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Da, wie wir gesehen haben, ein Teil des Mehrwerts stets dem Kapital zugesetzt resp. zum Produktionsprozeß verwandt wird, also das Kapital - und mit ihm der Umfang der Produktion - fortwährend wächst, so muß sich auch jener Kapitalteil beständig vermehren, der zum Ankauf von Arbeitskraft dient: der Lohnfonds.
Erwägt man nun, daß durch die kapitalistische Produktionsweise das Kapitalverhältnis selbst, auf der einen Seite der Kapitalist und auf der andern Seite der Lohnarbeiter, reproduziert wird, so begreift man, daß mit der Reproduktion des Kapitals auf erweiterter Stufenleiter auch auf der einen Seite mehr oder größere Kapitalisten und auf der anderen Seite mehr Lohnarbeiter entstehen müssen. Manchmal treten zwar Umstände ein, wie Öffnung neuer Märkte, Entstehung neuer Produktionszweige etc., welche das Wachstum des Kapitals in einem so hohen Grade steigern, daß die Zufuhr von Arbeit nicht damit Schritt hält, und dann steigt der Arbeitslohn, was dem Kapitalisten schrecklichen Kummer verursacht, allein solche Ausnahmen ändern nichts an der Regel. (Auch bei diesen Ausnahmen wartet der Kapitalist nicht, bis sich die Arbeiter durch Fortpflanzung so stark vermehrt haben, daß der Preis der Arbeitskraft sinkt. Er überläßt es ruhig den Theoretikern, ihm eine derartige Lammsgeduld zuzumuten; als schlauer Praktikus setzt er lieber demjenigen eine Prämie aus, der eine Maschine erfindet, durch welche Arbeiter freigesetzt werden können.)
Es wurde früher gezeigt, daß die Methoden, welche die Fruchtbarkeit der Arbeit erhöhen, Produktion auf stets erweiterter Stufenleiter voraussetzen, und es versteht sich von selbst, daß letztere, eine Gesellschaft vorausgesetzt, wo die Produktionsmittel Privateigentum sind, nur in dem Grade ausdehnbar ist, worin sich Produktions- und Lebensmittel in den Händen individueller Kapitalisten aufhäufen.
Der Übergang vom Handwerk und vom Kleinbetrieb überhaupt zur kapitalistischen Produktionsweise konnte sich daher nur bewerkstelligen, weil vor dem Beginne der eigentlich kapitalistischen Produktionsepoche bereits eine gewisse Kapitalanhäufung (Akkumulation) in den Händen individueller Warenproduzenten stattgefunden hatte. Man kann dieselbe die ursprüngliche Kapitalbildung nennen: Wie sie sich vollzog, wird sich später zeigen.
Kapitalanhäufung ermöglicht also die kapitalistische Produktionsweise, und diese ermöglicht wiederum Kapitalanhäufung. Nun bekämpfen sich aber gegenseitig die einzelnen Kapitalisten beständig, und ihre Waffe ist die Verwohlfeilerung der Waren. Je größer ein Kapital, desto vorteilhafter kann es zur Produktion verwendet werden, somit müssen die kleineren Kapitalisten im Konkurrenzkampfe nach und nach den größeren erliegen. Die kleineren Kapitalien werden von den größeren aufgesaugt, das Kapital konzentriert sich mehr und mehr, die Produktion findet auf immer größerer Stufenleiter statt, der Produktionsprozeß selbst erleidet fortwährende Umwälzungen, alle erdenklichen Produktionszweige werden allmählich kapitalistisch betrieben, und die Produktivität wird durch dies alles beständig erhöht.
Hingegen wird gleichzeitig mit dem Wachstume des Kapitals ein stets größerer Teil davon in Arbeitsmitteln, fest, und ein kleinerer Teil in Arbeitskraft, beweglich, angelegt. Die notwendige Folge dieser fortschreitenden Veränderung des Größenverhältnisses seiner beiden Bestandteile ist, daß in demselben Grad, worin die Produktivkraft der gesellschaftlichen Arbeit zunimmt und worin die Arbeiterklasse den Kapitalreichtum vermehrt, sie gleichzeitig die Mittel schafft, eine stets zunehmende Anzahl ihrer eigenen Glieder überflüssig zu machen, freizusetzen, in sogenannte Übervölkerung zu verwandeln.
