MIA: Geschichte: Sowjetische Geschichte: 100 Jahre Russischer Revolution: Die Frauen von 1917
Frauen demonstrieren für erhöhte Rationen, Februar/März 1917. Quelle: Zentralstaatsarchiv für Kino-, Foto- und Phonodokumentation, St. Petersburg |
Am internationalen Frauenkampftag 1917 traten die Textilarbeiterinnen im Petrograder Stadtteil Wyborg in den Streik. Sie verließen ihre Spinnereien und Webereien und gingen zu Hunderten von Fabrik zu Fabrik, wobei sie die anderen Arbeiterinnen zum Streik aufriefen und in gewaltsame Auseinandersetzungen mit der Polizei und dem Militär gerieten.
Die ungelernten, schlecht bezahlten Frauen, die 12 bis 13 Stunden
am Tag in dreckigen und gesundheitsschädlichen Verhältnissen
arbeiten mussten, forderten Solidarität von den Männern.
Insbesondere von denjenigen, die als Facharbeiter im Maschinenbau und
anderen Metallfabriken arbeiteten und als die politisch bewusstesten
und sozial mächtigsten unter der Arbeiterschaft der Stadt galten.
Frauen warfen Stöcke, Steine und Schneebälle an die Fabrikfenster
und bahnten sich den Weg an die Arbeitsplätze, um nach dem Ende des
Krieges und der Rückkehr ihrer Männer von der Front zu rufen.
Laut vielen Zeitgenossen und Historikern traten diese Frauen, die für Brot rebellierten, und angeblich emotional statt auf theoretischer Basis handelten, einfache Protestarten für die Durchsetzung rein ökonomischer Forderungen benutzten, unabsichtlich die Lawine los, der den Zarismus wegfegte, bevor sie dann schließlich hinter den großen Bataillonen der Männer und den männerdominierten Parteien verschwanden.
Jedoch wurden seit dem Beginn der Februarstreiks politische Slogans gegen den Krieg in die Proteste eingebunden. Die Kühnheit, Entschlossenheit und Methoden der Frauen machten deutlich, dass sie den Kern der Probleme verstanden, die Notwendigkeit der Einheit der Arbeiter und die Notwendigkeit, die Soldaten für die Unterstützung der Aufstände, statt des Schutzes des zaristischen Staates, zu gewinnen. Der russische Revolutionär Leo Trotzki berichtete später:
„Eine große Rolle in den Beziehungen zwischen
Arbeitern und Soldaten spielen die Frauen, die Arbeiterinnen. Kühner
als die Männer bedrängen sie die Soldatenkette, greifen mit den
Händen an die Gewehre, flehen, befehlen fast: ‚Wendet eure
Bajonette weg, schließt euch uns an!‘ Die Soldaten sind erregt,
beschämt, sehen sich unruhig an, schwanken, irgendeiner fasst als
erster Mut – und die Bajonette erheben sich über die Schultern der
Bedränger (...)“
Gegen Ende des 23. Februars waren Soldaten, die Straßenbahnlager beschützt hatten, von den Straßenbahnarbeiterinnen überzeugt, sich ihnen anzuschließen, und die Straßenbahnen wurden umgekippt und als Barrikaden gegen die Polizei verwendet. Das Gewinnen der Soldaten war nicht nur ein Resultat der wachsenden Kriegsbelastung oder der ansteckenden Spontaneität der Proteste.
Textilarbeiterinnen waren seit 1914 mit den vielen, meist bäuerlichen, Soldaten in Petrograd eng verbunden. Männer in Kasernen und Frauen in Fabriken, die aus denselben Regionen in die Stadt kamen, redeten miteinander und bildeten Beziehungen. Damit verwischten sie die Grenzen zwischen Arbeitern und Soldaten, und gaben Arbeiterinnen eine klare Vorstellung von der Notwendigkeit bewaffneter Unterstützung.
Arbeiterinnen standen fest in der vordersten Front der
Februarrevolution, welche in der Zerschlagung des Zarismus gipfelte.
