus nicht mehr ein zehnjähriger ist, hat man lange vor Bernstein schon gewusst. Dieser behauptet auch gar nicht, den Marxisten damit etwas Neues gesagt zu haben. Die Frage ist nicht die, ob die Krisen alle zehn Jahre wiederkommen, sondern die, ob sie überhaupt zeitweise sich wiederholen müssen.

Denn das Element der Krisis ist mit der Warenproduktion von vornherein gegeben. Die Warenproduktion heißt Produktion durch Produzenten, die von einander unabhängig sind, für den Markt, das heißt, für die schwankenden Bedürfnisse einer unbestimmten Zahl von Konsumenten. Das regelnde Element in diesem anarchischen Produktionssystem ist das Schwanken der Preise; ist mehr produziert worden, als dem Bedarf entspricht, dann sinken die Preise, ist weniger produziert, dann steigen sie über ihr durchschnittliches Niveau. Die Unverkäuflichkeit der Waren zu ihrem Produktionspreis ist daher eine mit Notwendigkeit zeitweise eintretende Erscheinung der Warenproduktion, diese Unverkäuflichkeit bildet aber die Basis der Krise. Dass es zu einer wirklichen Krisis kommt, dazu gehören jedoch Bedingungen, die in den Anfängen der Warenproduktion fehlen und erst durch die kapitalistische Produktionsweise geschossen werden. Erst sie verwandelt immer mehr die gesamte Produktion in Warenproduktion, während vor ihr der wesentlichste Teil der Produktion dem Selbstverbrauch diente. Erst durch sie wird also die ökonomische Existenz der Masse der Gesellschaft abhängig von dem ungehinderten Verkauf ihrer Waren. Dabei gestaltet sie durch das Fortschreiten der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und die Entwicklung des Kreditsystems die Abhängigkeit der einzelnen Produzenten voneinander zu einer immer engeren, so dass jede Störung des Warenabsatzes an dem einen Punkte. Störungen an anderen Punkten nach sich zieht, dass die Krisis einer einzelnen hervorragenden Massenindustrie das ganze industrielle Getriebe ins Stocken bringt und zu einer Kalamität der ganzen Nation, ja einer Reihe von Nationen wird.

Gleichzeitig verwandelt die kapitalistische Produktionsweise den engen, leicht übersichtlichen und kaum sich ändernden lokalen Markt der einfachen Warenproduktion in den ungeheuren, unübersichtlichen, unaufhörlichen Änderungen unterworfenen Weltmarkt und vermehrt die Zahl der Zwischenglieder, die sich zwischen Produzenten und Konsumenten drängen. So verliert der Produzent immer mehr die Übersicht über den Markt.

Dabei wächst die Elastizität der Produktivkräfte ungeheuer, dank der modernen wissenschaftlichen Technik und dem Kreditsystem, noch mehr aber der industriellen Reservearmee, die in der kapitalistischen Produktionsweise stets vorhanden ist und es ermöglicht, die Produktion: sprunghaft auszudehnen.

So führt jede erhebliche Vermehrung der Nachfrage zu raschester Erweiterung der Produktion weit über das vorhandene Bedürfnis hinaus, zur Überproduktion, der ein Stocken im Absatz, ein Sinken der Preise, eine Einschränkung der Produktion, zahlreiche Bankrotte und weitverbreitete Arbeitslosigkeit, also die Krise, folgen.

Mit dieser Bewegung verschlingt sich eine zweite, die nicht mit der ersterwähnten zusammenzuwerfen ist.

Im Unterschied zu jeder vorhergehenden Produktionsweise ist für die kapitalistische die stete Erweiterung zu einer Lebensbedingung geworden, denn Kapital und Arbeitskraft sind in ununterbrochenem, raschem Wachstum begriffen.

Schon die natürliche Vermehrung des Proletariats wird durch die kapitalistische Produktionsweise sehr begünstigt. Im zünftigen Handwerk, sowie in der Bauernschaft, wenigstens dort wo die verfügbare Bodenfläche beschränkt, ist die Volksvermehrung sehr gehemmt, da nur der Besitzer eines Betriebs im Stande ist, eine Familie zu gründen und zu erhalten. Der unselbständige Arbeiter gehört auf dieser Wirtschaftsstufe in der Regel zum Haushalt des Meisters oder Landwirts, er hat keinen eigenen Herd. Die kapitalistische Produktionsweise trennt allenthalben Wirtschaftsbetrieb und Haushalt, macht die Gründung des letzteren auch für den Proletarier möglich, macht es aber auch aussichtslos für ihn, mit dieser Gründung warten zu wollen, bis er Herr eines eigenen Betriebs geworden. Dieselbe Produktionsweise löst die Familie auf, treibt Weib und Kind in Fabrik und Werkstatt, macht den jungen Arbeiter früh selbständig, presst aber auch seine Arbeitskraft so aus, dass er früh invalid wird. Der Aufschub der Ehe für ein späteres Lebensalter war für den Gesellen oder Knecht geboten; er musste warten, bis er genug erspart, ein eigenes Anwesen zu erwerben. Für den Lohnarbeiter der kapitalistischen Produktionsweise dagegen ist ein Aufschub der Ehe nicht bloß zwecklos, sondern sogar irrationell, er hat um so weniger Aussichten, eine Familie von seinem Lohne zu erhalten, je älter er ist. Und die Frauen der Proletarierklasse entschließen sich um so leichter zur Ehe, als sie selbst verdienen, und da Mädchen und Jungen frühzeitig ökonomisch selbständig sind, werden die Eltern bei Eheschließungen nicht viel gefragt, die ehedem dabei mehr zu sagen hatten, als die beiden Beteiligten selbst.

Wohl wirken andere Faktoren in der kapitalistischen Produktionsweise der raschen Volksvermehrung entgegen, z. B. die Prostitution. Trotzdem finden wir in den groß-industriellen Staaten eine rasche Zunahme der Bevölkerung, so in Deutschland England, den Vereinigten Staaten, bei denen allerdings die Einwanderung, aber in schwindendem Maße, mitwirkt. Es betrug die Volkszahl:

Deutsches Reich

 

(1871)   41.100.000

 

(1895)   52.200.000

England und Wales

(1871)   22.700.000

(1896)   30.700.000

Vereinigte Staaten

(1870)   38.500.000

(1897)   72.200.000

Man erklärt, diese rasche Volkszunahme mache es notwendig, die Industrie ebenso rasch auszudehnen; das ist richtig, aber anderseits ist gerade diese rapide Volksvermehrung eine Folge der steten Ausdehnung des kapitalistischen Industrialismus.

Aber noch schneller als die Gesamtbevölkerung vermehrt sich die Zahl der Arbeitskräfte in ihr. Im Deutschen Reiche umfassten die Erwerbstätigen 1882 38,99 Prozent, 1895 dagegen 40,12 Prozent der Bevölkerung. Im gleichen Zeitraum verminderten sich die Angehörigen ohne Hauptberuf von 55,08 auf 53,15 Prozent. Dies ist namentlich der Zunahme der Frauenarbeit zuzuschreiben.

Dieselbe ökonomische Entwicklung, welche diese Zunahme der Arbeitskräfte bewirkt, vermindert die Zahl der Arbeitskräfte, die durch eine bestimmte Kapitalsumme beschäftigt werden können, vergrößert die Masse und den Wert der Maschinen, der Roh- und Hilfsmaterialien, die auf eine bestimmte Arbeiterzahl kommen. Soll also die gleiche oder gar eine wachsende Arbeiterzahl Beschäftigung finden können, so muss das in der Produktion angewandte Kapital stets und rasch wachsen.

Am Kapital fehlt’s nun nicht. Je größer die Produktivität der Arbeit, je zahlreicher die ungelernten, unreifen, weiblichen Arbeitskräfte, desto größer die Rate des Mehrwerts, desto rascher kann die Aufhäufung neuen Kapitals vor sich gehen. Dazu werden die Kapitalisten förmlich gezwungen, da im Laufe der ökonomischen Entwicklung in jedem Industriezweig die Minimalsumme des Kapitals steigt, die erforderlich ist, einen Betrieb konkurrenzfähig zu erhalten, und da, je wilder der Konkurrenzkampf, um so besser die Chancen des größeren, um so geringer die des kleineren Kapitals sind. Stete Vergrößerung der Betriebe, stete Erweiterung der Produktion sind also in der kapitalistischen Produktionsweise eine Lebensbedingung nicht nur für das Lohnproletariat, sondern auch für die Kapitalistenklasse.

