Eduard Bernstein

 

Zum Thema Socialliberalismus und Collectivismus

(April 1900)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1900, Nr.4, April 1900, S.173-185.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Der Aufsatz Gumplowicz’: Socialliberalismus oder Collectivismus? [1] giebt mir Gelegenheit, eine Frage zu erörtern, zu der ich schon längst vorhatte, öffentlich Stellung zu nehmen.

Als meine Schrift über die Voraussetzungen des Socialismus erschien, glaubte sich Dr. Franz Oppenheimer berechtigt, mich als seinen Gesinnungsgenossen zu begrüssen. Es ist das von anderer Seite sofort aufgegriffen und in wenig loyaler Weise gegen mich ausgenutzt worden. Letzteres und der Umstand, dass Oppenheimer auch in Puncten bekämpft worden ist, worin er meines Erachtens recht hat, veranlassten mich damals, die betreffenden Insinuationen zu ignorieren und meine Auseinandersetzung mit Oppenheimer zu vertagen. Es giebt Situationen, wo es uns unwürdig erscheint, auf einen etwas compromittierlichen Gruss mit einer Lossagung zu antworten.

Nun aber, wo Dr. Gumplowicz so freundlich ist, für mein treu-altenglisch Herz eine Lanze einzulegen und Oppenheimer zuzurufen: „Lady, an dem ist eure Kunst verloren,“ ist der Moment gekommen, mich selbst in dieser Sache zu äussern.

* * *

Gumplowicz beginnt seinen Artikel berechtigtermassen mit einigen Definitionen. Ich kann ihm aber da in einem Punct nicht beistimmen.

Es betrifft dies die freie Concurrenz. Wenn Gumplowicz sagt, für ihn bestehe freie Concurrenz nur, wenn diese oder jene Bedingungen erfüllt sind, so ist das natürlich sein gutes Recht. Indess, das ist eine Definition seines persönlichen Standpuncts, nicht des Begriffs. Der Begriff der freien Concurrenz, wie er geschichtlich geworden ist und in der Wissenschaft und im Sprachgebrauch Geltung erlangt hat – und wo kämen wir hin, wenn wir uns beim Gebrauch der Worte nicht möglichst streng an diese Kriterien hielten! – bedeutet nur den von gesetzlichen Fesseln, Vorrechten etc. freien wirtschaftlichen Wettbewerb. Dass diese Freiheit für viele noch einen sehr unfreien Wettbewerb darstellt, gehört in das Gebiet der Kritik der Sache und nicht zur Definition des Begriffs. Sachlich aber stellt Gumplowicz Oppenheimer etwas gegenüber, was gar nicht verglichen werden kann. Oppenheimer sagt: zur freien Concurrenz gehört die Freiheit des Bodens von der Bindung durch den Grossgrum.besitz; ist dies gegeben, so führt die Concurrenz zum Socialismus. Und Gumplowicz antwortet ihm: der fertige Socialismus hat nur für eine gewisse Concurrenz Raum. Das heisst an einander vorbei definieren.

Völlig recht hat dagegen Gumplowicz, wenn er Oppenheimers Verkoppelung des Begriffs Collectivismus mit der Idee der „streng centralistischen Leitung“ der Wirtschaft als durchaus willkürlich und verwirrend zurückweist. Freilich ist Oppenheimer nicht der Urheber jener Verkoppelung, sie findet sich schon bei anderen Schriftstellern. Aber umsomehr ist sie zu bekämpfen. Sie entspricht weder der geschichtlichen Entstehung des Wortes Collectivismus – es wurde als Bezeichnung eines Gesellschaftssystems zuerst von den Gegnern des vermeintlich streng centralistischen Generalrats der Internationale gebraucht, als Sicherstellung des föderalistischen Verwaltungsprincips – , noch ergiebt sie sich aus dem Begriff der Collectivität. Collectivismus ist ein Mittelbegriff zwischen dem mit allerhand. Vorstellungen sectiererischen oder utopistischen Charakters verbundenen Begriff Communismus und dem heute sehr ins Weite gehenden Begriff Socialismus. Er ist von den Sectierer-Associationen des ersteren frei und drückt stärker, als der letztere, das Princip der Gemeinwirtschaft aus. Aber er ist an keine formale Verwaltungsprincipien gebunden und ist gerade deshalb ein sehr zweckdienlicher Begriff. Denn wir haben es heute und in der absehbaren Zukunft mit einer Vielheit von Organisationen und Institutionen zu thun, die weder der Begriff Communismus noch der des Socialismus deckt, die aber gemeinwirtschaftlicher Natur sind. Oppenheimers Vorschlag, für die genossenschaftliche Productionsform der socialistischen Gesellschaft das Wort Associalismus zu gebrauchen, könnte einen zum Asocialistan machen. Dies unglückliche Kind Schäffles wollen wir den anticollectivistischen Bauernschädeln überlassen.

Und nun zur Sache selbst.

Gumplowicz stellt die Frage: Welchen Wert hat, seine Richtigkeit vorausgesetzt, der von Oppenheimer in seinem Buch: Grossgrundeigentum und sociale Frage geführte Nachweis, dass vor Bindung des Grund und Bodens durch das feudale Grossgrundeigentum in Deutschland die Lage der arbeitenden Classen sich in aufsteigender Richtung entwickelte, mit ihr und durch sie aber Proletarisierung und in weiterer Folge ausbeuterischer Capitalismus eintraten – welchen Wert hat dieser Nachweis für die Beurteilung der Probleme, vor welche uns die seitdem herausgebildeten Verhältnisse stellen? Ist anzunehmen, dass mit der blossen Ausmerzung jenes störenden Factors auch alle die üblen Wirkungen wieder verschwinden werden, die durch ihn herbeigeführt worden sind?