Sie waren nicht einfach nur ihr Funke, sondern der Motor, der diese
vorantrieb – trotz der anfänglichen Bedenken vieler männlicher
Arbeiter und Revolutionäre.
Die Februarrevolution wird gewöhnlich als spontan beschrieben, und in gewissem Sinne stimmt dies auch: Sie wurde nicht von Revolutionären geplant und durchgeführt. Allerdings bedeutet diese Spontaneität nicht das Gleiche wie ein mangelndes politisches Bewusstsein. Die Erfahrungen der Frauen, die Petrograds Fabriken stürmten – als Arbeiterinnen und Verantwortliche im Haushalt, welche stundenlang Schlange stehen mussten, um ihre Familien zu ernähren, beseitigten die Unterscheidung zwischen den ökonomischen Forderungen nach Brot, und der politischen Forderung nach dem Ende des Krieges.
Materielle Umstände führten dazu, dass die Schuld für Hunger
und Armut dort gefunden wurde, wo sie auch bestand – im Krieg und
den Politikern, die diesen führten. Solche Forderungen konnten ohne
fundamentale politische Veränderungen nicht erfüllt werden.
Zudem waren bolschewistische Frauen für die Streiks von zentraler Bedeutung, da sie jahrelang hart gearbeitet haben, um die ungelernten Arbeiterinnen zu organisieren – trotz der Einstellungen vieler Männer, die die Organisierung von Frauen zumindest für eine Ablenkung vom Kampf gegen den Zarismus hielten, und im schlimmsten Fall glaubten, dass diese in die Hände der bürgerlichen Feministinnen spielen würde, welche die Frauen vom Klassenkampf abbringen würden.
Viele Männer in der revolutionären Bewegung dachten, dass die
Proteste am internationalen Frauenkampftag verfrüht waren, und dass
die Arbeiterinnen zurückgehalten werden sollten, bis die gelernten
Arbeiter bereit waren, entschieden zu handeln. Es waren weibliche
Mitglieder, eine Minderheit in der Partei, welche sich für ein
Treffen für Arbeiterinnen im Stadtteil Wyborg aussprachen, um dort
über den Krieg und die Inflation zu diskutieren. Es waren auch
Aktivistinnen, die eine Antikriegsdemo am internationalen
Frauenkampftag forderten. Eine dieser Frauen war Anastasia
Dewiatkina, eine Bolschewikin und Fabrikarbeiterin, die nach der
Februarrevolution eine Gewerkschaft für die Frauen der Soldaten
aufbaute.
Nach den meisten Darstellungen nahm nach dem Februar der Anteil der Frauen an den revolutionären Entwicklungen über das Jahr 1917 gesehen ab – einige große Revolutionärinnen ausgenommen, wie Alexandra Kollontai, Nadeschda Krupskaja und Inessa Armand, welche oft ebenso viel wegen ihres Privatlebens als Ehefrauen und Liebhaberinnen als wegen ihrer theoretischen und praktischen Beiträge im Mittelpunkt standen.
Es gab kaum Frauen in den Verwaltungsbehörden, die auf den Ruinen des Zarismus errichtet wurden. Nur sehr wenige waren als Vertreterinnen in den Dorfräten, als Delegierte für die konstituierende Versammlung, oder als Sowjetdeputierte präsent. Die Arbeiterräte waren von Männern dominiert, sogar in Branchen, in denen die Arbeiterinnen die Mehrheit der Belegschaft stellten.
Dafür gab es zwei zusammenhängende Gründe: Frauen mussten noch
immer unter sehr schwierigen Umständen ihre Familien ernähren, und
ihnen fehlte das nötige Selbstbewusstsein sowie die Bildung, um sich
selbst in den Vordergrund zu stellen oder ein hohes Niveau an
politischer Aktivität zu halten. Die Art und Weise, wie Frauen in
Russland jahrzehntelang lebten, und die materielle Realität ihrer
Unterdrückung bedingten ihre Fähigkeit, den unbestreitbaren Anstieg
politischen Bewusstseins mit politischer Aktivität in
Übereinstimmung zu bringen.