Aber die Vorbedingung dazu ist eine entsprechende Erweiterung des Marktes, die Zunahme nicht bloß des physischen Bedarfs, die wäre von vornherein gegeben, sondern der ökonomischen Nachfrage, der kaufkräftigen Nachfrage nach den Massenprodukten der kapitalistischen Produktion, die doch danach drängt, den Wert dessen, was die arbeitenden Massen einzutauschen haben, ihrer Arbeitskraft, immer mehr herabzudrücken, so dass sie immer weniger von ihrem Produkt selbst kaufen können.

Die stete Ausdehnung des Marktes ist daher eines der wichtigsten Probleme für den industriellen Kapitalisten.

Der Markt ist ein doppelter: der innere und der äußere. Man hat in letzterer Zeit, wenn man von Ausdehnung des Marktes spricht, fast nur die des äußeren im Auge, aber mit Recht hat Sombart darauf hingewiesen, welche Bedeutung daneben die des inneren Marktes immer noch hat. Der hämische Ausfall gegen die Sozialdemokratie, mit dem er seine Ausführungen in der „Sozialen Praxis“ begleitete, war allerdings höchst überflüssig.

Wir sehen hier ab von der Verdrängung ausländischer Industrien vom inneren Markte durch Schutzzölle. Diese bedeutet eine Erweiterung dieses Marktes nur für die nationale kapitalistische Industrie, nicht für die gesamte, auf dem Weltmarkt in Betracht kommende Industrie.

Aber eine Erweiterung des inneren Marktes für die kapitalistische Industrie ist immer noch möglich durch Verdrängung der urwüchsigen Hausindustrie, ein Prozess, der zwar schon im vorigen Jahrhundert kraftvoll eingesetzt hat, aber auch heute noch kaum in irgendeinem Staate, selbst nicht im britischen Königreich gänzlich vollzogen ist. Dieser Prozess wird gefördert durch die Verbesserung der Kommunikationen, namentlich der Eisenbahnen, deren Bau selbst wieder für die kapitalistische Industrie von großer Bedeutung ist. Je mehr Eisenbahnen vorhanden, desto rascher der Zustrom vom Lande in die Stadt, desto reger die Bautätigkeit dieser, die ebenfalls wieder neue Nachfrage nach Arbeit und Materialien erzeugt. Das Abströmen der Arbeitskräfte vom Lande befördert wieder die Einführung arbeitssparender Maschinen in der Landwirtschaft, erweitert also den Markt für die Maschinenindustrie.

Große Veränderungen in der Technik sind überhaupt ein wichtiger Faktor der Gestaltung des inneren Marktes. Zu dem jetzigen industriellen Aufschwung hat wohl nicht wenig die Entwicklung der Elektrotechnik im letzten Jahrzehnt beigetragen, die zahlreiche Neuanlagen aller Art, für Zwecke der Beleuchtung, des Transports, der Industrie, ja hin und wieder sogar der Landwirtschaft hervorgerufen hat.

Es kann aber auch der innere Markt plötzlich sich ausdehnen durch rasche Vermehrung des Geldmetalls, selbst wenn dieses nicht im Lande selbst gefunden wird. Es genügt, dass die Besitzer der Gold- und Silberbergwerke im Lande wohnen. So wie die Goldfunde in Kalifornien und Australien mächtig dazu beitrugen, die Krisis von 1847 bis 1849 auch in Europa zu überwinden, so sind auch die Goldfunde in Südafrika an der Überwindung der Krisis von 1873 bis 1887 und der gegenwärtigen Prosperität beteiligt. Der jährliche Wert der Goldproduktion betrug in Millionen Mark:

1831 bis 1840

  56,6

    

1851 bis 1855

556,3

1841 bis 1850

152,8

1856 bis 1860

562,9

Von da an sank die Goldproduktion wieder, sie betrug 1881 bis 1885 jährlich im Durchschnitt 432 Millionen Mark. 1889 begann von neuem ein rapides Steigen:

1889

503,8 Mill. Mark

    

1892

594,7 Mill. Mark

    

1895

  813,9 Mill. Mark

1890

487,5 Mill. Mark

1893

672,7 Mill. Mark

1896

  828,2 Mill. Mark

1891

532,4 Mill. Mark

1894

736,5 Mill. Mark

1897

  961,0 Mill. Mark

 

1898

1224,0 Mill. Mark

Dieselben Methoden, die den inneren Markt erweitern, kommen auch zur Ausdehnung des äußeren in Betracht: Vernichtung der Produktion des Geldmetalls, Erweiterung und Verbesserung der Kommunikationen – Bau von Dampfern und Eisenbahnen –, Ruinierung der primitiven Hausindustrie und schließlich Einführung einer neuen Produktionsweise, Begründung einer Großindustrie in ökonomisch rückständigen Gegenden, welche die nötigen Maschinen aus den Ländern entwickelter Großindustrie beziehen.

Von 1891 bis 1895 nahm die Länge der Eisenbahnen zu in:

     

 

Prozent

 

Kilometer

Deutschland

6,8

2989

Frankreich

6,5

2476

Belgien

4,5

238

Großbritannien und Irland

3,5

1161

Dagegen in:

 

Russland

21,4

 

6675

Asien

22,1

7838

Afrika

25,2

2647

Die großartigen Bahnbauten in Sibirien und China waren 1895 noch in ihren Anfängen.

Auf dem Ruin der primitiven Hausindustrien beruht vor allem die Erweiterung des Marktes für die Textilindustrie. Dagegen beruht auf der Erweiterung und Verbesserung der Kommunikationsmittel und auf der Entwicklung der Großindustrie des Auslandes die Größe und Bedeutung der Eisenindustrie.

Die beiden hier skizzierten Bewegungen – der industrielle Zyklus, das heißt der Wechsel von Prosperität, Krise, Stagnation und Wiederbelebung des Geschäfts auf der einen Seite und andererseits der stete Drang nach Erweiterung der Produktion und ihres Absatzmarktes – verschlingen sich miteinander und erscheinen als eine einzige Bewegung. Jede größere Erweiterung des Marktes wirkt stimulierend auf die Produktion ein, treibt diese zur Überproduktion und zur Krise. Umgekehrt bietet jede Krise den dringendsten Anlass, nach Erweiterung des Marktes zu streben.

Für die soziale Entwicklung sind aber nicht beide Bewegungen gleichbedeutend. Die Krisen wirken in der Richtung auf den Sozialismus durch Beschleunigung der Konzentration der Kapitalien und durch Vermehrung der Unsicherheit der Lebenslage der Proletarier, also durch Verschärfung der Antriebe, welche diese dem Sozialismus in die Arme drängen. Die stete Notwendigkeit der Erweiterung des Marktes enthält dagegen noch ein weiteres Moment: es ist klar, die kapitalistische Produktionsweise wird von dem historischen Moment an zur Unmöglichkeit, in dem es sich herausstellt, dass der Markt nicht mehr in demselben Tempo sich ausdehnen kann, wie die Produktion, das heißt, sobald die Überproduktion chronisch wird.

Bernstein versteht unter historischer Notwendigkeit nur eine Zwangslage. Hier haben wir eine solche, die, wenn sie eintritt, unvermeidlich den Sozialismus erzwingt.

Zu einem solchen Zustand muss es aber kommen, wenn die ökonomische Entwicklung in derselben Weise, wie bisher, vor sich geht, denn der äußere wie der innere Markt hat seine Grenzen, indessen die Ausdehnung der Produktion praktisch grenzenlos ist. Es handelt sich dabei nicht um eine feste, starre Grenze, eine solche ist ja in der ökonomischen Entwicklung nie zu erreichen, sondern eine elastische, die aber immer beengender wird. Einen Punkt, von dem an der Markt absolut nicht mehr auszudehnen wäre, wird man nie erreichen; aber die kapitalistische Produktionsweise muss unerträglich werden nicht bloß für die Proletarier, sondern für die Masse der Bevölkerung, sobald die Erweiterungsmöglichkeit des Marktes zurückbleibt hinter den Bedürfnissen der Ausdehnung der Produktion, die der Zunahme der industriellen Bevölkerung, dem Wachstum des Kapitals, dem Fortschritt der Technologie entspringen.

Aber je größer der Prozentsatz der Bevölkerung, der von Lohnarbeit lebt, desto rascher wieder die Vermehrung der arbeitenden Bevölkerung.

Je größer die Menge des Kapitals und die Rate der Ausbeutung, desto größer die Masse des jährlich akkumulierten Prosits, und je verbreiteter die kapitalistische Produktionsweise, desto ausgedehnter auch das Gebiet der modernen Wissenschaft, desto zahlreicher die Menge der Intelligenzen, desto größer die Mittel, die dem Erfindungsgeist zu Gebote stehen, desto rascher also die Umwälzung der Technik, desto größer die Produktivität der Arbeit.

