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Wenn man eine Anzahl Menschen, welcher Klasse oder Partei auch angehörig, aufforderte, in einer knappen Formel eine Definition des Sozialismus zu geben, so würden die meisten von ihnen in einige Verlegenheit gerathen. Wer nicht aufs Gerathewohl eine gehörte Phrase wiederholt, muß sich zunächst darüber klar werden, ob er einen Zustand oder eine Bewegung, eine Erkenntniß oder ein Ziel zu kennzeichnen hat. Schlagen wir in der ureigenen Literatur des Sozialismus nach, so werden, auf sehr verschieden lautende, je nachdem in die eine oder die andere der vorbezeichneten Kategorien fallende Erklärungen des Begriffs stoßen, von Ableitung desselben aus Rechtsvorstellungen (Gleichheit, Gerechtigkeit) oder seiner summarischen Bezeichnung als Gesellschaftswissenschaft an bis zu seiner Gleichsetzung mit dem Klassenkampf der Arbeiter in der modernen Gesellschaft und der Erklärung, Sozialismus heiße genossenschaftliche Wirthschaft. Gelegentlich liegen diesen verschiedenartigen Erklärungen grundsätzlich verschiedene Auffassungen zu Grunde, meist aber sind sie nur Resultate der Betrachtung oder Darstellung einer und derselben Sache unter verschiedenen Gesichtspunkten.
Die genaueste Bezeichnung des Sozialismus wird jedenfalls diejenige sein, die an den Gedanken der Genossenschaftlichkeit anknüpft, weil damit zugleich ein wirthschaftliches wie ein rechtliches Verhältniß ausgedrückt wird. Es wird keines weitläufigen Beweises bedürfen, um erkennen zu lassen, daß die Charakteristik des letzteren hier ebenso wichtig ist wie die der Wirthschaftsweise. Ganz abgesehen von der Frage, ob und in welchem Sinne das Recht ein primärer oder sekundärer Faktor des Gesellschaftslebens ist, giebt doch unbestritten das jeweilige Recht das konzentrirteste Bild seines Charakters. Wir bezeichnen Gesellschaftsformen nicht nach ihrer technologischen oder ökonomischen Grundlage, sondern nach dem Grundprinzip ihrer Rechtseinrichtungen. Wir sprechen wohl von einem Stein-, Bronze-, Maschinen-, Elektrizitäts- &c. Zeitalter, aber von feudaler, kapitalistischer, bürgerlicher &c. Gesellschaftsordnung. Dem entspräche die Bezeichnung des Sozialismus als Bewegung zur, oder der Zustand der genossenschaftlichen Gesellschaftsordnung. In diesem Sinne, der ja auch der Etymologie des Wortes (socius = Genosse) entspricht, wird es im Folgenden gebraucht.
Welches sind nun die Vorbedingungen der Verwirklichung des Sozialismus? Der historische Materialismus erblickt sie zunächst in der modernen Produktionsentwicklung. Mit der Ausbreitung des kapitalistischen Großbetriebs in Industrie und Landwirthschaft sei eine dauernde und stetig wachsende materielle Grundlage für den Antrieb zu sozialistischer Umgestaltung der Gesellschaft gegeben. In diesen Betrieben ist die Produktion bereits gesellschaftlich organisirt, nur die Leitung ist individuell und der Profit wird von Individuen nicht auf Grund ihrer Arbeit, sondern ihres Kapitalantheils angeeignet. Der werkthätige Arbeiter ist vom Eigenthum an seinen Produktionswerkzeugen getrennt, er steht im abhängigen Lohnverhältniß, aus dem er sein Leben lang nicht entrinnt und dessen Druck durch die Unsicherheit noch verschärft wird, die mit dieser Abhängigkeit vom Unternehmer in Verbindung mit den Schwankungen der Geschäftslage – die Folge der Produktionsanarchie – verbunden ist. Wie die Produktion selbst, drängen auch die Existenzbedingungen der Produzenten zur Vergesellschaftung und genossenschaftlichen Organisation der Arbeit. Sobald diese Entwicklung genügend vorgeschritten, wird die Verwirklichung des Sozialismus unabweisbares Bedürfniß der Fortentwicklung der Gesellschaft. Sie durchzuführen ist die Sache des als Partei der Klasse organisirten Proletariats, das zu diesem Behuf die politische Herrschaft erobern muß.
Wir haben danach als erste Vorbedingung allgemeiner Verwirklichung des Sozialismus einen bestimmten Höhegrad kapitalistischer Entwicklung, und als zweiten die Ausübung der politischen Herrschaft durch die Klassenpartei der Arbeiter, die Sozialdemokratie. Form der Ausübung dieser Macht ist nach Marx im der Uebergangsperiode die Diktatur des Proletariats.
Was die erste Vorbedingung anbetrifft, so ist bereits im Kapitel über die Betriebsklasse, in Produktion und Distribution gezeigt worden, daß wenn der Großbetrieb in der Industrie heute thatsächlich schon das Uebergewicht hat, er doch, die von ihm abhängigen Betriebe eingerechnet, selbst in einem so vorgeschrittenen Lande wie Preußen höchstens die Hälfte der in der Produktion thätigen Bevölkerung vertritt. Nicht anders stellt sich das Bild, wenn wir die Zahlen für ganz Deutschland wählen, und wenig verschieden davon ist es in England, dem industriellsten Lande Europas. Im übrigen Ausland, Belgien vielleicht ausgenommen, ist das Verhältniß zu den Klein- und Mittelbetrieben sehr viel ungünstiger. In der Landwirthschaft aber sehen wir überall den kleinen und Mittelbetrieb gegenüber dem großen nicht nur noch proportionell in bedeutendem Uebergewicht, sondern auch in der Lage, seine Position zu befestigen. Im Handel und Verkehr ist das Verhältniß der Betriebsgruppen ein ähnliches.