Vor 1917 war Russland eine hauptsächlich bäuerlich geprägte Gesellschaft; die totale Autorität des Zaren war in der Kirche verankert, wurde von ihr verstärkt und spiegelte sich in der Institution der Familie. Ehe und Scheidung waren unter religiöser Kontrolle; Frauen waren rechtlich untergeordnet und wurden als Eigentum und Untermenschen behandelt. Weit verbreitete waren russische Sprichwörter wie: „Ich dachte, ich sah zwei Menschen, aber es waren nur ein Mann und seine Frau.“
Die Macht der Männer im Haushalt war absolut und es wurde von
Frauen erwartet, in den brutalen Verhältnissen, übergehend vom
Vater zum Ehemann, passiv zu sein. Zudem waren sie oftmals die Opfer
sanktionierter Gewalt. Bauern- und Arbeiterfrauen mussten mühsame
Arbeit auf dem Feld und in der Fabrik ertragen. Dazu kam noch die
beträchtliche Belastung der Kindesbetreuung und des Haushalts zu
einer Zeit, in der Geburten kompliziert und gefährlich waren,
Verhütung nicht existierte, und die Kindersterblichkeit sehr hoch
war.
Doch die politische Beteiligung der Frauen in 1917 kam nicht aus dem Nichts. Russland war sehr widersprüchlich: Neben der abgrundtiefen Armut, Unterdrückung und Tyrannei, welche die meisten Menschen ertragen mussten, boomte die russische Wirtschaft in den Jahrzehnten vor 1905. Riesige moderne Fabriken produzierten Kleidung und Waffen, die schnell wachsenden Städte wurden durch die Eisenbahn verbunden, und Investitionen und Arbeitsverfahren aus Europa führten zu einem hohen Anstieg in der Öl- und Eisenproduktion.
Diese spektakulären ökonomischen Veränderungen brachten immense
soziale Transformationen in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg mit
sich: Eine zunehmende Anzahl bäuerlicher Frauen wurden in die
städtischen Fabriken hineingezogen, getrieben von der Armut und
ermutigt von den Arbeitgebern, deren Einsatz von Mechanisierung mehr
Arbeitsplätze für ungelernte Kräfte erzeugte, und deren
Bevorzugung fügsamer Arbeiter zum massiven Wachstum der Anzahl der
Frauen führte, die in der Produktion von Leinen, Seide, Baumwolle,
Wolle, Keramik und Papier arbeiteten.
Frauen waren an den Textilstreiks in 1896, an den Protesten gegen die Wehrpflicht vor dem Russisch-Japanischen Krieg, und – in entscheidender Weise – an der Revolution von 1905 beteiligt. In dieser schlugen ungelernte Arbeiterinnen aus Textil-, Tabak-, und Süßwarenfabriken gemeinsam mit Hausangestellten und Wäschereiangestellten zu, und versuchten als Teil der massiven Aufstände eigene Gewerkschaften zu gründen.
Die Wirkung des ersten Weltkriegs spielte in dem Anstieg des politischen und wirtschaftlichen Einflusses der Frauen eine entscheidende Rolle. Der Krieg zerstörte Familien und stellte das Leben der Frauen auf den Kopf. Millionen Männer waren nicht mehr anwesend, entweder an der Front, verwundet, oder tot, was die Frauen dazu zwang, das Land eigenständig zu bebauen, Haushalte alleine zu führen, und in den Städten zu arbeiten.
Im Jahr 1914 machten Frauen 26,6 Prozent der Arbeiterschaft aus,
1917 machten sie schon fast die Hälfte (43,4 Prozent) aus. Ihre
Beteiligung nahm auch in hoch qualifizierten Bereichen dramatisch zu.
In 1914 machten Frauen gerade mal 3 Prozent der Metallarbeiter aus;
bis 1917 war diese Zahl auf 18 Prozent gewachsen.