Das Tempo, in dem die Weltproduktion anwächst, wird also ein immer rascheres, wird aber der Weltmarkt in dem gleichen Maße einer steten Erweiterung fähig sein?

Für diejenige kapitalistische Großindustrie, die zuerst auf dem Weltmarkt eine Rolle spielte, die Textilindustrie, ist heute bereits in ihren alten Sitzen die Zeit chronischer Überproduktion gekommen. Wohl erweitert sich immer noch der Markt, aber viel rascher nimmt die Zahl der auswärtigen Konkurrenten zu.

So ist denn in England seine mächtige Textilindustrie bereits in eine Periode der Stagnation eingetreten. Selbst die Zeit der Prosperität bringt ihr keinen nennenswerten Aufschwung. Es betrug der Wert des Exports aus dem Vereinigten Königreich in Millionen Pfund Sterling:

 

    1880    

    1885    

    1890    

    1895    

    1897    

Baumwollengarn

11,9

11,9

12,3

  9,3

  9,9

Baumwollenstoff

63,7

55,1

62,1

54,5

54,0

 






Zusammen

75,6

67,0

74,4

63,8

63,9

Nicht viel anders ergeht es der Baumwollenindustrie des übrigen westlichen Europa, nur mühsam erweitert sie noch ihre Absatzgebiete.

Ganz anders steht es mit der Eisenindustrie. Stockt auch der Eisenbahnbau in Europa und den Vereinigten Staaten verhältnismäßig immer mehr, so stehen ihm noch unermessliche Flächen in den barbarischen und halbzivilisierten Ländern offen, und der Maschinenbau sieht auch noch weite Gebiete vor sich, die für die Einführung kapitalistischer Großindustrie und kapitalistischen Bergbaus um so schneller heranreifen, je mehr überschüssiges Kapital Europa und Amerika zu exportieren haben, und je enger sie durch Eisenbahnen und Dampfschisse mit dem Weltmarkt verbunden werden.

Aber welchen Umfang auch der Export geliehenen Kapitals annehmen mag, so können doch die rückständigen Gebiete damit allein die Industrieprodukte, welche die Länder der Großindustrie ihnen senden, nicht bezahlen. Im Gegenteil, diese Kapitalien belasten sie noch mit stets wachsenden Zinszahlungen. Zur Bezahlung der Industrieprodukte und für Kapitalzinsen haben aber jene Gebiete zunächst nichts anderes hinzugeben als Rohprodukte, darunter eine Menge solcher, welche die europäische Landwirtschaft ebenfalls erzeugt, oder welche Erzeugnisse dieser Landwirtschaft ersetzen. Und je vollkommener die Kommunikationen, desto leichter kommen diese Rohprodukte nach Europa, desto mehr können sie dessen Produkte unterbieten.

So haben wir neben der chronischen nur durch kurze Zeiten eines schwachen Aufschwungs unterbrochenen Krisis oder doch Stagnation der Textilindustrie auch die der Landwirtschaft und ihrer Industrien – Spiritus, Zucker. Wenn die Zuckerindustrie trotzdem immer noch zu weiterer Ausdehnung künstlich angestachelt wird, so muss der schließliche Krach um so verheerender werden.

Aber auch der Aufschwung der Eisenindustrie (inklusive der Maschinenproduktion), die heute die führende Industrie ist und auf der in erster Linie die gegenwärtige Periode der Prosperität beruht, muss einmal ein Ende nehmen, nicht nur ein zeitweiliges, in einer vorübergehenden Krise, sondern er muss schließlich in chronische Überproduktion und Stagnation auslaufen – immer vorausgesetzt, dass die kapitalistische Produktionsweise sich ungestört weiter entwickelt, denn die Eisenindustrie gräbt sich selbst ihr Grab durch die Einbürgerung der Maschine im Ausland. Erzeugt sie zuerst vorwiegend Konkurrenten für die einheimische Textilindustrie und Landwirtschaft, so früher oder später auch die eigenen Konkurrenten, die nicht nur die Bedürfnisse ihres Landes selbst befriedigen, sondern auch einen stets wachsenden Überschuss für den Weltmarkt produzieren.

Fast scheint es, als wäre auch in der Eisenindustrie England an der Grenze der Ausdehnungsfähigkeit gegenüber Deutschland und vor allem den Vereinigten Staaten angekommen. Die jetzige Periode der Prosperität hat die Roheisenproduktion Englands nur wenig gesteigert. Nach dem Londoner Economist vom 1. Juli d. J. betrug sie in Tonnen in:

 

 

1896

 

1897

 

1898

Großbritannien

8.659.681

8.681.151

 8.877.109

Deutschland

6.372.575

6.864.405

 7.215.927

Vereinigte Staaten

8.623.127

9.652.680

11.733.934

Nach W.R. Lawson in Bankers Magazine, August 1899, in einem Artikel über Drei Jahre amerikanischer Expansion, wurden Stahlschienen produziert (Tonnen):

 

 

England

 

Vereinigte
Staaten

1897

921.131

1.644.520

1898

751.591

1.976.702

Die Totalproduktion der Bessemer Stahlwerke betrug in Tonnen:

 

 

England

 

Vereinigte
Staaten

1897

1.884.155

5.475.315

1898

1.759.368

6.609.017

Lawson sieht, trotz der gegenteiligen Versicherungen der englischen Eisenproduzenten, in diesen Zahlen sehr bedenkliche Anzeichen für die Eisenindustrie seines Landes.

Ist aber einmal die Eisenindustrie der Länder der Großindustrie dort, wo heute Textilindustrie und Landwirtschaft Englands sind, dann hat die Expansionsfähigkeit der kapitalistischen Produktionsweise ein Ende und damit auch ihre Lebensfähigkeit.

Das braucht aber nicht allzulange zu währen, wenn man sich erinnert, wie rasch die Vereinigten Staaten, Japan, Russland eine nennenswerte Großindustrie entwickelt haben – die ersteren binnen einem Menschenalter eine solche, die heute bereits der englischen und der deutschen erfolgreich die Zähne weist.

Die Annahme einer derartigen unheilbaren chronischen Überproduktion ist jedoch nicht gleichbedeutend mit der Prophezeiung einer demnächst hereinbrechenden enormen Weltkrise, eines Weltenbrandes, aus dem die sozialistische Gesellschaft in voller Schönheit gleich einem Vogel Phönix emporfliegt.

Der Prozess des Eintretens der chronischen Überproduktion kann ein langsam sich hinschleppender sein. Wir wissen über sein Wie ebenso wenig wie über sein Wann. Ja, ich will gern zugeben, dass man sogar daran zweifeln kann, ob er überhaupt jemals eintritt, um so mehr zweifeln, je rascher man sich den Fortschritt der sozialistischen Bewegung vorstellt.

Die unheilbar chronische Überproduktion, sie bedeutet die letzte Grenze, bis zu der das kapitalistische Regime sich überhaupt behaupten kann, sie braucht nicht notwendiger Weise seine Todesursache zu bedeuten. Wir haben gesehen, dass die materialistische Geschichtsauffassung neben dem ökonomischen Zwange noch andere Faktoren der sozialen Entwicklung kennt, die zwar ökonomisch motiviert, aber nichtsdestoweniger vielfach ideeller, ethischer Natur sind, und die wir zusammenfassen in der Formel des Klassenkampfes. Der Klassenkampf des Proletariats kann zum Umsturz der kapitalistischen Produktionsweise führen, ehe noch diese in das Stadium ihrer Verwesung eingetreten. Wenn der Hinweis auf die chronische Überproduktion nicht gleichbedeutend ist mit der Prophezeiung der großen Weltkrisis, so überhaupt nicht mit der Prophezeiung einer besonderen Art des Untergangs der kapitalistischen Produktion. Seine Bedeutung besteht darin, dass er durch Festsetzung einer äußersten Grenze der Lebensfähigkeit der heutigen Gesellschaft den Sozialismus aus jenem nebelhaften Bereich, in das ihn heute so viele Sozialisten verweisen, uns näher rückt, so dass dieser aus einem Ziel, das vielleicht nach fünfhundert Jahren verwirklicht werden dürfte – vielleicht auch nicht – ein absehbares und notwendiges Ziel praktischer Politik wird.

Dies scheinen mir die wichtigsten Gesichtspunkte, die bei der Erörterung des Zusammenhangs der Krisen mit dem Sozialismus in Betracht kommen.

