Moses Heß

 

Briefe aus Paris

(1844)


Aus: Arnold Ruge u. Karl Marx (Hrsg.), Deutsch-Französische Jahrbücher, Paris 1844.
Nachgedruckt in Arnold Ruge u. Karl Marx (Hrsg.), Deutsch-Französische Jahrbücher, Leipzig 1973, S.215-27.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Paris, den 2. Januar 1844. – Das Quecksilber in Frankreichs politischem Leben steht in diesem Augenblick, wie das in Ihrem Thermometer, auf dem Gefrierpunkte, was freilich ganz in der Ordnung ist, denn die Kammern [1] sind eröffnet. Die Revolutionen können hier bekanntlich nur im Sommer [2] und die Gesetze nur im Winter gemacht werden. Die Kammern wurden vor einigen Tagen wieder zusammenberufen, um sich sagen zu lassen, daß alles im besten Zustande, das Land glücklich und der Weltfriede gesichert sei. Unglücklicherweise erinnerte sich der älteste Mann in der Deputiertenkammer [3] noch jener Zeiten, wo man von andern Zuständen, von einem andern Glücke träumte, und wollte sich daher gar nicht zufriedengeben mit dem gepriesenen Wohlstande der Nation. Aber die Repräsentanten dieses Wohlstandes protestierten gegen die Laffittesche Protestation, und so blieb denn nach der bekannten dialektischen Methode der deutschen Philosophie, durch Negation der Negation alles beim alten. [4] Die einzige Genugtuung des alten Laffitte war ein Besuch des ehrwürdigen Beranger [5], der in ländlicher Zurückgezogenheit lebt und nur in den seltenen Augenblicken, wo sich der beßre Geist des Landes mitten durch die Korruption hindurch zu erkennen gibt, wie ein Symbol erscheint und wieder verschwindet. Beranger ist der gute Genius der Julirevolution, der mit verhülltem Antlitz dem Treiben der offiziellen Politik zusieht. Sein stilles Beifallslächeln mochte den greisen Deputierten für das laute Murren seiner jungen Kollegen hinlänglich entschädigen.

Frankreichs Unglück ist der Antagonismus der beiden Parteien, welche seine beiden Revolutionsprinzipien der Freiheit und Gleichheit vertreten, der Antagonismus der liberalen und der demokratischen Partei. Ursprünglich nicht entzweit, stehen sie sich gegenwärtig vielleicht schroffer gegenüber als je. Wir meinen hier nicht den Gegensatz des, Radikalismus und Moderantismus. Unter Liberalen begreifen wir alle, die nur Reformen zugunsten der politischen Freiheit wollen, ob in konservativer, friedlicher oder in radikaler revolutionärer Weise. Demokraten hingegen nennen wir jetzt diejenigen, die nur oder doch vorherrschend die soziale Gleichheit erstreben und zur Freiheit sich gradeso verhalten wie die Liberalen zur Gleichheit, nämlich im besten Falle indifferent, zuweilen sogar feindlich. [6]

In der ersten französischen Revolution gab es nur Progressisten, sieggewisse Gegner des alten verrosteten Regiments. Allerdings unterschieden sich Radikale und Moderantisten [7], keineswegs aber Liberale und Demokraten im heutigen Sinn. [8] Damals lebte dieser Gegensatz wenigstens nicht im Volksbewußtsein. Mit dem Bewußtsein dieses Gegensatzes wäre der Volksenthusiasmus, der schöpferische Träger der Revolution, gewiß nicht aufgekommen, oder wäre etwa nach dem Ausbruch der ersten französischen Revolution dieser Gegensatz ins Bewußtsein getreten, das Feuer der Begeisterung hätte von dem Augenblick an erlöschen müssen. [9] Der Unterschied zwischen dem liberalen und demokratischen Elemente, der kein anderer als der Gegensatz von Freiheit und Gleichheit in dem nicht sozial gestalteten Leben ist, entwickelte sich vielmehr erst im Verlaufe der Revolution. In der Republik, und zwar bis zum Direktorium, waren Freiheit und Gleichheit noch vereint das bewegende Prinzip.