Daß das Bild, welches die summarischen Zahlen der Betriebsstatistik geben, bei genauerer Prüfung der einzelnen Abtheilungen manche Korrektur erfährt, habe ich seinerzeit im Artikel über die Zusammenbruchstheorie selbst hervorgehoben, nachdem ich schon in früheren Artikeln der Serie Probleme des Sozialismus nachdrücklich darauf verwiesen hatte, daß die Zahl der Beschäftigten eines Betriebs kein sicheres Anzeichen fair den Grad seiner kapitalistischen Natur bietet. Die Einwände, die Parvus in der Sächsischen Arbeiterzeitung gegen den Gebrauch erhoben hat, den ich ab angegebener Stelle von den Totalzahlen der Betriebsgruppen gemacht hatte, sagten prinzipiell nichts, was ich nicht selbst schon vorher wiederholt dargelegt hatte, und sind für das, worauf es hier ankommt, für die Frage der Wahrscheinlichkeit eines nahen wirthschaftlichen Zusammenbruchs, ganz unerheblich. [1] Ob von den Hunderttausenden von Kleinbetrieben eine Anzahl kapitalistischer Natur, andere ganz oder zum Theil von kapitalistischen Großbetrieben abhängig sind, kann das Gesammtbild, welches die Statistik der Betriebsunternehmungen darbietet, nur wenig verändern. Die große und wachsende Mannigfaltigkeit der Unternehmungen, die staffelmäßige Gliederung der Industrie wird dadurch nicht widerlegt. Streichen wir ein Viertel oder selbst die Hälfte aller Kleinbetriebe als Dependenzen der Mittel- und Großbetriebe aus der Liste fort, und es bleiben in Deutschland in der Industrie allein noch eine Million Betriebe, von kapitalistischen Riesenunternehmungen abwärts in immer breiteren Schichten bis in den Hunderttausenden handwerksmäßiger Kleinbetriebe, die zwar auch ihrerseits langsam dem Verdichtungsprozeß ihren Tribut abstatten, aber darum doch noch ganz und gar keine Miene machen, von der Bildfläche zu verschwinden. Zu den Zahlen, die wir hierüber im zweiten Abschnitt des dritten Kapitels gegeben haben, sei noch aus der Statistik der deutschen Baugewerbe erwähnt, daß sich in denselben von 1882 bis 1895 die Zahl der Selbständigen von 146.175 auf 177.012, die der Beschäftigten von 580.121 auf 777.705 vermehrt hat, was zwar eine mäßige Vermehrung der Abhängigen pro Betrieb (von 3,97 auf 4,37), aber nichts weniger als Rückgang des handwerksmäßigen Betriebs bedeutet. [2]
Es ist danach, soweit die zentralisirte Betriebsform die Vorbedingung für die Sozialisirung von Produktion und Zustellung bildet, diese selbst in den vorgeschrittensten Ländern Europas erst ein partielles Faktum, so daß, wenn in Deutschland der Staat in einem nahen Zeitpunkt alle Unternehmungen, sage von zwanzig Personen und aufwärts, sei es behufs völligen Selbstbetriebs oder theilweiser Verpachtung expropriiren wollte, in Handel und Industrie noch Hunderttausende von Unternehmungen mit über vier Millionen Arbeitern übrig blieben, die privatwirthschaftlich weiter zu betreiben wären. In der Landwirthschaft blieben, wenn alle Betriebe von über zwanzig Hektaren verstaatlicht würden, woran aber Niemand denkt, über fünf Millionen Betriebe privatwirthschaftlichen Charakters übrig, mit zusammen gegen neun Millionen Arbeitsthätigen. Von der Größe der Aufgabe aber, die dem Staate oder den Staaten mit der Uebernahme jener vorerwähnten Betriebe erstehen würde, wird man sich eine Vorstellung machen, wenn man berücksichtigt, daß es sich in Industrie und Handel um mehrere hunderttausend Betriebe mit fünf bis sechs Millionen Angestellter, in der Landwirthschaft um über dreihunderttausend Betriebe mit fünf Millionen Arbeiter handelt. Ueber welche Fülle von Einsicht, Sachkenntniß, Verwaltungstalent müßte eine Regierung oder eine Nationalversammlung verfügen, um auch nur der Oberleitung oder der wirthschaftlichen Kontrolle eines solchen Riesenorganismus gewachsen zu sein?
Man wird vielleicht hier auf die große Zahl von Intelligenzen verweisen, welche die heutige Entwicklung hervorbringt und die sich in einer Uebergangsepoche mit Eifer zur Verfügung stellen würden. Am Andrang und guten Willen dieser Gesellschaftsschicht zweifle ich durchaus nicht, habe vielmehr schon vor nahezu achtzehn Jahren auf sie verwiesen. Aber gerade im embarras de richesses liegt hier die Gefahr, und was der böse Wille der Gegner nicht durchsetzt, das mag sehr leicht der gute Wille des aufschießenden Heeres der besten Freunde vollbringen. Der gute Wille ist selbst in normalen Zeiten ein bedenklicher Kunde.
Aber lassen wir diese Frage einstweilen bei Seite, und halten wir vorerst nur die Thatsache fest, daß für die Sozialisirung vou Produktion und Distribution die materielle Vorbedingung, vorgeschrittene Zentralisation der Betriebe, erst zum Theil gegeben ist.
Die zweite Vorbedingung ist nach der Marxschen Lehre die Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat. Man kann sich diese Eroberung verschiedenartig denken: auf dem Wege des parlamentarischen Kampfes durch das Mittel der Ausbeutung des Wahlrechts und Benutzung aller sonstigen gesetzlichen Handhaben oder auf dem Wege der Gewalt durch das Mittel der Revolution. [3]
Es ist bekamst, daß Marx und Engels bis ziemlich spät diesen letzteren als den fast überall unumgänglichen Weg betrachteten, und verschiedenen Anhängern der Marxschen Lehre erscheint er noch heute als unvermeidlich. Vielfach wird er auch für den kürzeren Weg gehalten. [4]
Dazu führt vor Allem die Vorstellung, daß die Arbeiterklasse die zahlreichste Klasse und, als besitzlose, auch die energischste Klasse der Gesellschaft ist. Einmal im Besitz der Macht würde sie nicht ruhen, bevor sie die Fundamente des bestehenden Systems durch solche Einrichtungen ersetzt hätte, die deren Wiederherstellung unmöglich machten.
Es wurde schon erwähnt, daß Marx und Engels bei Aufstellung ihrer Theorie von der Diktatur des Proletariats die Schreckensepoche der französischen Revolution als typisches Beispiel vor Augen hatten. Noch im Anti-Dühring erklärt Engels es für eine höchst geniale Entdeckung Saint-Simons, im Jahre 1802 die Schreckensherrschaft als die Herrschaft der besitzlosen Massen begriffen zu haben. Das ist nun wohl eine ziemliche Ueberschätzung, aber wie hoch man auch jene Entdeckung stellen mag, die Wirkung der Herrschaft der Besitzlosen kommt bei Saint-Simon nicht viel besser fort als bei dem heute als „Spießbürger“ verschrienen Schiller. Die Besitzlosen von 1793 waren nur fähig, die Schlachten Anderer zu schlagen. Sie konnten nur „herrschen“, so lange der Schrecken dauerte. Als er sich erschöpft hatte, wie er sich erschöpfen mußte, war es mit ihrer Herrschaft total zu Ende. Nach der Marx-Engelsschen Anschauung würde beim modernen Proletariat diese Gefahr nicht bestehen. Aber wer ist das moderne Proletariat?
Rechnet man alle Besitzlosen, alle, die kein Einkommen aus dem Besitz oder aus privilegirter Stellung haben, dazu, so sind das allerdings die absolute Mehrheit der Bevölkerung der vorgeschrittenen Länder. Nur daß alsdann dieses „Proletariat“ ein Gemisch von außerordentlich verschiedenartigen Elementen ist, von Schichten, die sich untereinander noch mehr unterscheiden wie das „Volk“ von 1789, die zwar, solange die jetzigen Eigenthumsverhältnisse bestehen, mehr gemeinsame oder wenigstens gleichartige als gegensätzliche Interessen haben, aber, sobald die jetzt Besitzenden und Herrschenden abgesetzt oder ihrer Position beraubt sind, sehr bald sich der Verschiedenartigkeit ihrer Bedürfnisse und Interessen bewußt werden würden.
Ich habe bei einer früheren Gelegenheit die Bemerkung gemacht, daß die moderne Lohnarbeiterschaft nicht die gleichgeartete, in Bezug auf Eigenthum, Familie &c. gleich ungebundene Masse sei, die das Kommunistische Manifest voraussieht, daß sich gerade in den vorgeschrittensten Fabrikindustrien eine ganze Hierarchie differenzirter Arbeiter finde, zwischen deren Gruppen nur ein mäßiges Solidaritätsgefühl bestehe. In dieser Bemerkung sieht H. Cunow in dem schon beregten Artikel (s. Note auf S. 85) eine Bestätigung dafür, daß ich, auch wo ich allgemein spreche, speziell englische Verhältnisse vor Auge habe. In Deutschland und den übrigen festländischen Kulturländern herrsche keine solche Abtrennung der besser gestellten Arbeiter von der revolutionären Bewegung wie in England. Im Gegensatz zu England stünden die bestbezahlten Arbeiter an der Spitze des Klassenkampfes. Der englische Kastengeist sei nicht eine Folge der heutigen sozialen Differenzirung, sondern eine Nachwirkung des früheren Zunft- und Gildenwesens und der an dessen Formen sich anlehnenden älteren Gewerkschaftsbewegung.
