Eduard Bernstein

Die deutsche Revolution




II. Die Reichsleitung vor der Revolution


Gehen wir in kurzen Umrissen die Ereignisse durch, die zur Revolution der Novembertage 1918 geführt haben.

Im Juli 1918 brach die Angriffskraft, im August 1918 auch die Widerstandskraft der deutschen Westarmee zusammen. Versuche, sie durch Verkürzung der Frontlinie wieder herzustellen, schlugen fehl. Die Soldaten waren durch keine Beruhigungsapparate mehr über den wahren Stand der Dinge hinwegzutäuschen. Anschaulich, wenn auch etwas zu impressionistisch schildert die Rückwirkung der Erkenntnis von der zunehmenden Verbesserung der Lage und Ausrüstung der gegnerischen Truppen auf die Geistesverfassung der deutschen Soldaten der Redakteur der Berliner Volkszeitung Dr. Karl Vetter, in seiner Flugschrift Ludendorff ist schuld, ruhiger, aber darum nicht weniger eindrucksvoll ist es dargelegt in der Schrift von Otto Lehmann-Rußbüld Warum erfolgte der Zusammenbruch an der Westfront?, die eine vom Verfasser dem General Ludendorff übermittelte Denkschrift eines deutschen Landwehrmannes enthält. Der deutsche Soldat sah, wie immer neue Nachschübe an kampfesfrischen Mannschaften die Truppenzahl auf der Gegenseite steigerten, immer neue leichtbewegliche Tanks deren Artillerie verstärkten, immer neue Fliegerschwärme ihr die Überlegenheit im Luftkampf sicherten, und büßte im entsprechenden Maße den Glauben an die Möglichkeit eines Sieges oder selbst nur andauernden Durchhaltens ein. In der dadurch erzeugten und durch die Unregelmäßigkeiten und oft herausfordernden Ungleichheiten in der Verteilung der Kost noch gesteigerten Mißstimmung bedurfte er keiner Beeinflussung durch Agitatoren, um die Überzeugung zu gewinnen, daß die Weiterführung des Krieges zweckloses Aufopfern von Menschen sei. Da er sie aber gewonnen hatte und doch sehen mußte, daß die zwecklos gewordenen Opfer gebracht wurden, mußte er um so mehr veranlaßt sein, denen ein geneigtes Ohr zu schenken, die ihm die Notwendigkeit eines gründlichen Wandels in den politischen Einrichtungen seines Landes, die Beseitigung eines Systems predigten, das diese Opfer forderte.

Daß eine sozialistisch-revolutionäre Agitation im Heere stattfand, soll nicht geleugnet werden. Hatten doch die Militärbehörden selbst für eine solche gesorgt, indem sie immer wieder Leute, die sich zu Hause wegen solcher Agitation mißliebig gemacht hatten, um sie zu strafen, eingezogen und an die Front geschickt hatten. Kein Wunder daher, wenn die in solcher Weise Gemaßregelten an Ort und Stelle ihren Kameraden gegenüber aus ihrer Gesinnung kein Hehl machten und auf sie in revolutionärem Sinne einzuwirken suchten. Aber der großen Zahl der Mannschaften gegenüber waren das doch zu wenige, um irgend etwas Wesentliches ausrichten zu können, wenn sie nicht Verhältnisse antrafen, die ohnehin den Soldaten den Glauben an die ihnen von oben mit ganz anderen Mitteln der Bearbeitung verkündeten Losungen und damit zugleich die Neigung nahmen, willenlos dem Hagel feindlicher Geschütze sich auszusetzen. In England hat es die ganze Zeit des Krieges über eine sehr eifrige Propaganda gegen den Krieg und den Kriegsdienst gegeben, die sich ziemlich frei bewegen konnte und durch die öffentlichen Verhandlungen gegen die vielen Kriegsdienstverweigerer weithin bekannt wurde. Und doch hat sie nicht verhindert, daß die englischen Truppen im allgemeinen genau so ihrer soldatischen Pflicht nachkamen, wie sie es getan hätten, wenn jene Agitation nicht gewesen wäre. In allen Ländern ist der Soldat zumeist Fatalist, der nur davonläuft, wenn er eine Sache für vollständig verloren hält. Der Krieg ist für Deutschland nicht verloren worden, weil die Soldaten infolge von Aufstachelung versagten, sondern die Soldaten versagten schließlich, weil sie den Krieg für verloren erkannten.