Hätte Oppenheimer weiter nichts behauptet, als letzteres, so wäre die Antwort darauf ziemlich leicht. Vergleiche hinken, und auch das chirurgische Beispiel, das Gumplowicz vorführt, hat seine schwachen Seiten. Als Illustration kann es hier aber doch dienen: Dadurch, dass der Arzt das Messer aus der Wunde des Verletzten zieht, erfüllt er in der That erst eine Bedingung der Heilung, und es kommt sehr auf die Umstände an, was für sonstige Mittel diese noch erfordert. So wird – und das illustriert ebenfalls unseren Fall – der Culturmensch einer viel sorgfältigeren Pflege bedürfen, als der Naturmensch. Der überwiegend durch natürliche Auslese gezüchtete Mensch, und das ist eben der Naturmensch, überwindet Verwundungen viel schneller, als der Culturmensch. Bei ihm ist der „Selbstheilungsprocess“ eine ziemlich einfache Sache. Der Culturmensch, der durch jahrtausendelange Entwickelung und seine ganzen Lebensbedingungen der Auslese durch Naturzüchtung im hohen Grade entzogen ist, ist dafür allen möglichen Complicationen unterworfen. Er braucht eine andere Behandlung. In gleicher Weise kann für unsere moderne Gesellschaft mit ihren völlig veränderten Verkehrs- und Aggregationsverhältnissen, Lebensauffassungen und Lebensansprüchen unmöglich ein Heilmittel genügen, das auf einer früheren Stufe vielleicht ausreichend gewesen wäre, allgemeinen Wohlstand herzustellen.

Das meint nun aber, denke ich, auch Oppenheimer nicht. Wie ich ihn verstehe, sieht er im feudalen und semifeudalen Grossgrundeigentum und den ihnen entsprechenden Rechtseinrichtungen – „Nomadenrecht“ – erstens eine Ursache des Aufkommens und der Ausbildung der unterdrückenden und ausbeuterischen Capitalsherrschaft und zweitens ein Hemmnis der Ueberwindung dieser, nicht die Ueberwindung selbst. In dem Masse, als jenes Eistere ausgeschaltet werde, werde sie erleichtert und vereinfacht. Es bedürfte alsdann vieler Kunstmittel nicht mehr, die heute von der Socialdemokratie als unentbehrlich betrachtet werden, deren Durchführbarkeit und Nutzen ihm aber als sehr problematisch erscheinen. Wie die moderne Medicin, um bei dem obigen Bilde zu bleiben, sich von den starken Mixturen und Aderlässen abgewendet hat und durch Erziehungshygiene dem Körper wieder jene Widerstandsfähigkeit zurückzugewinnen sucht, die einst Product der Naturzüchtung war, gegen gewisse Erkrankungen aber die Serumtherapie anwendet, so denkt Oppenheimer im liberalen Princip und den ihm entsprechenden Einrichtungen – dem „Tauschrecht“ – das Fundamentalprincip socialer Hygiene, und in der Siedlungsgenossenschaft das Heilserum gefunden zu haben, das sowohl den Störenfried: privates Grossgrundeigentum, als auch das Uebel: capitalistische Ausbeutung, aus dem socialen Körper austreiben werde.

Was Gumplowicz dagegen einwendet, zeigt zwar ganz richtig den trennenden Punct an, der mich von Oppenheimer scheidet, kann aber nicht als genügende Widerlegung Oppenheimers betrachtet werden. [2] Wenn Gumplowicz betont, dass in Ländern, wie die Schweiz und Dänemark, wo das Grossgrundeigentum niemals eine grosse Rolle gespielt hat, oder wie England, wo die Wanderung vom Lande in die Stadt keine nennenswerte Rolle mehr spielt, doch ausbeuterischer Capitalismus und Elend noch herrschen, so wird ihm Oppenheimer erwidern, dass man erstens heute nicht mehr einzelne Länder schlechtweg aus dem Weltverkehr herausreissen kann – „die ganze Welt ist eine Stadt“, sagt Gumplowicz selbst – , und dass zweitens dort ja das Serum noch nicht eingeführt ist. Und auf die Fragen: Sollen wir warten? Sollen wir uns zufrieden geben? wird er antworten: Ganz und gar nicht. Agitiert, organisiert, was ihr könnt, kämpft gewerkschaftlich, kämpft politisch, aber bildet euch blos nicht ein, dadurch allein den Zusammenbruch der capitalistischen Wirtschaft herbeiführen oder diese auf dem Wege gewaltsamer Expropriation erfolgreich ausrotten zu können. Helft mir vielmehr, die Siedlungsgenossenschaft zu organisieren, sie ist der Hebel, die capitalistische Welt aus den Angeln zu heben. Blickt, wenn euch das Beispiel aus der deutschen Wirtschaftsgeschichte nicht überzeugt, nach Ralahine, blickt nach Vineland, blickt nach Utah und seht, was in unserem Jahrhundert dort erzielt wurde, wo zweckmässige Einrichtungen die Zuwachsrente, dieses Product der Bindung des Bodens durch Grossgrundeigentum, ausschlossen.

Die Widerlegung Oppenheimers erheischt den Nachweis:

  1. dass seine Deductionen entweder an einem inneren Fehler leiden, oder
  2. auf falschen Prämissen aufgebaut sind;
  3. dass sein Mittel entweder verkehrt, oder
  4. ungenügend, oder
  5. umständlicher ist und mehr Zeit beansprucht, als andere, die ebenso sicher oder sicherer zum Ziele führen.

Das Ziel ist hier immer: der grösstmögliche Wohlstand aller.

Wer ein anderes Ziel als höchsten Compass im Auge hat, wie etwa eine bestimmte formale Gesellschaftsordnung, oder für wen jenes Ziel mit einer solchen von vornherein unlösbar verknüpft ist, mit dem ist jede wissenschaftliche Auseinandersetzung vergeblich. So unumgänglich notwendig es ist, uns für unser praktisches Wirken bestimmte Ziele zu setzen, so ist echte Wissenschaft nur da möglich, wo das Endziel, soweit es nicht durch einen, von aller aprioristischen Construction freien Begriff bezeichnet werden kann, als offene Frage behandelt wird. Wo in Bezug auf diesen Punct nicht Agnosticismus herrscht, wo nicht dem Streben nach Erkenntnis jede vorgefässte Meinung untergeordnet wird, da darf man sicher sein, an irgend einer Stelle auf eine Vergewaltigung der Wissenschaftlichkeit zu stossen. Die wissenschaftliche Form der Beweisführung ist dann nur Täuschung oder Selbsttäuschung.