Die Konstitution von 1791 macht zwar schon für die Urversammlungen einen Unterschied zwischen aktiven und nicht aktiven Bürgern, d.h. zwischen bourgeois und peuple, zwischen solchen, die eine Kontribution entrichten, und den eigentlichen Proletariern, welche zur Teilnahme den Urversammlungen, den geringsten politischen Rechten, nicht zugelassen wurden; ja, die geht in betreff der Wahlen zur Volksrepräsentation noch weiter, indem sie einen noch größern Besitz zur Bedingung macht, um zu den Wahlversammlungen zugelassen zu werden. [10] Aber man würde sehr irren, wollte man deshalb der Nationalversammlung [11] eine feindliche Stellung zum Prinzip der Gleichheit unterschieben. Das Verdienst dieser glorreichen Versammlung war die Abschaffung aller Feudalrechte, und die Konstitution von 1793 [12] war die Vollendung jener von 1791. Die Erklärung der Menschenrechte [13] ist eine feierliche Protestaktion gegen alle Privilegien, eine unzweideutige Proklamation der Freiheit und Gleichheit. Sanktionierte dieselbe Versammlung, welche die Menschenrechte erklärte, hinterher doch wieder einige Privilegien, so war dies ein naiver Irrtum, den die Konstitution von 1793 berichtigen zu können glaubte. – Sie berichtigte ihn auf ihre Weise durch die Aufhebung aller Vermögensunterschiede selbst für die höchsten politischen Rechte; was zur notwendigen Folge den Terrorismus hatte. Der Terrorismus ist der Despotismus der Gleichheit im Zustande des sozialen Egoismus. In unsern antisozialen Zuständen kann die Gleichheit nur in der Form der Negation aller individuellen Freiheit, alles individuellen Lebens, in der Form der Herrschaft einer abstrakten, transzendenten Einheit, einer äußern, absolutistischen Autorität, kurz, in der Form des Despotismus erscheinen. Die Konstitution von 1793 hatte daher die Diktatur Robespierres und die Wiedereinsetzung des être-suprème [14] zur Folge. Die heutigen Demokraten sind sich dieser Notwendigkeit wohl bewußt. Aber der Konvent betrachtete in seiner Naivität den Terrorismus nur als eine passagère [15], provisorische Maßregel. Er vernichtete die Freiheit faktisch, keineswegs prinzipiell, wie unsere heutigen Demokraten. [16] Ledru-Rollin [17] hat jüngst in seiner Antwort an die Reforme über die Lehrfreiheit siegreich nachgewiesen, daß es ganz und gar unstatthaft, wenn die heutigen Demokraten, die der Gleichheit die Freiheit opfern möchten, sich auf die Grundsätze des Konvents stützen. – Der Gegensatz zwischen dem Prinzip der Gleichheit und dem Prinzip der Freiheit trat zuerst in der Konstitution von 1795 [18] hervor. Der Unterschied von aktiven und nicht aktiven Bürgern sowie die verschiedenen Formen des Wahlzensus kommen hier wieder zum Vorschein, und zwar jetzt nicht mehr in der unbefangenen Weise der Nationalversammlung, sondern als Reaktion gegen den Terrorismus. – Wie unter dem Direktorium das einseitige Freiheitsprinzip gegen das einseitige Gleichheitsprinzip, so reagierte später unter Bonaparte und dem Kaiserreiche das terroristische Gleichheitsprinzip zuerst in bewußter Weise gegen das Freiheitsprinzip. Robespierres être-suprème kam erst nach ihm auf die Welt: es war Napoleon. Hätte Robespierre sein être-suprème gekannt, er hätte es nicht proklamieren, er hätte es guillotinieren lassen. – Seit dem Sturze Napoleons machte die französische Nation mehrere unglückliche Versuche, die beiden Revolutionsprinzipien vereint ins Leben einzuführen. Der Restauration war es aber weder um Freiheit noch um Gleichheit zu tun; sie gab sich nur den Schein, diese beiden großen Prinzipien realisieren, und wurde gestürzt, als sie ihre zu heuchlerische Maske abwarf. [19] Die Julirevolution sollte sodann die Vermittlung der beiden Prinzipien ausführen, wogegen sie die Unmöglichkeit ihrer Verwirklichung ohne radikale Umgestaltung des sozialen Lebens dargetan hat. Unter dem Regime der Julirevolution trat der Gegensatz der beiden Revolutionsprinzipien zuerst ins Volksbewußtsein, und seitdem kann man die Physiognomie der liberalen und demokratischen Partei genau unterscheiden.

 

 

Paris, 4. Januar. – Die beiden Parteien, welche die beiden Revolutionsprinzipien einseitig vertreten, haben sich bis jetzt gegenseitig nur momentan überwinden können. In dem Augenblicke, wo das eine Prinzip siegte, gewann das andere wieder die Macht zu reagieren, weil die Einseitigkeit nur zu erscheinen brauchte, um sich die ganze Nation zu entfremden. Gegenwärtig sind die beiden Prinzipien in einem Kampfe auf Leben und Tod begriffen. In der alten unorganischen Weltanschauung, worin alle befangen sind, fallen, wie gesagt, die beiden Prinzipien der Freiheit und Gleichheit, welche in Wahrheit nur das eine Lebensprinzip der Selbsttätigkeit ausdrücken, notwendig auseinander. Denn im unorganischen Leben ist die Freiheit nichts anderes als die Unabhängigkeit des einen vom andern, das Nichtgebundensein aneinander. Die Gesellschaft aber ist nur dann organisch, d.h. menschlich, wenn ihre Glieder in-, mit- und durcheinander wirken, und die Freiheit der unorganischen Gesellschaft steht der Einheit, der Gleichheit, der Ausgleichung aller Lebensansprüche der Individuen, direkt entgegen. Auf der andern Seite widerspricht die Gleichheit, vom unorganischen Gesichtspunkte aufgefaßt, aller Freiheit. Denn die Gleichheit ist hier nichts anderes als die Aufhebung aller Individualität, jeder individuellen Selbständigkeit. Die Gleichheit konnte sich bisher nie ohne despotische Gewalt ins Leben einführen, nie ohne Gewalt, welche jede freie Entwickelung der Individuen, jede geistige und materielle Freiheit tötete. Die Freiheit aber mußte sich stets auf das Privatinteresse, auf den Egoismus und die Korruption stützen. Einerseits der Konvent und das Kaiserreich, andrerseits die konstitutionelle Monarchie und das Direktorium beweisen faktisch diese Notwendigkeit. Und vergebens bemüht man sich jetzt, theoretisch durchzuführen, was praktisch unausführbar.

Seitdem aber der Gegensatz von bourgeoisie und peuple in das Volksbewußtsein eingedrungen und offen eingestanden ist, seitdem kein Hehl mehr gemacht wurde aus dem. Bourgeoisieregiment mit allen seinen Konsequenzen, d. h. aus der einseitigen Herrschaft des liberalen Prinzips, seitdem gewinnt die demokratische Richtung immer mehr die Massen. Der Haß gegen das Bourgeoisieregiruent hat die Reaktion gegen den Liberalismus sogar auf eine Höhe getrieben, wo es dem Blindesten klarwerden muß, daß das Prinzip der Gleichheit im Gegensatze zum Freiheitsprinzip eben so unzulänglich wie dieses letztere im Gegensatz zu jenem erstem ist.

Die demokratische Partei, die in allen Tonarten die Einheit anpreist, ist jedoch nichts weniger als einig. Sie teilt sich erstens in reine Demokraten, d.h. in Sozialisten, welche das Privateigentum aufheben, und in solche, welche mit Beibehaltung des Privateigentums, wie sie sagen, die Arbeit organisieren wollen.