Wieder muß ich Cunow antworten, daß was er mir da sagt, mir in keiner Weise neu ist, und zwar weder neu, soweit es richtig, noch neu (das heißt nicht auch seinerzeit von mir geglaubt), soweit es unrichtig ist. Unrichtig z.B. ist das zum Schluß Gesagte. Die Theorie, welche die englischen Gewerkschaften mit den Zünften in Verbindung bringt, beruht auf sehr schwachem Fundament. Sie übersieht, daß die Zünfte in England, außer in London, schon mit der Reformation expropriirt wurden, und gerade in London hat es die Gewerkschaftsbewegung nie zu besonderer Kraft bringen wollen, woran freilich die dort noch immer existirenden Gilden sehr unschuldig sind. Wenn der englischen Gewerkschaftsbewegung ein gewisser zünftlerischer Zug innewohnt, so ist er weit weniger eine Erbschaft vom alten Zunftwesen, das ja in Deutschland viel länger bestand als in England, als vor Allem ein Produkt der angelsächsischen Freiheit – der Thatsache, daß der englische Arbeiter niemals, selbst nicht zur Zeit der Koalitionsverbote, unter der Fuchtel des Polizeistaats gestanden hat. In der Freiheit entwickelt sich der Sinn der Besonderheit oder, um einmal mit Stirner zu sprechen, der Eigenheit. Er schließt die Anerkennung des Andersgearteten und des Allgemeininteresses nicht aus, aber er wird leicht zur Ursache einer gewissen Eckigkeit, die selbst da als hart und engherzig erscheint, wo sie nur in der Form einseitig auftritt. Ich will den deutschen Arbeitern gewiß nicht zu nahe treten, und weiß den Idealismus, der z.B. gerade die Hamburger Arbeiter Jahrzehnte hindurch zu Leistungen für die allgemeine Sache des proletarischen Befreiungskampfes bewog, die in der Geschichte der Arbeiterbewegung ihres Gleichen nicht haben, vollauf zu würdigen. Aber soweit ich die deutsche Arbeiterbewegung kenneund zu verfolgen Gelegenheit habe, machen sich die Rückwirkungen der geschilderten gewerblichen Differenzirung auch in ihr geltend. Spezielle Umstände, wie das Ueberwiegen der politischen Bewegung, die künstliche Niederhaltung der Gewerkschaften und die Thatsache, daß überhaupt die Unterschiede in Lohnhöhe und Arbeitszeit im Allgemeinen in Deutschland geringer sind als in England, verhindern, daß sie sich besonders auffallend äußern. Wer aber die Organe der deutschen Gewerkschaftsbewegung aufmerksam verfolgt, der wird auf genug Thatsachen stoßen, die das von mir Gesagte bestätigen. Ich versage es mir, Beispiele namhaft zu machen, obwohl mir deren genug, und darunter noch solche aus meiner Thätigkeit in Deutschland her, bekannt sind. Darum nur noch Folgendes hierüber.
Die Gewerkschaften schaffen jene Erscheinung nicht, sie bringen sie nur als unvermeidliches Resultat thatsächlicher Unterschiede zum Ausdruck. Es kann gar nicht anders sein, als das wesentliche Unterschiede in Beschäftigungsweise und Einkommenshöhe schließlich auch andere Lebensführung und Lebensansprüche erzeugen. Der Feinmechaniker und der Kohlenzieher, der gelernte Stubenmaler und der Lastträger, der Bildhauer oder Modelleur und der Maschinenheizer führen in der Regel ein sehr verschiedenartiges Leben und haben sehr verschiedenartige Bedürfnisse. Wo der Kampf um ihre Lebenshaltung zu keinen Kollisionen zwischen ihnen führt, kann jedoch die Thatsache, daß sie allesammt Lohnarbeiter sind, diese Unterschiede aus der Vorstellung verwischen, und das Bewußtsein, daß sie dem Kapital gegenüber einen gleichartigen Kampf führen, eine lebhafte gegenseitige Sympathie erzeugen. An solcher Sympathie fehlt es auch in England nicht, die aristokratischsten der aristokratischen Gewerkschaftler haben sie oft genug schlechter situirten Arbeitern gegenüber bekundet, wie ja viele von ihnen in der Politik, wenn nicht Sozialisten, so doch gute Demokraten sind. [5] Aber zwischen solcher politischen oder sozialpolitischen Sympathie und ökonomischer Solidarität ist noch ein großer Unterschied, den starker politischer und ökonomischer Druck neutralisiren mag, der aber in dem Maße, als dieser Druck hinwegfällt, sich schließlich immer wieder in der einen oder anderen Weise bemerkbar machen wird. Es ist ein großer Irrthum anzunehmen, daß England hier prinzipiell eine Ausnahme macht. In anderer Form zeigt sich heute in Frankreich dieselbe Erscheinung. Aehnlich in der Schweiz, den Vereinigten Staaten, und, wie gesagt, bis zu einem gewissen Grade auch in Deutschland.
Nehmen wir aber an, daß in der industriellen Arbeiterschaft diese Differenzirung nicht bestände oder keinerlei Wirkung auf die Denkweise der betreffenden Arbeiter ausübte, so sind die industriellen Arbeiter doch überall die Minderheit der Bevölkerung. In Deutschland mit Hausindustriellen zusammen etwa sieben Millionen von neunzehn Millionen Selbstthätigen. Wir haben dann noch das technische &c. Beamtenthum, die Haudelsangestellten, die Landarbeiter. Hier ist überall die Differenzirung noch ausgeprägter, wovon nichts deutlicher Zeugniß ablegt als die Leidensgeschichte der Bewegungen zur Organisirung dieser Berufskategorien in gewerkschaftliche Interessenvereine. Ueberhaupt ist nichts irreführender als auf Grund einer gewissen formellen Aehnlichkeit der Situation auf eine wirkliche Gleichartigkeit des Verhaltens zu folgern. Der kaufmännische Beamte steht formell seinem Chef gegenüber in ähnlicher Lage wie der industrielle Lohnarbeiter seinem Arbeitsherrn, und doch wird er sich – ein Theil des unteren Personals der größeren Geschäfte ausgenommen – ihm sozial sehr viel näher fühlen als dieser dem seinen, trotzdem der Abstand des Einkommens oft sehr viel größer ist. Auf dem Lande ist wiederum auf den kleineren Gütern die Lebensweise und Arbeit von Bauer und Knecht viel zu gleichartig, auf der Masse der Mittelgüter die Arbeitsgliederung beziehungsweise Differenzirung zu groß und das Personal im Verhältniß zu klein, um einem Klassenkampf im Sinne des Kampfes der städtischen Arbeiter Spielraum zu geben. Von einem entwickelten Solidaritätsgefühl zwischen Großknecht, Tagelöhner und Kuhjunge wird da wenig zu finden sein. Bleiben höchstens die großen Güter, die aber, wie wir gesehen habrn, überall nur eine Minderheit der landwirthschaftlichen Betriebe ausmachen, und auf denen obendrein auch noch genug prinzipielle Unterschiede im Arbeitsverhältniß der verschiedenen Gruppen des Personals zum Unternehmer anzutreffen sind. Es geht ganz und gar nicht an, die 5,6 Millionen Angestellter in der Landwirthschaft, welche die deutsche Berufsstatistik nach Abzug des höheren Hilfspersonals – Oekonomen &c. – verzeichnet, in Bezug auf soziale Bestrebungen der gewerblichen Arbeiterschaft gleichzusetzen. Nur bei einem ganz verschwindenden Theil kann man ernsthafte Geneigtheit und Verständniß für deren, über bloße Verbesserung der Arbeitsbedingungen hinausgehende Bestrebungen voraussetzen, beziehungsweise erwarten. Der bei Weitem übergroßen Masse von ihnen kann die Vergesellschaftung der landwirthschaftlichen Produktion nicht viel mehr sein als ein leeres Wort. Ihr Ideal ist vorläufig noch, es zu eigenem Landbesitz zu bringen.