Gerade über diese Gesichtspunkte äußert sich jedoch Bernstein nicht, da es ihm fast nur um die Widerlegung der ganz bedeutungslosen Phantasie von der einen unerhörten allgemeinen Weltkrisis zu tun ist.

Er wirft die Frage auf, „ob nicht die gewaltige räumliche Ausdehnung des Weltmarkts im Verein mit der außerordentlichen Verkürzung der für Nachrichten und Transportverkehr erforderten Zeit die Möglichkeiten des Ausgleichs von Störungen so vermehrt, der enorm gestiegene Reichtum der europäischen Industriestaaten im Verein mit der Elastizität des modernen Kreditwesens und dem Aufkommen der industriellen Kartelle die Rückwirkungskraft örtlicher oder partikulärer Störungen auf die allgemeine Geschäftslage so verringert hat, dass wenigstens für eine längere Zeit allgemeine Geschäftskrisen nach Art der früheren als unwahrscheinlich zu betrachten sind.“ (S. 70)

Welcher Art die kommenden Geschäftskrisen sein werden, kann man heute freilich nicht sagen. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie in manchen Punkten ein anderes Gesicht zeigen werden, als ihre Vorgänger. Aber darum handelt es sich doch nicht. Die Frage ist die, ob die Wirkung der kommenden Krisen auf das Proletariat und die Mittelschichten dieselbe sein wird, wie die ihrer Vorgänger, und es gibt kein Moment, das dagegen sprechen würde.

Übrigens warum die Erweiterung des Weltmarkts und des Kreditwesens, sowie die Zunahme des Reichtums der Allgemeinheit der Krisen entgegenwirken sollen, ist mir nicht recht verständlich. Es handelt sich hier nicht um „örtliche oder partikuläre Störungen der allgemeinen Geschäftslage“, sondern um die allgemeine Überproduktion. Je besser die Verständigungs- und Transportmittel, desto mehr muss der Weltmarkt eine Einheit bilden, desto eher wird ein Teil von den Schicksalen der anderen berührt. Auch die Entwicklung des Kreditsystems muss in dieser Richtung wirken. Dieselbe Entwicklung erleichtert aber auch die plötzliche Ausdehnung der Produktion. Dasselbe wird bewirkt durch die Zunahme des Reichtums, die doch nichts anderes heißt, als Vermehrung des Kapitals, das zur Ausdehnung der Produktion verfügbar ist. Gewiss, örtliche oder partikuläre Störungen können durch diese Kapitalmassen, den Kredit und die Raschheit der Kommunikationsmittel leichter überwunden werden, eine Reihe von Krisenfaktoren und Krisenherden sind dadurch, wie schon Engels gesagt, beseitigt worden, aber wieso wirkt diese Entwicklung einer allgemeinen Überproduktion entgegen? Ist aber die Überproduktion eine allgemeine, so muss auch der Krach ein allgemeiner sein. Prosperität und Krisis sind in der kapitalistischen Wirtschaft unzertrennlich miteinander verbunden.

Womit natürlich nicht gesagt sein soll, dass die kommende Krisis die letzte, alles verschlingende sein muss.

Aber die Kartelle? Sind die nicht Mittel, die Produktion einzuschränken und zu regulieren, also der Überproduktion und den Krisen vorzubeugen?

Ihr Zweck ist das sicher nicht. Ihre Aufgabe ist die, den kapitalistischen Profit zu steigern. Einer der Wege dazu ist allerdings die Erhöhung der Preise und damit der Profitrate durch die Verringerung des Angebots auf dem Markte. Aber man kann die Preise dadurch nicht willkürlich steigern, auch dann nicht, wenn man den Markt monopolistisch beherrscht, wie es die Kartelle anstreben. In dem Maße, in dem die Preise steigen, sinkt einerseits die Nachfrage und steigt anderseits der Anreiz für außerhalb des Kartells stehende Kapitalisten, an dem Ausnahmsprofit durch Neugründung von Konkurrenzunternehmungen teil zu nehmen, also das Monopol zu durchbrechen und die Produktion auszudehnen.

Die Einschränkung des Angebots auf dem Markte durch das Kartell oder den Trust findet daher ihre Grenze.

Auf der anderen Seite ist der Profit unter sonst gleichen Umständen um so größer, je billiger produziert, das heißt aber unter anderem auch, auf je größerer Stufenleiter die Produktion betrieben wird. Je größer der Maßstab, auf dem die Produktion vor sich geht, um so technisch vollkommener kann sie sein, um so eher ist sie im Stande, jede auftauchende Konkurrenz im Keime zu ersticken, die sonst das Monopol des Kartells bedroht. Und je größer und rascher der Umsatz, um so größer unter sonst gleichen Umständen die Masse des Profits.

Mit weit mehr Recht als von Marx könnte man daher vom Leiter eines Kartells sagen, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnen, eine, die nach möglichster Beschränkung, und eine andere, die nach möglichster Ausdehnung der Produktion trachtet. Aber der Kartellmensch ist kein grübelnder Faust, sondern ein Mann der Tat und statt seine zwei Seelen einen wechselvollen Kampf in seinem Innern kämpfen zu lassen, sucht er ganz einfach auf zwei verschiedenen Märkten den verschiedenen Tendenzen nach Vermehrung seines Profits gerecht zu werden.

Auf dem innern Markte wird da Angebot möglichst eingeengt, werden die Preise so hoch getrieben, als mit dem höchstmöglichen Profit verträglich. Aber nur das Angebot wird beschränkt, nicht die Produktion. Diese wird möglichst erweitert und der Überschuss im Ausland abgesetzt. Je höher die Preise und Profite auf dem innern Markte, desto lustiger kann die Schleuderkonkurrenz auf dem äußern Markte vor sich gehen. Und wenn man dort nur die Selbstkosten einheimst, so ist der Absatz schon deswegen profitabel, weil er stete Fortführung des Betriebs in größtem Umfang erlaubt.

Wo es sich also um Massenindustrien, um Exportindustrien handelt – und das sind gerade jene, die am meisten zur Überproduktion drängen –, da ist eine Einschränkung und Regelung der Produktion durch die Kartelle nicht zu erwarten.

Die Vereinigten Staaten sind das Land der Kartelle. Aber wir bemerken nicht, dass die Produktion dort beschränkt wird. Die Roheisenproduktion der Union hat sich in den letzten fünf Jahren mehr als verdoppelt. 1894 betrug sie etwas über 672 Millionen Tonnen, 1898 fast 12 Millionen und für 1899 wird sie nach den Ergebnissen des ersten Halbjahrs auf 14 Millionen geschätzt (Lawson in Bankers Magazine).

Bernstein kann sich den unter Umständen geradezu zur Überproduktion hindrängenden Wirkungen der Kartelle nicht verschließen.

Aber, wirft er ein, „in der Regel geht dies Manöver nur dort an, wo dem Kartell ein Schutzzoll Deckung gewährt, der es dem Ausland unmöglich macht, ihm mit gleicher Münze heimzuzahlen“. (S. 78) Freilich ist er überzeugt, „dass, wo in modernen Industriestaaten Kartelle und Trusts durch Schutzzölle unterstützt und verschärft werden, sie in der Tat zu Krisenfaktoren der betreffenden Industrie auswachsen müssen – wenn nicht zuerst, so jedenfalls schließlich auch für das ‚geschützte‘ Land selbst. Es fragt sich also nur, wie lange die betreffenden Völker sich diese Wirtschaft gefallen lassen werden.“ (S. 79)

Also weit entfernt, die Produktion zu regeln, müssen die Kartelle zu Krisenfaktoren auswachsen – „es fragt sich nur, wie lange die Völker sich diese Wirtschaft gefallen lassen werden“.

Das ist in der Tat die Frage. Aber diese hat Bernstein ebenso wenig wie manche andere, die er aufgeworfen, beantwortet.

Bernstein ging von der Erwägung aus, dass die Ausdehnung des Weltmarkts, die Zunahme des Reichtums, die Elastizität des modernen Kreditwesens im Verein mit dem Aufkommen der industriellen Kartelle „wenigstens für längere Zeit“ allgemeine Geschäftskrisen unwahrscheinlich gemacht hat. Und nun erweisen sich plötzlich dieselben Kartelle als neue Krisenfaktoren wenigstens für so lange, als die Völker sich die Schutzzollwirtschaft gefallen lassen, also sicher „wenigstens für längere Zeit“. Wir haben gar keine Aussichten dafür, dass wir noch einmal zu einem Regime des Freihandels kommen. So lange sich die Völker den Kapitalismus gefallen lassen, werden sie sich auch den Schutzzoll gefallen lassen, gerade wegen der zunehmenden Überproduktion. Das kapitalistische Regime hat kein Heilmittel für diese, der Schutzzoll bildet wenigstens den Versuch ihrer Linderung, dass heißt den Versuch, ihre Konsequenzen vom eigenen Lande weg den anderen zuzuschieben. Die Linderung dauert freilich nur so lange, bis die anderen den gleichen Versuch nachgemacht haben, aber der Schutzzoll ist leichter eingeführt als abgeschafft, namentlich in einer Periode so wütenden Wettbewerbs auf dem Weltmarkt, und die Erfolglosigkeit des Versuchs treibt eher zu einer Verstärkung des Mittels als zu seiner Abschaffung.

