Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




Vorwort


Die deutsche Revolution hat eine eingehende geschichtliche Darstellung ihres Verlaufs bis zur Zeit noch nicht zu verzeichnen. Ihre bisherige Literatur besteht aus zusammenfassenden Beschreibungen ihrer Entstehung und ersten Entwicklung, aus Schriften über bestimmte Vorgänge oder das Wirken bestimmter Personen in ihrem Verlauf, aus kritischen Abhandlungen über die Politik ihrer Parteien, aus Schriften über Prozeßverhandlungen, aus amtlichen und nichtamtlichen Berichten und Kundgebungen verschiedener Art und sonstigen Urkunden der Regierung und Parteien. Vieles davon ist anerkennenswert sachlich gehalten, anderes von tendenziöser Parteilichkeit, die vor grober Fälschung der Tatsachen nicht zurückschreckt, in manchen Berichten, insbesondere in den Berichten der Untersuchungskommission der preußischen Landesversammlung über die verhängnisvollen Unruhen in Berlin vom Januar 1919 wird ein höchst wertvolles Material dargeboten, doch ist auch dieses nur zum Teil erst systematisch verarbeitet – kurz, es ist eine ansehnliche Zahl von Veröffentlichungen zur Geschichte der Revolution vorhanden, aber eine umfassendere Geschichtsarbeit über sie fehlt noch.

Die vorliegende Arbeit nun will diese Lücke für die Geschichte der ersten Periode der Revolution ausfüllen. Sie ist von dem Wunsch diktiert, diese Periode, die von dem Ausbruch der Revolution bis zur Wahl der Abgeordneten für die verfassunggebende Nationalversammlung reicht, also den wesentlichen Teil der Regierung durch den Rat der Volksbeauftragten umfaßt, in systematischer Anordnung des Stoffes so eingehend zur Darstellung zu bringen, wie dies im Rahmen eines immer noch mäßig umfangreichen Buches möglich ist. Es handelt sich um die Vorführung einer Periode, in der die deutsche Republik ersteht und ihren Inhalt zu bestimmen sucht, dabei aber von Kämpfen heimgesucht wird, die für die Gestalt, welche sie schließlich erhalten hat und für ihre ganze innere und äußere Politik von höchst verhängnisvoller Rückwirkung gewesen sind. Um diese Kämpfe hat sich aber in unserer schnell lebenden Zeit schon ein ganzer Legendenkranz gewoben, so daß nicht nur das Verhalten der an ihnen beteiligten Parteien und Personen verschiedentlich ganz falsch beurteilt, sondern auch ihre Natur und Bedeutung vollkommen falsch eingeschätzt werden. Man beschäftigt sich mit ihnen in der Regel nur unter dem Gesichtspunkt des Einwirkens bestimmter Persönlichkeiten, wobei man je nach der Parteistellung, die man selbst einnimmt, den einen oder den andern die Verantwortung zuschiebt und allenfalls noch auf die taktischen Gesichtspunkte hinweist, von denen die handelnden Persönlichkeiten, außer von ihren Leidenschaften und persönlichen Vorurteilen, sich leiten ließen. Tatsächlich aber hat es sich bei ihnen um das Ringen zweier grundsätzlich verschiedener Auffassungen des Sozialismus und der sozialen Entwicklung gehandelt, die durch die ganze sozialistische Bewegung der Neuzeit sich verfolgen lassen, aber nur den wenigsten der Kämpfenden in ihrer tieferen geschichtlichen Bedeutung voll zum Bewußtsein kommen. Vielmehr stellen sie sich den meisten eben nur in der Gestalt von Fragen des taktischen Verhaltens oder der jeweilig praktischen Methode dar, zu denen sie dann auch lediglich als Praktiker Stellung nehmen, wobei größere oder geringere Einsicht in die erkennbaren Zusammenhänge und Möglichkeiten den Ausschlag geben. Die Aufgabe des politischen Geschichtsschreibers ist es jedoch, die den praktischen Kämpfen zugrunde liegenden tieferen Gegensätze zu ermitteln und behufs deren richtiger Bewertung zur Anschauung zu bringen.

Wenn im vorliegenden Buch gestrebt wurde, nach dieser Maxime zu verfahren, so ist darum das Moment der persönlichen Verantwortungen in ihm doch durchaus nicht unberücksichtigt geblieben. Im Gegenteil muß ich auf den Vorwurf gefaßt sein, sie wiederholt schärfer hervorgehoben zu haben, als es mit der Unparteilichkeit des Historikers zu vereinen sei. Aber nach meiner Ansicht braucht diese Unparteilichkeit nicht weiter zu gehen, als das Gebot der Wahrheit in Betracht kommt. Die Geschichtsschreibung darf nicht der Parteistellung des Schreibers zuliebe mit den Tatsachen willkürlich umspringen. Ihnen gegenüber muß sie objektiv sein, von ihnen darf sie nichts übertreiben und nichts Wesentliches verschweigen. Dagegen ist ihr nicht untersagt, den Handlungen gegenüber das individuelle Urteil zum Ausdruck zu bringen, wie es dem politischen Standpunkt des Schreibers entspricht. Dies Buch ist nicht parteilos. Es behandelt Vorgänge von zu einschneidender Bedeutung für das Schicksal des eignen Volkes wie der Völker überhaupt, als daß der Verfasser es mit seinem politischen Gewissen für vereinbar gehalten hätte, mit seinem Urteil über Personen, die bei ihnen Verantwortung auf sich geladen haben, hinter dem Berge zu halten. Ich habe mich bemüht, gerecht zu sein, ich habe aber keinen Wert darauf gelegt, es allen recht zu machen. Ich schildere Miterlebtes, an dem ich als Mitkämpfer beteiligt war. Nicht so sehr im Vordergrunde, als daß ich versucht sein könnte, in diesem Buch vom eignen Tun zu sprechen. Aber so sehr mit meinem ganzen Fühlen und Denken an ihm interessiert, daß ich nicht alles, was in diesen Kämpfen gefehlt wurde, wo das Schicksal eines ganzen Volkes, wo die Gestaltung der eben errungenen Republik und die Bedingungen ihrer gesunden Fortentwicklung auf dem Spiele standen, als mir selbst geschehen mitempfunden hätte. All das damals Durchlebte ist mir beim Niederschreiben dieses Buches erneut vor die Seele getreten, und so mag man es verstehen, warum es an verschiedenen Stellen subjektiver ausgefallen ist, als andre Arbeiten des Verfassers.

Ein in der Folge erscheinender Band soll die Periode der verfassunggebenden Nationalversammlung und dasjenige daran Anschließende behandeln, dessen Vorführung erforderlich ist, um den Titel des Ganzen zu rechtfertigen, der eine Geschichte des Ursprungs, des Verlaufs und des Werks der deutschen Revolution verspricht.

Berlin-Schöneberg, im März 1921

Eduard Bernstein


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008