Karl Kautsky


Die Agrarfrage




Zweiter Abschnitt
Sozialdemokratische Agrarpolitik


IV. Der Schutz der Landbevölkerung


a) Die Verwandlung des Polizeistaats in einen Kulturstaat

Wenn auch die Sozialdemokratie mit den agrarischen Parteien an Bauernrettung nicht wetteifern kann, so giebt es doch ein Gebiet, an dem sie der Landbevölkerung mehr zu bieten hat als die agrarischste der bürgerlichen Parteien.

Um dies klar zu machen, müssen wir jedoch etwas weiter ausholen.

Die ganze Tendenz der modernen Produktionsweise geht nach Bereicherung der Stadt auf Kosten des flachen Landes. Wir haben davon schon ausführlicher gehandelt (S. 263 ff. [Eigentlich S. 208 ff. – Anm. MIA]) und wollen hier nur noch einige in Betracht kommende Gesichtspunkte hervorheben. Die Bereicherung der Stadt ist die naturnothwendige Folge der Akkumulation des Kapitals, das sich und den gesammten Mehrwerth, auch den landwirthschaftlicher Arbeit entspringenden, immer mehr in den Städten zentralisirt. Diese Tendenz wird erst mit der kapitalistischen Gesellschaft verschwinden; die Landbevölkerung hat daher ein weit größeres Interesse an dem Kommen der sozialistischen Gesellschaft als die städtische.

Die Verlegung der Industrie auf das flache Land und die Industrialisirung der Landwirthschaft ändern nichts an der fraglichen Tendenz. Die Methode der Ausbeutung wird dadurch für einen Theil der Landbevölkerung verändert, die Zentralisation des aus ihr herausgeschundenen Mehrwerth in den Städten bleibt dagegen bestehen.

Das Thema der Benachtheiligung des Landes durch Stadt ist unseren Agrariern sehr geläufig. Aber wenn sie glauben, diese Benachtheiligung durch Benachtheiligung der städtischen Bevölkerung, durch Erhöhung der Preise der Lebensmittel und Rohstoffe wieder gut zu machen, so irren sie sich. Wir haben schon darauf hingewiesen, daß sie dadurch nur die Grundrente erhöhen, die Lage der Grundbesitzer verbessern. Diese sind jedoch nicht identisch mit der Landbevölkerung. Die Mehrheit der letzteren lebt nicht von ihrem Grundbesitz, sondern von ihrer Lohnarbeit. Aber auch die grundbesitzenden Landwirthe sind in ihrer übergroßen Mehrheit nur scheinbare Grundbesitzer; der wirkliche Grundbesitzer ist der Hypothekengläubiger in der Stadt. Und der Großgrundbesitzer liebt es auch, seine Grundrente in der Stadt zu verzehren. Eine Steigerung der Lebensmittelpreise und der Grundrente steigert die Güterpreise, steigert die Masse der Hypothekenzinsen (in Folge von Erbfall und Verkauf), steigert die Ausgaben, die der Großgrundbesitzer oder seine Kinder in der Stadt machen. Auf der anderen Seite aber steigert sie die Ausbeutung nicht blos der städtischen, sondern auch der Mehrheit der ländlichen Bevölkerung, sie steigert also in letzter Linie die Ausbeutung des Landes durch die Stadt, statt sie zu verringern.

So weit dieser Tendenz in der heutigen Produktionsweise entgegengetreten werden kann, tritt ihr die Sozialdemokratie entgegen durch das Bestreben, die Arbeits- und Lebensbedingungen des ländlichen Proletariats zu verbessern.

Aber es ist nicht die kapitalistische Produktionsweise allein, die das Land zu Gunsten der Stadt auspowert. In derselben Richtung wirkt der moderne, zentralistische Staat auch dort, wo er völlig unter agrarischem Einflusse steht und das gerade Gegentheil beabsichtigt.

Der moderne Staat ist wie jeder bisherige Staat in erster Linie eine Herrschaftsinstitution. Die Träger der modernen Staatsgewalt, die Parlamente und namentlich die Fürsten, sahen daher ihre Hauptaufgabe darin, die kleinen mehr oder weniger souveränen Gemeinwesen des Mittelalters, aus deren Zusammenschweißung der moderne Staat erwuchs, ihrer Selbständigkeit und ihrer Herrschaftsmittel zu berauben Die städtische wie die ländliche Gemeinde, die Markgenossenschaft, das feudale Territorium, verloren ihre Selbstverwaltung und die Zwangsmittel, über die sie verfügten. Justiz, Polizei, Armee, Steuerverwaltung werden stramm zentralisirt.

Dagegen ist der moderne Staat, auch hier wie jeder bisherige Staat, nur in sehr beschränktem Maße eine Institution im Dienste der Kultur. Was er in seinen Händen zentralisirt, sind die Herrschaftsmittel. Die Kulturaufgaben überläßt er den Gemeinden und Kreisen, oder gar den Privaten, nach deren Zentralisation gelüstet’s ihn nicht. Das Volksschulwesen bleibt Gemeindesache, ja selbst das höhere Schulwesen zum Theil. Die Hochschulen freilich sind Staatssachen – die er mit dem besten Willen nicht den Gemeinden aufbürden; aber dafür dienen sie auch vornehmlich Herrschafts-, nicht Kulturzwecken; sie sollen verwendbare Staatsbeamte drillen, nicht freie Forscher heranziehen.

Gemeindesache, zum Theil Privatsache, bleibt die Wohlfahrtspolizei ins weitesten Sinne – Sanitätspolizei, Heilwesen, Armenpflege. Theils Gemeindesache, theils Privatsache bleibt die Herstellung und Erhaltung der Verkehrswege; der Staat greift hier in der nur ein, soweit es sich um die Förderung des militärischen Verkehrs, um Kriegsmaßregeln handelt. Die Staatsstraßen heißen sehr bezeichnend Heerstraßen, und die Eisenbahnen sind bisher nur in den Militärstaaten verstaatlicht worden, nicht in der Schweiz, England, Amerika. Der deutsche Kaiser hat allerdings gesagt, unser Jahrhundert stehe im Zeichen des Verkehrs, aber das Zeichen, unter dem die preußischen Staatsbahnen stehen, ist nicht das des Verkehrs, sondern das des Militarismus und der Plusmacherei.

Die wissenschaftlichen und künstlerischen Institutionen, die der moderne Staat pflegt und erhält, sind als Anhängsel höfischen Prunkes erstanden, als Hoftheater, Hofgallerien, Hofmuseen, und sie bewahren östlich des Rheines ihren höfischen Charakter bis heute.

Soweit aber der Staat neben den Herrschaftsmitteln Kulturmittel schafft und erwirbt, konzentrirt er sie ebenfalls in den Großstädten, namentlich den Residenzen. Die Landbevölkerung hat zu ihrer Erhaltung ebenso beizutragen, wie die städtische Bevölkerung, aber den eventuellen Nutzen davon hat nur diese.

Die entgegengesetzten Tendenzen müssen im Staate Platz greifen, sobald das Proletariat auf seine Leitung Einfluß gewinnt. Die Staatsgewalt ist der mächtigste Hebel zur Aufhebung des kapitalistischen Systems. Das Proletariat muß mit Naturnothwendigkeit trachten, sie zu erobern. Aber man darf sich die Diktatur des Proletariats nicht etwa in der Weise vorstellen, daß eines schönen Tages der großstädtische Mob durch einen Gewaltstreich die Ministerien erobert und die Zwangsmittel der Staatsgewalt zur Plünderung der Reichen ausnutzt.

Das Proletariat kann nicht um den Besitz der Staatsgewalt kämpfen, ohne in diesem Kampfe sich selbst und den Staat auf eine höhere Stufe zu heben; es kann sie nicht seinen Interessen dienstbar machen, ehe ihm diese Erhebung nicht gelungen. In diesem Kampfe erst erlangt es die nöthigen moralischen und intellektuellen Qualitäten, die es zur herrschenden Klasse, damit aber auch zur Abschaffung jeder Klassenherrschaft befähigen. Der Kampf des Proletariats um die Staatsgewalt bedeutet aber auch nicht einfach den Kampf um die Eroberung ihrer Machtmittel, er bedeutet naturnothwendig auch das Streben nach Verwandlung der absoluten Monarchie oder der Oligarchie in eine Demokratie, sowie das Streben nach Zurückdrängung der Herrschaftsaufgaben des Staates und Hervorhebung seiner Kulturaufgaben, nach Verwandlung des Polizei- und Militärstaates in einen Kulturstaat.

Das ist ja selbswerständlich und bedarf keiner weiteren Ausführung.

Wenn aber diese Umwandlung des Staates für die gesammte Bevölkerung von Vortheil sein muß, so doch von viel größerem für die ländliche als für die städtische. Jene hat dabei am meisten zu gewinnen.

Einige Beispiele mögen das darthun.
 

b) Die Selbstverwaltung

Die Sozialdemokratie verlangt die Selbstverwaltung des Volkes in Staat, Provinz und Gemeinde. Letzteres ist für die Landleute weit wichtiger als für die Stadtbevölkerung, Der Staatsbeamte ist in seinem ganzen Wesen ein Städter, er hat für die städtischen Bedürfnisse mehr Verständniß und Sympathien als für die ländlichen. Die städtische Bevölkerung hat aber auch ganz andere Mittel, auf die Bureaukratie einzuwirken, als die ländliche, namentlich eine mächtige Presse. Das hindert freilich nicht, daß mitunter der Grundbesitz von der Regierung und der Bureaukratie auf Kosten der städtischen Erwerbszweige bevorzugt wird, aber welche Art Grundbesitz ist es, die sich dieser angenehmen Position zu erfreuen weiß? Der Großgrundbesitz, und zwar jener Theil des Großgrundbesitzes, der eine städtische Klasse ist, der in der Stadt seine Grundrente verzehrt und dort Regierung und Bureaukratie persönlich beeinflußt. Die Interessen dieses Grundbesitzes stehen aber im Gegensatz zu denen der Masse der Landbevölkerung, die er ausbeutet, und gerade sein Einfluß bewirkt es, daß die Masse des Landvolks in allen lokalen Angelegenheiten, auf die die Staatsverwaltung Einfluß hat, benachtheiligt wird, wenn dem Großgrundbesitz ein Vortheil daraus erwächst, z. B. bei Bemessung der Gemeindeabgaben, Abschätzung des Wildschadens und dergleichen. Hier ebenso wenig wie bei der Politik des „Schutzes“ der Landwirthschaft durch Zölle und Liebesgaben erweisen sich die agrarischen Neigungen der Staatsverwaltung als Mittel, die Benachtheiligung des Landvolks hintanzuhalten; sie verstärken sie nur.

Die Selbstverwaltung von Provinz, Kreis und Gemeinde muß nicht nur der Bevormundung und Vergewaltigung des Landvolks durch verständnißloße, anmaßende oder gar korrupte Beamte einen kräftigen Riegel vorschieben und der Uebermacht des Großgrundbesitzes wenigstens insoweit, an sie auf politischen Faktoren bernut, entgegenwirken, sie muß auch dem Landvolk ökonomisch zu Gute kommen, indem sie von der Masse der städtischen Beamten ein Theil ganz überflüssig macht, ein Theil dem flachen Lande zuführt, wo sie hinfort ihr Gehalt konsumiren, und zwar nicht mehr als Herrn, sondern als Diener der Bevölkerung.
 

c) Der Militarismus

Noch wichtiger für das Landvolk als die Einschränkung der Allmacht der zentralisirten Bureaukratien ist die Einschränkung des Militarismus. So schwere Opfer dieser der gesammten Bevölkerung auferlegt, die schwersten treffen das flache Land. Die Industrie, die eine stetig wachsende Reservearmee Arbeitsloser erzeugt, kann die Verminderung der Arbeitskräfte durch die stehenden Heere leichter ertragen als die Landwirthschaft, die unter dem steten Abfluß ihrer Arbeiter leidet. und die jungen Leute, die vom Lande in die Stadt kommen, um Soldaten zu werden, sie verlieren nur zu leicht die Lust am Landleben und bleiben der Landwirthschaft für immer verloren. Diejenigen aber, die zu ihr zurückkehren, sind nicht immer die besten Elemente. Vor den kulturellen Einwirkungen der Stadt wird der Soldat ängstlich gehütet; nichts könnte schlimmer sein, als wenn er etwas von ihrem Geist aufnähme! Die Soldatenkneipe und das Bordell sind die einzigen „standesgemäßen“ Aufenthaltsorte für den Vaterlandsvertheidiger in seinen freien Stunden, die einzigen, die ihn nicht auf revolutionäre Gedanken bringen; und die Errungenschaften, die er an der Stadt auf das Land verpflanzt, sind der Kasernenton und die Syphilis.