Während der Doppelherrschaft, die der Februarrevolution folge, verschwanden die Proteste der Frauen nicht, sondern wurden Teil des Prozesses, bei dem zunächst die Unterstützung der Arbeiter von der Regierung auf die Sowjets überging, und dann bis September innerhalb der Sowjets von der Führung der sozialdemokratischen Menschewiki auf die revolutionären Bolschewiki.
Die Erwartungen der Arbeiterinnen und Arbeiter, dass sich ihr
Leben mit dem Sturz des Zaren verbessern würde, wurden von der
Regierung und der Führung der Sowjets, welche den Krieg zunächst
fortführten, zerschmettert. Bis Mai hatten Antikriegsproteste die
Auflösung der ersten provisorischen Regierung erzwungen, und
menschewistische und sozialrevolutionäre Führer hatten eine
Regierungskoalition mit den Liberalen gebildet, die immer noch
begeistert an der Fortführung des Krieges festhielt.
Die Ernüchterung der Arbeiterinnen und Arbeitern führte zu weiteren Streiks, welche wieder von Frauen angeführt wurden. Etwa 40.000 Wäschereiarbeiterinnen, welche in einer von der Bolschewikin Sofia Goncharskaja geführten Gewerkschaft organisiert waren, traten in den Streik für höhere Löhne, den Achtstundentag und verbesserte Arbeitsbedingungen: Bessere Hygiene, Mutterschaftsbeihilfe (Es war für Arbeiterinnen üblich, Schwangerschaften zu verheimlichen, bis sie dann auf dem Fabrikboden ihre Kinder gebaren), und ein Ende der sexuellen Belästigung. Wie die Historikerinnen Jane McDermid und Anna Hillyer beschrieben:
„Goncharskaja ging mit anderen Aktivistinnen der
Gewerkschaft von Wäscherei zu Wäscherei, um die Frauen zu
überzeugen, sich an den Streiks zu beteiligen. Sie füllten Eimer
mit kaltem Wasser, um die Öfen zu löschen. In einer Wäscherei
attackierte der Besitzer Goncharskaja mit einem Schraubenschlüssel;
sie wurde von den Waschfrauen gerettet, welche ihn von hinten
festhielten.“
Konfrontiert mit General Kornilows Versuch, die Revolution zu zerschlagen, scharrten sich Frauen im August in Petrograd zusammen, um Barrikaden zu bauen und medizinische Versorgung zu organisieren; in Oktober waren Frauen an der medizinischen Versorgung und der unentbehrlichen Kommunikation zwischen verschiedenen Ortschaften beteiligt. Einige hatten Verantwortung für die Koordination der Aufstände in verschiedenen Bereichen von Petrograd, und es gab auch Frauen in der Roten Garde. McDermid und Hillyer beschrieben noch eine weitere Beteiligung bolschewistischer Frauen im Oktober:
„Die Straßenbahnschaffnerin A. E. Rodjonowa hatte
42 Gewehre und andere Waffen in ihrem Depot versteckt, als die
provisorische Regierung versuchte, die Arbeiterinnen und Arbeiter
nach den Julitagen zu entwaffnen. Im Oktober musste sie
sicherstellen, dass zwei Straßenbahnen mit Maschinengewehren das
Depot für die Stürmung des Winterpalasts verließen. Sie musste
sicherstellen, dass die Straßenbahnen in der Nacht vom 25. auf den
26. Oktober in Betrieb waren, um die Machtergreifung zu unterstützen,
und die Posten der Rotgardisten in der ganzen Stadt zu prüfen.“
Der Kurs der Revolution vergrößerte die Kluft zwischen Arbeiterinnen, für die der Krieg die Ursache ihrer Not war und deren Aufruf zum Frieden das ganze Jahr immer lauter wurde, und den Feministinnen, die das Blutvergießen weiterhin unterstützten. Die meisten liberalen, bürgerlichen und adligen Feministinnen, die sich für Gleichheit in Recht und Bildung sowie soziale Reformen einsetzten, konnten diese Errungenschaften dadurch gewinnen, dass sie sich als loyal zur neuen Regierung und zu den Kriegsanstrengungen zeigten. Der Beweis ihres Patriotismus half ihnen, einen Sitz am Tisch zu erhalten.