Daß sie darin nicht fehl sahen, geht übrigens klar aus den Aussagen der obersten Heerführer Ludendorff und Hindenburg vor dem Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung hervor. Beide erklärten, im Winter 1916/17 auf Übergang zum uneingeschränkten Tauchbootkrieg bestanden zu haben, weil er „die einzige Möglichkeit“ bot, den Krieg zu gewinnen. Darin lag das Eingeständnis, daß, wenn dieser Tauchbootkrieg sein Ziel verfehlte, der Krieg überhaupt nicht zu gewinnen war. Mitte 1918 war aber kein Zweifel mehr möglich, daß der Tauchbootkrieg seinen Zweck nicht erfüllt hatte und nicht erfüllen konnte. Ja, Amerika hatte eine Truppenmacht mit voller Ausrüstung über den Ozean gebracht, wie es 1916 von seiten der deutschen Heeresleitung für ganz unmöglich erklärt worden war. Deutschlands Verbündete dagegen, die Türkei, Bulgarien, Österreich-Ungarn, waren entkräftet – wie sollte da eine Möglichkeit bestehen, den Krieg noch länger auszuhalten? Er war verloren, und seine Fortführung das Verzweiflungsspiel eines bankerott Gewordenen, der in der Hoffnung auf irgend weichen außer aller vernünftigen Berechnung liegenden Glückszufall noch das Letzte opfert. Das Letzte, das waren hier Menschen von Fleisch und Blut, die sahen, wie die Sache stand, und nicht gleich Steinen im Spiel zu handhaben waren. Die Auflösung des Heeres riß ein. Einzelne Truppenteile hielten bestimmte Positionen mit Zähigkeit fest, aber die Verfügung über das Ganze glitt der Heeresleitung aus den Händen, und den völligen Zerfall mit der dann unausbleiblichen vernichtenden Niederlage vor Augen sandte sie am 24. September den Oberst Heye an die Reichsregierung mit der Meldung, daß sie für die Armee nicht mehr bürgen könne, es müsse schleunigst Waffenstillstand geschlossen werden.

Nachträglich haben die Herren erklärt, sich damals in der Abschätzung der Lage an der Front getäuscht zu haben, die Widerstandsfähigkeit sei noch nicht erschöpft gewesen. Das spricht aber höchstens gegen ihre Fassungskraft, beweist aber nichts gegen die Tatsache der deutschen Niederlage und die Schuld der Ludendorff und Genossen, daß es zu dieser verheerenden Katastrophe kam. Waren sie es doch gewesen, die ihren ganzen Einfluß dafür aufgeboten hatten, jede Friedensaktion zu vereiteln, welche es Deutschland ersparen konnte, seine Existenz von militärischen Zufällen abhängig zu machen. Denn mehr als Spekulation auf den Zufall hätte die Verlängerung des Krieges nicht geheißen. Alle berechenbaren Machtfaktoren ließen den Sieg der Gegenseite als unvermeidbar erscheinen. Es handelte sich nur noch um die Möglichkeit eines Aufschubs, der die Blutkosten des Krieges vermehrt, das Endergebnis für Deutschland aber lediglich zum Schlimmeren gestaltet hätte.

Der heimischen Regierung blieb, als die Meldung der Heeresleitung ihr überbracht wurde, nichts übrig, als die geforderten Schritte zu tun. Die Forderung war ihr, wie der damalige Reichskanzler Max von Baden es in dem Manuskript einer vor der Badischen ersten Kammer zu haltenden Rede geschildert hat, geVadezu als ein Ultimatum vorgelegt worden.