Die einen Demokraten oder die Kommunisten teilen sich wieder in religiöse und materialistische, in friedliche und revolutionäre, abgesehen von den verschiedenen Systemen, die alle mehr oder weniger Anhänger haben. – Und die antikommunistischen Demokraten! Welche Unzahl von Meinungen! Dennoch greift in diesem Augenblicke die demokratische Journalistik überall, in Paris wie in den Provinzen, mächtig um sich. Doch ist es nicht die rein demokratische oder kommunistische Richtung, welche sich der Tagesliteratur bemächtigt. Es fehlt ihr erstens an ökonomischen Mitteln, um Journale zu gründen, an der nötigen Unterstützung. Dann ist sie noch zu sehr mit der Herausarbeitung ihres Prinzips, ihres eignen Wesens beschäftigt. Sie versucht endlich ihre Prinzipien weniger auf parlamentarischem Wege als mittelst literarischer Propaganda und geheimer Clubs zu verbreiten, was übrigens nicht ihr zur Last zu legen ist, sondern den Septembergesetzen. [20] Der Kommunismus überschwemmt inzwischen Frankreich mit Systemen, Büchern, Broschüren und periodischen Schriften. Im Verein mit den andern Demokraten untergräbt er so die schon schwankende soziale Ordnung oder vielmehr Unordnung, das öffentliche und das Privatrecht. Sosehr aber die reinen Demokraten jene Einwürfe, die ihnen mit Recht vom Gesichtspunkte der individuellen Freiheit aus gemacht werden, zu entkräften streben, sowenig ist es Ahnen bisher gelungen, die Freiheit in der Gleichheit theoretisch zu begründen und die organische Lebensanschauung zu gewinnen, ohne welche keine organisierte Gesellschaft denkbar ist: Ihnen gegenüber sind die Liberalen noch immer berechtigt, das eigne Prinzip einseitig zu vertreten.

Die reinen Demokraten teilen sich in zwei oder drei Hauptgruppen, in religiöse, materialistische und indifferente. Die letztem bedienen sich der Religion als eines Mittels, um ihre Grundsätze der Volksmasse beizubringen, weil sie eben kein besseres Mittel kennen. Will man sie noch zu den religiösen Demokraten zählen, so ist die größere Mehrzahl der Kommunisten religiös tingiert. [21] Indessen selbst die, denen es Ernst mit der Religion ist, sind keineswegs Anhänger irgendeiner positiven Religion, etwa des Katholizismus, der überhaupt trotz aller Anstrengungen des französischen Klerus, nichts weniger als populär ist. Die gläubigsten, die religiösesten Demokraten sind eben nur Rationalisten, und zwar Rationalisten von der klassischen Sorte. Sie verehren das „höchste Wesen“ des gottseligen Maximilian Robespierre „im Geiste und in der Wahrheit“, sie schwören nicht auf die Bibel, sondern auf Kants Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vetnunft. [22] Ihre Dogmatik geht nicht über das Glaubensbekenntnis des vicaire savoyard [23] hinaus. Sprechen sie auch den Namen des Weltheilands mit großer Salbung aus, Christus ist ihnen doch nur eine Autorität neben andern, ein „kreuzbraver Mann“. Das eben erschienene Werkchen des frommen Demokraten Pecqueur De la République de Dieu, Union religieuse [24] ist unter andern gewidmet: à ceux qui ont foi que la pratique générale de la morale de Jesus-Christ et de Confucius sauverait infailliblement l’humanité! – Die Demokraten haben ein Band nötig, welches die Menschen umschlingt und sie über den Egoismus der Privatinteressen emporhebt. [25] Sie bedürfen ferner einer Autorität, welche der individuellen Willkür ihre Schranken setzt. Nun ist allerdings das einzige und das natürliche Gegengewicht des Egoismus die Liebe [26], so wie jenes der Willkür die Vernunft. Allein die Liebe und die Vernunft dieser Demokraten ist noch nicht genugsam erstarkt, noch zu sehr mit ihrem Gegenteil behaftet, um sich selbst vertrauen zu können. Dagegen hoffen sie es mit Göttes Hülfe [27] dahin zu bringen, den Egoismus und die individuelle Willkür zu überwinden. – Aber nicht nur die religiösen, auch die materialistischen Demokraten nehmen eine äußere übermenschliche Autorität wider den Egoismus und die Willkür in Anspruch, denn ihr Materialismus ist nicht organisch, sondern atomistisch. [28] Um die fehlende Einheit im Menschenleben herzustellen, konstruieren sie in Ermanglung eines Prinzips, welches das ganze Leben des Menschen umfaßt und dessen Ausführung der Praxis überlassen werden muß, dogmatische Systeme, welche alle den Fehler haben, in allgemeiner uniformer Weise vorzuschreiben, was sich nach individuellen, nationalen, klimatischen und lokalen Eigentümlichkeiten richten, also der Freiheit überlassen werden muß. Wir meinen die spezielle Ausführung des Prinzips. Alle bisherige Demokraten gleichen sich darin, daß sie statt der wirklichen Einheit des organischen Menschheitslebens eine transzendente suchen, welche ebenso gleichheitswidrig wie freiheitsmörderisch ist. Die Franzosen haben es in ihrem Sozialismus, ebensowenig wie die Deutschen in ihrem Idealismus, zu ihrem eignen positiven Wesen gebracht. Das Wesen des Sozialismus ist die organische, die menschliche Gleichheit, so wie das Wesen des Idealismus die lebendige, die menschliche Freiheit. Wie aber die deutschen Philosophen mit Ausnahme des neuesten, nämlich Feuerbachs, ihre Wahrheit nicht im Menschen, sondern in seinem transzendenten Wesen, im „Gott“, im „absoluten Geiste“ oder in einer vom Leben abgezogen und abgeschiedenen „Logik“ fanden, so finden die Franzosen die ihrige noch immer nicht in der Gesellschaft, sondern in deren transzendentem Wesen, in irgendeinem sozialistischen System. In wie vielen Variationen beide Völker ihr Thema auch abgespielt haben, der disharmonische, der theologische Grundton ist geblieben. Den materialistischen wie religiösen Demokraten ist das soziale Leben noch immer ein jenseitiges; die einen setzen es in Gott, die andern in ein Individuum, das den Stein der Weisen gefunden, in einen kommunistischen Gesetzgeber oder Diktator [29], kurz, es ist ein äußerliches Band, eine transzendente Einheit, eine Autorität, es ist nicht der Mensch und das menschliche Leben. –

