Rudolf Rocker

 

Krieg und Wirtschaft


R.R.: Aufsatzsammlung, Bd. 2, 1949–1953, Verlag Freie Gesellschaft, 1980.
Originaltext von der Webseite der FAU-Bremen.
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Ich sagte in einem früheren Artikel, daß wir in eine neue Ära eingetreten sind, die ebenso bedeutsam, ja, aller Wahrscheinlichkeit nach noch von weit größerer Entscheidung für die Zukunft der Menschheit sein dürfte als das Zeitalter, das durch die sogenannte Industrielle Revolution eingeleitet wurde. Zwei Weltkriege, und ihre unheilvollen Ergebnisse haben uns in eine Lage versetzt, die nur durch eine Umgestaltung unserer gesamten Lebensbedingungen zu beheben ist. Je gründlicher wir uns mit diesem Gedanken vertraut machen, desto früher wird es uns gelingen, dem allgemeinen Chaos zu entrinnen, in das wir hineingeraten sind. Eine gesellschaftliche Periode von über zweihundert Jahren hat ihren historischen Abschluß gefunden und die Aufgabe, vor der wir heute stehen, wird nicht nur die ganze Tatkraft und Intelligenz unserer heutigen Generation, sondern auch vieler kommenden Geschlechter in Anspruch nehmen. In den Ländern Europas und großer Teile Asiens wird die Notwendigkeit dieser Aufgabe einen dringlicheren Charakter annehmen als in anderen, die von den unmittelbaren Ergebnissen des vergangenen Weltkrieges weniger betroffen wurden und auch heute noch über riesige Gebiete und viele natürliche Reichtümer verfügen wie die großen Länder des amerikanischen Kontinents und Australiens, die noch nicht übervölkert sind und infolgedessen noch bessere wirtschaftliche Möglichkeiten besitzen. Doch sogar in diesen von der Natur und der gesellschaftlichen Entwicklung begünstigten Ländern werden sich dieselben Notwendigkeiten früher oder später immer stärker bemerkbar machen, was umso früher geschehen wird, falls es nicht gelingen sollte, in absehbarer Zeit eine Entspannung der allgemeinen politischen Lage herbeizuführen, die heute das größte Hindernis ist, das in allen Ländern einer Neugestaltung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens entgegenwirkt.

Vor allem spielt hier die Gefahr eines neuen Weltkrieges die Hauptrolle, die seit dem Ende der vergangenen Weltkatastrophe bis heute nie verschwunden ist und, schon rein psychologisch betrachtet, den schlimmsten Einfluß haben muß, da sie jede gegenseitige Verständigung aussichtslos macht. Sollte aber wirklich ein neuer Weltbrand einsetzen, so wäre dies das Schlimmste, was uns heute begegnen könnte, da er zu Zuständen führen müßte, deren Tragweite überhaupt nicht zu ermessen sind, umsoweniger, als eine völlig zerstörte Welt das unvermeidliche Ergebnis sein würde. Eine völlige Umgestaltung unserer sozialen und wirtschaftlichen Lebensverhältnisse ist schon deshalb keine leichte Aufgabe, weil sie auf einer ganz neuen Basis durchgeführt werden müßte und unter ganz neuen Bedingungen, die man früher kaum in Betracht gezogen hatte.

Diejenigen Länder, die ihren riesigen Kolonialbesitz bereits verloren haben oder auf dem Wege dazu sind, aber auch jene Großstaaten, die über wenige oder gar keine Kolonien verfügten, dafür aber über große militärische und politische Druckmittel, die ihnen die Möglichkeit gaben, kleinere Völker in ihrer wirtschaftlichen Entwicklung zu beeinträchtigen, um sie für ihre eigenen kommerziellen und industriellen Vorteile zu gebrauchen, müssen heute lernen, auf eigenen Füßen zu stehen und ihre Wirtschaft so zu ordnen, daß ihre Ertragsfähigkeit mit der Zahl ihrer Bevölkerung in ein erträgliches Verhältnis kommt. Dabei aber kommt es besonders auf die Mittel an, die ihnen für einen neuen Aufbau zur Verfügung stehen, da sich mit leeren Händen nicht viel anfangen läßt ... Jeder Krieg aber, der einer gesellschaftlichen Neugestaltung vorausgeht, erschwert diese Aufgabe, da er nur Trümmerfelder, eine bankrotte Wirtschaft und moralischen Tiefstand zurückläßt, Dinge, die am wenigsten geeignet sind, den sozialen Aufbau zu begünstigen. Wenn man versucht, sich Rechnung darüber abzulegen, welch ungeheuerliche Summen an Rohstoffen und menschlichen Arbeitserzeugnissen die vergangenen beiden Weltkriege nutzlos verschlungen haben, so begreift man erst richtig den ganzen Wahnwitz einer sozialen Ordnung, unter deren Herrschaft eine Generation stets zerstört, was die andere aufgebaut hat. Wenn die Menschen wirklich etwas aus ihrer Geschichte gelernt hätten, so hätten sie längst begreifen müssen, daß ein System, das nicht imstande war, solch ungeheure Katastrophen zu verhindern, jede Existenzberechtigung verloren hat.