Die Februarrevolution hatte zu einer Erneuerung der Kampagne der Feministinnen für das allgemeine Wahlrecht geführt, welche einen großen Schritt vorwärts machte, als es im Juli eingeführt wurde. Für die meisten Frauen machte das Wahlrecht in ihrem Alltag allerdings keinen bedeutenden Unterschied. Ihr Leben war immer noch von Mangel, langen Arbeitstagen und dem ständigen Kampf um den Erhalt ihrer Familien bestimmt. Wie Kollontai im Jahr 1908 geschrieben hatte:
„Auch wenn die Forderungen der Feministinnen noch so
radikal erscheinen, darf man nicht vergessen, dass sie aufgrund ihrer
Klassenstellung nicht für eine grundlegende Transformation der
wirtschaftlichen und sozialen Gesellschaftsstrukturen kämpfen
können. Ohne diese kann die Befreiung der Frau nicht vollendet
werden.“
Für die meisten Arbeiterinnen und Bäuerinnen waren die Fragen der Unterdrückung und Gleichheit nicht abstrakt, sondern erwuchsen ganz konkret aus dem Kampf für Verbesserungen in ihrem Leben, und dem Leben ihrer Männer und Kinder. Die Frauen, die offenkundig politisch und selbstbewusster wurden, oft als Mitglieder der bolschewistischen Partei, wurden dies aufgrund ihres kollektiven Handelns gegen den Krieg und die Politiker – ein Handeln, das sich auf den Widerstand gegen Hunger und Krieg, und den Kampf für Landbesitz konzentrierte. Noch einmal Kollontai:
„Das politische Programm der Bolschewiki erwies sich als stetig ansprechender für die Massen von Arbeitern, Soldaten und Bauern, während die sozialen Unruhen und der wirtschaftliche Ruin im späten Herbst ihren Höhepunkt erreichten. Ohne dieses hätte es keine Oktoberrevolution geben können.“
Dies galt genauso für Arbeiterinnen, Bäuerinnen und die
Ehefrauen der Soldaten, wie für ihre Männer. Ohne die Unterstützung
der ungelernten Arbeitermassen in Petrograd, die meisten von ihnen
Frauen, wäre der Oktoberaufstand nicht erfolgreich gewesen.
Die Unterstützung für die Bolschewiki war nicht blind, sondern wie Trotzki sagte, „eine vorsichtige und schmerzhafte Entwicklung von Bewusstsein“ von Millionen von Arbeitern – Frauen und Männern. Bis Oktober wurden alle anderen Möglichkeiten probiert: Die provisorische Regierung und die Menschewiki hatten sie verraten und Demonstrationen brachten Repressionen mit sich, oder im besten Fall leichte Verbesserungen, welche nicht länger ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben erfüllen konnten.
Entscheidend war der Putschversuch Kornilows, welcher klar machte, was auf dem Spiel stand – der Weg vorwärts oder die Zerschlagung. Ein Arbeiter drückte es so aus: „Die Bolschewiki sagten immer: ‚Es sind nicht wir, die dich überzeugen werden, sondern das Leben selbst.‘ Und nun haben die Bolschewiki gesiegt, da das Leben ihre Taktiken als richtig erwiesen hat.“
Es war ein Verdienst der Bolschewiki, dass sie die Frauenfrage so
ernst genommen haben. Obwohl Frauen nach heutigen Standards
schmerzlich unterrepräsentiert waren, wurden doch ernsthafte
Anstrengungen unternommen, um die Frauen zu organisieren und sie sich
entfalten zu lassen.