 

 

Paris, 5. Januar. – Alle Demokraten, wie sehr sie auch im übrigen auseinandergehen, sind sich gleich in der Sehnsucht nach einer faßbaren Autorität. Allen fehlt die innere Selbstgewißheit, das männliche Selbstvertrauen. Ein frommes, kindliches, weibisches, unmännliches und unbestimmtes flerumstöbern nach einer politischen und religiösen Autorität charakterisiert sie alle, alle ohne Ausnahme. Lamartine [30] selbst,. als er zum großen Schrecken aller Demokraten die absolute Lehrfreiheit anzupreisen wagte, wies gleichzeitig hin auf die Theokratie (!) als das Ideal, dessen Verwirklichung in einer nähern oder fernern Zukunft zu hoffen sei. Kann man sich bei einem solchen Zustande der Geister über die Schilderhebung der Jesuiten verwundern? – Man fürchtet sich vor der „Auflösung aller sozialen Bande“ und schreit sogleich „über Anarchie“, wo man die individuelle Freiheit auftauchen sieht. Macht irgendeiner Miene, die Lehrfreiheit, die der Klerus nur zum Scheine in Anspruch nimmt, im Ernste zu verlangen, so hört ihr die demokratischen Blätter zitternd ausrufen: „Soll die Jugend tausend verschiedenen Lehren, also dem Skeptizismus preisgegeben werden!“ Dieser „Skeptizismus“ ist die béte noire [31] der jüngern Generation in Frankreich, der Alp, der auf allen lastet. Er treibt die einen zur alten Religion zurück, die andern zur Verkündigung einer neuen; er ist die Geburtsstätte der Jesuiten und der modernen Weltheilande; er macht aus den Republikanern Invaliden des großen Kaisers und aus den Demokraten Apostel Jesu Christi. Zu dem Volkselend fügt er noch die moralische Selbsterniedrigung hinzu, und die Besitzer des Reichtums, die Inhaber der Macht, dürfen es wagen, sich den Demokraten gegenüber hinter der Lehre von Sündenfall zu verschanzen! Der Autoritätsglaube, den ihre Vorfahren allzu flüchtig abgeschüttelt haben, macht auf die heutigen Franzosen wieder seine alten, fteiheitsmörderischen Ansprüche geltend, und die Nachkommen Voltaires und Rousseaus machen den Versuch, die Lücken im Dictionnaire philosophique [32] und Contrat social durch Bibelstellen zu ergänzen!

Ja, wir haben es erlebt, daß Männer aus der demokratischen Partei ihren Vorfahren die „übertriebene“ und „anarchische“ Preßfreiheit vorwarfen, welche 1789 allen Meinungen bewilligt wurde. Was ist von solcher Weisheit zu erwarten, wenn sie erst an der Regierung und ebenso mächtig als jetzt unterdrückt und ohnmächtig ist? [33] – In dem Mangel an Selbstvertrauen sind sich übrigens alle gleich; Cabet, der Kommunist, will neben seinem Populaire [34] kein anderes kommunistisches Organ dulden; Louis Blanc verhehlt seine Abneigung gegen die Preßfreiheit nicht; die Republikaner des National [35] und die Sozialisten der Reforme [36] sprechen sich gegen die Lehrfreiheit aus; die Besten fürchten sich vor einer „Anarchie der Meinungen“, die sie nur durch den Autoritätsglauben besiegen zu können sich einbilden. Und wären die ehrlichen Jesuiten nicht ein längst aufgelöstes Rätsel, hätte man nicht a priori [37] gewußt, daß sie die Fahne der Lehrfreiheit nur zum Scheine aufpflanzen, die komische Haltung gegenüber Lamartine und Ledru-Rollin, die mit dieser Freiheit Ernst machen, hätte ihre „Freisinnigkeit“ hinlänglich charakterisiert. Diese Vorkämpfer einer Religion, der die „Majorität der Franzosen“, wie die Charte [38] meint, und alle pères de familie [39], wie sie selbst behaupten, mit Leib und Seele angehören soll, fürchten sich noch weit mehr vor der wirklichen Lehrfreiheit als die Regierung. Seht, wie sie, ihre Verlegenheit angesichts der Lamartineschen und Ledru-Rollinschen Vorschläge schlecht verbergen! Und sie brauchen sich in diesem Augenblick noch nicht zu beunruhigen: wahrlich, die Gefahr ist für sie noch nicht groß, sie können vertrauensvoll die Bekämpfung der Oppositionsdeputierten den demokratischen Journalen, die Verteidigung ihrer Privilegien dem ministeriellen Globe [40] überlassen. – Was würden sie aber erst sagen, wenn der Staat wirklich seine spendenreiche Hand von der katholischen Kirche abzöge und sie sich selbst überließe? – Die Übelstände, welche aus der Freiheit im Zustande des Egoismus, die Übelstände, welche mit andern Worten aus der Willkür erwachsen sind, haben die Franzosen mißtrauisch gegen die Freiheit gemacht, und dieselbe Reaktion, die sich heute in sozialer Beziehung gegen die falsche Freiheit der Konkurrenz und Arbeit zugunsten eines längst überwundenen knechtischen Zustandes erhebt, macht sich auch gegen eine noch nicht bis zur wirklichen Menschenfreiheit hindurchgedrungene individuelle Denkfreiheit zugunsten eines längst überwundenen Glaubens geltend und droht das bereits Errungene wieder zu verscherzen. Unvermögend, den Sieg über die Knechtschaft konsequent zu verfolgen, wirft man sich in die eroberten Festungen und fängt an, die geschleiften Zwingherrnburgen wieder aufzubauen. – An diesem Punkte tritt .es hervor, daß der französische Geist zu seiner Ergänzung des Deutschen bedarf, welcher das ganze System des Autoritätsglaubens und der religiösen Phantasie nach einem dreihundertjährigen Kampfe für immer besiegt hat.