Oppenheimer geht in seinen grundlegenden Deductionen von der „reinen Wirtschaft“ aus. Dagegen lässt sich natürlich umsoweniger einwenden, als er sie nachher an der thatsächlichen Wirtschaftsgeschichte zu erhärten sucht. Die reine Wirtschaft unterstellt den rein wirtschaftlichen Menschen, dieses Sublimat des homo sapiens oeconomicus comm., wie er durch die ganze politische Oekonomie zieht. Dieser interessanten Persönlichkeit, die sich stets durch das ökonomische Motiv entscheidend leiten lässt, hat man die Ehre angethan, sie als Gewährsmann des historischen Materialismus gegen meinen „Liberalismus“ ins Feld zu führen. Nichts irriger als das. Thatsächlich ist sie gerade eine Prämisse oder Construction des wirtschaftlichen Liberalismus und heisst als solche – Bentham. Der wirtschaftliche Nutzen als Triebfeder des Handelns, die Abhängigkeit des Menschen von seiner Umgebung, die Lehre vom Classeninteresse und der Classenmoral, dies alles ist von dem Theoretiker des englischen Radicalismus zwar nicht entdeckt worden – man findet diese Gedanken, wie er übrigens selbst betont, schon bei vielen Schriftstellern, die vor ihm geschrieben, – aber mit grösserer Systematik, als von anderen vor ihm, entwickelt worden. Wider ihren Willen haben diejenigen, die sich mir gegenüber auf diese Erkenntnissätze beriefen, Zeugnis für die Richtigkeit meiner Ausführungen von der nahen Verwandtschaft des socialistischen Ideengehalts mit dem Grundgedanken des Liberalismus abgelegt. Trotz des ätzenden Spottes, mit dem er Bentham überschüttet, steht Marx durch das Bindeglied des englischen Socialismus auf den Schultern Benthams.

Nun muss man Bentham nicht die Albernheit unterstellen, dass ihm der Mensch nur der Mensch des grobmateriellen Nutzens war. Er war sich der Mannigfaltigkeit der menschlichen Motive durchaus bewusst und hat dem Satz, dass der Irrtum hinter Verallgemeinerungen lauert, fast bis zur Uebertreibung Rechnung getragen. Auch Oppenheimer zeigt sich von der Thorheit weit entfernt, im ökonomischen Menschen den wirklichen Menschen darstellen zu wollen. Aber mit diesem, der eine Synthese aller möglichen Antriebe ist, lässt sich für die ökonomische Theorie nicht viel anfangen. Sie muss die für sie ausschlaggebende Eigenschaft herausgreifen, das ökonomische Motiv, das ja auch in der Regel den stärksten Beweggrund der Menschen bei ihren ökonomischen Handlungen bildet. Und so construiert Oppenheimer im Anschluss an Thünen ein wirtschaftliches Princip, das er das Gesetz der Strömungen nennt. Danach strömen die Menschen auf der Linie des geringsten Widerstandes vom Orte des höchsten wirtschaftlichen Druckes zum Orte niedrigsten wirtschaftlichen Druckes, bis schliesslich eine Art Ausgleichung stattgefunden hat, was aber nur in dem Masse möglich ist, als nicht fremdartige Hemmungen ihr im Wege stehen. Diese erhalten oder steigern die Ungleichheiten und bewirken Krisen u.s.w. Das ist seine vornehmste theoretische Prämisse. Fällt sie, so fällt auch sein ganzes Gebäude. Ist sie aber richtig?

Dem Anhänger des historischen Materialismus wird es zuletzt beifallen dürfen, dies a priori bestreiten zu wollen, denn, wie aus dem Vorhergehenden ersichtlich, fusst sie auf derselben Gedankenreihe, der dieser entstammt. Oppenheimer behauptet denn auch irgendwo (ich kann die Stelle im Augenblick nicht finden), mit ihr nur den Grundgedanken des historischen Materialismus – ohne Verquickung mit dem philosophischen oder unphilosophischen Materialismus – formuliert zu haben. Er ist im Oekonomismus sogar radicaler, als jeher. Das ökonomische Motiv regiert bei ihm die Geschichte. Die Menschen sind ihm, wirtschaftlich betrachtet,

„so gleich, wie Tropfen eines Stroms oder Molecüle einer Gasmasse ... Sie alle haben bei aller Verschiedenheit doch ein Gemeinsames: das Strömen zum Gleichgewicht, und dies Gemeinsame entscheidet allein; weil sich alle Verschiedenheiten gegenseitig aufheben, erscheint als Diagonale aus dem Parallelogramm der Millionen einzelner Kräfte nur die eine gemeinsame Dichtung: bergab ins Minimum (nämlich des Drucks). Die abstracte Menschennatur ist trotz alledem der Ausgangspunct der Nationalökonomie.“ [3]

Wir haben hier eine Probe der Oppenheimerschen Deduction. Sie hat in ihrer Diction etwas wuchtiges. Das citierte Oppenheimersche Werk erinnert in vieler Hinsicht an Lassalle, und zwar an Lassalle in seinen besten Arbeiten. Es ist dieselbe geschlossene Beweisführung, wo Satz an Satz sich wie die Glieder einer Kette in festem Gefüge aneinanderreihen. Dasselbe Geschick in Meisterung des stofflichen Détail, und derselbe Drang, dieselbe Methode, den Leser wissenschaftlich zu „cernieren“, ihm keinen Ausweg zu lassen. Aber, wer sich nicht völlig von dieser bestrickenden Dialektik einnehmen lässt, findet doch Glieder in der Kette, deren Metall einen bedenklichen Riss zeigt.

„Weil sich alle Verschiedenheiten gegenseitig aufheben.“ Mit der unbefangensten Miene schleicht sich dieses noch gar nicht geprüfte Sätzchen in die Gesellschaft wohlbegründeter Satzglieder und geberdet sich, als sei es ihresgleichen. Factisch kommt es jedoch sehr auf die Verhältnisse an, ob sich alle Verschiedenheiten gegenseitig aufhaben. Der Umfang und die Natur dieser Verschiedenheiten ist auf verschiedener Culturhöhe sehr verschieden, und mit dem Begriff des Wohlstandes und den Sitten wechseln auch Natur und Kraft des ökonomischen Motivs. Warum strömen die Landarbeiter allerorts in die Städte? Sage man nicht, es ist dei bessere Lohn und die bessere Behandlung, die sie dorthin ziehen. Das ist oft der Fall, aber keineswegs immer. Warum bleiben Tausende und Abertausende in den Ländern mit noch grossen Partien freien Bodens lieber in den Centren und führen dort ein jämmerliches Leben, statt sich der ihnen gebotenen Möglichkeiten der Ansiedlung auf freiem Boden zu bedienen? Weil sociale Motive nichtwirtschaftlicher Natur stärker als rein wirtschaftliche Motive auf sie wirken.