Indessen ist auch der Drang der industriellen Arbeiterschaft zur sozialistischen Produktion noch zum großen Theil mehr eine Sache der Annahme als der Gewißheit. Aus dem Wachsthum der sozialistischen Stimmenzahl bei öffentlichen Wahlen läßt sich wohl auch eine stetige Zunahme der Anhängerschaft der sozialistischen Bestrebungen folgern, aber Niemand wird behaupten wollen, daß alle für Sozialisten abgegebene Stimmen von Sozialisten herrühren. Und selbst wenn wir die nichtsozialistischen und nichtproletarischen Wähler, die für Sozialdemokraten stimmten, als Ausgleich für diejenigen erwachsenen sozialistischen Arbeiter nehmen, die noch nicht das Stimmrecht hatten, so stehen doch in Deutschland, wo die Sozialdemokratie stärker ist als in irgend einem anderen Lande, gegen 4,5 Millionen erwachsener Arbeiter in der Industrie, denen noch eine halbe Million erwachsener männlicher Angestellter in Handel und Verkehr hinzuzurechnen wären, erst 2,1 Millionen soziallistischer Wähler. Mehr als die Hälfte der gewerblichen Arbeiterschaft Deutschlands steht zur Zeit der Sozialdemokratie noch theils gleichgiltig und verständnißlos, theils aber sogar gegnerisch gegenüber.
Bei alledem ist die sozialistische Wahlstimme zunächst mehr der Ausdruck eines unbestimmten Verlangens, als einer bestimmten Absicht. An der positiven Arbeit für die sozialistische Emanzipation nimmt ein sehr viel geringerer Prozentsatz der Arbeiterschaft Theil. Die Gewerkschaftsbewegung in Deutschland ist in erfreulicher Aufwärtsbewegung. Aber doch zählte sie Ende 1897 erst rund 420.000 organisirte Arbeiter in Berufen, deren Arbeiterschaft sich auf 6.165.735 Köpfe beläuft. (Vergl. Korrespondenzblatt der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands vom 1. und 8. August 1898) Rechnet man zu ihnen noch die rund 80.000 Mitglieder der Hirsch’schen Gewerkvereine, so kommt immer erst in den betreffenden Berufen ein Verhältniß von 1 organisirten auf je 11 unorganisirte Arbeiter heraus. [6] Die Zahl der politisch organisirten Arbeiter Deutschlands wird, nach Abzug derjenigen, die zugleich Mitglieder von Gewerkschaften sind, mit 200.000 schwerlich zu niedrig gegriffen sein, und wenn wir die gleiche Zahl für solche Arbeiter annehmen, die nur durch außer ihrem Willen liegende Faktoren abgehalten wurden, sich irgendwie aktiv am politischen oder gewerkschaftlichen Kampfe zu betheiligen, so erhalten wir insgesammt gegen 900.000 Arbeiter, die ein größeres, lebendiges Interesse an ihrer Emanzipation durch die That bekunden. Sie stellen 40 Prozent der Wählerschaft der Sozialdemokratie dar. Von den 5½ Millionen Stimmen, die für nichtsozialistische Kandidaten abgegeben wurden, kann man aber heute gut ein Viertel bis ein Drittel auf bewußte – klassenbewußte Gegner der Sozialdemokratie rechnen, was nahezu die doppelte Kopfzahl ergiebt.
Ich bin mir der sehr relativen Beweiskraft solcher Aufstellungen wie die vorstehende durchaus bewußt, bei der ja z.B. das wichtige Moment der örtlichen Vertheilung und sozialpolitischen Bedeutung der Gruppe ganz unberücksichtigt geblieben ist. Es handelt sich aber auch nur um Gewinnung eines annähernd zulässigen Maßstabes für die Schätzung des Massenverhältnisse derjenigen Elemente, bei denen die von der Theorie angenommene Disposition für den Sozialismus mehr wie blos gelegentliche unbestimmte Kundgebungen zu zeitigen vermocht hat. Was soll man z.B. zu der nach ganz äußerlichen Merkmalen aufgestellten Tabelle der sozialen Streitkräfte sagen, die Parvus im siebenten seiner Artikel gegen mich ausspielen zu können glaubte? Als ob das große numerische Uebergewicht der Besitzlosen über die Besitzenden, das er dort aufmarschiren läßt, irgend Jemand unbekannt und überhaupt eine geschichtlich neue Thatsache wäre. Und doch haben sich sozialistische Blätter gefunden, die aus der Gegenüberstellung der vor Parvus berechneten fünfzehnmillionenköpfigen „Armee des Proletariats“ gegen eine nur 1,6 Millionen zählende „Armee des Kapitals“ (neben 3 Millionen „vom Kapital ruinirten“, aber noch nicht ins Proletariat gesunkener Kleinbauern und Handwerker und 820.000 relativ vom Kapital unabhängiger Existenzen) die Nähe der sozialen Revolution folgerten. Die wirklich asiatische Gemüthsruhe, mit der Parvus die 5,6 Millionen in der Landwirthschaft thätigen Angestellten der Berufsstatistik der „Armee des Proletariats“ einreiht, wird nur noch durch die Unerschrockenheit übertroffen, die ihn zwei Millionen „Handelsproletarier“ ermitteln läßt. [7] Selbst angenommen, da alle diese Elemente eine Revolution, welche die Sozialisten ans Ruder brächte, mit Jubel begrüßen würden, wäre damit für das Hauptproblem, das zu lösen ist, noch blutwenig erreicht.
Von einer sofortigen Uebernahme der gesammten Herstellung und Zustellung der Produkte durch den Staat kann, darüber dürfte nun wohl kein Streit bestehen, ganz und gar nicht die Rede sein. Der Staat könnte nicht einmal die Masse der Mittel- und Großbetriebe übernehmen. Aber auch die Gemeinden, als Mittelglieder, könnten wenig aushelfen. Sie könnten allenfalls diejenigen Geschäfte kommunalisiren, die am Ort für den Ort produziren oder Dienste leisten, und sie würden damit schon recht hübsch zu thun bekommen. Aber bildet man sich ein, daß diejenigen Unternehmungen, die bisher für den großen Markt arbeiteten, plötzlich so insgesammt kommunalisirt werden könnten?
Nehmen wir nur eine mittelgroße Industriestadt, sage Augsburg, Barmen, Dortmund, Hanau, Mannheim &c., so wird wohl kein Mensch so thöricht sein anzunehmen, die dortigen Komunen könnten in einer politischen Krisis oder auch zu sonstiger Zeit alle die verschiedenartigen Fabriks- und Handelsgeschäfte jener Plätze im Eigenbetrieb übernehmen und mit Erfolg leiten. Sie würden sie entweder in den Händen der bisherigen Inhaber belassen oder aber, wenn sie diese unbedingt expropriiren wollen, die Geschäfte an Arbeitergenossenschaften zu irgend welchen Pachtbedingungen übergeben müssen.
So löst sich die Frage in allen derartigen Fällen praktisch in die Frage der ökonomischen Potenz der Genossenschaften auf.
Die Frage der Leistungsfähigkeit der Genossenschaften ist in der marxistischen Literatur bisher nur sehr flüchtig behandelt worden. Sieht man von der Literatur der sechziger Jahre und einigen Aufsätzen Kautskys ab, so wird man außer sehr allgemeinen, zumeist negativen Aeußerungen wenig über das Genossenschaftswesen darin finden.