Die Tatsache, dass die Bolschewiki mehr als andere sozialistische Parteien taten, um Arbeiterinnen einzubinden, lag nicht unbedingt an einem größeren Engagement für Frauenrechte. Menschewiki sowie Bolschewiki waren sich der Notwendigkeit, sich mit Frauen als Teil der Arbeiterklasse gemeinsam einzusetzen, bewusst. Jedoch konnten die Bolschewiki den Kampf für Geschlechtergleichstellung in eine auf Klassenaktivität gegen den Krieg und die Regierung basierende Strategie einbinden, während die auf die Fortsetzung des Krieges und Deals mit den Privilegierten und den Unternehmern setzenden Parteien nicht mehr tun konnten, als über die Streiks der Frauen zu berichten und über politische Rechte zu reden, ohne irgendwelche konkreten Lösungsvorschläge für die materiellen Belastungen der Frauen.
Die Bolschewiki nahmen sich immer mehr die Organisierung und die Politisierung der Frauen an – teilweise den Lehren der explosiven Anfänge des Februars folgend, und teilweise aufgrund der Beharrlichkeit ihrer Mitglieder. Führende bolschewistische Frauen wie Kollontai, Krupskaja, Armand, Konkordija Samojlova, und Vera Slutskaja, sowie andere, hatten schon länger argumentiert, dass die Partei sich dafür einsetzen sollte, Arbeiterinnen zu organisieren und ihre politische Bildung voranzutreiben. Sie kämpften dafür, ihre männlichen Genossen davon zu überzeugen, dass ungelernte Arbeiterinnen von zentraler Bedeutung waren, und nicht ein passives, konservatives, rückständiges Hindernis zur Revolution.
Die bolschewistische Zeitung Rabotnitsa („Die Arbeiterin“),
die zuerst im Jahr 1914 veröffentlicht wurde, und 1917 wieder
eingeführt wurde, beinhaltete Artikel über die Wichtigkeit von
Kinderkrippen, Kindertagesstätten, und schützende
Arbeitsplatzvorschriften für Frauen, und betonte immer wieder die
Notwendigkeit, dass Frauenfragen von allen Arbeiterinnen und
Arbeitern aufgenommen werden.
Die Rolle der Frauen im Februar und ihre kontinuierliche Bedeutung als Teil der Petrograder Arbeiterklasse trugen dazu bei, dass viele bolschewistische Männer ihre Meinung änderten. Sie glaubten nicht mehr, dass ein Fokus auf Frauenthemen dem (bürgerlichen) Feminismus den Boden ebnen würde, oder dass die Revolution von den politisch bewusstesten (männlichen) Facharbeitern angeführt werden würde. Trotz alledem war dies ein harter Kampf. Als Kollontai im April eine Frauenabteilung der Partei forderte, war sie weitestgehend isoliert, obwohl sie von Lenin unterstützt wurde, dessen Aprilthesen nicht gerade begeistert von der Führungsriege der Bolschewiki aufgenommen wurden – gleichzeitig war Kollontai die einzige Person im Zentralkomitee, die Lenin unterstützte.
In den folgenden Monaten wurde es jedoch klar, dass sowohl Lenins
Argument, im Laufe der Revolution die Macht an die Räten zu
übertragen, als auch Kollontais Verständnis der Bedeutung der
Arbeiterinnen, aus der Dynamik der Revolution entstanden und diese
vorwärts treiben konnten. Bolschewistische Zeitungen neben der
Rabotnitsa argumentierten nun, dass fest etablierte
sexistische Einstellungen die Klasseneinheit gefährden, und die
Partei arbeitete darauf hin, dass Frauen in den Räten repräsentiert
waren. Dabei gingen sie die Haltung der Männer an, die Arbeiterinnen
als eine Bedrohung betrachteten, und versuchten diese davon zu
überzeugen, Frauen zu wählen und ihnen als Mitarbeiterinnen,
Vertreterinnen, und Genossinnen Respekt zu zollen – besonders in
Industriesektoren, in denen Frauen eine Mehrheit bildeten.