Die Steuern aber, die der Bauer zur Erhaltung des Heeres zahlt – sowohl die Zwangssteuern wie die freiwilligen, die er sich zur Erhaltung seines Sohnes im Waffenrock selbst auflegt, wandern in die Stadt, werden dort verzehrt. Manche städtische Industrie, manche städtische Volksschicht lebt vom Militarismus. Der Bauer hat nur Nachtheile und Lasten davon.

Angesichts alles dessen ist es schwer begreiflich, wieso gerade der Bauer sich als die beste Stütze des Militarismus erweist. Niemand wird behaupten, daß das nationale Bewußtsein bei ihm stärker entwickelt sei als bei der städtischen Bevölkerung, daß ideale Beweggründe in ihm lebendiger sind, als in dieser. Aber auch das monarchische Bewußtsein, die Begeisterung für des „Königs Rock“, können wir als ausreichende Erklärung nicht betrachten.

Am naheliegendsten erscheint uns die Annahme, daß die Landbevölkerung sich mehr oder weniger klar der Thatsache bewußt ist, daß eine feindliche Invasion sie aufs Schwerste treffen würde, viel schwerer als den Städter – abgesehen natürlich von Festungen. Die Gräuel und Verwüstungen des Krieges treffen vornehmlich das flache Land; daher die Angst der Bauern, das Reich könnte wehrlos werden, daher seine Begeisterung für die Armee, die den Feind von seinen Fluren fernhält.

Will man den Bauer zum Kampf gegen den Militarismus gewinnen, so muß man ihm vor Allem klar machen, daß es sich dabei nicht darum handelt, das Vaterland wehrlos zu machen.

Der Kampf gegen den Militarismus hat aber zwei Seiten, die gewöhnlich miteinander vermengt werden, die man aber streng auseinanderhalten muß.

Auf der einen Seite finden wir das Streben nach Herstellung des ewigen Friedens. Die Kriegsrüstungen der modernen Großstaaten nehmen so wahnsinnige Dimensionen an, daß den besten Patrioten dabei Angst und Bange wird. So kann es nicht weiter gehen, davon ist Jeder überzeugt, das führt zum Bankerott oder zu einem vernichtenden Krieg, dem wahnwitzigsten aller Kriege, einem Kriege, den man entfesselt, weil man die Last der Rüstung, die den Frieden sichern soll, nicht länger tragen kann. Nur durch ein Mittel erscheint es möglich, ihm vorzubeugen, durch eine Verständigung der Großstaaten untereinander über eine allgemeine Auflösung der stehenden Heere und durch freiwillige Unterwerfung der souveränen Mächte unter ein Weltschiedsgericht, dessen Entscheidungen sie sich willig fügen.

Kein Zweifel, der Gedanke ist sehr schön, aber utopisch in einer Gesellschaft, deren Interessengegensätze so stark, daß es nicht einmal innerhalb der Staaten möglich ist, wirthschaftliche Kämpfe, z. B. Streiks, durch Schiedsgerichte zu beseitigen. Der ewige Frieden setzt zum mindesten voraus, daß unsere Großmächte früher definitiv alle Streitpunkte regeln, die unter ihnen bestehen und Vorsorge gegen das Auftauchen neuer treffen. Davon sind wir aber weiter entfernt als je. Noch sind die nationalen Fragen nicht alle gelöst, die durch die Entwicklung des bürgerlichen Staates geschaffen wurden, noch ist die Auftheilung Europas nicht vollendet, und schon beginnt das letzte Ringen um die Auftheilung der Welt. Die kapitalistische Gesellschaft erzeugt zu tiefe Gegensätze zwischen den Nationen, als daß zu erwarten wäre, die kapitalistischen Regierungen würden zu einer Föderation gelangen. Die Lösung dieser Aufgabe ist der internationalen Solidarität des Proletariats vorbehalten, die heute schon eine weit kräftigere Friedensbürgschaft ist als alle Friedenskongresse der Bourgeoisie.

Einen ganz anderen Charakter hat die Forderung der Ersetzung des heutigen stehenden Heeres durch eine Volkswehr, durch ein Milizheer. Sie ist schon in der heutigen Gesellschaft, auch inmitten der schärfsten Interessengegensätze der Staaten untereinander durchführbar. Sie will nicht das Heer aufheben, nicht seine Schlagfertigkeit nach Außen beseitigen, sondern ihm nur seine Schlagfertigkeit nach Innen nehmen. Heute ist die Armee nicht blos Mittel zur Abwehr des äußeren, sondern auch Mittel zur Niederhaltung des „inneren Feindes“; sie ist das kraftvollste aller Herrschaftsmittel, die stärkste Stütze der herrschenden Klassen, soweit deren Macht auf politischen Faktoren beruht; sie ist dasjenige Mittel, das als ultima ratio jedem Versuch einer friedlichen Emanzipation der ausgebeuteten Klassen drohend entgegengehalten wird. Die Forderung der Einführung des Milizsystems ist daher eine eminente Kulturforderung, eine Forderung, die Jedem am Herzen liegen muß, der ehrlich wünscht, daß die soziale Entwicklung auf möglichst friedlichem Wege, unter möglichst wenigen Gewaltthätigkeiten und Brutalitäten vor sich geht.

Die Idee des ewigen enropä1schen Friedens verfolgt in erster Linie ökonomische Zwecke. Sie will der kapitalistischen Gesellschaft eine Last abnehmen, die unerträglich für diese wird. Nur das Verhängniß der Regierungen untereinander wird dadurch berührt, das Verhältniß zwischen Volk und Regierung bleibt unangetastet. Die Ablegung der Rüstung nach Außen bedingt keineswegs die Ablegung der Rüstung nach Innen. Im Gegemheil; während das moderne Streben unserer Großmächte, sich an Größe ihrer Armeen zu überbieten, diese allmälig immer mehr zu Volksheeren macht, die gegen das Volk zu verwenden immer bedenklicher wird, schließt die Idee der Abrüstung es durchaus nicht aus, daß die Regierungen an Stelle der jetzigen, dem Volke entspringenden, zum Volke zurückkehrenden riesigen Armeen kleine Heere von Berufssoldaten setzen, angeworbene Lumpenproletarier, die sich gegen gute Bezahlung auch dazu hergeben, auf Vater und Mutter zu schießen.

Die Forderung oder besser gesagt der Wunsch nach Abrüstung ist daher diejenige Form der Bekämpfung des Militarismus, für welche die bürgerlichen Kreise am ehesten zu gewinnen sind, trotz der geringen Aussichten, sie auf dem Boden der bürgerlichen Gesellschaft zu verwirklichen. Dagegen können sie sich nicht für die Ersetzung der stehenden Heere durch eine Volkswehr erwärmen, obwohl, oder vielleicht besser gesagt, gerade weil diese eine der Vorbedingungen von gesellschaftlichen Zuständen ist, die erst die Abrüstung gestatten.

Die Idee der Volkswehr verfolgt in erster Linie politische, nicht ökonomische Zwecke. Sie ist die unentbehrliche Vorbedingung einer wirklichen Demokratie, eines politischen Zustandes, in dem die Regierung der Diener und nicht der Herr des Volkes ist. Dagegen darf man von ihrer Durchführung eine außerordentliche direkte ökonomische Entlastung der Bevölkerung kaum erwarten. In dieser Beziehung ist ihr die Idee des ewigen Friedens entschieden überlegen.

Die Idee der Volkswehr bedeutet ja keineswegs eine Verminderung der Bewehrung des Volkes, eher eine Vergrößerung, da sie jeden Wehrfähigen auch zur Wehrhaftigkeit: heranziehen will. Welche Kosten dies verursacht, das ist eine Sache der technischen Entwicklung, die sich nicht absehen läßt, und die gerade auf dem militärischen Gebiet so lange ihre größten und verhängnißvollsten Triumphe feiern wird, so lange die Gegensätze der kapitalistischen Nationen untereinander fortdauern.

Der Betrag der direkten ökonomischen Vortheile, die der Gesammtbevölkerung aus dem System der Volkswehr erwachsen müssen, hängt von zahlreichen Umständen technischer und politischer Natur ab, die beständig wechseln und sich heute gar nicht absehen lassen. Aber wie hoch oder niedrig man auch diesen Betrag einschätzen mag, eines ist sicher: die meisten der direkten Vortheile ans dem Milizsystem werden der Landbevölkerung zufließen.

Wie immer die Art der Ausbildung des Soldaten unter dem System der Volkswehr sich gestalten mag – und diese Art kann je nach den verschiedenartigen politischen, technischen, ökonomischen, pädagogischen Bedingungen zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Ländern sehr verschieden sein – auf jeden Fall muß dieses System dahin führen, daß der Unterschied zwischen dem Soldaten und dem Bürger möglichst verschwinde. Dies ist das wesentliche Kennzeichen des Volkswehrsystems. Auf der einen Seite bleibt der Bürger auch außerhalb der Zeit seiner Ausbildung zum Soldaten ein Wehrmann: in der Schweiz hat der wehrfähige Bürger sein Gewehr zu Hause. Auf der anderen Seite wird dahin getrachtet, daß der Soldat auch während seiner Ausbildung ein Bürger bleibe, daß die Zeit seiner Absonderung von der übrigen Bevölkerung, das heißt die Zeit seiner Ausbildung in der Kaserne auf das zur Erlangung der Kriegstüchtigkeit unerläßliche Minimum beschränkt und ein möglichst großer Theil seiner Ausbildung außerhalb der Kaserne vollzogen wird. Die planmäßige Erziehung der Jugend zur Wehrhaftigkeit spielt bei jedem System der Volkswehr eine große Rolle. Dagegen werden der Ausbildung in der Kaserne nur einige Monate gewidmet.

Das heißt aber nichts Anderes als daß die Zeit, die der Soldat unter dem System der Volkswehr seinem Berufe entzogen wird, höchstens eine Belästigung, nicht aber eine ernstliche Belastung der Produktion darstellt. Ist das für jeden Produktionszweig von Bedeutung, so besonders für die an Arbeitskräften arme Landwirthschaft. Die Kaserne, das bedeutet für diese die Zentralisation des Militärs in der Stadt; bedeutet für sie eine der schlimmsten Formen des Absentismus, nämlich den ihrer besten Arbeitskräfte, die nicht nur aus Arbeitern Ausbeuter werden, allerdings sehr unfreiwillige, sondern auch das Ergebniß der Ausbeutung fern vom flachen Lande verzehren. Selbst wer die direkten ökonomischen Vortheile des Milizsystems nur höchst gering taxirt, wird zugeben müssen, daß es gerade für die Landwirthschaft eine der drückendsten Formen ihrer Ausbeutung beseitigt.
 

d) Verstaatlichung der Schul-, Armen-, Wegelasten &c.

Aber das Streben der Sozialdemokratie, den Staat aus einer Herrschaftsinstitution in eine Kulturinstitution umzuwandeln, fördert die Landbevölkerung nicht blos in dieser negativen Weise, durch den Kampf gegen die Allmacht der Bureaukratie und des Militarismns. Das kämpfende Proletariat muß auch trachten, den Staat zu einem Mittel zu machen, wirkliche Kultur zu verbreiten und Kulturaufgaben zu übernehmen, denen der Einzelne und die Gemeinde nicht gewachsen sind und deren Erfüllung ein unabweisbares Bedürfniß der Gesammtheit ist.

Wir haben oben (S. 336) bereits darauf hingewiesen, daß es eine Reihe von Kulturaufgaben giebt, die heute, so lange sie den Gemeinden überlassen bleiben, in befriedigender Weise nur die Stadt lösen kann, die aber für das Land ebenso dringend sind wie für die Stadt. Ja manche dieser Aufgaben sind auf dem Lande weit dringender, als in der Stadt. Jenes bedarf viel mehr guter Volksschulen als diese, da ihm alle anderen Bildungsmittel fehlen und die Landwirthschaft ein Gewerbe wird, das zu seinem Betrieb weit mehr wissenschaftliche Einsicht erfordert, als die meisten städtischen Gewerbe. Wie mit den Schulen, steht’s mit der Armenunterstützung. In den Städten, wo der Reichthum sich sammelt, sind viele Privatleute, die von ihrem Ueberflusse mühelos etwas abgeben können, um den Anblick der bittersten Noth von sich fernzuhalten. Auf dem flachen Lande vermag die private Wohlthätigkeit fast gar nichts in Gegenden mit einer rein landwirthschaftlichen und kleinbäuerlichen Bevölkerung, die selbst nicht im Ueberflusse lebt. Wo aber Großgrundbesitz vorhanden, der mit seinem Ueberflusse mildernd eingreifen könnte, da bewirkt der Absentismus nur zu oft, daß dem reichen Grundbesitzer das Elend um seine Güter herum gar nicht zum Bewußtsein kommt. Jene Großgrundbesitzer, die meist in der Stadt leben, werden, falls sie wirklich mildthätig sind, öfter in die Lage kommen, für städtische Arme etwas zu geben als für ländliche.