Wo haben wir heute unter den bürgerlichen Parteien eine Freihandelsbewegung? Bei ihnen fragt sich’s bloß, ob mehr oder weniger Schutzzoll und ob Handelsverträge oder die Möglichkeit von Zollkriegen. Aber Freihandel! Das ist für den Kapitalisten ein Ideal der Vergangenheit. Sein Freihandel ist eines der vielen Merkmale, durch die England anzeigt, dass es ein Ausnahmsland ist. Und auch in England ist die schutzzöllnerische Bewegung im Wachsen.

Wird also die Aufhebung der krisenfördernden Wirkungen der Kartelle vom Freihandel abhängig gemacht, dann stehen diese Wirkungen in unabsehbarer Ferne. Die kommende Krise, die wir vielleicht schon in zwei bis drei Jahren zu erwarten haben, wird dadurch nicht aufgehalten werden.

Aber nicht bloß durch Stimulierung der Produktion und der Schleuderkonkurrenz auf dem Weltmarkt wirken viele und gerade die mächtigsten Kartelle und Trusts krisenfördernd, sondern ebenso sehr durch den Anstoß, den sie der Spekulation erteilen.

Bernstein meint, die Spekulation sei hauptsächlich eine Kinderkrankheit der kapitalistischen Produktionsweise, die in ihrem Alter verschwinde. „Die Spekulation ist bedingt durch das Verhältnis der wissbaren zu den unwissbaren Umständen. Je stärker die letzteren überwiegen, um so mehr wird sie blühen, je mehr sie von den ersteren zurückgedrängt werden, um so mehr Boden wird ihr entzogen. Daher fallen die wahnsinnigsten Ausbrüche kommerzieller Spekulation in die Zeit des Anbruchs der kapitalistischen Ära und feiert die Spekulation in Ländern jüngerer kapitalistischer Entwicklung gewöhnlich die wüstesten Orgien.“ (S. 73)

Wodurch wird aber diese „jüngere kapitalistische Entwicklung“ erzeugt? Vornehmlich durch die überfließenden Kapitalien der älteren Länder. Die nicht wissbaren Umstände der jüngeren werden dann um so mehr Ursache zu Orgien der älteren, je mehr von ihrem Kapital diese im Ausland anlegen. Die argentinische und transvaalsche Spekulation feierte ihre „wüstesten Orgien“ nicht bloß in Buenos Ayres und Johannesburg, sondern ebenso gut in der altehrwürdigen Londoner City.

Wie bei der Erschließung neuer Länder sind bei der Verwertung neuer Erfindungen, bei der Bildung neuer Industriezweige, die „unwissbaren Umstände“ überwiegend und bilden sie daher einen Gegenstand der Spekulation. Man kann nicht behaupten, dass der eine oder andere dieser Faktoren mit dem Fortschreiten der kapitalistischen Ära zurücktritt, im Gegenteil.

Und ebenso wenig kann man behaupten, die Spekulation sei heute geringer als früher. Die Kapitalisten waren vorsichtig, so lange ihnen noch die Wirkungen der furchtbaren Depression der achtziger Jahre in den Knochen steckten. Heute spekulieren sie so lustig, wie nur je. Einige Zahlen, die wir dem Deutschen Oekonomist vom 22. Juli d. J. entnehmen, mögen das illustrieren.

Im Deutschen Reiche betrug in Millionen Mark das effektiv aufgebrachte Kapital:

 

1887

1888

1889

1890

1891

1892

1893

1894

1895

1896

1897

1898

1899
1. Sem.

Für Emissionen
von Börsen
papieren überhaupt

1.008   

1.985   

1.745   

1.520   

1.217   

1.016   

1.266   

1.420   

1375   

1.896   

1.944   

2.407   

1.595

Für Emissionen von
Aktien deutscher Industrie-
gesellschaften

?  

   194,5

   337,4

   200,5

     29,7

     14,8

     25,3

     79,0

   223,2

   333,9

   318,2

   520,6

   518

Die untere Zahl lässt den industriellen Zyklus sehr schön verfolgen mit seinem Höhepunkt 1889, seinem Tiefstand 1892, der Wiedererholung von 1895 und dem sprunghaften Aufschwung der letzten Jahre – das erste Halbjahr 1899 bringt ebenso viele neue Industriewerte, wie das ganze vorhergehende Jahr, das auch schon eines hoher Prosperität war.

Nun noch eine Reihe von Zahlen, die das durchschnittliche Emissionsagio der deutschen Industrieaktien anzeigen.

Es betrug in Prozent:

1888

 

1889

 

1890

 

1891

 

1892

 

1893

 

1894

 

1895

 

1896

 

1897

 

1898

 

1899
1. Sem

38,06

45,87

30,05

20,0

14,7

29,1

31,0

38,6

36,1

66,7

67,7

69,9

Dazu bemerkt die Redaktion des zitierten Blattes:

„Die Emissionskurse haben eine Höhe erreicht, wie nie zuvor. Dabei ist es stehende Regel, dass die Papiere noch weit über die Emissionskurse hinausgetrieben werden. Das Krankhafte dieser Übertreibungen haben wir oft genug erörtert... In der Tat ist es auch nicht die höhere Wertschätzung der Anlage, woraus die Kurssteigerung sich stützt, sondern lediglich die allgemeine Erwartung, dass der Kurs noch steigen werde, also die ganz gewöhnliche Spekulation auf den Kursgewinn. Dass diese Spekulation einen noch nie dagewesenen Umfang erreicht hat, wird durch die noch nie erreichte Höhe des Emissionsagios von durchschnittlich ca. 70 Prozent erwiesen.“

Ähnlich spricht Lawson im schon erwähnten Artikel von der Spekulation in Wallstreet. Er meint, ohne die kluge Politik der New Yorker Banken wäre es bereits zu einer Neuauflage des Südseeschwindels gekommen. Das Hauptobjekt der Schwindelspekulation bilden – die Trusts.

Die Vereinigten Staaten sind das Land der Kartelle; sie sind das Land der elastischsten Kreditorganisation, enormen Reichtums, eines hoch entwickelten Nachrichten- und Transportverkehrs, des ausgedehntesten innern Marktes; und doch sind sie das Land der furchtbarsten Krisis (1893–1896), die unser Jahrzehnt gesehen.

Aber nehmen wir an, die Kartelle seien wirklich im Stande, die Krisen durch Einschränkung der Produktion zu bannen. Was wäre damit für das Proletariat und die Mittelschichten gewonnen? Die Kartelle sind eines der kräftigsten Mittel zur Expropriation der kleinen Kapitalisten. Wenn die in gleicher Richtung gehende Wirkung der Krisis durch die des Kartells abgelöst wird, so wird die Herrschaft des Großkapitals dadurch nicht weniger unerträglich.

Und die Proletarier? Dass die Zusammenschließung der Unternehmer zu festen Verbänden nicht das Steigen der Löhne, die Entwicklung der Gewerkschaften, die Selbständigkeit der Arbeiter fördert, ist bekannt. Tauschen diese aber dafür wenigstens größere Stetigkeit der Beschäftigung ein? Gerade dort, wo das Kartell wirklich vermag, die Produktion einzuschränken, ist diese Stetigkeit am wenigsten zu finden. Weit eher als der vereinzelte Betrieb kann der Trust die höchste Produktivität der Arbeit erreichen. Er setzt die kleineren, irrationellen Betriebe ganz außer Tätigkeit, vereinfacht die Verwaltung, führt die Arbeitsteilung weiter, fördert durch seine kolossalen Geldmittel die Erprobung und Anwendung neuer Erfindungen. Je mehr damit eine Einschränkung der Produktion Hand in Hand geht, desto mehr müssen diese Fortschritte zur Einschränkung der Arbeiterzahl führen. Für einen Teil der Arbeiter, die fügsamsten und brauchbarsten, mag das Kartell größere Stetigkeit der Beschäftigung mit sich bringen; für die übrigen kann dieser Stetigkeit nichts anderes entsprechen, als größere Stetigkeit der Arbeitslosigkeit.