Sechs Wochen nach der Oktoberrevolution wurde die Ehe durch zivile Partnerschaften ersetzt und die Scheidung war auf Antrag einer der beiden Partner möglich. Diese Maßnahmen wurden später im Familiengesetzbuch ausgearbeitet, welches Frauen vor dem Gesetz gleichstellte. Die religiöse Kontrolle wurde abgeschafft, und damit auch die seit Jahrhunderten institutionalisierte Unterdrückung mit einem Schlag beseitigt.
Scheidungen waren ohne jegliche Begründung möglich, Frauen
durften über ihr eigenes Geld verfügen, und beide Partner hatten
kein Anrecht auf das Eigentum des jeweils anderen. Das Konzept der
Unehelichkeit wurde abgeschafft. Wenn eine Frau nicht wusste, wer der
Vater war, hatten alle ihre vorherigen Sexualpartner kollektive
Verantwortung für das Kind. 1920 wurde Russland das erste Land, in
dem die Abtreibung auf Wunsch legalisiert wurde.
Die Revolution von 1917 wurde von Frauen initiiert und gestaltet, und im Verlauf des Jahres wurden viele uralte Vorstellungen über Frauen, die sie als minderwertige, passive, rückständige, konservative, unsichere, schwache Wesen, oder als Eigentum sahen, durch die Handlungen und das politische Engagement der Frauen angefochten, wenn nicht ganz ausgelöscht.
Allerdings schaffte die russische Revolution nicht die Männerherrschaft ab, und sie führte auch nicht zur Frauenbefreiung – die katastrophalen Entbehrungen während des Bürgerkriegs und die nachfolgende Verzerrung der Sowjetregierung machten dies zur Unmöglichkeit. Es bestand weiterhin Ungleichheit. Es waren nur wenige Frauen in Führungspositionen vertreten, nur wenige wurden in Verwaltungsbehörden gewählt, und sexistische Vorstellungen konnten nicht in der extremen Not, die dem Oktober folgte, verschwinden.
Während der Revolution beteiligten sich Frauen nicht im gleichen Maße wie Männer an den höheren Ebenen des politischen Prozesses, aber sie trotzten innerhalb den Begrenzungen ihres Lebens den Erwartungen und gestalteten den Kurs der Revolution. Wie McDermid und Hillyer sagten:
„Es stimmt, dass die Arbeitsteilung zwischen Männern und Frauen weiterhin bestand, aber statt daraus zu schließen, dass die Frauen es nicht schafften, die Männerherrschaft anzufechten, sollten wir betrachten, wie sie innerhalb ihrer traditionellen Sphäre taktierten und was dies für den revolutionären Prozess bedeutete.“
Frauen waren ein integraler Bestandteil der Revolution von 1917 und sie machten Geschichte an der Seite der Männer – nicht als passive Beobachterinnen oder als apolitische Nullen, sondern als mutige Teilnehmerinnen, deren Engagement bedeutsamer für die Ablehnung tief verwurzelter Unterdrückung, die die Revolution darstellte. Die Betrachtung der Revolution aus der Perspektive der Frauen ermöglicht uns einen tieferen Einblick in den noch immer bedeutsamsten umgestaltenden historischen Augenblick für das Leben der Frauen.
Zuerst auf Deutsch erschienen auf der Webseite Marx21.de:
https://www.marx21.de/die-frauen-von-1917/
Auch auf der Webseite Marx200: http://marx200.org/akteure/die-frauen-von-1917
Megan Trudell: The Women of 1917
Megan ist seit 30 Jahren als sozialistische Aktivistin in Großbritannien aktiv. Sie hat viel über den Ersten Weltkrieg, die Russische Revolution und den Russischen Bürgerkrieg geschrieben und befasst sich derzeit mit der Krisenzeit Italiens nach dem Ersten Weltkrieg. Dieser Essay erschien zuerst als Teil der Jacobin Magazine-Reihe zur Russischen Revolution.
Übersetzung: Jens Feldmann
Redaktion: Einde O’Callaghan
Korrektur: Jan Maas
Zuletzt aktualisiert am 24. Oktober 2017