Eine Ausnahme bilden die katholischen Klöster, die meistens großen Grundbesitz aufweisen, deren Insassen aber weder Absentismus üben noch Söhne und Schwiegersöhne in der Stadt haben – wenigstens nicht legitime – durch die sie von ihren Grundrenten erleichtert werden. Die Klöster sind am ehesten geeignet, auf dem Lande Wohlthätigkeit zu üben. So sehr man dies anerkennen mag, so muß man doch zugeben, daß sie, als reine Wohlthätigkeitsinstitute betrachtet, gar zu große Verwaltungskosten aufweisen. die breiten Bettelsuppen der Klosterküchen zu produziren, giebt es jedenfalls billigere Methoden, als ihre reichliche Ausstattung mit allem, was das Herz erfreut, zu Gunsten der Klosterbrüder.

Nicht minder schlimm wie mit der Armenversorgung steht’s mit der Krankenversorgung und dem Sanitätswesen überhaupt auf dem Lande. Sein geistige Verödung treibt auch die Aerzte in die Stadt. Der Aerztemangel auf dem Lande wird immer größer, indessen in den Städten zahlreiche junge Aerzte vergeblich nach einer Praxis suchen. Ist es überall für den Proletarier schlimm, krank zu werden, so auf dem Lande weit schlimmer als in der Stadt. In dieser findet er nicht selten als „Material“ zu Studienzwecken Aufnahme in öffentlichen Kliniken oder doch billigen ärztlichen Rath; auf dem Lande kann er stundenweit nach einem Arzt suchen, oft wird er sich zu den Roßkuren oder den Sympathiemitteln eitles Schäfers oder eines alten Weibes bequemen müssen. Von Krankenheilanstalten, ja auch nur von Unterkunftsorten zur Isolirung ansteckend Kranker ist da keine Rede.

Dazu kommt die Vernachlässigung des flachen Landes in Bezug auf Verkehrswege. Nirgends sind gute Verkehrswege so nothwendig, wie auf dem Lande, angesichts der Zerstreuung der Bevölkerung, der großen Entfernungen der einzelnen Wohnorte von einander, und auch angesichts des geringen spezifischen Werthes der landwirthschaftlichen Produkte, die nur bei ausgezeichneten Transportmitteln einen weiteren Transport lohnen. und während in den Städten die Bevölkerung sich immer dichter aneinander drängt, wird sie auf dem Lande stellenweise sogar sparsamer. Dabei wachsen die Mittel der Städte zum Ausbau ihrer Kommunikationen, und die Herstellung billiger Verkehrsmittel (Omnibusse, Trambahnen, Stadtbahnen, Paketfahrten &c.) wird in ihnen ein so lukratives Gewerbe, daß sich das Kapital eifrig danach drängt. Auf dem flachen Lande denkt Niemand dran, und die armen Landgemeinden sind nicht im Stande, aus ihren Mitteln die nöthigen Verkehrsbedingungen zu schaffen.

So wird der Gegensatz zwischen Stadt und Land ein immer krasserer.

Hier greift die Sozialdemokratie ein, indem sie dem Staate zuweist, was die Gemeinde nicht leisten kann. Der Staat soll die Kosten des Schulwesens, der Armenpflege, der Gesundheitspflege, des Verkehrswesens übernehmen.

Damit soll nicht etwa gesagt sein, daß alle diese Gebiete von nun an bureaukratisch schablonenhaft verwaltet werden sollen. Die Selbstverwaltung der Gemeinde, des Kreises, der Provinz soll hier keineswegs eingeengt werden, sie wird in den meisten Staaten des kontinentalen Europas noch erweitert werden müssen. Die Gemeinde ist weit weniger Herrschaftsinstitution als der Staat, sie ist weit weniger geneigt als dieser, die Schule zu einem Regierungswerkzeug zu gestalten oder die Armenpflege und das Verkehrswesen zur Korrumpirung der Wähler im Regierungsinteresse zu gebrauchen – wenigstens nicht dort, wo allgemeines Wahlrecht herrscht.

Ferner ist zu bedenken, daß in einer Gemeinde mehr Elemente des Fortschritts vorhanden sind, als in einer Staatsverwaltung, die viel mehr unter dem Einfluß reaktionärer Gewalten – des rückständigen flachen Landes, rückständiger herrschender Klassen, Soldaten, Pfaffen, Aristokraten – steht als die Stadt. Die Verstaatlichung der ländlichen Volksschule könnte unter Umständen ein Vortheil sein, die der städtischen wäre entschieden ein Rückschritt.

Dem Gothaer Programm der deutschen Sozialdemokratie gegenüber, das „allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat“ verlangt, bemerkte Marx in seinem bekaunten Briefe:

„Ganz verwerflich ist eine Volkserziehung durch den Staat. Durch ein allgemeines Gesetz die Mittel der Volksschulen bestimmen, die Qualifizirung des Lehrerpersonals, die Unterrichtszweige &c. und, wie es in den Vereinigten Staaten geschieht, durch Staatsinspektoren die Erfüllung dieser gesetzlichen Vorschriften überwachen, ist etwas ganz anderes, als den Staat zum Volkserzieher ernennen! Vielmehr sind Regierung und Kirche gleichmäßig von jedem Einfluß auf die Schule auszuschließen. Im preußisch-deutschen Reich nun gar bedarf umgekehrt der Staat einer rauhen Erziehung durch das Volk.“ (Neue Zeit, IX, n S. 574)

Ebenso wenig Grund wie bei der Schule liegt beim Armenwesen, der Krankenpflege, dem Verkehrswesen vor, sie der Schablone der staatlichen Bureaukratie zu unterwerfen. In Rußland, wo die Nothwendigkeit, dem Landvolke die Möglichkeit ärztlicher Hilfe zu bringen, förmlich dazu zwang, ein System öffentlicher Krankenpflege einzurichten, hat dieses nur in jenen Gouvernements einige Bedeutung erlangt, in denen die Organe der Selbstverwaltung, die Semstwos, die Organisirung in die Hand nahmen. Wie unerläßlich es ist, bei der Armenpflege wie bei der Herstellung von Verkehrsmitteln die lokalen Hilfsmittel und Bedürfnisse genau zu kennen, bedarf keiner weiteren Ausführung.

Es wäre aber auch unvereinbar mit dem Streben, den Staat aus einer Herrschafts- zu einer Kulturinstitution zu machen, wenn man ihm neue Herrschaftsmittel ohne Noth in die Hand geben wollte. Die kirchliche Armenpflege war eine der Grundlagen der kirchlichen Macht; und wie die Verfügung der Regierung über die großen nationalen Verkehrsmittel, die ihr unterstehen, wirkt, das zeigt jede Wahl: regierungstreue Wahlbezirke haben weit bessere Aussichten, ihre Wünsche in Bezug auf Eisenbahnen, Voll- oder Kleinbahnen, Straßen, Brücken &c. erfüllt zu sehen, als oppositionelle, und das verhilft manchem Regierungsanhänger zu einem Mandat. Man kann sich denken, welche Macht die Regierung erlangte, wenn sie auch das gesammte lokale Verkehrswesen zu regeln hätte!

Auf allen diesen Gebieten kann der Staatsgewalt blos die Rolle der Sammlung der Hilfsmittel zufallen, die durch Staatssteuern aufgebracht werden und nach bestimmten Normen den einzelnen Provinzen, Kreisen, Gemeinden zufließen und von diesen selbst verwaltet werden.
 

e) Unentgeltlichkeit der Rechtspflege

Noch eine Forderung der Sozialdemokratie wäre unter den Maßregeln zu nennen, die dem Staate an Stelle von Herrschaftsfunktionen kulturfördernde Funktionen zuweisen und dem Landvolk mehr als der städtischen Bevölkerung zu Gute kommen: die Forderung der Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und des Rechtsbeistandes. So wie wir diese Forderung auffassen, bedeutet sie nicht etwa, daß alle Rechtsgeschäfte von nun an unentgeltlich sein sollen, alle Prozesse, welcher Art immer, auf Staatskosten, also auch auf Kosten der Proletarier, ausgefochten werden sollen. Wenn zwei reiche Leute eine Millionenerbschaft machen und sich darüber in die Haare gerathen, wenn zwei Aktiengesellschaften sich wegen eines Patentes raufen &c., kann es unmöglich der Sozialdemokratie beifallen, zu verlangen, daß die Proletarier beitragen sollen, diese Prozeßkosten zu bezahlen.

Anderseits kann man auch unmöglich fordern, daß Jeder das Recht haben solle, ganz nach Willkür zur Sühnung eines vielleicht nur in der Phantasie bestehenden Unrechts einen Rechtsstreit auf Staatskosten zu beginnen. Zahlt der Staat die Kosten, dann muß ihm auch ein Urtheil darüber ermöglicht werden, welche Rechtsstreitigkeiten von vornherein grundlos sind oder nicht. Dies würde aber zu Einrichtungen für den Zivilprozeß führen, die mit dem heutigen Anklagemonopol der Staatsanwaltschaften eine verhängnißvolle Aehnlichkeit hätten. Die Staatsgewalt bekäme ein neues Machtmittel in die Hand, Anderseits sind die Leistungen unserer Staatsanwälte und Richter keineswegs derartige, daß wir zu wünschen hätten, an Stelle der freien Advokaten Staatsbeamte zu sehen.

Die Forderung der Unentgeltlichkeit der Rechtspflege kann unseres Erachtens nur den Sinn haben, daß Institutionen geschaffen werden sollen, die es auch dem Unbemittelten möglich machen, sein Recht zu suchen, was heute oft außerhalb seiner Macht steht. Dazu würde die Ausgestaltung von Einrichtungen gehören, wie sie das Proletariat hie und da heute schon entweder erobert oder geschaffen hat, um seinen Angehörigen das Rechtsuchen zu erleichtern; diese Einrichtungen müßten verallgemeinert und ihre Kosten von den einzelnen Korporationen oder Gemeinden, die sie jetzt tragen, auf den Staat übergewälzt werden, aber auch hier wieder ohne Einschränkung des Prinzips der Selbstverwaltung. Wir haben da die Gewerbegerichte im Auge und die Arbeitersekretariate.

Den dringendsten Bedürfnissen nach unentgeltlicher Rechtspflege dürfte wohl abgeholfen werden durch die Einrichtung von Gerichten, die aus Vertrauensmännern des Volkes zusammengesetzt sind und unter Anleitung von Berufsrichtern ohne viele Förmlichkeiten rasch und kostenlos alle Bagatellsachen erledigen, sowie durch die Einrichtung von Auskunftsstellen, in denen sachkundige Vertrauensleute den Rechtsuchenden unentgeltliche und uninteressirte Auskunft über die Berechtigung und die Aussichten ihrer Beschwerden und den besten Weg, ihnen abzuhelfen, ertheilen.

Den Hauptvortheil solcher Auskunftsstellen sehen wir nicht darin, daß sie den Einzelnen die Mittel an die Hand geben, ihre Prozesse selbst zu führen, sondern darin, daß sie viele Prozesse verhindern. Dadurch würden sie ein Segen, namentlich für die Landbevölkerung.

Der Advokat lebt ebenso von Prozessen, wie der Arzt von Krankheiten. Liegt nicht allgemeine Gesundheit, sondern möglichst viel Krankhaftigkeit im Interesse des Letzteren, so möglichst viel Unfrieden im Interesse des Ersteren. Nun giebt es sicherlich in dem einen wie in dem anderen Berufe genug Ehrenmänner, die von derartigen Erwägungen sich nicht leiten lassen, aber es giebt auch nicht wenige, die ihnen nicht widerstehen können, und bei den Advokaten noch mehr als bei den Aerzten; denn bei diesen handelt es sich gleich um Tod und Leben, bei jenen nur um etwas Geld, und die Natur läßt sich nicht überlisten, wohl aber der Formalismus eines beschränkten Richters durch Advokatenkniffe. Das muß schon eine sehr schlechte Sache sein, die absolut aussichtslos ist. Kein Wunder, daß es Advokaten giebt, die in Streitfällen, welche zu einem, wenn auch mageren Vergleich sich eigneten, zu einem fetten Prozeß rathen – fett für den Advokaten, aber ausmergelnd für seinen Klienten.

Nirgends giebt es aber derartiger Prozesse so viele wie auf dem fachen Lande. Das ist nicht etwa die Folge einer mysteriösen „Prozeßsucht “ der Bauern, sondern eine Folge der ländlichen Eigenthumsverhältnisse. Die meisten Rechtsstreitigkeiten drehen sich um das Eigenthum. Nirgends aber giebt es mehr Eigenthum als auf dem Lande, wo ja, wie wir gesehen, auch ein großer Theil der Proletarier Grundeigenthum besitzt; oft ein lächerlich geringfügiges Eigenthum, aber doch ein Eigenthum, das stark genug ist, das Seelenleben seines Besitzers zu beeinflussen.