Wodurch kann das Kartell der Krise vorbeugen? Doch nur durch Einschränkung der Produktion. Wir haben aber gesehen, dass stete Ausdehnung der Produktion eine Lebensbedingung für die kapitalistische Produktionsweise ist und vor allem für das Proletariat. Wie sich die Kartelle, wenn es ihnen gelänge, die Produktion zu regeln, mit dem neu akkumulierten Kapital abfänden, ob sie nicht durch dessen Drängen immer wieder zur Erweiterung der Produktion getrieben oder gesprengt würden, das geht uns hier nichts an. Aber sicher ist es, dass jede Hemmung der Ausdehnung der Produktion in der heutigen Produktionsweise unerträgliche Zustände hervorrufen muss, und dass es eine Torheit ist, zu glauben, diese würden von den Arbeitern weniger hart empfunden, wenn sie durch künstliche Kartellierung der Unternehmer, statt durch Krisen und Bankrotte hervorgerufen werden. Im Gegenteil, wenn die Unternehmer der Krise dadurch vorbeugen wollen, dass sie deren Nachteile den Proletariern in Zeiten der Prosperität aufbürden, wenn sie, um den Profit zu retten, die Arbeiter allein die Folgen einer Produktionseinschränkung tragen lassen, wenn sie ihnen die Folgen einer Überproduktion auferlegen, ehe noch eine solche eingetreten, so kann dies nur dazu führen, den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit aufs Höchste zu steigern.

Weit entfernt, die zum Sozialismus führenden Wirkungen der Krisen aufzuheben, müssen sie vielmehr in derselben Richtung wirken – und das wahrscheinlich, ohne die Krisen zu hemmen. Mehr als jede andere Erscheinung des kapitalistischen Wirtschaftslebens erfüllen sie die arbeitenden Schichten des Volkes mit dem Empfinden der Notwendigkeit der Expropriation der Expropriateure und mit dem Bewusstsein, dass die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat das einzig wirksame Mittel ist, ihnen zu Leibe zu gehen.

Auch Bernstein sieht, dass die Kartelle für das Proletariat schwere Schäden im Gefolge haben können, aber ihn hypnotisiert immer wieder die fixe Idee, in der Sozialdemokratie gebe es einflussreiche Leute, welche die Befreiung des Proletariats nicht vom zähen Kampfe gegen seine Feinde, sondern von den Wirkungen einer imaginären Weltkrise erwarten.

„Virtuell“, meint er, „trägt das kapitalistische Abwehrmittel gegen die Krisen die Keime zu neuer, verstärkter Hörigkeit der Arbeiterklasse in sich, sowie zu Produktionsprivilegien, die eine verschärfte Form der alten Zunftprivilegien darstellen. Viel wichtiger als die Impotenz der Kartelle und Trusts zu prophezeien, erscheint es mir vom Standpunkt der Arbeiter aus, ihre Möglichkeiten sich gegenwärtig zu halten. Ob sie den ersteren Zweck – Abwehr der Krisen – auf die Länge der Zeit werden erfüllen können, ist an sich für die Arbeiterklasse eine untergeordnete Frage. Sie wird aber zu einer sehr bedeutungsvollen Frage, sobald man an die allgemeine Krise Erwartungen irgendwelcher Art für die Befreiungsbewegung der Arbeiterklasse knüpft. Denn dann kann die Vorstellung, dass die Kartelle nichts gegen die Krisen ausrichten können, Ursache sehr verhängnisvoller Unterlassungen werden.“

Für welche Phantasten muss doch Bernstein seine Parteigenossen halten! Und welche phantastischen Vorstellungen hegt er von unserer Bewegung, wenn er annimmt, dass „man“ an die kommende Krise so bestimmte Erwartungen irgendwelcher Art knüpft, dass sie sogar Ursache sehr verhängnisvoller Unterlassungen werden können. Leider gibt es Leute, die nach derartigen Kassandrarufen ins Blaue hinein die Sozialdemokratie beurteilen.
 

i) Die Formulierung des Programms

Mit seinen Ausführungen über die Krisen und Kartelle schließt Bernstein seine Untersuchungen über die wirtschaftliche Entwicklung der modernen Gesellschaft. Geben sie uns Veranlassung, unser Programm zu ändern? Haben sie erwiesen, dass die ökonomische Entwicklung in anderer Richtung vor sich geht, als sie Marx gezeichnet?

Ich denke, wir können auf diese Frage ruhig mit „Nein“ antworten.

Ich spreche dabei nicht etwa vom Erfurter Programm allein, sondern von den Grundlinien, die fast alle modernen sozialdemokratischen Programme enthalten, welche sich überhaupt auf eine Begründung der sozialdemokratischen Forderungen einlassen.

So erklärt zum Beispiel das Hainfelder Programm der österreichischen Arbeiterpartei:

„Die sozialistische Arbeiterpartei in Österreich erstrebt für das gesamte Volk ohne Unterschied der Nation, der Rasse und des Geschlechts die Befreiung aus den Fesseln der ökonomischen Abhängigkeit, die Beseitigung der politischen Rechtlosigkeit und die Erhebung aus der geistigen Verkümmerung. Die Ursache dieses unwürdigen Zustandes ist nicht in einzelnen politischen Einrichtungen zu suchen, sondern in der das Wesen des ganzen Gesellschaftszustandes bedingenden und beherrschenden Tatsache, dass die Arbeitsmittel in den Händen einzelner Besitzender monopolisiert sind. Der Besitzer der Arbeitskraft, die Arbeiterklasse, wird dadurch zum Sklaven der Besitzer der Arbeitsmittel, der Kapitalistenklasse, deren politische und ökonomische Herrschaft im heutigen Staate Ausdruck findet. Der Einzelbesitz an Produktionsmitteln, wie er also politisch den Klassenstaat bedeutet, bedeutet ökonomisch steigende Massenarmut und wachsende Verelendung immer breiterer Volksschichten.

„Durch die technische Entwicklung, das kolossale Anwachsen der Produktivkräfte erweist sich diese Form des Besitzes nicht nur als überflüssig, sondern es wird auch tatsächlich diese Form für die überwiegende Mehrheit des Volkes beseitigt, während gleichzeitig für die Form des gemeinsamen Besitzes die notwendigen geistigen und materiellen Vorbedingungen geschaffen werden. Der Übergang der Arbeitsmittel in den gemeinschaftlichen Besitz der Gesamtheit des arbeitenden Volkes bedeutet also nicht nur die Befreiung der Arbeiterklasse, sondern auch die Erfüllung einer geschichtlich notwendigen Entwicklung. Der Träger dieser Entwicklung kann nur das klassenbewusste und als politische Partei organisierte Proletariat sein. Das Proletariat politisch zu organisieren, es mit dem Bewusstsein seiner Lage und seiner Aufgabe zu erfüllen, es geistig und physisch kampffähig zu machen und zu erhalten, ist daher das eigentliche Programm der sozialdemokratischen Arbeiterpartei in Österreich, zu dessen Durchführung sie sich aller zweckdienlichen und dem natürlichen Rechtsbewusstsein des Volkes entsprechenden Mittel bedienen wird.

Das Programm der französischen Arbeiterpartei beginnt mit der Erklärung:

„Dass die Emanzipation der produktiven Klasse die aller menschlichen Wesen ohne Unterschied des Geschlechts und der Rasse ist;

„dass die Produzenten nicht frei sein können, wenn sie nicht im Besitz der Produktionsmittel sind;

„dass es zwei Formen gibt, unter denen die Produktionsmittel ihnen gehören können:

„1. Die Form des individuellen Besitzes, die niemals eine allgemeine Tatsache war und die durch die industrielle Entwicklung immer mehr beseitigt wird;

„2. Die Form des Gemeinbesitzes, deren materielle und intellektuelle Elemente durch die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft selbst gebildet werden.“

Überall finden wir im Wesentlichen denselben Gedankengang, wie im Erfurter Programm. Es handelt sich also zunächst nicht um dessen besondere Form, sondern um die allgemeinen Anschauungen, die der internationalen sozialdemokratischen Bewegung zu Grunde liegen.

Eben wie diese Zeilen in Druck gehen sollen, veröffentlicht Bernstein im Vorwärts (3. September) einen Artikel über „meine Stellung zum theoretischen Teil des Erfurter Programms“, in dem er sich bloß gegen die „heutige apodiktische Fassung“ einzelner seiner Sätze wendet.