Nein, die anderen Verschiedenheiten heben sich nicht auf, sie sind und bleiben Kräfte, die, je nachdem, ein stärkeres oder schwächeres Gegengewicht gegen die summierte Kraft ökonomischer Motive bilden. Damit ist das als Gesetz der Strömungen bezeichnete Princip nicht geleugnet, es ist nur seine Allheilkraft, seine alles besiegende Macht in Abrede gestellt. Als Tendenzgesetz ist es unzweifelhaft vorhanden, darüber kann unter vernünftigen Menschen kein Streit sein, und auf die Länge der Zeit wird es sich gegen alle es durchkreuzenden Kräfte auf die eine oder andere Weise immer wieder bis zu einem gewissen Grade durchsetzen. Aber wie lang die Zeit, wie beschaffen die Art und Weise, und wie hoch der Grad, das ist stets die Frage, und die weitere Frage ist, ob es unter diesen Umständen uns vernunftbegabten, fühlenden „Gesellschaftsmolecülen“, Menschen genannt, nicht ansteht, statt zuzusehen und Tausende darüber zu Grunde gehen zu lassen, dem Dinge nach Massgabe unserer Einsicht und Mittel nachzuhelfen.

Der starre Manchestermann wird sagen: Hände weg! Volenti non fit iniuria! Ist der Landarbeiter so dumm, aus der schönen freien Natur in die Stadt zu laufen und dort bei miserablem Lohn in einer muffigen Stube eines trübseligen Quartiers zu hausen, so muss er’s eben ausbaden. Und wer träge da hocken bleibt, wo der Andrang überwiegt und der stärkste Druck obwaltet, dem kann ebenfalls kein Gott helfen. Er ist nicht auf der Höhe des homo sapiens oeconomicus. Lasst die Erfahrung die Menschen dazu erziehen, oder gebt ihnen volkswirtschaftliche Katechismen in die Hand, die sie über Angebot und Nachfrage u.s.w. aufklären.

Oppenheimer weicht in diesem Punct von der Orthodoxie ab. Er sagt: Lasst uns den armen Teufeln statt gedruckter Bücher ein anschauliches Beispiel vorsetzen. Ein Beispiel, das sie nicht nur zur Nachahmung anreizen muss, sondern auch, indem es dies thut, dem Bacillus Grossgrundeigentum an den Kragen geht. Voilà mon ours: die Siedlungsgenossenschaft.

Ich halte die Siedlungsgenossenschaft, wie ich an anderer Stelle ausgeführt habe, für eine sehr geistreich concipierte Wirtschaftsform, die, soweit wir aus der Erfahrung Schlüsse ziehen können, viele Bürgschaften des Erfolgs in sich trägt. Aber dass sie allein aus sich heraus, durch ihr blosses Beispiel, zu so starker Verallgemeinerung Anstoss geben und alsdann so regenerierend auf die ganze Wirtschaft zurückwirken soll, wie Oppenheimer dies hinstellt – nämlich allem Nomadenrecht ein Ende machen und jenen „Gleichgewichtszustand“ herbeiführen, wo zwei Meister immer je einem Arbeiter nachlaufen – so stark ist mein Glaube an sie nicht. Dazu ist unsere Gesellschaft zu compliciert, dazu sind unsere Bedürfnisse zu vielseitig, die Verhältnisse auf dem Lande zu verschiedenartig, dazu hat in fast allen entwickelteren Ländern das Land schon zu viel an Rückwirkung auf die Städte verloren.

Oppenheimers Beispiele zeugen hier gegen ihn. Ralahine, das bekannte irische Experiment – nach meiner Ansicht auch sonst kein Beweis für das, was gewöhnlich mit ihm bewiesen werden soll – Hess, als sein Besitzer fallierte, keine Spuren seinen Wirkens zurück, die Genossenschaft Assington vegetiert schlecht und recht dahin, ohne Nachahmer zu finden. Vineland und Utah sind gute Beispiele für das Gedeihen der Wirtschaft bei Abwesenheit der Zuwachsrente, aber diese Abwesenheit wurde nicht durch Siedlungsgenossenschaften bewirkt, sondern ward von vornherein vorgesehen. Utah, die bekannte Mormonencolonie, zeigt in der That die grossen Vorteile einer den Bedürfnissen und Umständen verständig angepassten Verbindung von collectivistischen und privatwirtschaftlichen Einrichtungen. [4] Aber Utah hat auch seine Kehrseite und hat bisher so gut wie nichts von „Propaganda durch die That“, das heisst von Wirkung durch sein biosses Beispiel geleistet. Man kann es als Teilbeweis für Oppenheimers Theorie anführen, aber niemals für das Ganze derselben. Gerade da, wo es sich um den Nachweis für die unwiderstehliche Heilkraft des Serums Siedlungsgenossenschaft handelt, versagt es. Beiläufig möchte ich auch Oppenheimers Bemerkung, dass in Utah die (Mormonen-) Kirche nur Begleiterscheinung eines wirtschaftlichen Zustandes war, in dem alle Interessen parallel laufen [5], nicht so leichthin unterschreiben. Meines Erachten s liegt da vielmehr ein gutes Stück Wechselwirkung vor. Die grosse, wenn auch nicht unbegrenzte Widerstandskraft der religiösen und die geringe Widerstandskraft der rein wirtschaftlichen communistischen und halbcommunistischen Colonieen gegen die capitalistische Umwelt hat sich zu oft documentiert, im als Zufall betrachtet werden zu können.

Oppenheimer verfällt gern dem Fehler juristisch veranlagter Naturen, zu viel beweisen zu wollen. Es ist ein wenig übertrieben, aber doc.i nicht ganz falsch, wenn ich erkläre, dass, wer über seine Dialektik verfügt, auch beweisen könnte, dass das Fundament des wirtschaftlichen Wohlstandes der Mormonencolonie [6] in der Vielweiberei zu suchen ist, und dass diese an cem Gedeihen der eigenartigen Bauernwirtschaften in Utah nicht ganz unbeteiligt ist, scheint mir sogar sehr wahrscheinlich. Und weiterhin wird die experimentelle Bedeutung der Erfolge der Mormonen dadurch eingeschränkt, dass Utahs Einrichtungen der Zeit entstammen, da es noch weit ab von den grossen Verkehrscentren und Verkehrsadern der Civilisation lag.