Giebt es aber nirgends mehr Eigenthum als auf dem Lande, so ist das dem Lande eigenthümliche Eigenthum, das Grundeigenthum, diejenige Eigenthumsart, die zu den meisten Streitigkeiten Veranlassung giebt. Grund und Boden ist eben ein ganz besonderes Ding. Die anderen Dinge, an denen man Eigenthumsrechte erwerben kann, sind relativ rasch vergänglich, oder wo das nicht der Fall, wie z. B. bei den edlen Metallen, da wechseln sie leicht die Form und den Ort. Der Grund und Boden bleibt stets auf demselben Flecke, ändert selbst in Jahrhunderten nicht wesentlich seine Form; er ist das konservative Element in der Oekonomie, das Beharrende in der Erscheinungen Flucht. Diesen konservativen Charakter zeigt aber auch das Eigenthumsrecht am Boden; es konservirt ganz anders, wie das Eigenthum an anderen Objekten, besondere Rechte und besondere Pflichten, zu denen sich im Laufe der Jahrhunderte viel leichter neue hinzugesellen, als daß alte absterben. So umfaßt das Eigeuthum an einem bestimmten Grundstück meist nicht nur das Recht, so und so viele Quadratmeter Land zu benutzen, es umfaßt auch eine ganze Summe weiterer Rechte und auch Pflichten. Was bei jedem anderen Eigenthum unmöglich wäre, beim Grundeigenthum ist es nichts Ungewöhnliches: Rechtsstreitigkeiten, aus dem 17. Jahrhundert übernommen, Rechte und Pflichten aus der Feudalzeit, die sich im grauen Alterthum verlieren, Rechte und Pflichten, die oft nicht einmal schriftlich fixirt und mit modernen Rechtsbegriffen nur schwer oder gar nicht vereinbar sind. Welch fruchtbare Quelle von Rechtsstreitigkeiten! Aber auch welch famoses Mittel für diejenigen, die das nöthige Kleingeld und den nöthigen Einfluß haben, Grundeigenthum auf dem Wege der Niederprozessirung der im Wege stehenden Grundbesitzer zu erwerben! Bei der Expropriirung der Bauern durch den Adel hat der „Arm des Gesetzes“ mindestens ebenso sehr geholfen, wie die Fäuste der Söldner. Offene Rechtsbrüche zu Gunsten großer Grundherrn sind heute wohl nicht mehr zu befürchten. Aber die Ueberlegenheit ihrer Börse, die ihnen erlaubt, eine Sache durch alle Instanzen so lange zu verfolgen, bis dem Prozeßgegner der Athem ausgeht, besteht auch heute noch. Ob es möglich ist, diesen Vortheil des privaten Reichthums schon unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen in rationeller Weise abzuschaffen, erscheint uns zweifelhaft. Die von uns vorgeschlagenen Auskunftsstellen der Volksanwälte könnten das Uebel mildern, aber kaum radikal beseitigen. Aber sie werden schon sehr viel Gutes wirken, wenn sie den Prozessen der kleinen Grundbesitzer untereinander entgegenwirken, die jedenfalls zur Hebung der bäuerlichen Wirthschaft nicht dienlich sind. Wenn die Bauern ihr Geld weniger in die Stadt zu Advokaten und Gerichten tragen und es mehr zur Hebung ihrer Lebenshaltung und ihrer Betriebe verwenden, so kann das nur vortheilhaft wirken.

Alle die hier vorgeschlagenen Reformen kommen der ländlichen Bevölkerung viel mehr zu Gute als der städtischen, aber sie bedeuten keine Privilegirung der ersteren und noch weniger eine Privilegirung des Grundbesitzes; sie wirken vielmehr eminent demokratisch und ausgleichend. Sie bedeuten auch nicht den Schutz rückständiger Betriebsweisen und die Hemmung des ökonomischen Fortschritte, sie fördern diesen vielmehr in der entschiedensten Weise und entwickeln aus sich selbst heraus Triebkräfte zu neueren höheren sozialen Gestaltungen. Und sie bedeuten nicht fromme Wünsche, sondern liegen auf dem Wege der naturnothwendigen gesellschaftlichen Entwicklung.

Die Verstaatlichung der Schullasten z. B. ist heute schon ein allgemeines Bedürfniß und jeder Kulturstaat steuert zu den Kosten der Volksschule bei: Frankreich über 100 Millionen Franken jährlich (1893), Großbritannien das Doppelte (1893 160 Millionen Mark), Preußen 53 Millionen (1896).

Mit der Verstaatlichung der Krankenpflege sind wenigstens in Rußland, wie schon oben erwähnt, sehr vielversprechende Anfänge gemacht worden, und im Bezug auf die Fürsorge des Staates für die ländlichen Verkehrsmittel beginnt man jetzt wenigstens allenthalben dem Bau von Kleinbahnen größere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Aber das alles ist nur dürftiges Stückwerk, das wohl die Richtung anzeigt, nach welcher die Entwicklung drängt, das aber völlig außer Stande ist, ihren Bedürfnissen zu genügen.
 

f) Die Kosten des modernen Kulturstaats

Nicht an dem guten Willen fehlt es den Regierungen; keiner Bevölkerungsschicht kommen sie so sehr entgegen wie der Landbevölkerung. Es fehlt ihnen an den Mitteln, am Gelde.

Es ist keine Frage, daß das hier entworfene Reformprogramm, wenn allgemein und ausreichend durchgeführt, enorme Geldsummen erfordern würde.

Nehmen wir nur die Verstaatlichung der Schullasten. Es ist natürlich unmöglich, genau zu berechnen, welches die Kosten sein werden, die eine allgemeine Erhebung der Volksschule im ganzen Lande auf das Niveau der Bedürfnisse der modernen Kultur mit sich bringen dürfte. Aber einige Anhaltspunkte zu einer ungefähren Schätzung werden wir gewinnen, wenn wir sehen, welches die Koste der Volksschule in einer modernen Großstadt, und welches die Kosten der höheren Schulen sind. Sollten die ländlichen Schulen Preußens nur auf das Niveau der Berliner Gemeindeschulen gehoben werden, so würden sich folgende Kosten ergeben:

Es kostete der Volksschüler in Preußen 1896:

Im Staat

    

35,50 Mk.

Auf dem flachen Lande

29,67 Mk.

Berliner Stadtkreis

67,24 Mk.

Die Erhebung auf das Berliner Niveau würde die Kosten des Volksschulwesens verdoppeln. 1896 wurden für Volksschulen aufgewendet 186 Millionen Mark, davon kommen 53 Millionen Mark aus Staatsmitteln. Die Zahl der Volksschüler betrug 5.237.000, die der Schulkinder der gesammten niederen Schulen 5.520.000.

Mit dem Berliner Maßstab gemessen, würden deren Schulkosten 376 Millionen Mark erfordern.

Aber die Berliner Gemeindeschulen sind noch lange keine idealen Schulen. Es entfielen durchschnittlich in den Volksschulen:

 

    

Schulkinder auf eine

  Klasse  

Lehrkraft

Auf dem Lande

56

70

In den Städten

59

59

Im Stadtkreis Berlin

53

52

Wollte man es erreichen, daß auf jede Klasse nur 30 Schüler kommen, so würden die daraus entspringenden Mehrkosten allein das Volksschulbudget so ziemlich auf eine halbe Milliarde bringen.

Damit haben wir aber noch nicht das Minimum jener Forderungen erreicht, die an ein rationelles Volksschulwesen heute zu stellen sind. Wir haben weder die Unentgeltlichkeit der Lehrmittel noch die Speisung und Bekleidung wenigstens der dürftigen Schulkinder; haben nicht die Ausstattung der Schule mit Lehrwerkstätten und Gärten, mit Industrie- und Landwirthschaftslehrern, mit Lehrern und Mitteln zur Organisation und Ausbildung des Jugendwehrdienstes, mit allgemeinen Fortbildungsschulen bis zum 17. oder 18. Jahre. Das gäbe eine bedeutende Vermehrung der Schulpflichtigen auf der einen Seite, der Schulkosten für deneinzelnen Schüler anderseits.

Heute erfordert der höhere Schüler in Preußen über 200 Mark – der Universitätsstudent über 800 Mark an Schulkosten. Da ist die Annahme nicht übertrieben, wenn wir die Schulkosten des idealen Volksschülers auf 150 Mark pro Kopf berechnen. Das würde, selbst bei Belassung der Schulpflicht bis zum 14. Jahre, also abgesehen von ihrer Ausdehnung bis zum 17. Jahre, das preußische Volksschulbudget auf ca. 800 Millionen bringen, bei der Verlängerung der Schulpflicht wohl die Milliarde voll machen. Für das Reich berechnet ergäbe sich ein Volksschulbudget von 1½ Milliarden.

Dagegen verblassen sogar die Ziffern des Militärbudgets.

Auf die Berechnung der Kosten des Verstaatlichens anderer Lasten, Armenwesen, Gesundheitspflege, Verkehrswesen, Rechtspflege &c. lassen wir uns nicht ein. Dafür fehlen uns die nöthigen Unterlagen. Aber unbedeutend werden sie nicht sein.

Diesen enormen Anforderungen gegenüber, die den Ausgabenetat unserer heutigen Staaten verdoppeln, vielleicht verdreifachen würden, sind die Ersparnisse, die das eben entwickelte Reformprogramm ermöglichen würde, nur unerheblicher Natur.

Die Verdrängung der zentralisirten Bureaukratenherrschaft durch die Selbstverwaltung in Staat, Provinz, Gemeinde, bedeutet nicht die Aufhebung der Verwaltung der öffentlichen Angelegenheiten durch bezahlte Beamte. Diese Angelegenheiten sind heute viel zu komplizirt, zu mannigfaltig und ausgedehnt, als daß sie im Nebenamt durch dilettantische Feierabendarbeit erledigt werden könnten. Sie erfordern geschulte Fachmänner, bezahlte Beamte, die sich ihnen ausschließlich widmen. Der Gedanke einer Regierung des Volkes durch das Volk in dem Sinne, daß die öffentlichen Angelegenheiten statt von bezahlten Beamten von Männern aus dem Volke unentgeltlich in ihren freien Stunden besorgt werden, ist eine Utopie, und noch dazu eine reaktionäre, undemokratische Utopie, wie demokratisch und revolutionär auch ihre Vertreter fühlen mögen. Diese Art Selbstverwaltung setzt in jedem Gemeinwesen, das über die primitivsten Formen hinaus ist, eine Aristokratie – Großbauern, Feudalherren, Rentner aller Art – voraus, die, von der Arbeit Anderer lebend, die Muße und die Mittel haben, sich ausschließlich den öffentlichen Angelegenheiten zu widmen. Auch die vielgerühmte englische Selbstverwaltung war mir ein aristokratisches Privilegium. Je demokratischer die modernen Großstaaten werden, desto mehr müssen sie dort, wo sie die Selbstverwaltung haben, deren Aemter aus unbesoldeten Ehrenstellen in besoldete Funktionen verwandeln. Die moderne Selbstverwaltung, die moderne Demokratie bedeutet gegenüber der zentralisirten Bureaukratenherrschaft kann die Verminderung der Zahl der Beamten, sondern vielmehr ihre gleichmäßigere Vertheilung über das Land, ihre Unterwerfung unter den Willen der Bevölkerung und im Zusammenhange damit auch, wenigstens zum Theil, eine Veränderung in der Art ihrer Rekrutirung und Beförderung.

Wenn das Fortschreiten der Demokratie aber nicht in erheblichem Maße zu einer Verminderung der Zahl der besoldeten Beamten führt, so führt es dagegen zu einer fortschreitenden Ausgleichung ihrer Gehalte. In monarchischaristokratischen Staaten sind die obersten Aemter ein Privilegium der Aristokratie und werden ihrer Lebenshaltung entsprechend oft ausschweifend hoch dotirt – um so höher, je mehr sie bloße Sinekuren zur Versorgung geldhungriger oder geldbedürftiger, aber fauler und unwissender Aristokraten darstellen. Die eigentliche Arbeit wird von Arbeitern der bürgerlichen Intelligenz und des Proletariats besorgt und wird dementsprechend bezahlt. Das Fortschreiten der Demokratie führt zur Reduzirung der Gehalte der obersten Aemter, aber es führt auch zur Erhöhung der elenden Gehalte der unteren Ränge, deren Bezahlung heute vielfach unter der Lebenshaltung der in Privatdiensten arbeitenden Proletarier steht, wofür sie durch Aussichten auf ein angeblich sorgenfreies Alter, namentlich aber durch Anstachlung ihrer Eitelkeit und ihres Hochmuths, oft auch durch unsauberen Nebenerwerb, der an der Amtsstellung entspringt – Bestechung – entschädigt werden. Ein demokratisches Staatswesen, in dem der Beamte nicht der Herr, sondern der Diener des Volkes ist, in dem die Gesetze nicht blos für die Bevölkerung, sondern auch, und in erster Linie für die öffentlichen Beamten da sind, in dem die Uniform kein besonderes Recht, sondern eine besondere Verpflichtung bedeutet, ein solches Staatswesen wird schwer tüchtige Beamte finden, wenn es ihnen nicht ein Gehalt sichert, das der Lebenshaltung der Klassen entspricht, aus der sie sich rekrutiren. Schon diese Erwägung muß, neben manchen anderen, die hier auseinander zu setzen zu weit abführen würde, dahin führen, daß die Gehalte der niederen Beamtenklassen bei fortschreitender Demokratisirung des Staatswesens erheblich erhöht werden.