Es ist dies ein der kapitalistischen Produktionsweise eigentümliches Bevölkerungsgesetz, wie in der Tat jede besondere historische Produktionsweise ihre besonderen historisch gültigen Bevölkerungsgesetze hat. Ein von Natur endgültiges Vermehrungsgesetz existiert nur für Pflanze und Tier.
Wenn aber die Anhäufung des Kapitals Arbeiter überzählig macht, werden die überzähligen ihrerseits wieder ein Hebel der Kapitalaufhäufung. Da sich die große Industrie unaufhörlich in Umgestaltung befindet, da sie ihr gegebenes Operationsfeld oft plötzlich ausdehnen und stets neue Operationsfelder erobern muß, bedarf sie unbedingt freigesetzter, d. h. mehr oder minder unbeschäftigter, zu ihrer Verfügung stehender Arbeitermassen. Das Kapital braucht also nicht nur aktive Arbeiter, sondern auch eine industrielle Reservearmee, die es jeden Augenblick in die Produktion eingreifen lassen und wieder abstoßen kann, je nach Bedarf. Es ist natürlich, daß diese Reservearmee nicht beständig aus denselben Arbeitern besteht; jeder Arbeiter, der zeitweilig unbeschäftigt ist, gehört ihr während seiner Arbeitslosigkeit an.
Die ganze Bewegungsform der modernen Industrie erwächst also aus der beständigen Verwandlung eines Teiles der Arbeiterbevölkerung in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte „Hände“. Dieses spezifisch kapitalistische Bevölkerungs- resp. Übervölkerungsgesetz ist Lebensbedingung der kapitalistischen Produktion.
Man hat gesehen, daß die Entwicklung der kapitalistischen Produktionsweise und Produktivität der Arbeit - zugleich Ursache und Wirkung der Kapitalvermehrung - den Kapitalisten befähigt, mit derselben Auslage von beweglichem Kapital mehr Arbeit durch größere Ausbeutung der einzelnen Arbeitskräfte flüssigzumachen. Man hat ferner gesehen, daß der Kapitalist mit demselben Kapitalwert mehr Arbeitskräfte kauft, indem in stets größerem Verhältnisse geschicktere durch ungeschicktere, reife durch unreife, männliche durch weibliche, erwachsene durch jugendliche verdrängt werden. Daraus ergibt sich, daß die Freisetzung von Arbeitern rascher vorangeht, als ohnehin bedingt wird, durch die mit dem Fortschritte der Kapitalausdehnung beschleunigte technische Umwälzung des Produktionsprozesses und die dem entsprechende Vermehrung des feststehenden (in Arbeitsmitteln angelegten) und Verringerung des beweglichen (in Arbeitskraft angelegten) Kapitalteils.
Ein Teil der Arbeiter arbeitet über die durchschnittliche Zeitdauer mit mehr als durchschnittlicher Kraftverausgabung, vermehrt dadurch die Überzähligen, und diese zwingen die ersteren (durch die Konkurrenz) zur Überarbeit! Dieses Verhältnis wird ein gewaltiges Bereicherungsmittel der einzelnen Kapitalisten und beschleunigt zugleich die Erzeugung der industriellen Reservearmee auf einem, dem Fortschritt der gesellschaftlichen Kapitalvermehrung entsprechenden Maßstab.
Im großen und ganzen sind die allgemeinen Bewegungsgesetze des Arbeitslohns ausschließlich geregelt durch das Einrücken und Austreten der industriellen Reservearmee, welche dem periodischen (in bestimmter Zeit sich stets erneuernden) Wechsel von mittlerer Produktion, Überproduktion, Stockung, Krise, mittlerer Produktion etc. entsprechen, ein Wechsel, der mit dem Fortschritt der großen Industrie immer rascher durchlaufen und selbst wieder von unregelmäßigen kleineren Schwankungen durchkreuzt wird.
Das Steigen und Sinken des Arbeitslohnes wird also nicht durch die Bewegung der ganzen Anzahl der Arbeiterbevölkerung bestimmt, sondern durch das wechselnde Verhältnis, worin die Arbeiterklasse in aktive Armeen und Reservearmeen zerfällt, durch die Zu- und Abnahme des Umfanges, in welchem die Überzähligen beschäftigt werden.
Die moderne Industrie würde auch sehr schlecht dabei fahren, wenn sich Nachfrage und Angebot der Arbeit nicht nach den jedesmaligen Verwertungsbedürfnissen des Kapitals regelten, sondern umgekehrt die Bewegung des Kapitals von der absoluten Bevölkerungsmenge abhängig wäre.