 

 

Paris, 6. Januar. – Der Einfluß des Sozialismus und Kommunismus auf die französische Tagespresse wird mit jedem Monate bedeutender. Die alten Parteien müssen sich schon bequemen, dem Strome der Zeit zu folgen, um nicht aufs Trockene gesetzt zu werden. Man kann jetzt die ganze Presse in zwei Hauptgruppen einteilen, in die alte und neue oder in die liberale und demokratische Presse. Wie belebt und wie respektiert ist diese halb politische, halb sozialistische Presse, die so unscheinbar begonnen und noch bis vor kurzem gegen Verleumdung und Spott zu kämpfen hatte!

Von den beiden Hauptparteien, in welche die neue, politisch-soziale Richtung auseinandergeht, wird die eine, nämlich die konservative [41] Partei, durch die Journale La Presse [42] und La Démocratie pacifique [43], die andere, die reformistische oder radikale Partei durch Le Bien publique [44] und La Reforme [45] vertreten. Die Reforme und die Démocratie pacifique sind die vorgerückten Posten, jene der radikalen, reformistischen, diese der konservativen, friedlichen Demokraten, und um deren Verhältnis zu Le Bien publique und La Presse im allgemeinen zu charakterisieren, kann man sagen, daß jene offen aussprechen, was bei diesen im Hintergrunde reserviert und nur diplomatisch ausgesprochen wird. Das Programm der konservativen wie der reformistischen Demokraten steht eigentlich schon auf dem Titel ihrer Journale Reforme und Démocratie pacifique: diese wollen den Frieden, jene die Reforme à tout prix. [46] Den „Friedlichen“ ist jede Regierung, jede Dynastie, jede Religion, jede Politik gleichgültig, weil sie ein unendliches Vertrauen in ihre Weisheit, in ihre Geschicklichkeit, in ihre Klugheit, in ihre Schlauheit setzen, mittelst deren sie am Ende alles bekehren zu können sich einbilden. Sie liebäugeln mit Ludwig Philipp und den Legitirnisten [47], mit Guizot und Lamartine, mit der Religion und Philosophie, und lachen sich dabei heimlich ins Fäustchen, denn sie haben ja den Stein der Weisen gefunden! Ihre Weisheit ist aber der mechanischste, oberflächlichste, pedantischste Schematismus. Sie berechnen alles mit Zahlen und Buchstaben. Das Talent und die Arbeit, die organischste, innerlichste, freieste, menschlichste Tätigkeit messen sie, wie das äußerliche, tote, unorganische Kapital, nach Prozenten und Birnchteilen: Das Kapital hat so viel, die Arbeit so viel und das Talent so viel ~rozentchen in ihrer Gesellschaftsrechnung! [48]

Bei den Reformisten dagegen ist alles warmes, heißes Leben; da gärt und kocht ein weltenzerstörender und weltenschaffender Vulkan, das ewige Feuer der natura naturans. [49] Wenn dort alles Wasser, so ist hier alles Blut; wenn dort alles unorgänisch, so ist hier alles organisch. Es ist wahr, daß ihre Glut sie bis jetzt noch mehr erwärmt als erleuchtet; aber in ihren Adern pulsiert Leben, und ihre Augen strahlen schon von dem Lichte, das einst die Welt erleuchten wird. – Es ist wahr, daß sie in ihrem dunkeln Drange mehr glauben als erkennen von ihrem eigenen Wesen; aber der Genius der Nation lebt in ihnen, wenn auch noch verborgen. Sie meinen s ernst mit allem, was sie lieben, hassen, anerkennen oder verwerfen. Man hat hier keine Zahlen, sondern Menschen vor sich, welche für alle Erkenntnis den Keim in sich haben, und ich möchte lieber mit diesen irren, als mit jenen richtig rechnen. – Die Reformisten müssen sich s oft von den Konservativen, Friedlichen sagen lassen, daß sie „unpraktisch“ seien. Wir glauben, daß die, welche sich dem lebendig bewegten Strome der Geschichte hingeben, sich in einem praktischern Elemente bewegen, als jene andern, die außerhalb des Volkes stehen und dennoch die Prätension haben, sein Schicksal zu lenken und sein Los zu verbessern.

Inzwischen ist das große Verdienst der „friedlichen“ Demokraten um die Einführung des sozialistischen Elementes ins Leben, in die Presse, in das öffentliche Bewußtsein nicht zu verkennen. Ihre ewigen Friedenspredigten und Predigten des ewigen Friedens, die ihnen ebensosehr von der Klugheit wie vom Standpunkte ihrer Lehre eingegeben wurden, schläferten die Wächter der Septembergesetze [50] ein, und sie konnten Dinge aussprechen, welche sonst als hochverräterisch galten und ihren Verkündern Prozesse ohne Ende zuzogen. Sie gewöhnten auf diese Weise die Krämerwelt und ihre Repräsentanten daran, ohne Angst die Diskussion der sozialen Probleme anzuhören. Sie schmeichelten so lange der Regierung, bis sie ihnen huldreich zulächelte. Dann wurden sie immer dreister, und zuletzt konnten sie es wagen, ihre Glacéhandschuhe auszuziehen und dem Globe, der über Verrat schrie, ins Gesicht zu schlagen. – Wir trauen zwar der kriegerischen Haltung, welche die friedliche Demokratie seit einiger Zeit angenommen hat, ebensowenig als ihrer- weiland phalansterischen [51] Sanftmut; aber unbestritten bleibt es, daß sie der Demokratie den Weg in die Journalistik, der ihr seit der Verurteilung Dupotys424 verschlossen war, wieder gebahnt hat. Andere Demokraten als die der „pacifique“, echte Männer des Volkes, denen es nicht um Dogmen, nicht um die eigene Weisheit zu tun ist, treuere Anhänger der Französischen Revolution als diese altklugen Verunglimpfer derselben [52], werden die günstige Stellung, die den Demokraten überhaupt durch die Friedlichen“ bereitet wurde, von jetzt an benutzen.