Er hatte nämlich der Heeresleitung vorgeschlagen, zunächst einmal ein detailliertes Programm von Kriegszielen Deutschlands zu veröffentlichen, welches der Welt die Übereinstimmung mit den vom Präsidenten Wilson verkündeten Grundsätzen klarlegen solle, und dazu zu bemerken, daß Deutschland bereit sei, für diese Grundsätze schwere nationale Opfer zu bringen. Das ging aber den Militärs nicht schnell genug. Ihnen brannte das Feuer auf den Nägeln.

„Die militärischen Autoritäten erwiderten mir darauf“, heißt es in dem Schriftstück, „auf die Wirkung einer solchen Kundgebung könne nicht mehr gewartet werden; die Lage an der Front fordere binnen 24 Stunden ein Waffenstillstandsangebot.“ (Abgedruckt u.a. bei Ferd. Runkel, Die deutsche Revolution, S.54.) Noch belastender ist folgende Aufzeichnung des Reichskanzlers Graf Hertling, die dessen Sohn, der Rittmeister Graf Karl von Hertling, veröffentlicht hat:

„Am 1. Oktober 1918 sprach Hertling über seinen Nachfolger mit dem Kaiser, der sich für Max von Baden noch nicht entschließen konnte. Da trat unangemeldet Ludendorff ins Zimmer und fragte sofort höchst erregt: „Ist die neue Regierung noch nicht fertig?“, worauf der Kaiser ziemlich barsch erwiderte: „Ich kann doch nicht zaubern!“ Darauf Ludendorff: „Die Regierung muß aber sofort gebildet werden, denn das Friedensangebot muß noch heute heraus.“ Der Kaiser: „Das hätten Sie mir vor 14 Tagen sagen sollen!“

Man ermesse danach, welche Stirn dazu gehört, jetzt hinterher die Schuld für die ermutigende Wirkung des Waffenstillstandsangebots auf die Militaristen und Hetzpatrioten der Gegenseite auf die Zivilregierung und die Revolution abzuschieben.

Max von Baden war kurz vorher der dritte Nachfolger Bethmann Hollwegs im Kanzleramt geworden. Der Dritte innerhalb eines Zeitraumes von fünfviertel Jahren. Auch das kennzeichnet die Haltlosigkeit der inneren Zustände des Deutschen Reichs.

Im Sommer 1917 hatte sich Bethmann Hollweg zum Rücktritt genötigt gesehen. Nicht daß die Reichstagsmehrheit, die in der Kriegszielfrage von ihm abwich, ihn gestürzt hätte. Gestürzt ist er, weil sie ihn gegen seine Widersacher von rechts nicht mehr stützen zu können erklärte, nachdem er einer von ihr vereinbarten Kundgebung für einen Frieden ohne Annexionen nicht hatte zustimmen wollen oder auch können. Die damaligen Vorkommnisse waren für die Zustände im kaiserlichen Deutschland überaus bezeichnend. Bethmanns Sturz wurde von den nur eine Minderheit des Reichstags bildenden Konservativen und Rechtsnational-Liberalen betrieben, mit den Leitern von Heer und Marine, denen dieser in keiner Weise antimilitaristische Staatsmann „zu schlapp“ war, als Hintermänner. Im Reichstag aber hatten Mehrheitssozialisten, Zentrumspartei und fortschrittliche Volkspartei eine Koalition gebildet, die die Herbeiführung eines Ausgleichfriedens auf ihre Fahne geschrieben hatte. Ihr leitender Geist war der Zentrumsabgeordnete Mathias Erzberger, der zur Überzeugung gekommen war, daß Deutschlands Bundesgenossen vor dem Zusammenbruch standen, Deutschland allein aber den bis zum äußersten entschlossenen Gegnern auf die Dauer nicht werde standhalten können, und der nun den Kampf gegen die Kriegsverlängerer mit der gleichen Energie führte, mit der er ursprünglich auf deren Seite gekämpft hatte. Ob eine rückhaltlose Zustimmung der Reichsregierung zur Kundgebung der Koalition damals den Frieden herbeigeführt hätte, kann man bezweifeln, sie ließ für diesen Zweck noch zu wünschen übrig. Sicher aber ist, daß ihre von der Militärpartei durchgesetzte Ablehnung Deutschlands Schicksal besiegelt hat.