Nun sagt freilich Oppenheimer: wenn diese einfachen Menschen das alles in der Salzwüste ausserhalb der alten Cultur mit quasi nichts als Anfang leisten konnten, was würde erst erreicht worden sein, wenn das von ihren bestellte Gebiet im Herzen des alten Europa mit seinen Culturmitteln nach dem gleichen System bewirtet worden wäre? Die Frage erinnert an die Lassalles: wenn die Genossenschaften ohne Staatshilfe so viel geleistet haben, was würden sie erst mit Staatshilfe leisten können? Vielleicht mehr, vielleicht aber auch sehr viel weniger. Diese neuen Bedingungen bedeuten nicht blos einen quantitativen Zusatz, sie bedeuten einen total veränderten Charakter des Ganzen, eine Verschiebung der Rechtsbeziehungen und der socialen, bezw. moralischen Zusammenhänge. Und auch das sind ökonomische Potenzen, wenn sie gleich nicht selbst ökonomischen Charakters sind.

Damit soll jedoch der Beweiswert der vorerwähnten Beispiele nur auf das mir vernünftig scheinende Mass reduciert, aber keineswegs grundsätzlich bestritten werden. Meines Erachtens geben Frankreich und Irland uns viel passendere Beispiele für die socialpolitische Rückwirkung der von Oppenheimer erstrebten Agrarreform – Frankreich, das durch die grosse Revolution dem feudalen Grossgrundeigentum ein Ende machte und einen grossen freien Bauernstand schuf, Irland, wo die Agrargesetzgebung von 1881 ein Stück ähnlicher Reform durchführte. Hier ist das Mittel – die Aufhebung des Drucks der agrarischen Zuwachsrente – zwar nicht radical, aber doch jedesmal bis zu einem gewissen Punct verwirklicht, und dies auf weitem Räume inmitten des Wirtschaftskreises der Civilisation. Es wäre daher keine unlohnende Arbeit für Oppenheimer, einmal zu untersuchen, wieweit das Stück seiner Reform, das in Frankreich verwirklicht wurde, die nach seiner Theorie zu erwartenden Resultate herbeigeführt hat. Er wird da auf manches stossen, das ebenfalls als experimentelle Bestätigung seiner Theorie gelten kann, aber auch auf viele Erscheinungen, welche ihre Grenzen anzeigen.

Ein ganz einwandfreies Beispiel aber giebt es nicht. Die Reincultur auf jungfräulichem Boden ausserhalb der Civilisation kann es nicht liefern, weil bei ihr die meisten Rückwirkungen jener fehlen [7], und die Teilexperimente innerhalb der Civilisation können natürlich nur Teilresultate liefern. Nun haben wir jedoch auf absehbare Zeit im Gebiet der Weltwirtschaft, bei der Verschiedenheit der Verhältnisse in den einzelnen Ländern, immer nur partielle Verwirklichungen des Recepts zu erwarten, so dass sein Segen wesentlich auf bestimmte Kreise oder Classen beschränkt bliebe. Das ist z.B. in hohem. Grade in Frankreich der Fall, und das zeigt sich auch schon in Salzseestadt und anderwärts in Utah. Alles Gründe, uns nicht auf den Kampf für Oppenheimers Mittel zu beschränken.

Oppenheimer hat, in seinem Aufsatz: Die Krise im Marxismus, mich „rein wirtschaftlich“ auf den Liberalismus zurückgehen und die „wirtschaftliche Selbsthilfe in Genossenschaft und Gewerkschaft“ im Sinne des Liberalismus predigen lassen, den er kurz vorher als „Gegner der staatlichen Intervention in wirtschaftlichen Beziehungen“ definiert hatte. Man muss Erfindern etwas zu Gute halten, und Oppenheimer ist nur zu sehr Erfinder. [8] Aber wie er mich zum Gegner der staatlichen Intervention in wirtschaftlichen Dingen hat stempeln können, ist mir unbegreiflich. Ich bin übertriebenen Vorstellunger, hinsichtlich der Möglichkeiten der directen Uebernahme der Production durch Staat und Gemeinde entgegengetreten,, aber es ist mir auch nicht im Traum eingefallen, mich principiell gegen Staats- oder Gemeindebetriebe zu erklären. Noch weniger konnte es mir beikommen, mich gegen andere Formen der Staatsintervention principiell auflehnen zu wollen. Im Gegenteil, gerade ich habe mit Entschiedenheit die Auffassung bekämpft, die den Staat nur als Organ der Unterdrückung auffasst und seine Function als Organ gesellschaftlicher Arbeitsteilung übersieht oder vergisst. Von der staatlichen Ueberwachung der Industrie durch Fabrikgesetze u.s.w. gar nicht zu reden, denn die habe ich zugleich mit der Vormehrung des Arbeitsgebiets der Gemeinden in meiner Schrift ar den Stuttgarter Parteitag ausdrücklich als Signatur jener gesellschaftlichen Gegenaction gegen die ausbeuterischen Tendenzen des Capitals hervorgehoben, wie sie in den vorgeschrittneren Ländern unter dem Einfluss demokratischer Einrichtungen und dem Druck der sich immer kräftiger regenden Arbeiterbewegung eingesetzt hat. Die Socialdemokratie steht in Deutschland dem Gedanken der Verstaatlichung von Productionsanstalten angesichts der politischen Verhältnisse vorliegend ablehnend gegenüber. Es konnte mir also nicht beikommen, bei Besprechung der nächsten Aufgaben der Socialdemokratie solche Verstaatlichungen in Vorschlag zu bringen. Aber diejenigen Anforderungen, welche die Socialdemokratie in Bezugauf Unterrichtswesen, Arbeiterschutz, Gesundheitspolizei, Verkehrswese u.s.w. an den Staat stellt, werden in meiner Schrift durchaus anerkannt. Ebe iso die Weiterbildung der communalen Eigenbetriebe. Hinsichtlich der weiteten Zukunft lege ich das Hauptgewicht auf die Schaffung und Ausbildung solcher Einrichtungen, die für den höchstmöglichen Grad von Socialisierung und Demokratisierung der Wirtschaft erfordert erscheinen. Dass ich die Allesverstaatlichung für eine nebelhafte Vorstellung halte, habe ich oft ausgesprochen, und in völlig nebelgrauer Ferne liegt meinem Verständnis die hier und da geäusserte Idee, dass du; ganze Culturmenschheit eines Tages eine einzige grosse naturalwirtschaftende Genossenschaft bilden werde. Aber dass das Obereigentum des Staates, das schon heute im Princip anerkannt ist, in den verschiedensten Formen weiter ausgebildet werden und, unterstützt auf der ändern Seite durch freie collectivistische Schöpfungen, der ausbeuterischen Function des Capitals immer engere Grenzen ziehen wird, das ist meine Ueberzeugung, und in ihr wurzelt mein Socialismus.