 

 

Anmerkungen

1. Die Deputiertenkammer, das vom Volk – soweit es einen bestimmten Steuersatz zahlt – gewählte Abgeordnetenhaus, und die Pairskammer, das Oberhaus, dessen Mitglieder vom König auf Lebenszeit ernannt werden.

2. Die Revolution von 1789 brach am 14. Juli aus, die Revolution von 1830 ereignete sich am 27. bis 29. Juli.

3. Jacques Laflitte (1767-1844), französischer Bankier und Staatsmann, der der Julimonarchie in den Sattel half und zu nächst Finanzminister wurde, dann aber in die parlamentarische Opposition ging.

4. Vgl. Ludwig Feuerbach, Grundsätze der Philosophie der Zukunft (1843), § 21, in Ludwig Feuerbach, Philosophische Kritiken und Grundsätze, Leipzig 1969, S.227f. „Das Geheimnis der Hegelschen Dialektik ist zuletzt nur dieses, daß er die Theologie durch die Philosophie und dann wieder die Philosophie durch die Theologie negiert. Anfang und Ende bildet die Theologie, in der Mitte steht die Philosophie als die Negation der ersten Position, aber die Negation der Negation ist die Theologie. Erst wird alles umgeworfen, aber dann wieder alles an seinen alten Platz gestellt [...].“

5. Pierre-Jean de Béranger (1780-1857), französischer Dichter, Meister des politischen Chansons mit dem er den demokratischen Bestrebungen zur Zeit der Restauration volkstümlichen Ausdruck verlieh. Nach dem Sturz der Bourbonenherrschaft 1830, deren heftiger Gegner er gewesen war, erlag er utopisch-religiösen Illusionen von einer Klassenversöhnung und zog sich 1833 ins Privatleben zurück.

6. „Liberale“ sind also für Moses Ließ hier und im folgenden sowohl bürgerliche Liberale in unserem Sinne (bei Heß: Gemäßigte oder „Moderantisten“) als auch bürgerliche Demokraten (Radikale), „Demokraten“ hingegen Sozialisten und Kommunisten, denen, wie Heß meint (was nur mit erheblichen Einschränkungen richtig ist), die bürgerlich-liberalen und -demokratischen Freiheiten gleichgültig sind.

7. Gemeint sind Jakobiner und Girondisten.

8. Das ist nicht ganz richtig, wenn man etwa an die Bewegung der „Enragés“ um Jacques Roux (1752-1794) und andere plebejisch-frühproletarische Bewegungen denkt. Heß kennt jedoch nur die Bewegung Babeufs, die sich erst unter dem Direktorium ausbildete.

9. In Wirklichkeit beruhte der Volksenthusiasmus darauf, daß das Volk von der liberal-demokratischen Freiheit, der politischen Gleichheit, auch seine soziale Freiheit und Gleichheit erhoffte und daß es jedesmal, wenn es sich in seinen Erwartungen enttäuscht sah, die Revolution weiter voranzutreiben suchte.

10. Die Verfassung vom 3. September 1791 teilte das Volk in Aktiv- und Passivbürger. Aktive Bürger, d.h. wahlberechtigt, waren nur 4,3 Millionen, die eine bestimmte „Kontribution“, eine Grund- oder Gewerbesteuer zahlten, und selber wählbar gar nur etwa 50.000; dagegen besaßen die nicht aktiven oder Passivbürger keine politischen Rechte.

11. Die am 5. Mai 1789 zusammenengetretenen Generalstände erklärten sich am 17. Juni zur Nationalversammlung, am 9. Juli zur Verfassunggebenden Versammlung. Nach der Annahme der Verfassung vom 3. September 1791 machte diese der am 1. Oktober 1791 einberufenen Gesetzgebenden Versammlung Platz.

12. Die sog. Jakobinerverfassung, angenommen vom Nationalkonvent am 24. Juni 1793, die aber wegen des Krieges nicht in Kraft gesetzt wurde. Sie war keineswegs die „Vollendung“ der Verfassung von 1791 und die Berichtigung „naiver Irrtümer“, wie Heß im folgenden schreibt, sondern das Ergebnis des Kampfes der Sansculotten gegen die konstitutionell monarchistische Großbourgeoisie, deren Klasseninteressen die Verfassung von 1791 entsprochen hatte.

13. Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, beschlossen von der Verfassunggebenden Nationalversammlung am 26. August 1789 und aufgenommen in die Verfassung vom 3. September 1791, war die Proklamation der formal-rechtlichen Freiheit und Gleichheit, nicht aber der sozialen Gleichheit, da sie das Eigentum sanktionierte. Vgl. dazu die kritische Einschätzung von Karl Marx in dessen Aufsatz Zur Judenfrage.

14. des „höchsten Wesens“, dessen Kult auf Beschluß des Nationalkonvents nach Robespierres Vorschlag am 7. Mai 1794 an die Stelle der christlichen Religion trat.

15. vorübergehende.

16. Hier zeigt sich die liberalistisch-anarchistische Komponente in Heß Denken, die er mit Proudhon teilt. Wie im folgenden deutlich wird, erscheint Ließ das von den Kommunisten erstrebte Gemeineigentum als Terrorismus gegen die Freiheit. Für Heß bedeutet – analog Proudhon – Freiheit das individualistische, Gleichheit das gesellschaftliche Prinzip, die er, ohne die gegensätzliche Klassenbasis zu durchschauen, miteinander vereinen möchte.