Jede Wirtschaft, auch wenn sie in der Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft ihre Basis hat, schafft in normalen Zeiten eine Menge Dinge, die sowohl für das Einzelwesen als auch für die Gesellschaft als ganzes unentbehrlich sind und beider zum Vorteil gereichen. Auch die heutige Wirtschaftsordnung macht von dieser Regel keine Ausnahme. Man hat das heutige System unlogischerweise als Kapitalismus bezeichnet und dieser Namen ist ihm verblieben, wie dies so häufig mit falschen Wortbildungen geschieht. In der Wirklichkeit ist jede menschliche Arbeitsbetätigung, welche Formen sie immer annimmt, auf Kapital angewiesen und könnte ohne solches überhaupt nicht bestehen. Als Kapital sind alle natürlichen Reichtümer eines Landes zu bewerten wie Erze, Minerale, Öl, Kohle, der Grund und Boden und seine mannigfachen Bestandteile über und unter der Oberfläche und alle Erzeugnisse menschlicher Arbeit, die ja nichts anders als eine künstliche Umformung der Naturprodukte für bestimmte menschliche Zwecke sind.

Der Wesenskern der heutigen Gesellschaftsform ist nicht der Besitz des Kapitals, sondern seine Monopolisierung durch privilegierte Minderheiten auf die Kosten breiter Volksmassen, die durch diesen Zustand der Dinge in wirtschaftliche und soziale Abhängigkeit geraten und jedes Bestimmungsrecht über den Gebrauch ihrer Arbeitserzeugnisse verlieren. Es ist dieser Zustand, gegen den der Sozialismus ankämpft, der ja vornehmlich die Monopolisierung des Kapitals verwirft und eine gerechte Verteilung der Arbeitserzeugnisse anstrebt, was nur durch die Beseitigung der Profitwirtschaft möglich ist und ihre Ersetzung durch einen Zustand, wo alle Ergebnisse wirtschaftlicher Betätigung der Gesellschaft als Ganzes, das heißt jedem ihrer Mitglieder in gleicher Weise zugute kommen. Es ist der Monopolismus der Wirtschaft, der überwunden werden muß, wobei es ganz gleichgültig ist, ob es sich um Privatmonopole oder Monopole des Staates handelt. In der Wirklichkeit ist der sogenannte Staatskapitalismus ein noch viel größeres Hindernis für eine natürliche Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens, da er alle Unzulänglichkeiten und Gebrechen des Privatkapitalismus auf die Spitze treibt und ihre Beseitigung schwieriger macht, wie wir dies heute in Rußland und allen anderen Ländern, die seiner Obhut unterstehen, so deutlich beobachten können. Doch von welcher Seite man die Sache immer betrachten mag, so bleibt die Tatsache bestehen, daß jede Wirtschaft, auch die kapitalistische, in normalen Zeiten eine Menge von Dingen hervorbringt, welche die Erhaltung der Gesellschaft gewährleisten und ihr daher unbedingt von Nutzen sind. Jedes Haus, das gebaut wird, jede Verbesserung der Transport- und Verkehrsmittel, nicht zu reden von den zahllosen Gebrauchsgegenständen des täglichen Lebens, repräsentieren ein angelegtes Kapital, das der Gesellschaft zu Nutzen kommt und ihre Existenzbedingungen fördert. Das Kapital aber, das in Kriegszeiten und für Kriegszwecke angelegt wird, dient lediglich den Zwecken der Zerstörung. Je größeren Umfang der Krieg annimmt, je länger er dauert, desto ungeheuerlicher sind die Summen an natürlichen Rohstoffen und menschlichen Arbeitsprodukten, die er nutzlos verschlingt. Das Kapital, das für den Krieg angelegt wird, schafft keine neuen Werte, sondern zerstört oft in wenigen Monaten unschätzbare Werte, deren Herstellung häufig die Arbeit vieler Generationen erforderte. Die vergangenen beiden Weltkriege haben uns in dieser Hinsicht einen Anschauungsunterricht gegeben, der unmißverständlich ist. Daß man dies bis heute noch nicht begriffen hat, macht der menschlichen Intelligenz keine Ehre und zeigt, daß das bekannte Wort des schwedischen Kanzlers Oxenstierna „Du begreifst nicht, mein Sohn, mit wie viel Unvernunft die Welt regiert wird“, seine Gültigkeit noch immer nicht verloren hat. Ich habe in einem früheren Artikel davon gesprochen, daß der blinde Glaube an die unbegrenzte Ertragsfähigkeit der Erde nur eine Illusion war, die längst widerlegt wurde. Doch dieses gilt nicht bloß für die Erträgnisse der Landwirtschaft, sondern auch für die Rohstoffe der Erde, von denen viele nur in beschränkten Mengen vorhanden sind und häufig nur in bestimmten Teilen der Erde gefunden werden. In keiner Zeit aber werden lebenswichtige Rohstoffe so sinnlos und in einer geradezu empörenden Weise verschwendet wie gerade in Perioden des Krieges. Ungeheure Ölvorräte, die kommenden Generationen als Betriebsstoff hätten dienen können, wurden während der vergangenen beiden Weltkriege dem Werk der Zerstörung geopfert und können nicht mehr ersetzt werden, da sich die Ölquellen ebenso erschöpfen wie die Kohlenvorkommen. Ungeheure Mengen wertvoller Metalle und Minerale wurden zwecklos vergeudet und einer nützlichen Verwendung entzogen. Riesige Waldungen wurden gefällt, um den Zwecken des Krieges zu dienen und häufig, ohne daß man für neue Anpflanzungen Sorge tragen konnte. Solche frevelhaften Verwüstungen der Natur aber führen nicht selten zu einer Veränderung des Klimas und vermindern die Ertragsfähigkeit weiter Landflächen.