Und dein Liberalismus? wird Oppenheimer vielleicht hier einwenden. Nun, ich denke, ich habe es deutlich genug ausgesprochen, dass er für mich im demokratischen Charakter der Wirtschafts- und Verwaltungseinrichtungen liegt, in der Gleichberechtigung und principiell festgehaltenen, wenn auch ökonomisch gemilderten Selbstvcrantwortlichkeit der arbeitsfähigen Mitglieder der Gesellschaft und in der Selbstverwaltung der öffentlich-rechtlichen Collectiveinheiten. Im Gegensatz gegen das ausschliessende Sonderrecht von Individuen oder Classen, und gegen alle Beschränkungen, die nicht durch Rücksichten auf den Wohlstand und die höchstmögliche Freiheit aller ohne Unterschied der Abstammung und Denkrichtung geboten sind, erblicke ich das wesentliche Kennzeichen des liberalen Gedankens, von dem die sogenannte Manchesterdoctrin nur eine einseitig übertriebene Ableitung bildet. In dieser Auffassung konnte ich den gesetzlichen Maximalarbeitstag – vergl. pag.129-30 meiner Schrift – principiell dem Verbot, sich dauernd in persönlicher Knechtschaft zu veräussern, an die Seite stellen. Natürlich gicbt es Fragen, die sich nicht kurzer Hand durch abstracto Formeln erledigen lassen, weil die in Betracht kommenden Interessen sich so complicieren, dass keines ein absolutes Uebergewicht zeigt. Hier muss es der Einsicht der jeweilig zur Entscheidung Berufenen überlasten bleiben, die dem Geiste des leitenden Grundprincips am nächsten kommende Lösung zu finden.

Nicht, dass und wieviel verstaatlicht wird, sondern, wie verstaatlicht und wie staatlich verwaltet wird, ist eine Frage, bei der das liberale Princip in Betracht kommt. Nicht, dass Eigentumsobjecte und Eigentumsrechte beschränkt werden, sondern, wieviel und aus welchen Gründen bezw. zu welchem Zwecke sie beschränkt werden, ob zwischen Zweck, Grad und Wirkung ein vernünftiges Verhältnis besteht. Jede Beschränkung über den vorgesetzten Zweck hinaus und jede Beschränkung zweckwidriger oder sinnloser Natur, ist sicher als illiberal zu bezeichnen. So ist die Frage, unter welchen Umständen und bis zu welchem Grade freie Concurrenz am Platze ist, in erster Linie nicht eine. Frage des liberalen Princips, sondern des Zwecks und der Zweckmässigkeit.

Oppenheimer sagt an einer Stelle: „Im Augenblicke aber, wo es sich herausstellte, dass unter der Einwirkung des in allem wesentlichen ja immer noch herrschenden freien Concurrenz-Systems ... eine Besserung der socialen Beziehungen eintrat ...“ [9] Wer diesen Satz ruhig hinnimmt, der ist unrettbar in der Gewalt unseres Freundes, er hat ihn mit eisernem Griff beim Kragen. Aber es braucht nur einen flüchtigen Blick, um zu erkennen, wo hier das Fangeisen liegt. Das in allem wesentlichen ist eine ebenso verschlagene Partikel wie die berühmte letzte Instanz oder das heimtückischste aller Worte unseres Sprachlexikons: also. In allem wesentlichen heisst factisch: nicht in allen Puncten. Die freie Concurrenz ist heute verschiedentlich eingeschränkt: durch die Volksschule, durch Fabrikgesetze, durch sanitäre Vorschriften, durch öffentliche Dienste aller Art, durch die Coalitionen der Arbeiter und das Gewicht der sich unter dem Einfluss des allgemeinen Wahlrecht ihnen immer stärker zuwendenden öffentlichen Meinung. Es ist also der Beweis zu erbringen, dass die langsame Besserung nicht gerade diesen Einschränkungen der freien Concurrenz zu danken ist. Kann er nicht erbracht werden, so schwebt die Theorie, dass die freie Concurrenz aus sich selbst heraus die Besserung bringe, in der Luft, Selbst wenn wir die Coalitionen der Concurrenz zurechnen, blieben noch genug Factoren politischer und socialer Natur übrig, um die Anschauung, es sei lediglich die freie Concurrenz, die hier als heilender Engel wirke, als unbewiesen und unbeweisbar erscheinen zu lassen. Wie ich wiederholt Vertretern dieser Anschauung – darunter, wenn ich nicht irre, auch Prof. Jul. Wolff – gegenüber ausgeführt habe, schreibe ich den grössten Teil der Besserung gerade jenen sicialen und politischen Factoren, sowie dem erstarkten Widerstand der Arbeiterclasse zu.