17. Alexandre-Auguste Ledru-Rollin (1807-1874), kleinbürgerlich-demokratischer Republikaner, Führer der neuen Bergpartei, die ideologisch an Robespierres Prinzipien anknüpft, jedoch angesichts des selbständigen Auftretens des Proletariats nicht mehr die konsequent revolutionäre Position der alten Jakobiner einnimmt und 1848, als Ledru-Rollifl Innenminister der Provisorischen Regierung wird, faktisch vor der Bourgeoisie kapituliert. Ihr Organ ist die von Ledru-Rollin geleitete Tageszeitung La Reforme, 1843-1850.

18. Die Verfassung der nach dem Sturz der Jacobiner in Form des Direktoriums zur Macht gelangten Großbourgeoisie vom 5. Oktober 1795.

19. Die nach dem Sturz Napoleons 1844 wiedererrichtete Bourbonenmonarchie war durch einige verfassungsmäßige Reformen beschränkt, was ein Bündnis zwischen Aristokratie und Großbourgeoisie ermöglichte, bis der Nachfolger König Ludwigs XVIII., Karl X., die verfassungsmäßigen Freiheiten zu unterdrücken suchte.

20. tingiert: gefärbt.

21. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Königsberg 1793. In dieser Schrift sucht Kant Vernunft und Glauben miteinander zu vereinbaren, doch wurde die Schrift – auch hier von Heß – rationalistisch interpretiert, etwa der Satz (S.229): „Religion ist (subjektiv betrachtet) die Erkenntnis unserer Pflichten als göttlicher Gebote. [...] Es gibt keine besonderen Pflichten gegen Gott in einer allgemeinen Religion; denn Gott kann von uns nichts empfangen; wir können auf und für ihn nicht wirken.“

22. Jean-Jacques Rousseau, Glaubensbekenntnis des savoyischen Landpfarrers, in Émile, ou de l’education [Emile oder über die Erziehung], Buch IV, §§ 201-356. Darin bekennt Rousseau einen allem Offenbarungsglauben feindlichen Vernunftglauben an Gott, der nichts ist als das geistige Prinzip der Natur und des menschlichen Gewissens. Auf dieses Glaubensbekenntnis berief sich Louis Blanc, als er Ruges Aufforderung zur Mitarbeit an den Deutsch-Französischen Jahrbüchern aus Abneigung gegen den Atheismus ablehnte.

23. Charles-Constantin Pecquettr (1801-1887), französischer Ökonom und wesentlich von Saint-Simon beeinflußter Sozialist, der vor allem in seiner Théorie nouvelle d’économie sociale et politique [Neue Theorie sozialer und politischer Ökonomie], 1842, aus der Arbeitswerttheorie das sozialistische Verteilungsprinzip ableitete und zur Überwindung der Klassengegensätze eine auf Produktionsgenossenschaften beruhende Gesellschaft forderte, deren nationale Produktion Kreditbanken regeln sollten. Das Buch De la républiqtie de Dieu; union religieuse pour la pratique immédiate de l’égalité et de la fraternité universelles [Die Gottesrepublik; religiöse Vereinigung für die unmittelbare Verwirklichung der allgemeinen Gleichheit und Brüderlichkeit] erschien 1843 in Paris, gewidmet „denen, die glauben, daß die allgemeine Ausübung der Moral von Jesus Christus und Konfuzius die Menschheit retten wird“.

24. Moses Heß spielt wahrscheinlich auf Diskussionen unter den Kommunisten an, ob man im Kommunismus von jedem Opferbereitschaft für die Gemeinschaft („dévouement“) fordern müsse oder ob die Vorzüge der neuen Gesellschaft spontan das kommunistische Bewußtsein erzeugen werden.

25. Hier zeigt sich der „wahre Sozialismus“, dem Heß in der Folgezeit zunehmend verfällt.

26. Ein Kommunist, der „Gottes Hülfe“ in Anspruch nehmen will, ist der Forschung nicht bekannt. Allenfalls ist an Lamennais zu denken, der jedoch nur ein radikaler Republikaner mit sozialistischer Tendenz ist. Vielleicht meint Heß aber jene religiös gefärbten Kommunisten wie Étienne Cabet, die in der neuen Gesellschaft zur Stärkung des kommunistischen Bewußtseins die Verehrung eines pantheistisch gedachten „höchsten Wesens“ und die Verkündung der kommunistischen Moral in religiöser Form einführen wollen.

27. An der Charakteristik des materialistischen Kommunismus, wie er in Frankreich von Dézamy, Pillot, Gay und anderen zu dieser Zeit vertreten wird, ist nur die Kritik an der Systemmacherei richtig, die ihnen die noch weithin fehlende Einsicht in die Natur und den Gang der gesellschaftlichen Entwicklung ersetzen muß – ein Mangel, dem Heß selber freilich nur das wahrsozialistische Prinzip der „Liebe“ entgegenzusetzen hat. Im übrigen jedoch ist Heß, der auffälligerweise in dem ganzen Artikel keinen einzigen Vertreter der materialistischen Fraktion des französischen Kommunismus zitiert, offenbar in den verzerrten, großenteils schon faktisch unrichtigen Schutzbehauptungen befangen, mit denen Lamennais, Proudhon und andere ihre kleinbürgerlichen Positionen verteidigen. So entwickelt z.B. Dézamy ausdrücklich einen sozial-„organischen“, wenngleich keinen sozial-historischen Materialismus; er begreift, ausgehend von Helvétius, die Freiheit als volle Entfaltung und Betätigung der Fähigkeiten eines jeden und als Macht der Gesellschaft über ihre eigenen Geschicke; er fordert auf der Grundlage des gesellschaftlichen Eigentums an den Produktionsmitteln die Gleichstellung in der Arbeit (entsprechend den Anlagen und Fähigkeiten eines jeden), in Erziehung und Bildung (gleiche polytechnische Grundausbildung sowie Spezialausbildung nach Veranlagung), im Anspruch auf alle materiellen und kulturellen Errungenschaften sowie in den gesellschaftlichen Rechten und Pflichten; er erklärt die Errichtung der neuen Gesellschaft für das revolutionäre Werk der Volksmassen; und er erhebt schließlich über die allgemeinen Grundzüge dieser „Dogmen“ hinaus ausdrücklich keinen „diktatorischen“ Anspruch auf Unfehlbarkeit seines zur Diskussion gestellten Modells. Freilich müssen Moses Heß schon solche Forderungen wie allgemeine Arbeitspflicht und planmäßige Organisation der Arbeiten als autoritäre Vergewaltigung seines anarchistischen Freiheitsideals erscheinen.