Man tröstet sich häufig mit dem Gedanken, daß durch die Verwendung atomischer Kräfte eine Erschöpfung der heutigen Betriebsstoffe leicht ausgeglichen werden könnte, was auch sehr wahrscheinlich ist. Doch darf man dabei nie außer acht lassen, daß diese neu entdeckten Kräfte vorläufig nur den Zwecken der Zerstörung dienstbar gemacht werden. Wir wissen zwar, welch ungeheure Verwüstungen sie verursachen können, doch über ihre praktischen Anwendungsmöglichkeiten in der Industrie, Landwirtschaft und auf vielen anderen Gebieten menschlicher Betätigung wissen wir noch immer sehr wenig und sind fast nur auf Vermutungen angewiesen, die erst durch eine lange Reihe von Experimenten und praktischen Erfahrungen erprobt werden müssen. Vorläufig aber können wir nur mit dem rechnen, was uns heute wirklich zur Verfügung steht. Die phantastische Verwüstung kostbarer Rohstoffe und materieller Reichtümer, die uns nach zwei Weltkriegen als Erbschaft verblieben ist, ist ohne Zweifel ein gewaltiges Hindernis, um die Aufgaben zu erfüllen, die uns durch die große Wandlung der allgemeinen Weltlage gestellt wurden und von deren Lösung die nächste Zukunft der Menschheit abhängig ist. Das größte Hindernis aber, dem wir heute begegnen, ist die heillose geistige Verwirrung, in die wir geraten sind und die durch den blinden Fanatismus der Parteien und die blöden Schlagworte der Machtpolitiker aller Gattungen fortgesetzt genährt und vergrößert wird. Nur ganz wenige begreifen heute die ganze Tragweite der Situation, in der wir uns befinden und daß wir an einem Wendepunkt der Geschichte angelangt sind, von dem es kein Zurück gibt. Wir müssen uns mit den Verhältnissen abfinden, die durch menschliche Blindheit verursacht wurden und Wege finden, die zu einem neuen Aufstieg führen können. Jedes Vorschreiten auf den ausgetretenen Pfaden der Vergangenheit kann nur das Verhängnis vergrößern, das uns heute von allen Seiten bedroht. Wir begreifen heute immer mehr, daß die Menschen des Zeitalters der Industrialisierung seine Bedeutung völlig verkannt haben und zu Schlüssen gelangten, die nicht wenig zur Entwicklung der heutigen Lage beigetragen haben. Sogar die schlimmste Tyrannei beruht nicht ausschließlich auf physischer Gewalt und ist gezwungen durch bestimmte ideologische Vorstellungen den Menschen den Glauben zu vermitteln, daß ein gegebener sozialer Zustand in der Natur der Dinge begründet ist und nicht geändert werden kann. Je besser ihr dies gelingt, desto gesicherter ist ihre Existenz. Solche Vorstellungen, die stets auf halben Wahrheiten beruhen, die immer gefährlicher als bewußte Lügen sind, haben in der Regel einen stärkeren Einfluß auf das Denken der Menschen als die wirklichen Zustände, aus denen sie geboren wurden. Das zeigte am besten die Lehre des Pfarrers Robert Malthus, die Jahrzehntelang einen unheimlichen Einfluß auf das geistige Leben seiner Zeitgenossen ausübte. Daß Malthus die Bevölkerungsfrage in das Bereich seiner sozialen Betrachtungen gezogen hatte, war ein Verdienst, das ihm niemand bestreiten wird; allein die Schlüsse, die er daraus zog, waren sicherlich die größte geistige Verirrung, zu der ein Mensch gelangen konnte. Im Lager der Physiokraten und Sozialisten hat man diese Vorstellungen dann auch nie geteilt und suchte nach Mitteln und Wegen, um einer Gefahr vorzubeugen, die richtig erkannt war. Malthus aber wußte mit seiner Erkenntnis nichts besseres anzufangen, als die schreiendsten Mißstände des industriellen Zeitalters zu rechtfertigen und als unumgänglich zu verteidigen. Was er den Menschen zu sagen hatte, war, daß der Tisch des Lebens nicht für alle gedeckt wurde und die Überzähligen von der Vorsehung verdammt waren, im Elend zu verkommen oder durch Krieg und Seuchen hinweggerafft zu werden. Spätere Biographen von Malthus haben ihn als Menschen von großer Herzensgüte geschildert. Vielleicht ist das richtig, denn das menschliche Denken erzeugt ja sehr oft recht sonderbare Mißgeburten. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, daß seine Lehre des menschenfeindlichste Gebilde war, das je erdacht wurde. Seine berüchtigten Worte: „Steh’ auf und geh’ in den Tod, denn Du gehörst zu den Überzähligen, für die kein Platz gedeckt ist“, können wohl kaum anders verstanden werden. Malthus war durch das lichtvolle Werk William Godwin’s Politische Gerechtigkeit zur Abfassung seiner Arbeit über die Bevölkerungsfrage veranlaßt worden und versuchte dort den Beweis zu erbringen, daß, wenn sogar eine denkbar vollkommene Gesellschaft im Sinne Godwin’s möglich wäre, diese im Laufe weniger Generationen wieder in den alten Zustand zurückgeworfen würde und zwar auf Grund des ungleichen Verhältnisses zwischen einer stets zunehmenden Bevölkerung und ihren Ernährungsmöglichkeiten. Dieses Verhältnis war für ihn ein Naturgesetz, das durch keine menschliche Einsicht geändert werden konnte. Ein Beweis, daß Malthus das Wesen der menschlichen Kultur überhaupt nicht begriffen hatte, die ja nichts anders ist, als ein bewußtes Eingreifen des menschlichen Denkens in das Walten der Naturkräfte und der Versuch, diese Kräfte seinen eigenen Zwecken dienstbar zu machen.