Da aber deren Lage heute eine elende und ihre Zahl eine große, die der übermäßig bezahlten Beamten dagegen eine geringe, so führt die fortschreitende Ausgleichung der Gehalte nicht zu einer Reduzirung, sondern zu einer zunehmenden Erhöhung der Ausgaben für die Besoldung der öffentlichen Beamten.

Zu ersparen ist auf diesem Gebiete nichts.

Besser steht es auf dem militärischen Gebiete. Eine allgemeine Abrüstung würde riesenhafte Summen freimachen, die wohl zur Durchführung des in Rede stehenden Reformprogramms nicht ausreichten, die aber doch gestatten würden, im Vergleich zu heute für die Hebung des allgemeinen Kulturstandes Bedeutendes zu leisten. Die 700 bis 800 Millionen Mark, die das Deutsche Reich jahraus jahrein für Landheer und Flotte ausgiebt, sind keine Kleinigkeit. Damit ließe sich schon ein Volksschulwesen schaffen, das die Bewunderung der Welt erregen und das deutsche Volk an die Spitze der Kulturnationen stellen würde.

Indeß stehen die Aussichten der allgemeinen Abrüstung leider sehr schlecht. Man wird aber unmöglich jede ernstliche Reform, die größere Kosten erfordert, bis zur Zeit nach erfolgter Abrüstung verschieben wollen, für die vielleicht erst in einem sozialistischen Gemeinwesen die Vorbedingungen gegeben sind. Der Uebergang vom System der stehenden Heere zur Volkswehr kann, muß aber nicht nothwendigerweise eine erhebliche absolute Verringerung der Heeresausgaben herbeiführen. Auf keinen Fall werden sie dadurch in einem Maße sinken, daß aus dem freiwerdenden Betrag auch nur ein größerer Bruchtheil der Kosten des modernen Kulturstaates gedeckt werden könnte. Und erklären wir nicht heute schon die unteren Schichten der Bevölkerung für überlastet? Müßte man nicht die etwaigen Ersparnisse der Heeresreform zu ihrer Entlastung verwenden?

Woher aber dann das Geld für die Verwandlung des Staates in einen Kulturstaat nehmen?

Die bürgerliche Steuerpolitik steht hier vor einem Problem, an dessen Lösung sie scheitern muß.

Um dies klar zu machen, müssen wir einen Blick auf die Prinzipien dieser Steuerpolitik werfen.
 

g) Bürgerliche und proletarische Steuerpolitik

Eine jede Steuerpolitik, die nicht ein bloßes Plündern der Bevölkerung sein will, wird von der Frage ausgehen müssen: aus welchen Quellen des gesellschaftlichen Reichthums kommen und sollen die Staatssteuern fließen? Die Frage, inwieweit und wie die einzelnen Individuen zur Steuerzahlung herangezogen werden sollen, ist eine sekundäre Frage, die ausreichend erst beantwortet werden kann, wenn die Antwort auf die erstere gefunden.

Fassen wir das Gesammtprodukt ins Auge, das eine gegebene Gesellschaft jahraus jahrein liefert, so kann es in zwei Theile zerlegt werden: ein Theil dient zur Erhaltung und Fortpflanzung der produzirenden Arbeitskräfte; er muß den produzirenden Arbeitern zufallen, soll die Gesellschaft fortexistiren können. Der Ueberschuß darüber hinaus bildet das Mehrprodukt, aus ihm werden die nichtproduzirenden Klassen erhalten. In einer kapitalistischen Gesellschaft nimmt das Mehrprodukt die Form von Mehrwerth an, der dem Kapitalisten zufällt.

Wenn wir die ökonomischen Verhältnisse in dieser Vereinfachung betrachten, dann ist es klar, daß die Staatssteuern nur einer Quelle entspringen sollen und dürfen: dem Mehrprodukt, respektive dem Mehrwerth. Das tritt deutlich zu Tage in der Feudalzeit. Die Funktionen des Staates wurden dort geübt vom König, der Kirche, dem Grundherrn; sie alle zogen ihr Einkommen nicht aus Steuern in unserem Sinne, sondern aus ihrem Grundbesitz, das heißt, aus der Arbeit der Landwirthe. Es war das Mehrprodukt dieser Landwirthe, das sie in Gestalt von Naturalabgaben und Naturaldiensten entweder ganz oder zum Theil bezogen und wofür sie die heute von der Staatssgewalt geübten Funktionen – Justiz, Polizei, Landesvertheidigung, Verkehr mit der Außenwelt &c. – auf sich nahmen.

Ueber den Betrag des Mehrprodukts gingen diese Abgaben und Dienste in der Regel nicht hinaus; einmal, weil der Naturalwirthschaft, wie schon von Marx bemerkt, nicht die maßlose Habgier der Geldwirthschaft innewohnt, dann aber, weil bei dem niederen Stande der Waffentechnik die Bauernschaft gegenüber des Feudalherrn nicht völlig wehrlos war, endlich, weil der Bauer, der zu arg bedrückt wurde, sich flüchten konnte und bei dem Mangel an Arbeitskräften überall gern aufgenommen wurde, sowohl bei einem anderen Grundherrn, wie in der Stadt.

In dieser entstand zuerst die Waarenproduktion, entstand die Geldwirthschaft. Das Produkt wurde zur Waare mit bestimmtem Werth und Preis, das Mehrprodukt erhielt auch die Werthform, und der Theil des Mehrprodukts, der zur Erhaltung des Staates zu dienen hatte, wurde zu einem Theile des in Geld realisirten Waarenwerths. An Stelle der feudalen Abgaben und Dienste trat die Geldsteuer.

Wir haben schon Eingangs unserer Arbeit die Situation geschildert, die daraus entstand. Die mit dem Bürgerthum neu aufkommende, auf Geldsteuern beruhende Staatsgewalt hatte zunächst die bisherigen Herrn des Gemeinwesens, Kirche und Feudaladel, niederzuwerfen. Das Ende des Kampfes mit diesen war nicht deren Vernichtung, sondern ein Kompromiß, der ihre Existenz auf neuer Basis neu befestigte. Aus Herrn des Staates wurden sie seine Diener, dafür aber schützte die Staatsgewalt ihre materiellen Interessen. Die aufkommenden Staatssteuern traten nicht an die Stelle der feudalen Dienste und Abgaben, sondern neben sie. Und der zentralisirte Staat mit der neuen Waffentechnik, Flinten und Kanonen der Berufsheere, und mit der maßlosen Habgier der Geldwirthschaft, wußte den Bauern, die sich vor der Staatspolizei nicht so leicht verstecken konnten, wie vor dem Herrn eines kleinen Frohnhofs, ganz andere Summen zu erpressen, als die früheren Grundherrn. Die feudalen Dienste und Abgaben wurden unter dem Schute der neuen Staatsgewalt eher gesteigert als vermindert und dabei stiegen die neuen Geldsteuern ins Maßlose. Die Fürsten rafften das Geld zusammen, wo sie es fanden, ohne die mindeste Rücksicht auf den Fortgang der Produktion und das Gedeihen der Bevölkerung. Dabei aber führte der staatliche Schutz des ökonomisch bereits bankerotten feudalen Grundeigenthums nicht zu einem Fortschreiten, sondern eher zu einem Rückgang der Produktion.

Unter diesen Umständen reichte das Mehrprodukt immer weniger aus, den Anforderungen des Staates zu genügen, ein Theil, und zwar ein wachsender Theil dessen, was zur Erhaltung und Fortpflanzung der arbeitenden Klassen nothwendig war, mußte, wenigstens auf dem Lande, der Habsucht der Staatsgewalt und ihrer Steuerpächter geopfert werden. Die im 14. und 15. Jahrhundert noch so wohlhabende Bauernschaft verarmte im 17. und 18. Jahrhundert zusehends, der Betrieb ging zurück, sie fing an, langsam zu verhungern. Zum Theil ist dies dem feudalen Drucke zuzuschreiben, der eine rationelle Landwirthschaft nicht gestattete, zum Theil den Anforderungen der Geldwirthschaft, die rasch wuchsen, indeß die Naturalwirthschaft des Bauern nur langsam den Charakter der Waarenproduktion annahm, zum Theil aber, und zu einem nicht geringen Theil, direkt der wahnsinnigen Steuererpressung.

Am schroffsten trat das in Frankreich zu Tage, dessen große Revolution auch die schroffste Reaktion gegen diese entsetzlichen Zustände bildete. In Frankreich suchten auch die Theoretiker der aufstrebende Bourgeoisie am frühesten nach einer rationellen Steuerpolitik.

Die Physiokraten brachten zuerst klar und entschieden die Steuerpolitik in Abhängigkeit von der Volkswirthschaft und erklärten, sie habe dieser zu dienen. Die natürliche Konsequenz davon war der Grundsatz: Die Steuer darf nur aus dem Mehrprodukt gezahlt werden. Aber die einzige Arbeit, die nach ihrer Ansicht ein Mehrprodukt schuf, war die landwirthschaftliche Arbeit. Sie verlangten daher Aufhebung aller anderen Steuern und ihre Ersetzung durch eilte einzige Steuer (impôt unique) auf den landwirthschaftlichen Ueberschuß (produit net). Aber auch diese Steuer, die wesentlich eine Besteuerung der großen Grundbesitzer geworden wäre, dachten sie sich nicht allzu drückend, da sie die Funktionen des Staates auf ein Minimum reduzirten. War doch der mit dem Feudaladel verbündete Staat zu einem unnützen Blutsauger geworden, der die ökonomische Thätigkeit allenthalben unterband, so daß die Beseitigung dieses Staates die erste Bedingung wirthschaftlichen Gedeihens war. Von den Physiokraten wurde das geflügelte Wort volle „laisser faire, laisser aller“ in die Welt gesetzt.

Was die Physiokraten angefangen, setzten später die radikalen Freihändler fort, die in unserem Jahrhundert den Kampf der Bourgeoisie gegen die Ueberreste des Feudalstaates führten. Ihr theoretischer Boden war freilich ein anderer, der der klassischen englischen Oekonomie. Aber gleich den Physiokraten huldigten auch sie dem Grundsatz des laisser aller, laisser faire, verlangten auch sie die Reduzirung der Funktionen des Staates auf ein Minimum, und gleich ihnen mußten sie ebenfalls eine Steuerpolitik anstreben, die im Einklang stand mit den Bedürfnissen der Produktion. So war ihre Steuerpolitik der ihrer Vorgänger sehr verwandt. Freilich, daß die Steuern auf eine einzige reduzirt werden sollten, eine Besteuerung des Mehrwerths, das kam ihnen nicht in den Sinn. Die Frage des Mehrwerths existirte für sie überhaupt nicht. Aber sie verwarfen doch die indirekten Steuern, wenigstens auf nothwendige Lebensmittel, und verlangten eine Einkommensteuer mit Freilassung der kleineren Einkommen, eine Steuer, die mit einer Besteuerung des Mehrwerths freilich nicht zusammenfällt, ihr aber doch sehr nahe kommt.

Aber das Manchesterthum ist nirgends völlig zum Durchbruch gekommen. Der bürgerliche Staat erwies sich als ebenso kriegerisch, wie der feudale. Die von den Ideen der Physiokraten getragene französische Revolution entfesselte eine Reihe von grauenhaften Weltkriegen, die über zwei Jahrzehnte lang ganz Europa verwüsteten und furchtbare Anforderungen an Gut und Blut der Völker stellten. Eine zweite Aera der Kriege drohte die Revolution von 1848 zu entfesseln, dieselbe, die dem radikalen Freihändlerthum den Weg zur Herrschaft bahnte. Der Niedergang der Revolution schob diese Kriege auf, die die Testamentsvollstrecker der Revolution, die drei Selbstherrscher Louis Napoleon, Bismarck und Alexander II. dann führten. Der zwanzigjährigen Kriegsära, die mit einem Orientkrieg begann und einem Orientkrieg endete, folgte die Aera des bewaffneten Friedens, die kaum weniger drückend auf den Völkern lastet, als ehedem ein Krieg. Alles das bewirkte in allen Kulturstaaten ein ständiges Anwachsen der Steuerlasten und der Staatsschulden, deren Verzinsung weitere Steuern erforderte. Dabei wuchsen aber auch die Ansprüche an den Staat als Kulturfaktor, so sehr sich die Regierungen in dieser Richtung der strengsten „Sparsamkeit“ befleißen mochten. Das höhere Schulwesen, Verkehrswesen und manches Andere stellten wachsende Anforderungen, die sich nicht umgehen ließen.