28. In Cabets romanhafter Darstellung des Kommunismus, der Reise nach Ikarien, ist es der legendäre Gesetzgeber „Ikar“, der im Verlauf einer politischen Revolution den Kommunismus einführte.

29. Lamartine (seine Charakteristik siehe in der Einleitung) ist weder Kommunist noch Sozialist noch revolutionärer Demokrat. Seine Nennung und die folgenden Ausführungen machen Heß abstrakte, den wirklichen sozialen, politischen und ideologischen Kämpfen fernstehende Auffassung vom Kommunismus deutlich.

30. der Schwarze Mann.

31. Voltaire, Dictionnaire philosophique portatif [Philosophisches Handwörterbuch] Genf 1764; deutsch (Auswahl), RUB Band 107.

32. Um auf Moses Heß’ wirklichkeitsfremde Frage zu antworten – vermutlich werden sie die Forderung eines Freundes der Freiheit (und nicht einmal der Gleichheit) aus jener Zeit wahr machen, daß man „endlich auf jene falschen Grundsätze der unbeschränkten Presse- und Meinungsfreiheit verzichtet und streng mit jenen Strolchen verfährt, die mit ihrer Stimme und ihrer Feder der Sache der Konterrevolution dienen. Wenn die Meinungsfreiheit unbeschränkt sein soll, dann nur, um dem Vaterland zu nützen, und nicht, um es zugrunde zu richten.“ Jean-Paul Marat, Ausgewählte Schriften, Berlin 1954, S.75.

33. Le Populaire, Wochenblatt, das ètienne Cabet 1833 bis 1835 und danach 1841 bis 1852 als Organ des „friedlichen“ Kommunismus herausgab.

34. Le National, Paris 1830-1851, politisch-literarische Tageszeitung, gegründet von Louis-Adolphe Thiers (1797-1877) und anderen konstitutionellen Monarcbisten und viele Jahre geleitet von Nicolas-Armand Carrel (1800-1836), Gegner der Julimonarchie; in den vierziger Jahren Organ der gemäßigten Republikaner.

35. Siehe Anm.17.

36. von vornherein.

37. Verfassung vom 7. August 1830, Art.6. „Die Diener der römisch-katholisch-apostolischen Religion, zu der sich die Mehrheit der Franzosen bekennt, sowie die der anderen christlichen Religionen werden vom Staat besoldet.“

38. Familienväter.

39. Die konservative Zeitung Le Globe (nicht zu verwechseln mit dem früheren gleichnamigen Organ der Saint-Simonisten) ist das Organ des Außenministers François-Pierre-Guillaume Guizot, geleitet von Grenier de Cassagniac, der u.a. die Negersklaverei verteidigte.

40. „Konservativ“ bedeutet bei Heß, wie im folgenden ersichtlich, reformistisch in unserem Sinne, „reformistisch“ dagegen radikal. Bei dieser sowie bei der sich damit kreuzenden Einteilung in eine „vorgerückte“ und eine „reservierte“ Presse – Einteilungen, die von der Methode, nicht von Inhalt und Ziel der Politik ausgeben – bleibt die unterschiedliche Klassenposition der genannten Blätter im Dunkeln.

41. La Presse, 1836 von dem französischen Schriftsteller Émile de Girardin (1806-1881) gegründete Tageszeitung der liberalen reformistischen Bourgeoisie, der „Progressiven Konservativen“.

42. La Démocratie pacifique, Organ der Fourieristen; geleitet von Victor Considerant, erschien 1843-1851 in Paris.

43. Le Bien public, Organ der „gemäßigten bürgerlichen Republikaner“, erschien 1843-1848; Gründer und Mitarbeiter war Alphonse de Lamartine.

44. Siehe Anm.17.

45. Reform um jeden Preis.

46. Legitimisten: Anhänger der durch die Julirevolution 1830 gestürzten Bourbonendynastie.

47. Nach Auffassung Fouriers soll die Verteilung in den sozialistischen Genossenschaften – zumindest am Anfang – nicht nur nach der geleisteten Arbeit, sondern auch noch nach dem eingebrachten Kapital und dem hervorragenden Talent erfolgen, wobei für das Kapital vier Zwölftel, für die Arbeit fünf Zwölftel und für das Talent drei Zwölftel vorgesehen sind. Dies ist nun freilich nicht das wesentliche am Fourierismus.

48. natura naturans: die Natur als Schöpferin, im Gegensatz zur natura naturata, der geschaffenen Natur; Ausdrücke der mittelalterlichen und der Schellingschen Naturphilosophie.

49. Im September 1835 nahm die französische Regierung ein Attentat des Korsen Fieschi auf König Louis Philipp zum Anlaß, strenge Maßnahmen gegen die oppositionelle Presse zu ergreifen; sie erhöhte die Kautionsgelder für periodische Druckerzeugnisse, betrachtete Angriffe auf die bestehende Regierungs- und Gesellschaftsform als Staatsverbrechen entzog sie der Zuständigkeit der oftmals liberalen Geschworenengerichte.

50. Phalanstére nannte Fourier die nach seiner Lehre zu gründenden Produktionsgenossenschaften.

51. Michel-Auguste Dupoty (1797-1864), republikanischer Schriftsteller und Journalist mit sozialistischer Tendenz, 1837 bis 1842 Redakteur des Journal du peuple, war 1841 verurteilt worden.

52. Fourier und seine Schüler standen der Französischen Revolution aus Enttäuschung über die sozialen Ergebnisse fremd gegenüber.

 


Zuletzt aktualisiert am 5. Juli 2009