So denken sich aber die Professoren der Ökonomie den Vorgang. Nach ihnen hat die Kapitalvermehrung eine Steigerung des Arbeitslohnes im Gefolge, welche hinwiederum eine so starke Vermehrung der Arbeiterbevölkerung veranlaßt, daß die Kapitalvermehrung nicht dauernd damit Schritt halten kann, daher schließlich viele Arbeiter unbeschäftigt bleiben müssen und der Arbeitslohn wieder sinkt. Umgekehrt bewirke niedriger Arbeitslohn allmählich eine solche Abnahme der Arbeiterbevölkerung, daß die Nachfrage nach Arbeit deren Zufuhr überhole, oder aber der sinkende Arbeitslohn und die gleichzeitige stärkere Ausbeutung der Arbeitskraft beschleunigten die Kapitalvermehrung, während die Arbeitervermehrung durch den niedrigen Lohn in Schach gehalten werde. Beide Fälle bewirken schließlich wieder ein Steigen des Lohnes - bis die Folgen dieses Steigens abermals zum Sinken führen.
(Diese Theorie ist anscheinend so klar, daß sich z. B. Lassalle stark davon bestechen ließ und Veranlassung nahm, das Wesentlichste davon den Arbeitern als „ökonomisches Lohngesetz“ ganz besonders ans Herz zu legen.)
Marx hingegen blickt tiefer und ist in der Tat der erste, der das spezifisch kapitalistische Bevölkerungsgesetz erforschte und darlegte. Es ist noch niemals durch den Notstand der Arbeiter und - derselbe zeigt sich in einzelnen Distrikten wahrlich schlimm genug und währt oft jahrzehntelang - eine solche Verringerung der Arbeiterbevölkerung eingetreten, daß hierdurch eine Erhöhung des Arbeitslohnes hätte Platz greifen müssen. Der Mensch kann eben Unglaubliches dulden, ehe er total zugrunde geht. Man gehe doch in die Weberdistrikte und sehe nach, ob nicht trotz der jammervollsten Notlage fast lauter zahlreiche Familien angetroffen werden! Nötigenfalls wird Armenunterstützung gewährt, welche die Ärmsten der Armen zwischen Leben und Sterben erhält. Ebenso bewirkt Arbeitermangel kein Steigen des Lohnes. Wo es an Arbeitern fehlt, stellt sich eben ein dringendes Bedürfnis nach Verbesserung der Arbeitsmittel heraus, neue Maschinen werden erfunden etc., kurz, der Produktionsprozeß so umgestaltet, daß die vorhandenen Arbeiter ausreichend resp. zum Teil überzählig werden. Mit solch langweiligen Dingen wie das Warten, bis sich die Arbeiter durch hohen Lohn zu rascherer Fortpflanzung verleiten lassen und dadurch mit der Zeit eine so zahlreiche Arbeiterbevölkerung schaffen, daß der Lohn wieder sinken muß, mit solch langweiligen Dingen befaßt sich das Kapital nie und nimmermehr. Wenn es mehr Arbeiter braucht, so braucht es dieselben sofort und nicht erst in 10 bis 20 Jahren.
Die Zahl der beschäftigten Arbeiter wächst nicht in demselben Verhältnis wie das Kapital, sondern vielmehr mit dem Fortschritt der großen Industrie in beständig abnehmendem Verhältnis. Wenn die Anhäufung des Kapitals von der einen Seite die Nachfrage nach Arbeit vermehrt, vermehrt sie zugleich von der anderen Seite durch den Anstoß, den sie der Ausdehnung und Fortentwicklung der kapitalistischen Produktionsweise gibt, die Zufuhr „freigesetzter“ Arbeiter und deren Druck auf die Beschäftigten. Die Bewegung des Gesetzes von Angebot und Nachfrage auf dieser Basis (Grundlage) vollendet die Despotie des Kapitals.
Sobald sich daher die Arbeiter organisieren, um gegen dieses Gesetz anzukämpfen resp. dessen Folgen zu brechen oder abzuschwächen, gerät das Kapital in Tobsucht und zetert über Verletzung des „ewigen und heiligen Gesetzes“ der Nachfrage und Zufuhr und macht Zwangsgesetze. (Man denke z. B. an den Entwurf des Gesetzes wider den „Kontraktbruch“!)
Zuletzt aktualisiert am 9.11.2008