Die Gründe für diese Vernachlässigung sind nicht weit zu suchen.
Zunächst ist die marxistische Praxis vorwiegend politisch, auf die Eroberung der politischen Macht gerichtet, und legt daneben fast nur noch der gewerkschaftlichen Bewegung, als einer direkten Form des Klassenkampfes der Arbeiter, prinzipielle Bedeutung bei. Hinsichtlich der Genossenschaft aber drängte sich Marx im Anfang die Ueberzeugung auf, daß sie im Kleinen unfruchtbar sei und höchstens einen, obendrein sehr begrenzten experimentellen Werth habe. Nur mit den Mitteln der Gesammtheit lasse sich etwas anfangen. In diesem Sinne äußert sich Marx im 18. Brumaire von den Arbeiterassoziationen. [8] Später modifizirte er sein Urtheil über die Genossenschaften etwas, wofür u.A. die dem Genfer und Lausauner Kongreß der Internationale vom Generalrath vorgelegten Resolutionen über das Geuossenschaftwesen Zeugniß ablegen, sowie die wahrscheinlich von Marx herrührende, jedenfalls aber von ihm gebilligte Stelle in G. Eccarius’ Eines Arbeiters Widerlegung, wo den Genossenschaften als Vorläufern der Zukunft dieselbe Bedeutung beigelegt wird, wie sie die Zünfte in Rom und im frühen Mittelalter gehabt hätten, und ferner die schon früher (S. 73) berührte Stelle im dritten Band des Kapital, die, um dieselbe Zeit wie jene Resolutionen und die Eccariussche Schrift niedergeschrieben, die Bedeutung der Genossenschaften als Uebergangsformen zur sozialistischen Produktion hervorhebt. Der Brief über den Gothaer Programmentwurf aber (1875) lautet dann wieder sehr viel skeptischer hinsichtlich der Genossenschaften, und diese Skepsis beherrscht auch von der Mitte der siebziger Jahre ab die ganze marxistische sozialistische Literatur.
Theilweise kann dies als Wirkung der Reaktion gelten, die nach der Pariser Kommune einsetzte und der ganzen Arbeiterbewegung einen anderen, fast ausschließlich auf die Politik zugespitzten Charakter gab. Dann aber auch als Produkt der trüben Erfahrungen, die man allerwärts mit den Genossenschaften gemacht hatte. Die hochfliegenden Erwartungen, zu denen der Aufschwung der englischen Genossenschaftsbewegung Anlaß gegeben, waren nicht in Erfüllung gegangen. Für alle Sozialisten der sechziger Jahre war die Produktivgenossenschaft die eigentliche Genossenschaft gewesen, der Konsumverein wurde bestenfalls mit in den Kauf genommen. Aber es überwog die Meinung, der auch Engels in seinen Aufsätzen über die Wohnungsfrage Ausdruck giebt, daß Verallgemeinerung der Konsumvereine unbedingt Lohnreduktionen zur Folge haben würde (Wohnungsfrage, Neuauflage, S. 34/35). Die von Marx verfaßte Resolution des Genfer Kongresses sagte:
„Wir empfehlen den Arbeitern, sich viel mehr auf Kooperativproduktion als auf Kooperativläden einzulassen. Die letzteren berühren nur die Oberfläche des heutigen ökonomischen Wesens, die ersteren greifen es in seinen Grundfesten an ... Um zu verhindern, daß die Kooperativgesellschaften in gewöhnliche bürgerliche Kommanditgesellschaften entarten, sollten alle von ihnen beschäftigten Arbeiter, ob Aktionäre oder nicht, gleichen Antheil erhalten. Als ein bloß zeitweiliges Mittel sei zugestanden, daß die Aktionäre einen mäßigen Zins erhalten.“
Aber gerade die in den sechziger Jahren gegründeten Produktivgenossenschaften hatten fast überall fehlgeschlagen, sie hatten sich entweder ganz auflösen müssen oder waren zu kleinen Kompagniegeschäften zusammengeschmolzen, die, wenn sie nicht ganz in derselben Weise wie andere Geschäfte Arbeiter gegen Lohn beschäftigten, schwächlich dahinvegetirten. Die Konsumvereine aber waren oder erschienen wirklich zu bloßen Kramläden „verspießert“. Kein Wunder, daß man in sozialistischen Kreisen immer mehr der Genossenschaftsbewegung den Rücken kehrte. In Deutschland, wo ohnehin der Gegensatz zwischen Lassalle und Schulze-Delitzsch noch die Gemüther erfüllte, war die Reaktion am stärksten. Die starke Hinneigung zum ontrirten Staatssozialismus, die sich Mitte der siebziger Jahre bei einem großen Theile der deutschen Sozialdemokratie (keineswegs nur der Lassalleaner) verfolgen läßt, und die manchmal seltsam mit dem politischen Radikalismus der Partei kontrastirte, war in hohem Grade den trüben Erfahrungen geschuldet, die man mit den Genossellschaften gemacht hatte. Bankerotte selbsthilflerischer Genossenschaften wurden jetzt nur noch mit Triumph zur Kenntniß genommen. Im Gothaer Programm, und zwar schon im Entwurf, ward der Forderung der Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe eine impossibilistische Form gegeben. Die Kritik, die Marx im Briefe über das Programm an dem betreffenden Paragraphen übte, traf in dieser Hinsicht mehr die Ausdrucksweise als den Gedankengang, der ihm zu Grunde lag. Marx wußte nicht, daß gerade der „Berliner Marat“ – Hasselman – den er hauptsächlich für den Paragraphen verantwortlich machte, durch und durch Blanquist war. Auch Hasselmann würde, gerade wie Marx, die Arbeiter des von Buchez protegirten Atelier als Reaktionäre bezeichnet haben.