Unmittelbarer Nachfolger Bethmanns wurde nicht ein Mann nach der Wahl der Reichstagsmehrheit, sondern der von den Militärs ausgesuchte Frömmling Dr. Michaelis, der den Gegensatz zwischen den von ihm erstrebten Kriegszielen und der Kundgebung der Mehrheit des Reichstages mit der Erklärung zu übertuschen suchte, er könne jene akzeptieren – wiederholen wir es wörtlich „wie ich sie auffasse.“ Das hatte aber nur gefehlt, um sie im Lager der Gegner Deutschlands gründlich zu diskreditieren. Aber auch die Reichstagsmehrheit ließ sich, da die Lage immer ernster wurde, mit solchen Zweideutigkeiten nicht lange hinhalten. Nach vier Monaten mußte Michaelis abtreten und wurde durch den der Zentrumspartei angehörigen Grafen Hertling ersetzt, dem es an parlamentarischer Gewandtheit nicht mangelte, der aber das Kunststück nicht fertig bekam, die deutsche Politik so zu leiten, daß sie unzweideutig den in der Kundgebung der Reichstagsmehrheit niedergelegten Grundsätzen entsprach. Die Zwitternatur der Reichspolitik erhielt unter ihm schon kurze Zeit nach seinem Amtsantritt durch den Friedensschluß von Brest-Litowsk eine grelle Beleuchtung, deren Eindruck durch keine Dialektik verwischt werden konnte. Er wurde vielmehr noch dadurch verstärkt, daß die Militärpartei den Rücktritt des zum Staatssekretär für das Äußere berufenen Freiherrn von Kühlmann durchsetzte, nachdem dieser sich ihr durch die Bemerkung mißliebig gemacht hatte, daß der Friede nicht durch die Waffen allein zu erzielen sei. Da es jedoch der Mehrheitskoalition an der Entschlossenheit fehlte, die Ernennung eines Kanzlers zu erzwingen, der seine Aufgabe nicht bloß darin erblickte, nach Wunsch auszudeutende Erklärungen abzugeben, konnte sich Hertling solange im Amt halten, bis es zu spät war. Ein kranker Mann, der seinen Rücktritt nicht lange überleben sollte, nahm er seine Entlassung, als die deutsche Westarmee schon in vollem Rückzug begriffen war. An seine Stelle trat der Prinz Max von Baden, der für einen sehr liberalen Politiker und aufrichtigen Gegner aller Annexionspläne galt, aber kaum, daß er sich dem Reichstag als ein solcher vorgestellt hatte, dadurch zu einer für den Friedensschluß unmöglichen Person wurde, daß ein kurz vorher von ihm an den Prinzen von Hohenlohe geschriebener Brief bekannt wurde, worin er sehr anders lautende Ansichten und Absichten geäußert hatte.

Die Armee im fluchtartigen Rückzug, dessen üble Folgen für das Land die Heeresleitung noch dadurch steigerte, daß sie weite Gebiete, die sie aufgeben mußte, schleunigst in Wüsteneien verwandelte, ein Kaiser im Aufbruch, auf den die Nation nicht mehr hörte, und dessen Absetzung die Sieger zur Vorbedingung jeder Friedensverhandlung gemacht hatten, ein Kanzler im Amt, dessen Worte nicht mehr für voll genommen wurden – so standen die Dinge, als ein durch ein wahnsinniges Unternehmen der Flottenleitung verursachter Aufstand der Marinetruppen die politische Revolution zum Ausbruch brachte.


Zuletzt aktualisiert am 5.11.2008