An Stelle des Friedensstaates, den die Manchesterleute geträumt, trat in Wirklichkeit ein ständiges Kriegslager; an Stelle des laisser faire ein stetes Wachsen der Sphäre des staatlichen Eingreifens in das gesellschaftliche Getriebe.

Woher aber die wachsenden Staatsbedürfnisse decken? Aus dem Mehrwerth, d. h. aus Einkommens-, Vermögens- und Erbsteuern oder aus der Besteuerung der Nothdurft des Volkes, d. h. aus indirekten Steuern? Das war die Frage. Aber die Bourgeoisie ist die herrschende Klasse, und eine solche hat stets die Hauptlasten des Staates von sich abzuwälzen gewußt. Es giebt Staaten, wie Frankreich, die überhaupt noch keine Einkommensteuer haben, dank der Alleinherrschaft der Bourgeoisie, der es in Frankreich gelang, schon vor hundert Jahren mit dem Adel völlig fertig zu werden, und die dem Proletariat stets im Kleinbürgerthum und Bauernthum einen starken Damm entgegenzusetzen wußte. Dafür ist in Frankreich die Besteuerung der Lebensmittel des Volkes sehr entwickelt; Getreidezölle, indirekte Steuern, darunter Salz-, Zucker- und Getränkesteuer, Tabakmonopol, liefern die Haupteinnahmen.

Nach dem Budget von 1897 lieferten:

Zölle

        

   410 Millionen Francs

Indirekte Steuern

   599 Millionen Francs

Tabak-, Zündhölzer-
und Pulvermonopol

   421 Millionen Francs

Zusammen

1.430 Millionen Francs

Die Gesammtheit der Staatseinnahmen betrug 3.386 Millionen. Die Börsensteuer ergab 8.700.000, die Mobiliareinkommensteuer 65.800.000 Francs. Die anderen Steuern (Stempel &c.) sind weit davon entfernt, als Ersatz für die Einkommensteuer zu dienen.

Am wenigsten alleinherrschend in den modernen Staaten ist die Bourgeoisie in England, wo allerdings die kapitalistische Produktionsweise sich am ehesten und reinsten entwickelt hat, wo aber gerade in Folge dessen der Bourgeoisie ein durch keine Kleinbürger- und Bauernschaft beengtes starkes Proletariat entgegentrat zu einer Zeit, wo ihr noch ein starker Adel gegenüberstand.

In England finden wir daher so gut wie gar keine indirekten Steuern auf die nothwendigen Lebensmittel. Aber auch der Mehrwerth wird möglichst geschont. Die englische Steuerpolitik beruht auf einem Kompromiß: sie hat eine Einkommensteuer eingeführt (die Einkommen unter 160 Pfund Sterling = 3.200 Mark sind steuerfrei), aber keine progressive (für die Einkommen von 160–500 Pfund Sterling findet nach dem Gesetz von 1894 eine gewisse Degression statt), die Masse der großen Einkommen wird also in keinem höheren Maße zur Besteuerung herangezogen wie die mittleren. In gleichem Sinne wie die Einkommensteuer wirkt die Erbschaftssteuer. Daneben aber haben wir hohe indirekte Steuern und Finanzzölle auf Luxusmittel der Volksmasse, namentlich Tabak und Spirituosen. Diese indirekten Steuern ergaben 1896 48.714.000 Pfund Sterling, rund eine Milliarde Mark, Einkommen- und Stempelsteuer, deren Löwenantheil die Erbschaftsabgaben bilden, 34.830.000 Pfund Sterling, 700 Millionen Mark. Die Gesammteinnahmen beliefen sich auf mehr als 100 Millionen Pfund, über zwei Milliarden Mark.

Die Mitte zwischen der Steuerpolitik Englands und der Frankreichs hält die der übrigen Kulturstaaten. Ueberall aber auf dem Kontinent (ausgenommen die demokratische Schweiz) finden wir den Mehrwerth weit weniger belastet als die nothwendigen Lebenselemente der Bevölkerung. Und im Allgemeinen hat die letztere Art der Besteuerung, haben die indirekten Steuern die Tendenz, zu wachsen, nicht blos absolut, sondern auch relativ. Wohl sind sie höchst irrationell, treffen sie doch oft, z. B. Salzsteuer, die armen, aber an Kopfzahl reichen Familien nicht nur relativ, sondern auch absolut stärker, als die wohlhabenden. Irrationell sind sie auch deswegen, weil ihre Erhebung, z. B. bei Zöllen, einen großen Theil ihrer Erträge verschlingt. Aber sie sind bequem: das Volk fühlt ihren Druck weniger, als den direkter Steuern, und – das ist das Entscheidende – die Masse des Volkes setzt ihnen nicht jenen Widerstand entgegen, den die Bourgeoisie jeder direkten Steuer, die ihr Einkommen erheblich belastet, entgegensetzt. und die Bourgeoisie ist heute doch noch die entscheidende Klasse. Die versinkenden Klassen, Handwerker und Bauern, fördern aber noch die Entwicklung der indirekten Steuern durch ihre Zollpolitik. Die Exportindustrie ist ja fast ausschließlich Großindustrie. Handwerker und Bauern bedürfen blos des inneren Marktes. Den wollen sie sich sichern. So begünstigen sie Schutzzölle, die sie freilich nicht schützen, die nur zu neuen indirekten Steuern werden, welche sie zum größten Theile selbst zu tragen haben.

Ueber die hier skizzirten zwei Arten der Steuerpolitik, die manchesterliche und die protektionistische, kommen die bürgerlichen Parteien nicht hinaus, auch nicht die bürgerliche Demokratie, die keine kapitalistische Partei ist, aber auch keine antikapitalistische, sondern die Partei der Versöhnung der Klasseninteressen, die Partei jener Interessen, die Kapitalisten und Proletarier, Kleinbürger und Bauern gemeinsam haben. Es mangelt ihr an Entschiedenheit den Kapitalisten gegenüber. Sie wagt es nicht, ihnen die ganze Steuerlast aufzubürden. Gleichzeitig will sie aber die unteren Klassen entlasten, und so läuft ihre ganze Steuerpolitik auf das Streben hinaus: möglichst wenig Steuern, ein Ideal, das unvereinbar ist mit den wachsenden Aufgaben des modernen Staates. Auf dem Boden der bürgerlichen Demokratie ist daher die Verwandlung des Staates in einen Kulturstaat unmöglich, wie wohlgemeint auch ihre Absichten in dieser Beziehung sein mögen.

Ganz anders ist die Steuerpolitik der proletarischen Demokratie, der Sozialdemokratie. Nicht Verringerung der Steuern ist ihre Losung, sondern Ueberwälzung der Steuern auf jene Schultern, die sie tragen können. Sie nimmt die alte physiokratische Forderung wieder auf, daß die Steuern blos aus dem Mehrwerth gezahlt werden sollen. Freilich, in der entwickelten kapitalistischen Produktionsweise ist der Mehrwerth nicht so leicht zu fassen, wie das produit net der Physiokraten, das bei der vorwiegenden Naturalwirthschaft des Bauern im vorigen Jahrhundert, der fast alles selbst produzirte, was er brauchte, als stofflicher Ueberschuß von Produkten erschien, die er über seinen eigenen Bedarf hinaus erzeugte und dem Grundherrn ablieferte. Der Mehrwerth tritt nur nach mannigfachen Theilungen und Formverwandlungen an die Oberfläche, so daß es unmöglich ist, ihn direkt vollständig zu erfassen. Die Besteuerung einzelner Quellen oder Theile des Mehrwerths führt leicht zu Ungleichmäßigkeiten, mitunter auch zu Ueberwälzungen. So benutzen die städtischen Grundbesitzer ihre Monopolstellung dazu, um die Besteuerung ihrer Grundrente auf die Miether abzuwälzen.

Auf die Frage, welche Art der Besteuerung des Mehrwerths die rationell, wollen wir hier nicht näher eingehen, das würde uns zu weit führen. Es genügt, auf das Programm der deutschen Sozialdemokratie hinzuweisen, das zur Bestreitung aller öffentlichen Ausgaben, soweit sie durch Steuern zu decken sind, eine stufenweis steigende Einkommens- und Vermögenssteuer und eine Erbschaftssteuer fordert, stufenweis steigend nach dem Umfang des Erbguts und dem Grade der Verwandtschaft. Diese Kombination scheint uns in der That den Mehrwerth am sichersten zu treffen.

Auch die bürgerliche Demokratie fordert derartige Steuern und hat ihre Annahme theilweise durchgesetzt; aber sie besitzt nicht die Rücksichtslosigkeit, um dem Kapital auf diesem Wege erhebliche Summen abzupressen. Nur die Sozialdemokratie kennt keine Rücksichten gegen das Kapital; nur sie kann Sozialreformen verlangen, die bedeutende staatliche Auwendungen bedingen, und gleichzeitig die Ersetzung der anderen Steuern durch Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern in Aussicht nehmen.

Auch der bürgerliche Staat sieht sich durch die wachsenden Ansprüche an seine Finanzen von Zeit zu Zeit gezwungen, den Mehrwerth in außergewöhnlichem Maße zur Deckung der Staatsbedürfnisse heranzuziehen, aber er wählt dazu nicht die Form der Steuer, sondern die der Staatsanleihe. Mitunter geschieht das zu wirthschaftlichen Zwecken, z. B. Eisenbahn- oder Kanalbauten, in der Regel zu ganz unproduktiver Verwendung, Anschaffung von Kanonen und Panzerschiffen, Deckung von Kriegskosten und dergleichen.

Merkwürdig ist’s, daß in monarchischen Staaten alles Staatliche kaiserlich oder königlich &c. ist, nur nicht die Schulden. Der Rock des Soldaten ist der Rock des Königs, aber dieser würde energisch dagegen protestiren, wollte man die Schulden, die zur Bezahlung des königlichen Rockes aufgenommen wurden, königliche Schulden nennen. Sie werden huldvollst dem Staate oder der Nation überlassen. Darin zeigt sich sogar der russische Absolutismus höchst republikanisch.

Man kann diese Anleihen auf eine Stufe setzen mit den freiwilligen Beisteuern, zu denen in der Feudalzeit mitunter die herrschenden Klassen, Adel und Geistlichkeit, aufgerufen wurden, wenn das Vaterland in Gefahr war. Ein kleiner Unterschied ist freilich dabei: die Feudalherrn forderten keine Verzinsung dessen, was sie auf dem Altar des Vaterlands niederlegten, für den Kapitalisten sind die Zinsen die Hauptsache. Vielleicht könnte man die ewigen Privilegien, die reiche Territorialherrn, Bischöfe, Klöster, Städte für ihre Beisteuern erhandelten, den ewigen Zinsen unserer Staatsschulden gleichsetzen.

Nächst den Militärausgaben bildet die Verzinsung der Staatsschuld in allen modernen Staaten den größten Posten des Ausgabenetats. In England erfordern von einem Gesammtbudget von 2.000 Millionen Mark Heer und Flotte circa 800 Millionen Mark, die Verzinsung der Nationalschuld 500 Millionen. In Frankreich Heer und Marine circa 700 Millionen Mark, die Verzinsung der Nationalschuld 1.000 Millionen!

Im Deutschen Reiche erfordert die Verzinsung der Reichsschuld allerdings nur 74 Millionen Mark, Armee und Flotte dagegen 700 Millionen Mark. Aber das Deutsche Reich ist auch noch jung; der Krieg, dem es erwuchs, brachte ihm die französischen Milliarden und es hat seitdem keinen großen Krieg mehr zu führen gehabt. In demselben Zeitraum, in dem das Deutsche Reich, das mit einer Kriegsentschädigung von 4.000 Millionen Mark zu wirthschaften anfing, zu einem Schuldenstand von 2.261 Millionen gelangte, ging die englische Nationalschuld von 15.600 Millionen Mark auf 12.400 Millionen, also um 3.200 Millionen herunter – ohne Getreide-, Fleisch-, Petroleum- und ähnliche Zölle! Will man aber einen Vergleich ziehen, dann muß man zu den Schulden des Deutschen Reiches auch die der Bundesstaaten rechnen! In Preußen allein beträgt die Staatsschuld 6.500 Millionen Mark, die Verzinsung 229 (1898) Millionen, die Schuld Bayerns, Sachsens, Württembergs zusammen 2.500 Millionen. Wir kommen in Bezug auf die deutschen Staatsschulden in ihrer Gesammtheit zu ähnlichen Zahlen, wie in England – mit dem unterschied jedoch, daß sie sich bei uns in rasch aufsteigender, dort in absteigender Linie bewegen.