Für den Umstand, daß es bei Marx an einer tiefergreifenden Kritik der Genossenschaft fehlt, sind zwei Umstände verantwortlich. Erstens waren, als er schrieb, nicht hinreichend Erfahrungen mit den verschiedenen Formen der Genossenschaften gemacht, daß sich auf Grund dieser ein Urtheil hätte formuliren lassen. Lediglich die, einer noch früheren Periode angehörenden Austauschbazars hatten sich als völlig verfehlt erwiesen. Zweitens aber stand Marx den Genossenschaften überhaupt nicht mit derjenigen theoretischen Unbefangenheit gegenüber, die seinem theoretischen Scharfblick erlaubt hätte, weiter zu blicken als der Durchschnittssozialist, der sich mit solchen Merkmalen wie Arbeiter- und Kleinmeistergenossenschaften begnügte. Hier stand seiner großen Kraft der Analyse die schon ausgebildete Doktrin oder, wenn ich mich so ausdrücken darf, die Formel der Expropriation im Wege. Die Genossenschaft war ihm nur in derjenigen Form sympathisch, wo sie den direktesten Gegensatz gegen das kapitalistische Unternehmen darstellte. Daher die Empfehlung an die Arbeiter, sich auf Produktivgenossenschaften zu verlegen, weil diese das bestehende ökonomische Systen „in seinen Grundfesten angreifen“. Das ist ganz im Sinne der Dialektik und entspricht formell durchaus der Gesellschaftstheorie, die von der Produktion als dem in letzter Instanz bestimmenden Faktor der Gesellschaftsform ausgeht. Es entspricht anscheinend auch der Auffassung, die in dem Gegensatz zwischen der schon vergesellschafteten Arbeit und der privaten Aneignung den fundamentalen, zur Lösung drängenden Widerspruch in der modernen Produktionsweise erblickt. Die Produktivgenossenschaft erscheint als praktische Lösung dieses Gegensatzes im Rahmen des Einzelunternehmen. In diesem Sinne meinte Marx von ihr, das heißt derjenige Genossenschaft, wo die „Arbeiter als Assoziation ihr eigener Kapitalist sind“ (Band III, S. 427), daß wenn sie auch alle Mängel des heutigen System nothwendiger Weise reproduzire, doch der Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit in ihr „positiv“ aufgehoben sei und da sie so den Beweis von der Ueberflüssigkeit des kapitalistischen Unternehmer erbracht habe. Jedoch hat seitdem die Erfahrung gelehrt, daß gerade die derart konstituirte industrielle Produktivgenossenschaft nicht im Stande war und ist, diesen Beweis zu liefern, daß sie die allerunglücklichste Form genossenschaftlicher Arbeit ist, und daß Proudhon sachlich durchaus im Rechte war, wenn er mit Bezug auf sie Louis Blanc gegenüber behauptete, die Assoziation sei „keine ökonomische Kraft“. [9]
Die sozialdemokratische Kritik suchte bisher die Gründe des ökonomischen Mißlingens der reine Produktivgenossenschaften lediglich in deren Mangel an Kapital, Kredit und Absatz und erklärte das Verkommen der nicht ökonomisch gescheiterten Genossenschaften aus dem korrumpirenden Einfluß der sie umgebenden kapitalistischen beziehungsweise individualistischen Welt. All das ist auch, soweit es geht, zutreffend. Aber es erschöpft die Frage nicht. Von einer ganzen Reihe von finanziell gescheiterten Produktivgenossenschaften steht es fest, daß sie genügend Betriebsmittel hatten und keine größeren Absatzschwierigkeiten wie der Durchschnittsunternehmer. Wäre die Produktivassoziation der geschilderten Art wirklich eine der kapitalistischen Unternehmung überlegene oder auch nur ebenbürtig ökonomische Kraft, dann hätte sie sich mindestens in demselben Verhältniß halten und aufschwingen müssen wie die vielen, mit den bescheidensten Mitteln begonnenen Privatunternehmungen, und hätte sie dem moralische Einfluß der umgebenden kapitalistischen Welt nicht so kläglich erliegen dürfe, wie sie es immer und immer wieder gethan. Die Geschichte der nicht finanziell gescheiterten Produktivgenossenschaften spricht fast noch lauter gegen diese Form der „republikanischen Fabrik“ wie die der verkrachten. Denn sie besagt, daß für die Ersteren die Fortentwicklung überall Exklusivität und Privilegium heißt. Weit entfert, die Grundfesten des heutigen ökonomischen Wesens anzugreifen, haben sie vielmehr nur Beweise für seine relative Stärke geliefert.
Umgekehrt hat der Konsumverein, auf den die Sozialisten der sechziger Jahre so geringschätzig blickten, im Laufe der Zeit sich wirklich als eine ökonomische Potenz erwiesen, als ein leistungs- und in hohem Grade entwicklungsfähiger Organismus. Gegenüber den kümmerlichen Zahlen, welche die Statistik der reinen Produktivgenossenschaften aufzeigt, nehmen sich die Zahlen der Arbeiterkonsumgenossenschaften wie der Haushalt eines Weltreichs im Verhältniß zu dem eines Landstädtchens aus. Und die von Konsumgenossenschaften errichteten und für Rechnung solcher geleiteten Werkstätten produziren schon jetzt mehr als das Hundertfache der Gütermenge, welche von reinen oder annähernd reinen Produktivgenossenschaften hergestellt wird. [10]
Die tieferen Gründe für das ökonomische wie moralische Scheitern der reinen Produktivgenossenschaften sind von Frau Beatrice Webb in der noch unter ihrem Mädchennamen – Potter – veröffentlichten Arbeit über das britische Genossenschaftswesen trefflich dargelegt worden, wenn sich auch vielleicht hier und da einige Uebertreibungen einstellen. Für Frau Webb ist, wie für die große Mehrheit der englischen Genossenschafter, die von den beschäftigten Arbeitern selbst geeignete Genossenschaft nicht sozialistisch oder demokratisch, sondern „individualistisch“. Man kann an dem Gebrauch des Wortes Anstoß nehmen, der Gedankengang aber ist ganz richtig. Diese Genossenschaft ist in der That nicht sozialistisch, wie das übrigens auch Rodbertus schon dargelegt hat. Sie ist gerade da, wo die Arbeiter die ausschließlichen Eigenthümer sind, in ihrer Verfassung ein lebendiger Widerspruch in sich selbst. Sie unterstellt Gleichheit in der Werkstatt, volle Demokratie, Republik. Sobald sie aber eine gewisse Größe erlangt hat, die verhältnißmäßig noch sehr bescheiden sein kann, versagt die Gleichheit, weil Differenzirung der Funktionen und damit Unterordnung nothwendig wird. Wird die Gleichheit aufgegeben, dann wird der Eckstein des Gebäudes entfernt und die anderen Steine folgen mit der Zeit nach, Zersetzung und Umformung in gewöhnliche Geschäftsbetriebe tritt ein. Wird aber an ihr festgehalten, dann wird die Möglichkeit der Ausdehnung abgeschnitten, es bleibt bei der Zwergform. Das ist die Alternative aller reinen Produktivgenossenschaften, in diesem Konflikt sind sie alle entweder zerschellt oder verkümmert. Weit entfernt, eine der modernen Großproduktion entsprechende Form der Beseitigung des Kapitalisten aus dem Betrieb zu sein, sind sie vielmehr eine Rückkehr zu vorkapitalistischer Produktion. Das ist so sehr der Fall, daß die wenigen Fälle, wo sie relativen Erfolg hatten, auf handwerksmäßige Betriebe entfallen, die Mehrzahl davon nicht auf England, wo der Geist der Großindustrie bei den Arbeitern dominirt, sondern auf das stark „kleinbürgerliche“ Frankreich. Völkerpsychologen lieben es, England als das Land hinzustellen, wo das Volk die Gleichheit in der Freiheit, Frankreich als dasjenige, wo es die Freiheit in der Gleichheit sucht. Die Geschichte der französischen Produktivgenossenschaften weist in der That viele Blätter auf, wo der Erhaltung der formalen Gleichheit in rührender Hingabe die größten Opfer gebracht wurden. Aber sie weist keine einzige reine Produktivgenossenschaft der modernen Großindustrie auf, obwohl die Letztere in Frankreich immerhin verbreitet genug ist.