„Ich sage ihre heutige Fassung, weil ich – die Landfrage ausgenommen, trotzdem ihre bedingte Richtigkeit anerkenne. Und was die Landfrage anbetrifft, so ist da das letzte Wort noch nicht gesprochen.“

Das verrät kein dringendes Bedürfnis nach einer Programmrevision. So sagt er denn auch am Schlusse seines Artikels:

„Über meine Stellung zum theoretischen Teile des Parteiprogramms kann nach dem Vorhergehenden kein Zweifel sein. Würde die Abänderung des Programms auf der Tagesordnung stehen, so würde ich auch keinen Augenblick zögern, auf Wunsch eine Fassung desselben auszuarbeiten, die meinen Anschauungen entspricht. Aber von mir aus fühle ich mich nicht dazu veranlasst. Nicht von mir ist die Programmfrage in die Diskussion hineingezogen worden. Ich würde sie erst dann für spruchreif halten, wenn sich in der Partei selbst die Überzeugung verbreitet hat, dass das Programm in seiner heutigen Fassung dem Stande der sozialen Erkenntnis und ihren propagandistischen Bedürfnissen nicht mehr entspricht. Bis dahin kann die Aufgabe der sich mit theoretischen Fragen beschäftigenden Schriftsteller nur darin bestehen, nach Maßgabe ihres Könnens für die Erweiterung der theoretischen Erkenntnis zu arbeiten.“

Auch ich sehe in dem bisherigen Gange der Diskussion keine Veranlassung, die Fassung des Erfurter Programms einer Revision zu unterziehen. Käme es aber zu einer solchen, so müsste vor allem untersucht werden, ob die heutige Fassung wirklich das sagt, was Bernstein jetzt in sie hineinlegt.

Ich glaube nachgewiesen zu haben, dass Bernsteins Kritik der sogenannten Zusammenbruchstheorie nicht nur daran leidet, dass sie die wirklichen Zusammenhänge nicht richtig deutet, sondern auch daran, dass sie die sozialdemokratische Theorie in einer Weise auffasst, die nicht den in unserer Partei herrschenden Anschauungen entspricht. Dieselbe Erscheinung zeigt sich auch bei seiner Kritik der Fassung des Erfurter Programms.

Er sagt da unter anderem:

„Ich kann also, um es kurz zusammenzufassen, die Sätze gerade soweit nicht unterschreiben, als sie den Sozialismus als das notwendige Resultat aus rein ökonomischen Vorgängen, als den Ausweg aus einem ökonomischen Zusammenbruch und die Alternative oder das Resultat eines gewaltigen Zusammenstoßes erscheinen lassen.“

Nun frage ich, wo in dem Erfurter Programm von einem ökonomischen Zusammenbruch und einem gewaltigen Zusammenstoß die Rede ist? Die Stelle, in der dort von Sozialismus die Rede, lautet:

„Nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an den Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der Warenproduktion in sozialistische kann es bewirken, dass der Großbetrieb und die stets wachsende Ertragsfähigkeit der gesellschaftlichen Arbeit für die bisher ausgebeuteten Klassen aus einer Quelle des Elends und der Unterdrückung zu einer Quelle der höchsten Wohlfahrt und allseitiger harmonischer Vervollkommnung werde.“

Wo finden wir hier den Zusammenbruch, wo den Zusammenstoß? Über die Formen der Entwicklung zum Sozialismus sagt das Erfurter Programm gar nichts, aus dem einfachen Grunde, weil sich darüber nichts sagen lässt.

Das Erfurter Programm ist 1891 einstimmig von der mit seiner Abfassung betrauten Kommission angenommen worden. In dieser Kommission saß auch Vollmar, der auf demselben Kongress seine Eldoradoreden verteidigte. Glaubt Bernstein, Vollmar hätte der apodiktischen Fassung des Programms zugestimmt, wenn sie die Notwendigkeit eines gewaltigen Zusammenstoßes betonte?

Nein, darüber, auf welchem Wege der Sozialismus verwirklicht wird, ob durch friedliche Kleinarbeit oder gewaltige Zusammenstöße, oder, wie wohl die meisten von uns annehmen, durch das eine und durch das andere, darüber spricht sich das Programm gar nicht aus.

Ein anderer Einwand Bernsteins gegen die Fassung des Erfurter Programms steht und fällt mit seiner Auffassung des Begriffs der „ökonomischen Notwendigkeit“, die er in dem erwähnten Artikel gleichsetzt der technischen Notwendigkeit und gegenüberstellt dem gesellschaftlichen Bedürfnis. Er wendet ein, dass „die Notwendigkeit der Vergesellschaftung der Produktion nicht aus der Betriebstechnik abgeleitet werden kann“, als ob im Erfurter Programm ein Wort davon stände!

„Die betriebstechnische Entwicklung der Produktion ist nicht in dem Sinne ein dinglicher Faktor der sozialistischen Entwicklung, dass er aus sich heraus unmittelbar zur Vergesellschaftung triebe. Das geht vielmehr immer erst mittelbar vor sich, durch die Rücksicht auf weitere soziale oder gar politische Bedürfnisse; so bei der Post, bei den Eisenbahnen etc.“

Man vergleiche damit den oben zitierten Passus aus dem Erfurter Programm, der die Notwendigkeit des Sozialismus ableitet aus den Bedürfnissen der Arbeiterklasse, nicht den Bedürfnissen der Betriebstechnik, und man wird sehen, was es mit Bernsteins Bemängelung der ökonomischen Notwendigkeit auf sich hat.

An einer anderen Stelle des fraglichen Artikels wendet sich Bernstein gegen den Satz, die Umwandlung zum Sozialismus „kann nur das Werk der Arbeiterklasse sein“, und fühlt sich gedrungen, uns des Breiten auseinanderzusetzen, dass in der Partei neben Proletariern auch noch andere Elemente tätig sind, die ihr oft zum größten Vorteil gereichen.

Aber wenn diese Tatsache mit dem obigen Satze unvereinbar wäre, wie kommt es, dass alle einundzwanzig Mitglieder der Programmkommission, darunter eine Reihe „Akademiker“ und „Kleinbürger“, ihm zustimmten, dass auch Bernstein nichts an ihm auszusetzen fand? Stand er etwa damals auf dem Standpunkt, dass nur die schwielige Arbeiterfaust in der Sozialdemokratie etwas bedeuten dürfe? Wenn er also heute diesen Satz nicht unterschreiben kann, den er vor acht Jahren unterschrieb, so kann das nur daher rühren, dass er heute den Satz anders deutet, als damals. Früher wusste er ganz gut, dass der Satz sich nur auf die Klassen, nicht auf Individuen bezieht, dass er sagt, unter allen Klassen ist die Arbeiterklasse die einzige, die zum Sozialismus hindrängt. Wir kommen darauf im Folgenden noch zurück.

Wollte man also die Bernsteinschen Bemängelungen der Fassung des Programms untersuchen, müsste man zuerst sich darüber klar werden, ob es wirklich das sagt, was er jetzt daraus herausliest.

Im Einzelnen missfällt Bernstein die apodiktische Fassung der Sätze vom Untergang des Kleinbetriebs, sowie der Hinweis auf die Zunahme des Elends, auf die Verschärfung der Klassengegensätze und auf die Krisen.

Brauchen wir nach dem Ausgeführten noch auseinanderzusetzen, dass wir diese Sätze mit gutem Gewissen aufrechterhalten können, wenn wir nicht Dinge in sie hineinlesen, die nicht darin stehen?

Der Passus über den Untergang des Kleinbetriebs ist vollständig richtig, wenn man die Entwicklung der gesamten Gesellschaft, nicht die einzelner Arbeitszweige in Betracht zieht. Das ist aber doch der für uns entscheidende Gesichtspunkt. Wie die „Verelendungstheorie“ aufzufassen, haben wir gesehen. Die zunehmende Verschärfung der sozialen Gegensätze glauben wir auch erwiesen zu haben. Wir kommen darauf noch zurück. Würden wir endlich den Passus streichen, der von den Krisen handelt, so liefen wir Gefahr, dass es uns geht, wie den Glückspilzen des heiligen preußisch-deutschen Reiches, denen Marx im Jahre 1872 den Krach prophezeite, und dass wir wie sie bitterer Erfahrungen bedürfen, die uns das nötige Maß von Dialektik einpauken.