Wie stellt sich nun Oppenheimer zu den aufgezählten Factoren? Nach welchen Principien bemisst er seine Stellung zu den Fragen des Arbeiterschutzes, des Staatsbetriebs, der Gemeindeverwaltung? Wo zieht er da seire Grenze? Denn absoluter Manchestermann ist auch er nicht. Erst wenn er sich darüber geäussert, was in den citierten Arbeiten nicht der Fall, wird man über seinen Socialliberalismus ein endgiltiges Urteil fällen können. Das Wort ist vieldeutig wie das Wort Socialdemokratie, das in seiner Auslegung manche Wandlungen hinter sich hat. Der Mann, der das letztere in Deutschland einführte und seine Kichtung damit bezeichnete – Gottfried Kinkel – ward von niemand schärfer bekämpft, als von Marx und Engels. Später ward es das Losungswort aller Sectionen der Arbeiterpartei Deutschlands, deckte aber damit zugleich auch sehr verschiedenartige Auffassungen, und selbst heute versinnbildlicht es nicht eine abgeschlossene Doctrin, sondern nur eine kämpfende Partei. Das Wort Socialliberalismus hat noch nie einer kämpfenden Partei als Banner gedient, noch hat es als Bezeichnung einer bestimmten Doctrin Geltung erlangt, man kann sich alles mögliche darunter denken. Soll es nur ein starkes Betonen des liberalen Princips im Socialismus bedeuten, so wäre niemand eher geneigt, es gelten zu lassen, wie der Schreiber dieses. Und zwar nicht erst heute. Ich habe vielmehr zu allen Zeiten – viele Artikel im Züricher Socialdemokrat zeugen dafür – die Anschauung energisch vertreten, dass der principielle Gegensatz nicht Liberalismus und Socialismus, sondern Capitalismus und Socialismus sei. Der Capitalismus, die Herrschaft der Capitalmacht, ist der Ausbeuter, aber nicht die Incarnation des liberalen Princips. Socialliberal bedeutete soweit also keineswegs etwas von der Socialdemokratie irgendwie grundsätzlich verschiedenes. Aber Oppenheimer erhebt das Princip der freien Concurrenz, das für nich nur eine Anwendung eines weitergreifenden Rechtsgedankens ist und als solcne durch ihre Wirkungen sich zu legitimieren hat, zum massgebenden Princip quand nieme. Da mache ich nicht mit. Oppenheimer glaubt, durch die freie Concurrenz zum Socialismus zu gelangen, das heisst zu einem Zustand, in dem Grundrente und Capitalprofit verschwunden sind und die Production, selbst wenn sie von Capitalisten betrieben wird, genossenschaftlichen Charakter trägt. Ich zweifle an der Möglichkeit, das Ziel auf diesem Wege zu erreichen, und ich sehe die Notwendigkeit nicht ein, der Bewegung die darin ausgedrückte Beschränkung aufzuerlegen. Die ungeheure Ausdehnung des Kampffeldes und die grosse Mannigfaltigkeit der gesellschaftlichen Verknüpfungen machen es notwendig, die Arbeit von allen Seiten her in Angriff zu nehmen. Und wenn der politische Kampf, den Oppenheimer doch empfiehlt, sich nicht ewig um formale Rechte drehen soll, so kann er nur den Zweck haben, durch die Erkämpfung der Demokratie die Zwangsgenossenschaften Staat und Gemeinde der wirtschaftlichen Emancipation dienstbar zu machen.

Dass das keine ganz einfache Sache ist, dass blinde oder doctrinäre Willkür hier gegebenenfalls sehr viel Schaden anrichten kann, ist ohne weiteres zuzugeben. Soll die Gewalt als ökonomische Potenz schöpferisch wirker, so muss sie selbstverständlich mit Verstand angewendet werden. Aber die Grenze der staatlichen, gesetzgeberischen und municipalen Action wird durch deren sociale Erspriesslichkeit und nicht durch Rücksicht auf das Concurrenzprincip gezogen. Es handelt sich um gesellschaftliche Arbeitsteilung, und die Erfahrung muss zeigen, wie viel in dieser Hinsicht Staat und Gemeinden leisten können.

Da ich für die absehbare Zukunft weder an eine Uebernahme der ganzen Production von seiten des Staats und der Gemeinden, noch an eine Zerschlagung der heutigen Staaten in selbstwirtschaftende locale Einheiten (Heimcolonieen oder dergleichen) glaube, so halte ich die Ausbildung freier Wirtschaftsgenossenschaften für eine notwendige Ergänzung der Wirtschaftsfunctionen von Staat, Gemeinden und anderen Zwangsgenossenschaften.

Das ist die Quintessenz meines Buches und dürfte zur Genüge zeigen, warum ich Oppenheimers Socialliberalismus nicht zustimmen kann. Oppenheimer erklärt, ich sei gleich ihm Optimist. Ich bin es, aber in anderer Weise, wie er. Er ist es „rein ökonomisch“, ich bin, wenn man es so nennen will, socialer Optimist. Ich sehe durch alle Rückschläge reactionärer Mächte hindurch heute eine Entwickelung nach vorwärts sich vollziehen – anders in der Form, wie viele es sich vorgestellt haben, aber doch in der gleichen Richtung und dem erstrebten Resultat zu. Oppenheimer hat nur insofern recht, als die freie Concurrenz nicht das Scheusal ist, als das sie vielen Socialisten erschien, dass es weniger Gewaltmittel gegen sie bedarf, um ihr die Giftzähne auszubrechen, dass sie zum grossen Teil auf ihrem eignen Felde geschlagen werden kann. Aber er fehlt in seinen Deductionen dadurch,dass er die Begriffe social und rein wirtschaftlich bald streng trennt und bald als identisch behandelt, und in seinen Vorschlägen dadurch, dass er sich auf ein Mittel verbeisst, das wohl für bestimmte Zwecke passen dürfte, für die Erreichung des von ihm angestrebten Ziels aber ungenügend ist, und vor allem viel mehr Zeit in Anspruch nimmt, als sich angesichts der zu bekämpfenden Uebel rechtfertigen lässt und zu deren Bekämpfung erforderlich ist. Das Zeitmoment wird hier völlig von ihm unterschätzt.