Das Verdienst, die Untersuchung der Frau Potter-Webb wesentlich erweitert und vertieft zu haben, hat sich Dr. Franz Oppenheimer in seinem Buch Die Siedlungsgenossenschaft (Leipzig, Duncker & Humblot) erworben. Er liefert dort in den ersten Kapiteln in sehr übersichtlicher Zusammenstellung eine Analyse der verschiedenen Formen der Genossenschaft, die in einzelnen Partien an kritischer Schärfe kaum übertroffen werden kann. Oppenheimer führt in die Klassifikation der Genossenschaften die prinzipielle Unterscheidung zwischen Käufer- und Verkäufergenossenschaften ein, deren Tragweite er in einzelnen Punkten unseres Erachtens etwas überschätzt, die aber im Ganzen als sehr fruchtbar bezeichnet werden kann, und auf Grund deren erst eine wahrhaft wissenschaftliche Erklärung des finanziellen wie des moralischen Scheiterns der reinen Produktivgenosscnschaften möglich wird, – eine Erklärung, bei der persönliches Verschulden, Mangel an Kapital &c. nun erst vollständig in die zweite Linie rücken, als Zufälligkeiten, die den einzelnen Fall, aber nicht die Regel erklären. Nur in dem Maße, als die Genossenschaft wesentlich Käufergenossenschaft ist, mache ihr allgemeiner Zweck und eigenes Interesse gleichmäßig ihre Ausdehnung wünschbar. Je mehr aber eine Genossenschaft Verkäufergenossenschaft ist, und je mehr sie Verkäufergenossenschaft selbstgefertigter Industrieprodukte ist (bei der bäuerlichen Genossenschaft modifizire sich die Sache), um so größer werde bei ihr der innere Widerstreit. Mit ihrem Wachsthum wachsen ihre Schwierigkeiten. Das Risiko wird größer, der Kampf um den Absatz immer schwieriger, die Kreditbeschaffung desgleiche, und ebenso der Kampf um die Profitrate, beziehungsweise den Antheil der Einzelnen an der allgemeinen Profitmasse. Sie wird daher immer wieder zur Ausschließlichkeit genöthig. Ihr Interesse ans Profit ist nicht nur dem der Käufer, sondern auch dem aller übrigen Verkäufer entgegengesetzt. Die Käufergenossenschaft dagegen gewinnt prinzipiell mit dem Wachsthum, ihr Interesse hinsichtlich des Profits ist, weil dem der Verkäufer entgegengesetzt, so mit dem aller übrigen Käufer übereinstimmen: sie strebt nach Herabdrückung der Profitrate, nach Verbilligung der Produkte, ein allen Käufern als solchen, wie der Gesellschaft überhaupt gleiches Bestreben.
Aus dieser Verschiedenheit der ökonomischen Natur beider Arten von Genossenschaftenerwächst der von Frau Potter-Web klargelegte Unterschied in ihrer Verwaltung: der wesentlich demokratische Charakter aller echten Käufergenossenschaften und der zur Oligarchie strebende Charakter aller reinen Verkäufergenossenschaften. Es muß hierbei bemerkt werden, daß der Konsumverein, der nur an eine beschränkte Anzahl von Aktionären Dividende vertheilt, von Oppenheimer mit folgerichtiger Unterscheidung den Verkäufergenossenschaften zugewiesen wird. Nur der Konsumverein, der allen Käufern nach gleichem Verhältniß Antheil am Gewinn zuerkennt, ist eine echte Käufergenossenschaft. [11]
Die Unterscheidung der Genossenschaften in solche von Käufer und Verkäufer; ist für die Theorie des Genossenschaftswesen gerade im Hinblick au ihren Zusammenhang mit der sozialistischen Lehre von Werth. Wer sich an den Ausdrücken „ Kauf“ und „Verkauf“, als zu speziell auf die kapitalistische Waarenproduktion zugeschnitten, stößt, kann dafür die Begriffe Beschaffung und Veräußerung setzen, er wird dann nur um so klarer erkennen, wie viel größere Bedeutung das Erstere für die Gesellschaft hat, wie das Letztere. Die Beschaffung von Gütern ist das fundamentale, allgemeine Interesse. Mit Bezug auf sie sind alle ihre Mitglieder im Prinzip Genossen. Alle konsumiren, aber nicht alle produziren. Selbst die beste Produktivgenossenschaft wird, so lange sie nur Verkaufs- oder Veräußerungsgenossenschaft ist, immer in einem latenten Gegensatz zur Gesammtheit stehen, ein Sonderinteresse ihr gegenüber haben. Mit einer Produktivgenossenschaft, die irgend einen Zweig der Produktion oder des öffentlichen Dienstes auf eigene Rechnung betreibt, würde die Gesellschaft die gleichen Differenzpunkte haben wie mit einer kapitalistischen Unternehmung, und es kommt ganz auf die Umstände an, ob die Verständigung mit ihr eine leichtere wäre.
Um aber auf den Ausgangspunkt zurückzukommen, der uns zu dieser Abschweifung auf das Gebiet der Theorie der Genossenschaften geführt hat, so hat sich soviel gezeigt, daß die Voraussetzung, die moderne Fabrik erzeuge durch sich selbst eine größere Disposition für die genossenschaftliche Arbeit, als ganz irrig zu betrachten ist. Man greife, welche Geschichte des Genossenschaftswesens man will, heraus, und man wird überall finden, daß sich die selbstregierende genossenschaftliche Fabrik als unlösbares Problem herausgestellt hat, daß sie, wenn alles Uebrige passabel ging, am Mangel an Disziplin scheiterte. Es ist wie mit der Republik und dem modernen zentralisirten Staatswesen. Je größer der Staat, um so schwieriger das Problem republikanischer Verwaltung. Und ebenso ist die Republik in der Werkstatt ein um so schwierigeres Problem, je größer und reicher gegliedert diese, bezw. das Uuternehmen ist. Für außergewöhnliche Zwecke mag es angehen, daß Menschen ihre unmittelbaren Leiter selbst ernennen und das Recht der Absetzung haben. Aber für die Aufgaben, welche die Leitung eines Fabrikunternehmens mit sich bringt, wo Tag für Tag und Stunde für Stunde prosaische Bestimmungen zu treffen sind und immer Gelegenheit zu Reibereien gegeben ist, da geht es einfach nicht, daß der Leiter der Angestellte der Geleiteten, in seiner Stellung von ihrer Gunst und ihrer üblen Laune abhängig sein soll. Noch immer hat sich das auf die Dauer als unhaltbar erwiesen und zur Veränderung der Formen der genossenschaftlichen Fabrik geführt. Kurz, wenn die technologische Entwicklung der Fabrik auch die Körper für die kollektivistische Produktion geliefert hat, so hat sie die Seelen keineswegs in gleichem Maße dem genossenschaftlichen Betrieb näher geführt. Der Drang zur Uebernahme der Unternehmungen in genossenschaftlichen Betrieb mit entsprechender Verantwortung und Risiko steht im umgekehrten Verhältniß zu ihrer Größe. Die Schwierigkeiten aber wachsen mit ihr in steigender Proportion.
Man stelle sich die Sache nur einmal konkret vor und nehme irgend ein großes modernes Industrieunternehmen, eine große Maschinenbauanstalt, ein Elektrizitätswerk, eine große chemische Fabrik oder ein modernes kombinirtes Verlagsinstitut. Alle diese und ähnliche großindustriellen Unternehmen können wohl ganz gut für Genossenschaften, denen auch die Angestellten allesammt angehören mögen, betrieben werden, aber für den genossenschaftlichen Betrieb der Angestellten selbst sind sie absolut ungeeignet. Die Reibungen zwischen den verschiedenen Abtheilungen und den so verschieden gearteten Kategorien von Angestellten würden kein Ende nehmen. Dann würde sich aufs Klarste zeigen, was Cunow bestreitet, daß das Solidaritätsgefühl zwischen den verschiedenen, nach Bildungsgrad, Lebensweise &c. unterschiedenen Berufsgruppen nur ein sehr mäßiges ist. Was man gewöhnlich unter genossenschaftlicher Arbeit versteht, ist nur mißverständliche Uebertragung der sehr einfachen Formen gemeinschaftlicher Arbeit, wie sie von Gruppen (Rotten, Arteli &c.) indifferenzirter Arbeiter ausgeübt wird und im Grunde auch immer nur Gruppenakkordarbeit ist. [12]
Nur eine ganz nach äußerlichen Merkmalen urtheilende Betrachtungsweise kann daher annehmen, daß mit der Entfernung des oder der kapitalistischen Eigenthümer schon das Wichtigste für die Umwandlung der kapitalistischen Unternehmungen in lebensfähige sozialistische Gebilde geschehen sei. So einfach ist die Sache nun wirklich nicht. Diese Unternehmungen sind sehr zusammengesetzte Organismen, und die Entfernung des Zentrums, in dem alle anderen Organe zusammenlaufen, bedeutet für solche, wenn sie nicht von völliger Umgestaltung der Organisation begleitet ist, die alsbaldige Auflösung.