Neben den Militärausgaben bildet die Verzinsung der Staatsschulden jenen Posten im Budget eines modernen Staates, durch dessen Beseitigung er die meisten Mittel gewänne, entweder zur Entlastung der Bevölkerung oder zur Durchführung großer sozialer Reformen. Eine allgemeine Abrüstung und allgemeine Einstellung der Zahlung der Zinsen der Staatspapiere würde in jedem modernen Großstaat weit über eine Milliarde Mark jährlich für diese Zwecke flüssig machen. Damit ließe sich schon etwas erreichen!

Der Staatsbankerott ist nichts Ungewöhnliches; indessen möchten wir es doch nicht als sicher hinstellen, daß ein Regime, wie das hier vorausgesetzte, das unter proletarischem Einfluß steht, aber noch nicht im Stande ist, die kapitalistische Produktionsweise zu überwinden, ohne Noth zur Einstellung der Zinszahlungen schreiten würde. Es hieße den Grundsatz des gleichen Rechts für Alle gröblich verletzen, wollte man aufs Geradewohl nur einige Kapitalisten herausgreifen und deren Eigenthum konfisziren, und es wäre dies sachlich um so weniger gerechtfertigt, da ein nicht geringer Theil der Staatspapiere gerade von den kleinsten Kapitalisten besessen wird. Die Konfiszirung der Spargroschen kleiner Leute kann am allerwenigsten den Intentionen einer demokratischen Regierung entsprechen.

Sicher aber müßte ein Regime, wie das in Rede stehende, von der Aufnahme neuer Anleihen ein- für allemal absehen und die bestehenden möglichst rasch zurückzuzahlen suchen. Eine neue Anleihe, das wäre gleichbedeutend mit erneuter Unterwerfung der Staatsgewalt unter das Joch des Kapitals. Die Staatsanleihe, das ist eines der Mittel des bürgerlichen Staates, kapitalistisch angeeigneten Mehrwerth Staatszwecken zuzuführen. Eine proletarische Demokratie kennt zu diesem Zwecke nur das Mittel der Besteuerung.

Aber freilich, wie geringe Rücksichten auch die proletarische Demokratie auf das Kapital nehmen mag, ganz nach Belieben wird sie den Mehrwerth nicht besteuern können. An eine derartige Erhöhung der oben erwähnten Steuern, die den Mehrwerth konfiszirte, ist nicht zu denken. Man erinnere sich, daß wir hier nicht von einem sozialistischen Gemeinwesen handeln – für dieses wären unsere Ausführungen gegenstandslos denn eine Gemeinschaft, die Herrin der Produktionsmittel ist, bedarf keiner Steuern, um in den Besitz des Mehrprodukts zu gelangen –, sondern von einem Zustand, in dem das Proletariat zwar schon genügende politische Macht besitzt, uni die Steuerpolitik in seinen Sinne zu beeinflussen, in dem aber noch die kapitalistische Produktionsweise herrscht. So lange dies der Fall, so lange die Gesellschaft aus dem einen oder anderen Grunde nicht im Stande ist, die Funktionen des Kapitals selbst völlig in die Hand zu nehmen, spielt der Mehrwerth eine wichtige ökonomische Rolle. Der Kapitalist darf nicht, wie es vor ihm der Feudalherr oder der römische Aristokrat that, das ganze Mehrprodukt verzehren, das ihm seine Arbeiter liefern. Er muß „entsagen“, muß „sparen“. Nur ein Theil des Mehrwerths wird verzehrt, ein anderer wird akkumulirt, das heißt, zu neuem Kapital gemacht. Diese Akkumulation des Kapitals bildet aber neben dem Aufschwung der Naturwissenschaften die große Kraft des ökonomischen Fortschritts in unserem Jahrhundert. Wenn er in diesem Zeitraum unendlich rascher vor sich ging, als in irgend einem Jahrhundert vorher, wenn er ungeheure Produktionskräfte geschaffen, gegen die alle bisherigen Wunder der Welt zwerghaft erscheinen, wenn er zum erstenmal in der Weltgeschichte die Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft auf der Basis einer höheren Kultur geschaffen hat, so verdanken wir dies neben den Naturwissenschaften der Akkumulation des Kapitals. Und so lange die Gesellschaft nicht selbst die Produktivkräfte eignet und ihre Entwicklung regelt, hieße es den Fortschritt hemmen, die Vorbedingungen des Sozialismus verkümmern, wollte man die Akkumulation des Kapitals unmöglich machen.

Zum Glück für den Fortschritt ist der Akkumulationsdrang des Kapitals ein so gewaltiger, daß man es sehr derb anfassen kann, ohne ihn zu stören. Arbeiterschutzgesetze und Arbeiterorganisationen haben sich bisher als Förderungs-, nicht Hemmungsmittel des ökonomischen Fortschritts erwiesen, sie haben der Akkumulation des Kapitals nicht den geringsten Abbruch gethan. Diese hat heute einen solchen Umfang angenommen, daß sie beginnt, eine Verlegenheit für die Kapitalisten zu werden. Die Masse des Mehrwerths, der ihnen jahraus, jahrein zufließt, ist eine so ungeheure, daß sie trotz des wahnsinnigsten Luxus noch immer mehr Geld zurücklegen, als leicht mehrwerthheckend unterzubringen ist. Eine Reihe Bankerotte von Staaten – Argentinien, Portugal, Griechenland &c. – und von privaten Riesenunternehmungen – voran der Panamakrach – konnten in den letzten Jahren sich ereignen, ohne allzu empfindliche Störungen im Wirthschaftsleben hervorzurufen, ohne die Fähigkeit des Kapitals einzuengen, neue Hunderte von Millionen in völlig unproduktiven Staatsanleihen anzulegen und dabei noch die Entwicklung neuer Industrien und neuer Verkehrsmittel kräftiger als je zu betreiben.

Angesichts dessen wird man dem Mehrwerth noch ganz anders zu Leibe rücken können als heutzutage, ohne eine Gefährdung der ökonomischen Entwicklung befürchten zu müssen.

Es wäre völlig müßig, auch nur annäherungsweise berechnen zu wollen, wie weit man dabei wird gehen können.

Aber wie groß man auch die Summen ansetzen mag, die auf diesem Wege für die Staatsfinanzen aufgebracht werden können, man muß mit der Möglichkeit rechnen, daß sie nicht ausreichen, die Kosten des Kulturstaates zu decken, wenn dieser allen Anforderungen gerecht werden soll, die zur Erhebung der gesammten Bevölkerung auf das Niveau der modernen Kultur erforderlich sind. Eine zweite Methode, Mehrwerth zu erwerben, wird ergänzend hinzutreten müssen: Der Staat – respektive die Gemeinde, für die mutatis mutandis das Ausgeführte auch gilt – wird selbst Mehrwerth produziren lassen müssen.

Die ökonomische und politische Entwicklung drängt ohnehin darauf hin. Es giebt eine Reihe natürlicher privater Monopole – Bergwerke, große Verkehrsmittel, Beleuchtungsanlagen &c. – deren Ausbeutung angesichts des Mangels der Konkurrenz nicht nur zur Ausbeutung der Arbeiter, sondern auch der Konsumenten führt. Daneben erzeugt aber die Konzentration des Kapitals künstliche Privatmonopole durch Kartelle &c., die ähnlich wirken. Nicht blos das Proletariat, die gesammte Masse der Bevölkerung erhebt sich gegen diese Monopole. Ihre gesetzliche Regelung bleibt aber stets dürftiges Flickwerk, es giebt nur ein Mittel, der Ausbeutung der Gesammtheit, die sie üben, gründlich ein Ende zu machen: ihre Erwerbung durch die Gesammtheit, die Fortführung ihres Betriebs durch das Gemeinwesen. Solange die großen Kapitalisten den Staat so in der Tasche haben, wie heutzutage, ist das jedoch weder eine einfache, noch auch immer eine wünschbare Sache. Auf der einen Seite kann das Proletariat nicht danach verlangen, daß die ihm feindliche Staatsgewalt ihr Machtgebiet erweitere, anderseits aber sind die Kapitalisten mächtig genug, um eine Verstaatlichung, die ihnen unbequem, zu vereiteln, und eine Verstaatlichung, die gelingt, unter Bedingungen vor sich gehen zu lassen, bei denen in sie gewinnen. Bei den Verstaatlichungen der Eisenbahnen in Preußen und Oesterreich waren es gerade nicht die Aktionäre, die die Zeche zu bezahlen hatten.

Alle diese Bedenken fallen in einem Staate fort, in dem das Proletariat im Stande ist, der Staatsgewalt die gehörige Rücksichtslosigkeit gegenüber dem Kapital zu verleihen, und in dem die Volksmasse keine Ursache hat, eine Vermehrung der Machtsphären des Staates zu fürchten, wo dieser vollkommen in ihrer Gewalt ist. Da kann die Verstaatlichung der privaten Monopole ein rasches Tempo annehmen – unter sonst gleichen Verhältnissen ein um so rascheres, je größer die Bedürfnisse des Staates und je enger die Grenzen, in denen sich die Besteuerung des Mehrwerths bewegen muß. und diese Verstaatlichung wird da auf jeden Fall unter Bedingungen vor sich gehen, die, auch wenn sie keine Konfiskation darstellen, doch dem Staate reiche Einnahmen sichern, welche er theils zur Verbesserung der Lage seiner Arbeiter, theils im Interesse der Konsumenten, theils aber auch zur Förderung der Kulturarbeit in großem Stile verwenden kann.

Der Betrieb dieser Staatsmonopole ist noch kein sozialistischer; er dient ja Ämter den gegebenen Voraussetzungen der Waarenproduktion, nicht der direkten Produktion für den Gebrauch der Gesellschaft. Aber er ist bereits grundsätzlich von dem Monopolbetrieb des bürgerlichen Staates verschieden. Jener ist, als Theil der proletarischen Steuerpolitik, ein Mittel, Mehrwerth dem Staate zuzuführen; dieser ist als Theil der bürgerlichen Steuerpolitik das wirksamste Mittel der indirekten Besteuerung, der Vertheuerung nothwendiger Lebensmittel zu Gunsten der Staatsgewalt.

Das Kriterium der Eignung eines Produktionszweigs für das proletarische Staatsmonopol ist die Höhe seiner Produktionsform; dazu am besten geeignet sind bureaukratisch organisirte, aus persönlichem Eigenthum in anonymes Eigenthum einer Aktiengesellschaft oder eines Syndikats übergegangene Betriebe, die bereits thatsächlich außerhalb jeder Konkurrenz stehen.

Das Ksriterium der Eignung eines Produktionszweigs für das bürgerliche Staatsmonopol ist dagegen die Bedeutung seiner Produkte als Lebens- oder Genußmittel für die Masse der Konsumenten (Tabak, Branntwein, Salz). Die Höhe der Produktionsentwicklung kommt hier gar nicht in Betracht; es erfaßt auch rückständige Produktionszweige mit vorherrschendem Kleinbetrieb (Tabak); es muß die Konkurrenz künstlich ausschließen und erzielt seine Einnahmen durch Ausbeutung der Konsumenten, oft auch der Arbeiter, über das Maß hinaus, dem sie bei freier Konkurrenz der Privatbetriebe unterworfen wären.

Darf man nicht Staatsmonopol mit Sozialismus, so darf man auch nicht proletarischen Staatsmonopol mit bürgerlichem verwechseln.

Die Verstaatlichung und Kommunalisirung der privaten Monopole in Staat und Gemeinde, die Ersetzung der indirekten Steuern durch progressive Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern, die Beendigung der Staatsanleihenwirthschaft – das sind die springenden Punkte der proletarischen Steuerpolitik. Daß sie nicht blos für das Proletariat, sondern für die gesammte Masse der arbeitenden Bevölkerung eine enorme Entlastung bedeutet, liegt auf der Hand und bedarf keines Beweises. Ja man kann sagen, daß sie für Kleinhandwerker, Kleinhändler, Kleinbauern noch weit wichtiger ist als für das Lohnproletariat. Dieses ist, wenigstens in vielen seiner Schichten, im Aufsteigen begriffen, die erstgenannten Klassen verkommen. Für die aufsteigenden Schichten des Proletariats bedeutet die jetzige bürgerliche Steuerpolitik eine Erschwerung des Aufsteigens, für die verkommenden Klassen bedeutet sie eine Beschleunigung des Verkommens. Auf dem Kleinbürger und dem Kleinbauern lasten die Steuern noch schwerer als auf dem Lohnarbeiter, jene haben daher noch ein weit größeres Interesse an der proletarischen Steuerpolitik, als der letztere.

Diese Steuerpolitik würde aber nicht blos die arbeitenden Schichten entlasten, sondern gleichzeitig dort, wo die kapitalistische Produktion hochentwickelt, also die Masse des Mehrwerths eine große, den Staat in Stand setzen, eine energische Wohlfahrts- und Kulturpolitik zu verfolgen, in ganz anderer Weise, als das bürgerliche Steuersystem ihn dazu befähigt. Die Besteuerung der Nothdurft des Volkes hat enge Grenzen, soll sie nicht zum Verkommen der Volksmasse und damit des Gemeinwesens überhaupt führen. Die Besteuerung des Mehrwerths wird unter der bürgerlichen Steuerpolitik stets eine unzureichende sein.