Soweit zur praktischen Seite von Oppenheimers Socialliberalismus. Der Erkenntniswert seiner theoretischen Untersuchungen, bezw. des theoretischen Teils dieser, wird dadurch wenig berührt. Darum bin ich auch hier nicht auf seine bemerkenswerten Ausführungen zur Krisenfrage, Bevölkerungslehre etc., eingegangen, behalte mir vielmehr vor, bei anderen Gelegenheiten – u.a. in der schon erwähnten Arbeit über das Lohnproblem – darauf zurückzukommen. Unzweifelhaft ist Oppenheimer ein scharf analytischer Kopf und geschickter Dialectiker. Aber er ist auch als Theoretiker nicht unbefangen genug. Das nötigt zur Vorsicht ihm gegenüber, hindert aber nicht, dass er auf gewisse Fragen helleres Licht wirft, viele Probleme schärfer herausgreift, manche Fehlschlüsse schärfer erkennt, als seine Vorgänger. Er regt immer an, auch da, wo er übertreibt. Ich habe schon bemerkt, dass ich wenig principiell neues bei ihm gefunden habe. Darauf kommt es aber auch gar nicht an. Es wird überhaupt in der Theorie wenig neues und fast immer nur in factisch kleinen Dosen geleistet. Das Verdienst anscheinender Neuerung besteht oft nur darin, für überlieferte Gedanken eine neue schärfere Form und bessere Beweisführung zu finden. Darin finde ich hauptsächlich Oppenheimers litterarische Verdienste. Seine Abhandlung über das Grossgrundeigentum enthält, wie übrigens auch schon die Siedlungsgenossenschaft, wahrhaft glänzende Partien, Stücke, bei denen man im Zweifel ist, was man mehr bewundern soll: die in ihrer Klarheit und Kraft geradezu classische Sprache, die geschlossene Einheit des Gedankenganges oder die Schärfe der Analyse. Ein bedeutendes Stück Wirtschaftsgeschichte wird von Oppenheimer unter dem Gesichtswinkel eines von ihm teilweise überschätzten, aber doch sehr wichtigen Princips in ein ganz neues Licht gestellt. Ueber der Aufgabe, seine Einseitigkeiten aufzudecken, darf man die andere, nicht minder wichtige nicht vergessen, das thatsächlich von ihm Bewiesene aufzunehmen und die eigene Theorie entsprechend zu berichtigen oder zu erweitern. Die erstere Aufgabe ist meines Erachtens bei Weitern die leichtere. Oppenheimer besitzt eine grosse Kraft der Abstraction, aber in dieser Gabe liegt auch für ihn die Klippe. Sie verleitet ihn, seine aus der abstracten Betrachtung gewonnenen Schlüsse mit viel zu grosser Sicherheit auf die complexe Wirklichkeit zu übertragen. Ich möchte ihm zum Schluss ein Wort des ihm so congenialen Lassalle zurufen:

„Unglücklicher- oder glücklicherweise ist es ganz unmöglich, die ganze Wahrheit in eine Formel zu bringen“.

Fußnote

1. Socialistische Monatshefte, 1900, No.l, pag.14ff.

2. Indem ich das bemerke, will ich jedoch keineswegs Gumplowicz die thörichte Ansicht unterstellen, in dem kurzen Artikel eine gründliche Widerlegung Oppenheimers geliefert zu haben. Er wollte offenbar nur einige entscheidende Gesichtspuncte hervorheben. Aber er hat da den Fehler gemacht, den Fall seines Gegners zu ungünstig darzustellen, was jeder Widerlegung, die dauernd gelten will, ihre Kraft nimmt.

3. Franz Oppenheimer: Grossgrundeigentum und sociale Frage; pag.178.

4. Vergl. Oppenheimers Aufsatz: Die Utopie als Thatsache, in der Zeitschrift für Socialwissenschaft, Bd.II., Heft 3.

5. a.a.O., pag.201.

6. „Wir haben 19.916 Farmen in Utah, und davon sind 17.684 von jeder Verschuldung frei.“ Antrittsrede des Gouverneurs Hebe M. Wells im Januar 1896. (a.a.O., pag.200.)

7. Dass, wo freier Boden ist, Kraftmittel – brutale Gewalt, Bindung durch Gesetze etc. – erforderlich sind, um Proletarier zu schaffen, wird mehr oder minder rückhaltlos von allen Oekonomen anerkannt. Das Capitel: Die moderne Colonialpolitik im Capital enthält in nuce alles, was Oppenheimer zur Begründung seiner Ausgangsthese braucht. Aber nur für diese. Schon Dühring, den Oppenheimer zu seinen Lehrern zählt, hat sehr früh gegenüber den Uebcrschätzungen der „offenen Wirtschaftsgebiete“ das Gegengewicht der socialen Zusammenhänge hervorgehoben.

8. Ich meine damit, dass er seinen Erfindungen auf dem Gebiete der Socialreform übermässiges Gewicht beilegt. Sie sind nach meiner Ansicht das am wenigsten Bedeutende in seinen Arbeiten und auch nur in Einzelheiten neu. Das soll keine Herabsetzung sein. Um noch einmal auf Lassalle zurückzugreifen, so ist dieser als Reformer mit keiner einzigen neuen Idee hervorgetreten. Und selbst wer das bekannte harte Wort von Marx über Lassalle als Oekonom nicht unterschreibt, wird nicht leugnen können, dass Lassalle als Oekonom nur schon von anderen Gesagtes wiederholt oder in neue, allerdings oft sehr ausdrucksvolle Formen gekleidet hat. Auch die Originalität der Grundgedanken im Heraklit und System wird hier und da bestritten. All das thut jedoch der Thatsache keinen Abbruch, dass Lassalle Glänzendes zur Erhellung der socialen Erkenntnis geleistet hat. Aber das Bedeutende an seinen theoretischen Leistungen ist nie populär geworden. Ja, eine seiner genialsten Aufstellungen – die Feststellung der Entwickelung zur Unentgeltlichkeit – ist selbst von einem Rodbertus missverstande.n wordsn, und hat ihm von diesem, wie es scheint, den Vorwurf eingetragen, er führe – um es in heutbeliebter Form auszudrücken – „zurück auf Bastiat“. Ich meine die von mir als Lassalles geschichtsphilosophisches Programm bezeichnete Note zum Paragraph 7 des Systems der erworbenen Rechte. (Gesamtausgabe pag.791ff.)

Diese Note und die sich an sie anschliessende Controverse Lassalles mit Rodbertus wirft auch ein Licht auf das hier im Text behandelte Thema. Lassalle bestreitet die Richtigkeit des Rodbertusschen Einwurfs mit dem Hinweis auf seine Anerkennung diis ehernen Lohngesetzes. Giebt man aber dieses auf, so könnte die Deduction Lassalles, sofein man sie sonst acceptiert, allerdings leicht über Bastiat hinweg und an Malthus vorbei zu – Oppenheimer führen.

Ich komme auf den Punct in einem demnächst zu publicierenden Aufsatz über das Lohngesetz näher zurück und berfferke hier nur noch, dass, was im Vorstehenden be, üglich Lassalles Popularität gesagt wurde, auch mit Fug und Recht von Marx gesagt werden kann. Was in Popularschriften als Entdeckungen von Marx hingestellt wird, ist der Sache nach gar nicht originale Leistung von Marx, und was Marx wirklich theoretisch neues gesagt, ist nicht ins populäre Bewusstsein gedrungen. Es ist überhaupt das Schicksal fast aller bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen, vorerst nur in dem populär zu werden, was sie an Erkenntnis aus zweiter oder dritter Hand enthalten.

9. Franz Oppenheimer: Die Krise im Marxismus, pag.597.


Zuletzt aktualisiert am 16.10.2008