Der Einfluß des Malthusianismus machte sich sogar in dem damaligen mächtigen Aufschwung der Naturwissenschaften stark bemerkbar und Darwin mußte später selber zugeben, daß er bei der ersten Formulierung der Theorie vom Kampf ums Dasein und dem Überleben der Fähigsten von der Lehre Malthus’ beeinflußt wurde. Demselben Einfluß unterlagen auch die Begründer des Sozialen Darwinismus, die ein mißverstandenes Naturgesetz unbedenklich auf das gesellschaftliche Leben der Menschen übertrugen und dabei zu den schlimmsten Fehlschlüssen gelangen mußten. Werden die Menschen von heute den großen Wendepunkt in ihrer Geschichte besser deuten lernen? Von der richtigen Erkenntnis unserer heutigen Lage wird alles abhängen. Sie wird entscheiden müssen, ob wir zu einem neuen Beginnen das nötige Verständnis besitzen oder ob die düstere Prophezeihung des griechischen Weisen doch in Erfüllung gehen sollte: „Der Mensch will den Göttern gleich werden und sein Ehrgeiz wird ihm helfen, dieses Ziel zu erreichen, aber nur, um den Selbstmord seiner Rasse zu besiegeln.“

 


Zuletzt aktualisiert am 15. Mai 2021