Nur eine proletarische Steuerpolitik kann ihm rücksichtslos zu Leibe gehen, kann alle jene Summen, die heute die Kapitalistenklasse in nneren und äußeren Staatsanleihen anlegt und noch weit mehr ihr durch das Mittel der Steuer abnehmen, ohne die Entwicklung der Industrie, ja ohne die Konsumtionskraft der Bourgeoisie zu beeinträchtigen; und das Mittel der Produktion von Mehrwerth durch die Verstaatlichung der großen Monopole stellt die wichtigsten Produktivkräfte der Nation in den Dienst des Gemeinwesens und erlaubt es der Staatsgewalt, zahlreiche heulte brachliegende Arbeitskräfte für die Kulturarbeit nutzbar zu machen. Die materiellen Mittel von Staat und Gemeinde werden dadurch enorm erweitert. Die wachsende Konzentration des Kapitals führt immer mehr Gebiete der staatlichen Ausbeutung zu, die Erschließung neuer Einnahmsquellen des Staates durch Vermehrung seiner Betriebe, ohne jede Belastung des Volkes, hat also keine Grenzen.

Ob das Proletariat jemals wirklich dahin kommen wird, eine eigene Steuerpolitik zu entwickeln, ist fraglich. Es setzt dies einen Zustand voraus der auch bei unseren jetzigen Ausführungen als Basis angenommen wurde, der aber vielleicht nie eintreten wird: eine große politische Macht des Proletariats bei ungestörtem Fortgang der kapitalistischen Produktionsweise. Beide schließen einander fast völlig ans, könnten jedenfalls nur kurze Zeit nebeneinander bestehen.

Trotzdem erschien uns die Untersuchung der Steuerpolitik, die das Proletariat heute verfolgen würde, wenn es zur politischen Macht käme, nothwendig zu sein. Die Bedeutung eines sozialen Ziels liegt weniger darin, ob es erreicht wird, als darin, ob es die Richtung einer sozialen Bewegung treu anzeigt. In der Bedeutung dieser Bewegung und der Genauigkeit, mit der es ihre nothwendige Richtung angiebt, liegt die Bedeutung des Ziels. Man kann sich über eine Bewegung nur dann klar werden, wenn man ihr Ziel erkannt hat.

Mögen die gesellschaftlichen Verhältnisse in der Zeit, in der das Proletariat zu politischer Macht kommt, solche sein, die eine besondere Steuerpolitik in dem hier gezeichneten Rahmen überflüssig machen, auf jeden Fall bildet sie heute ein Ziel der proletarischen Demokratie, und das Maß des politischen Einflusses des Proletariats wird unter Anderem auch gekennzeichnet durch das Maß, in dem seine Steuerpolitik verwirklicht wird. Je stärker die Sozialdemokratie, desto mehr werden die indirekten Steuern sich verringern, desto größere Bedeutung werden Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern erhalten, desto mehr werden die Staatsschulden und ihre Zinsen reduzirt werden, desto eher und desto billiger werden die großen Monopole der Kapitalisten verstaatlicht und kommunalisirt werden.
 

h) Die Neutralisirung der Bauernschaft

Wollen wir die Forderungen resumiren, die sich aus unseren Untersuchungen ergeben haben, so finden wir:

I. Maßregeln zu Gunsten des ländlichen Proletariats

  1. Aufhebung der Gesindeordnungen; völlige Koalitionsfreiheit auch auf dem flachen Lande; Sicherung der Freizügigkeit;
     
  2. Verbot der Lohnarbeit der Kinder bis zum 14. Jahre; Verbot der landwirthschaftlichen Arbeit von 7 Uhr Abends bis 7 Uhr Morgens für alle Kinder und jugendlichen Personen ohne Ausnahme; Verbot der Wanderarbeit jugendlicher Personen bis zum 18. Jahre; Schulzwang für die Elementarschule und die Fortbildungsschule;
     
  3. Schutz der Wanderarbeiter; Verbot der Wanderarbeit von Mädchen vor dem 21. Lebensjahr; Verbot des Gangsystems, Ersetzung der Werbeagenten durch öffentliche Arbeitsvermittlung;
     
  4. Einführung eines Normalarbeitstags, der im Jahresdurchschnitt acht Stunden beträgt, für die Feldarbeiten, mit Gestattung von Ueberzeitarbeit während der Ernte und bei dringenden Arbeiten, die durch Elementarereignisse herbeigeführt werden; Sicherstellung der Sonntagsruhe für das Gesinde;
     
  5. Feststellung der im Interesse der Gesundheit und Sittlichkeit unerläßlichen Bedingungen für die Landarbeiterwohnungen; energische Wohnungspolizei auf dem Lande;
     
  6. Reduzirung übermäßiger Pachtzinsen durch dazu eingesetzte Gerichtshöfe.

II. Maßregeln zum Schutze der Landwirthschaft

  1. Aufhebung der Fideikommisse;
     
  2. Aufhebung der Gutsbezirke, ihre Einverleibung in die Landgemeinden;
     
  3. Aufhebung der Jagdbezirke des großen Grundbesitzes und ihre Einverleibung in die Landgemeinden;
     
  4. Einschränkung der Rechte des Privateigenthums am Boden zur Förderung:
  1. der Separation, der Aufhebung der Gemenglage;
  2. der Landeskultur;
  3. der Seuchenverhütung;
  1. Verstaatlichung der Hagelversicherung, eventuell auch der Viehversicherung, letztere jedoch ohne Beitragsleistung des Staates;
     
  2. Erleichterung des genossenschaftlichen Zusammenschlusses durch die Gesetzgebung;
     
  3. staatliche Förderung des landwirthschaftlichen Bildungswesen;
     
  4. Verstaatlichung des Waldes und der Wasserkräfte.

III. Maßregeln im Interesse der landwirthschaftlichen Bevölkerung

Streben nach Beseitigung der Ausbeutung des flachen Landes durch die Stadt und nach Aufhebung des kulturellen Gegensatzes von Stadt und Land durch

  1. Durchführung vollster Selbstverwaltung in der Gemeinde und der Provinz;
     
  2. Ersetzung des stehenden Heeres durch eine Volkswehr;
     
  3. Verstaatlichung der Schul-, Armen- und Wegelasten;
     
  4. Verstaatlichung des Heilwesens;
     
  5. Unentgeltlichkeit der Rechtspflege;
     
  6. Ersetzung des bestehenden Steuersystems durch progressive Einkommens-, Vermögens- und Erbschaftssteuern und durch die billige Verstaatlichung respektive Kommunalisirung der profitablen privaten Monopole und Kartelle.

Wenn man will, kann man diese Forderungen als ein sozialdemokratisches Agrarprogramm bezeichnen. Wir glauben jedoch nicht, daß diese Bezeichnung zuträfe. Die sub I zusammengefaßten Punkte sind in den jetzigen Arbeiterschutzforderungen der Sozialdemokratie im Wesentlichen bereits enthalten, ebenso die sub III zusammengefaßten unter ihren nächsten politischen Forderungen. Und von den Punkten der Rubrik II ist die einzige von einschneidender Bedeutung, die Verstaatlichung der Wald- und Wasserwirthschaft, ebenfalls keine rein agrarische, nicht im bloßem Interesse der Landwirthschaft, sondern im Interesse auch der Industrie, der Volkshygiene &c. gelegen. Die übrigen Forderungen sind bei aller Wichtigkeit doch verhältnißmäßig zu kleinlich, um die Grundlage eines großen Parteiprogramms bilden zu können. Diese „kleinen Mittel“ sind auch vielfach in vorgeschrittenen Ländern schon durchgeführt und die Sozialdemokratie unterscheidet sich in Bezug auf sie von den anderen Parteien nur durch den Grad ihrer Rücksichtslosigkeit gegenüber den Rechten des Privateigenthums dort, wo es mit den Allgemeininteressen einer rationellen Landwirthschaft in Konflikt kommt. Und sie selbst muß erklären, daß diese „kleinen Mittel“ wohl nothwendig sind im Interesse der Vorwärtsentwicklung der Landwirthschaft, aber ungenügend gegenüber den großen Lasten, die das Privateigenthum am Boden und die kapitalistische Waarenproduktion in steigendem Maße der Landwirthschaft aufbürden.

Wir hatten auch, wie schon oben erwähnt, gar nicht die Absicht, ein erschöpfendes Programm auszuarbeiten. Agrarische Aktionsprogramme für besondere Gelegenheiten und Gegenden erschienen uns ganz zweckmäßig; sie können aber nicht von Theoretikern allein ausgearbeitet werden, da müssen die Praktiker mithelfen.

Uns war es nur darum zu thun, an konkreten Beispielen die allgemeine Richtung zu kennzeichnen, die die sozialdemokratische Agrarpolitik zu verfolgen hat, wenn der von uns gezeichnete Entwicklungsgang der Landwirthschaft richtig ist. Die Nutzanwendungen für die Praxis ergeben sich daraus leicht für jeden einzelnen Fall.

Es ist uns hoffentlich gelungen, zu zeigen, daß man durchaus nicht zu sozialpolitischem Nihilismus verurtheilt ist, wenn man es für unmöglich und unseren Grundsätzen widersprechend erklärt, die Bauernwirthschaft retten oder gar heben zu wollen. Man kann ihr gegenüber denselben Standpunkt einnehmen, den die Sozialdemokratie dem Handwerk und der Hausindustrie gegenüber einnimmt und kann dabei doch eine reiche und fruchtbare Thätigkeit nicht nur zu Gunsten des ländlichen Proletariats, sondern auch der Landwirthschaft und der Landbevölkerung im Allgemeinen entfalten.

Ob es gelingen wird, die Bauernschaft durch die Darstellung dieser Agrarpolitik an die Sozialdemokratie zu fesseln, kann ja bezweifelt werden. Die Sozialdemokratie wird immer in ihrem Kern eine proletarische, städtische Partei bleiben, immer eine Partei des ökonomischen Fortschritts; sie wird bei dem konservativen Bauern, der dem städtischen Wesen abhold ist und auf dem Boden der patriarchalischen Familie mit völliger Unterordnung von Magd und Knecht, von Weib und Kind unter seinen Willen steht – sie wird bei diesem Bauern stets mit tief eingewurzelten Vorurtheilen zu kämpfen haben, und sie wird ihm nie so viel bieten können, wie die agrarischen Parteien, die nicht nur seinem Wesen näher stehen, sondern auch ihm weit mehr versprechen können, da sie an die Nothwendigkeit und Unaufhaltsamkeit des ökonomischen Fortschritts nicht glauben, und da sie kein Bedenken tragen, das ehemalige Verhältniß umzukehren und die ländliche Bevölkerung von der städtischen, die Landwirthschaft von Industrie und Handel ernähren zu lassen.

Den Bauer, der noch in alter Weise wirthschaftet, wird die Sozialdemokratie kaum je gewinnen. Aber es ist nicht ausgeschlossen, daß sie ihn zu einer neutralen Stellung bringt. Auch das wäre ein bedeutender Gewinn. Gewiß, die ökonomische Entwicklung schreitet über ihn hinweg, und auch die Sozialdemokratie wird mit ihm fertig werden, wo er sich ihr entgegenstellt. Aber er bildet immerhin noch vielfach eine Kraft, die nicht zu unterschätzen ist, und wenn es möglich ist, ihre hemmende Wirkung aufzuheben, wäre es thöricht, wollte man davon absehen.

Was aber den Barer der Sozialdemokratie am meisten zum Feinde macht, ist nicht ihre praktische Politik. Wohl kann er sich für sie nicht begeistern, die ihm nicht die Konsumenten opfern will, die jedem Versuch widerstrebt, die Grundrente durch künstliche Steigerung der Lebensmittelpreise zu erhöhen, die vom Anerbenrecht, von Gesindeordnungen, von Erschwerung der Freizügigkeit nichts wissen will. Aber sie kämpft auch gegen den hohen Steuerdruck, der auf dem Bauern lastet, gegen die Uebergriffe der Bureaukraten und Großgrundbesitzer u. s. w., und das läßt er sich gern gefallen. Was ihn jedoch empört, das ist der Gedanke an die Expropriation des Grundbesitzes, die der Sieg der Sozialdemokratie mit sich bringen soll; das bedeutet in seinen Augen die Verjagung von Haus und Hof, von seinem Besitzthum, in das sich die Habenichtse theilen.

Eine Untersuchung der sozialdemokratischen Agrarpolitik wäre unvollständig, die über diesen Punkt nicht Klarheit schaffte. Der Versuch, dies zu thun, soll unsere Arbeit beschließen.


Zuletzt aktualisiert am 27.2.2012