Doch kehren wir wieder zu der Bernsteinschen Schrift zurück. Dort handelt es sich nicht um die Fassung der einzelnen Sätze des Programms, sondern um jene Anschauungen, die jedem sozialdemokratischen Programm zu Grunde liegen. Unsere Gegner haben denn auch diese Schrift aufgefasst als einen Bruch mit unsern Grundsätzen, als ein Anzeichen davon, dass die Sozialdemokratie irre wird an sich selbst. Und in der Tat ist die Konsequenz seiner Ausführungen nicht die, dass bloß die Fassung einzelner Sätze des Programms zu apodiktisch sei. Behauptet er doch, mitunter sehr apodiktisch, wie wir gesehen, dass die wirtschaftliche Entwicklung der modernen Gesellschaft keineswegs jene Richtung verfolgt, die Marx zeichnete, und die, Marx folgend, in den Programmen der Sozialdemokratie angenommen ist. Hat Bernstein recht, dann muss nicht bloß die Redaktion des einleitenden Teils unseres Programms fallen, sondern auch sein Inhalt.

Sein Schildknappe Hertz, dem er bezeugt, er habe ihn besser verstanden, als seine Kritiker, erklärt denn auch in den Deutschen Worten mit vollem Recht, dass er „mit dem Erfurter Programm meritorisch absolut nicht übereinstimmt.“

Das ist in der Tat die logische Konsequenz des Bernsteinschen Standpunkts.

Was wird aber dann aus den sozialistischen Forderungen, die unser Programm aus seinen einleitenden Sätzen ableitet?

Gewiss, diese Forderungen müssen nicht notwendig damit hinfällig werden, dass ihre Begründung hinfällig wird. Man hat sehr oft richtige Anschauungen falsch begründet. Aber unmöglich kann eine Anschauung Anspruch darauf erheben, als richtig zu gelten, so lange sie nicht begründet ist.

Ich will gerne zugeben, dass man den Sozialismus noch anders begründen kann, als in marxistischer Weise.

Es hat zahlreiche Sozialisten vor und neben Marx gegeben, die sehr treffende und tiefgehende Begründungen ihrer sozialistischen Forderungen vorgebracht haben – aber Begründungen hatten sie alle.

Wohl hat Bernstein recht, dass „nicht die Auffassung von den Formen der tatsächlichen Entwicklung den Sozialisten macht“, sondern „die Auffassung von dem, was in der Gesellschaft sein soll, die sozialistische Gesinnung, das Wollen“. (Vorwärts, 6. Mai 1899) Aber wenn dies Wollen als ein sic volo sic jubeo ohne jede Begründung auftritt, wird man einem derartigen Sozialismus große propagandistische Kraft nicht zutrauen. Ein solches Wollen kann die Grundlage eines Sozialismus abgeben, der Privatsache bleibt, nicht aber eines Sozialismus, um den eine große Partei sich kristallisieren soll.

Bernstein lässt, wie wir schon im ersten Kapitel gesehen, nicht einmal erkennen, ob der Sozialismus für ihn eine Notwendigkeit ist oder bloß ein frommer Wunsch. Aber er lässt auch nicht erkennen, warum der Sozialismus auch nur wünschenswert ist. Er verwirft seine rein ökonomische Begründung, wo ist aber die sie ersetzende?

Er bemerkt wohl gelegentlich (im Vorwärts, 26. März): „In der sozialistischen Bewegung ist das Rechtsbewusstsein, das Streben nach noch gerechteren Zuständen ein mindestens so wirkungsvoller und wichtiger Faktor wie die materielle Not“, aber vergeblich sucht man bei ihm nach einem Grunde dafür, dass die sozialistische Gesellschaft „noch gerechter“ sei als die moderne, da er ja nur zeigt, dass die letztere gar nicht so ungerecht ist, als man annimmt. Und warum soll das „Rechtsbewusstsein“ (der Arbeiter, wie er später bemerkt) gerade zum Sozialismus treiben? Ich fasste das Wort Rechtsbewusstsein auf als Rechtsgefühl, als Drang nach Gerechtigkeit, als eine andere Bezeichnung des „Strebens nach gerechten Zuständen“. Bernstein aber belehrt mich, dass Rechtsbewusstsein das „Bewusstsein ist, dass ich das Recht auf meiner Seite habe“. Das ist freilich etwas anderes, aber warum dies erhabene Bewusstsein nicht bloß zur Rechthaberei führt, sondern auch zu sozialistischem Denken, ist mir nicht klar. Die Sozialdemokraten werden freilich durch diese Art Rechtssbewusstsein an die Sozialdemokratie gekettet, aber man sollte meinen, dass ihre Gegner, auch in der Arbeiterklasse selbst, durch dasselbe Bewusstsein von ihr ferngehalten werden.

An anderer Stelle weist Bernstein darauf hin, dass

„es Klassenkampf bleibt, wenn nicht die äußerste materielle Not, sondern die wachsenden Kulturansprüche der Arbeiter, ihr steigendes Kulturniveau und das zunehmende Bewusstsein ihrer Gleichberechtigung die Triebkraft der Arbeiterbewegung bilden.“

Ja, aber diese Faktoren, ebenso wie das obige „Rechtsbewusstsein“ bewirken allein bloß, dass es eine Arbeiterbewegung gibt, ein Streben der Arbeiter nach höherer Kultur und nach Gleichberechtigung, aber sie bieten noch keine Gründe dafür, dass diese Arbeiter der Überzeugung sein müssen, sie könnten die höhere Kultur und Gleichberechtigung nur durch Überwindung der kapitalistischen Produktionsweise und durch Aufhebung der kapitalistischen Eigentumsordnung erringen. Die Faktoren der Arbeiterbewegung, auf die Bernstein hier hinweist, erkennt Max Hirsch auch an.

Andere Faktoren der Arbeiterbewegung werden wir vergeblich in dem Buche Bernsteins suchen. Die Notwendigkeit oder auch nur Wünschbarkeit des Sozialismus wird aus seinem Buche nicht nur nicht klar, sondern im höchsten Grade zweifelhaft.

Die Einwände, die er gegen die Marxsche Theorie des Kapitals erhebt, sie sind dieselben Einwände, die seit langem die liberale Ökonomie gegen den Sozialismus überhaupt erhoben hat. Und so lange ich nicht eines Besseren belehrt werde, sehe ich keinen Grund, aus diesen Einwänden andere Konsequenzen zu ziehen, als die Liberalen getan.

Wenn die größten Missstände der kapitalistischen Produktionsweise bloß ihren Anfangsstadien eigentümlich sind und in ihrem Fortschreiten sich vermindern, die Zahl der Besitzenden zunimmt, die sozialen Gegensätze sich immer mehr mildern, die Proletarier immer größere Aussicht haben, selbständig zu werden oder doch eine befriedigende Stellung zu erreichen, ja, wozu dann der Sozialismus? Soll er nicht ein sinnloser Sport sein, dann muss nicht bloß eine bestimmte Gesinnung, ein bestimmter Wille ihn tragen, sondern auch eine bestimmte Überzeugung von dem Gange der Entwicklung. Hegte ich jene Anschauungen von der kapitalistischen Entwicklung, denen Bernstein in seinem Buche Ausdruck gibt, dann, das muss ich offen gestehen, hielte ich den Sozialismus für einen schweren Irrtum. Wäre es Bernstein gelungen, mich zu überzeugen, dass seine Einwände gegen die sozialistische Auffassung unserer Produktionsweise richtig sind, dann würde ich Professor Diehl zustimmen und sagen: Unser Platz ist nicht mehr in der Sozialdemokratie, sondern eher in der süddeutschen Volkspartei, oder, da ich mich von meiner Partei nicht trennen wollte, ich würde ihr vorschlagen, an Stelle des Erfurter Programms das Programm der Volkspartei zu setzen, das da für Arbeiterschutzgesetze, Koalitionsfreiheit und Förderung des Genossenschaftswesens eintritt und erklärt, die Demokratie und die Emanzipation der Arbeiterklasse bedingten sich gegenseitig. Was will Bernstein noch mehr?

Tatsächlich haben denn auch die verschiedenen Schattierungen des sozialreformerischen Liberalismus Bernstein für sich reklamiert. Sie haben kein Recht, dies mit Bernstein als Parteimann zu tun. Über dessen Stellung entscheidet sein Wille, seine Gesinnung. Und diese sind, wie er erklärt, nach wie vor sozialdemokratisch. Aber sie haben nach meiner Auffassung ein Recht, seine theoretischen Auseinandersetzungen für sich zu reklamieren, denn über deren Bedeutung entscheidet nicht der Wille oder die Gesinnung.

Zum Glück sind die Tatsachen der Wirklichkeit nicht derartige, dass durch dieses Recht der Liberalen unser „Rechtsbewusstsein“ auch nur die mindeste Einbuße zu erleiden brauchte.



Zuletzt aktualisiert am 6.1.2012