Was die Gesellschaft nicht selbst in die Hand nehmen kann, sei es durch den Staat oder die Gemeinden, das wird sie gerade in bewegten Zeiten sehr gut thun, qua Unternehmung vorerst hübsch sich selbst zu überlassen. Das anscheinend radikalere Vorgehen würde sich sehr bald als das zweckwidrigste herausstellen. Lebensfähige Genossenschaften lassen sich nicht aus der Erde stampfen bezw. per Kommando errichten, sie müssen heranwachsen. Wo aber der Boden für sie geebnet ist, wachsen sie auch heran.
Die britischen Genossenschaften haben heute schon die hundert Millionen Thaler und mehr (vergl. die Zahlen auf S. 98) als Vermögen im Besitz, die Lassalle als Staatskredit für die Durchführung seines Assoziationsplans als genügend erachtete. Im Verhältniß zum britischen Nationalvermögen ist das immer noch ein kleiner Bruchtheil, vielleicht, wenn man das im Ausland angelegte Kapital und doppelberechnetes Kapital abzieht, erst der vierhundertste Theil des Nationalkapitals. Aber es erschöpft bei Weitem nicht die Kapitalmacht der britischen Arbeiter. Und dann ist es in stetem Wachsthum. In den zehn Jahren von 1887 bis 1897 hat es sich nahezu verdoppelt, es ist stärker gewachsen wie die Mitgliederzahl. Diese stieg von 851.211 auf 1.468.955, das Vermögen von 11,5 Millionen auf 20,4 Millionen Pfund Sterling. Noch rascher nimmt neuerdings die Produktion der Genossenschaften zu. Ihr Werth belief sich im Jahre 1894 erst auf insgesammt 99 Millionen Mark und 1897 schon auf fast das Doppelte, nämlich 187 Millionen Mark. Davon kamen nahezu zwei Drittel auf Eigenproduktion von Einkaufsgenossenschaften, während sich das dritte Drittel auf allerhand Genossenschaften vertheilte, von denen ein großer Bruchtheil nur modifizirte Einkaufsgenossenschaften oder Produzenten für solche waren bezw. sind. Die Eigenproduktion der Konsum- bezw. Einkaufsgenossenschaften hat sich in den drei Jahren mehr als verdoppelt, sie stieg von 52 auf 122 Millionen im Werthe.
Das sind so erstaunliche Zahlen, daß wenn man sie liest, man sich unwillkürlich fragt, wo sind die Grenzen dieses Wachsthums? Enthusiasten des Genossenschaftswesens haben ausgerechnet, daß wenn die britischen Genossenschaften ihre Profite akkumulirten, statt sie auszuzahlen, sie nach Verlauf von etwa zwanzig Jahren in der Lage wären, den gesammten Grund und Boden des Landes mit allen Häusern und Fabriken anzukaufen. Das ist natürlich eine Rechnung nach der Art der wundervollen Zinseszinsrechnung mit dem berühmten, im Jahre Eins angelegten Pfennig. Sie vergißt, daß es so etwas wie Grundrente giebt und unterstellt eine Progression des Wachsthums, die eine physische Unmöglichkeit ist. Sie übersieht, daß die allerärmsten Klassen der Konsumgenossenschaft fast unzugäliglich sind oder doch nur sehr allmälig für sie gewonnen werden können. Sie übersieht, daß auf dem Lande für den Konsumverein nur ein sehr bedingtes Wirkungsgebiet gegeben ist, daß er die Kosten des Zwischenhandels zwar verringern, aber nicht aufheben kann, so daß den Privatunternehmern immer wieder Möglichkeiten erwachsen, sich den veränderten Bedingungen anzupassen und eine Verlangsamung seines Wachsthums von einem gewissen Zeitpunkt ab eine fast mathematische Nothwendigkeit wird. Sie vergißt aber vor allen Dingen oder läßt außer Betracht, daß ohne Auszahlung der Dividenden der Konsumverein überhaupt stagniren würde, daß für weite Klassen der Bevölkerung gerade die Dividende, dieser von den Doktrinären des Genossenschaftswesens verwünschte Sündenapfel, den Hauptreiz des Konsumvereins bildet. Wenn es sehr übertrieben ist, was heute vielfach behauptet wird, nämlich daß die Dividende des Konsumvereins kein Maßstab der größeren Billigkeit seiner Waaren ist, daß der Einzelhandel die meisten Waaren im Durchschnitt ebenso billig liefert, wie der Konsumverein, und die Dividende so nur die Summirung von kleinen, unbemerkten Aufschlägen auf bestimmte Artikel darstellt, so ist es doch nicht ganz und gar unbegründet. Der Arbeiterkonsumverein ist ebenso sehr eine Art Sparbank, wie er ein Mittel der Bekämpfung der Ausbeutung ist, den der parasitische Zwischenhandel für die arbeitenden Klassen bedeutet. [13] Da aber bei vielen Leuten der Spartrieb durchaus nicht intensiv ist, nehmen sie lieber die Bequemlichkeiten des Einkaufs beim nächsten Krämer wahr, als daß sie wegen der Dividende sich irgend welchen Umständlichkeiten aussetzten. Es ist dies beiläufig einer der Faktoren, die gerade in England die Ausbreitung der Kollsumvereine sehr erschwert haben und noch erschweren. Der englische Arbeiter ist durchaus nicht sonderlich zum Sparen geneigt. Ueberhaupt wäre es ganz und gar irrig, wenn man sagen wollte, daß England von Hause aus ein besonders günstiger Boden für die Konsumvereine wäre. Ganz im Gegentheil. Die Gewohnheiten der Arbeiterklasse, die große räumliche Ausdehnung der Städte, die das Cottagesystem mit sich bringt, wiegen den Vortheil der besseren Löhne in dieser Hinsicht ganz und gar auf; was hier erreicht wurde, ist in erster Reihe die Frucht zäher, unerschrockener Organisationsarbeit.
Und es ist ein Werk, was der Mühe werth war und ist. Selbst wenn der Konsumverein weiter nichts thäte, als durch Senkung der Profitrate im Zwischenhandel sich selbst allmälig den Boden abzugraben, würde er eine für die Volkswirthschaft überaus nützliche Arbeit verrichten. Und daß er daraufhin wirkt, kann keinem Zweifel unterstehen. Hier ist eine Handhabe, mittels deren die Arbeiterklasse ohne unmittelbare Vernichtung von Existenzen, ohne Zufluchtnahme zur Gewalt, die ja, wie wir gesehen haben, keine gar so einfache Sache ist, einen erheblichen Theil des gesellschaftlichen Reichthums, der sonst dazu dienen würde, die Klasse der Besitzenden zu vermehren und dadurch auch zu stärken, für sich zu beschlagnahmen.
Um was für Beträge es sich dabei handelt, zeigt die Statistik der Genossenschaften. Auf ein Gesammtkapital von 367 Millionen Mark und einen Gesammtverkauf von 803 Millionen Mark erzielten die 1.483 Arbeiterkonsumverein Englands 1897 einen Gesammtprofit von 123 Millionen Mark. [14] Das macht eine Profitrate auf die verkauften Waaren von 15¼ Prozent und auf das angewandte Kapital von 33½ Prozent. Aehnlich die Bäckereigenossenschaften, die ja im Wesentlichen auch nur Konsumgenossenschaften sind. [15] Sie erzielten auf ein Kapital von 5 Millionen Mark und einen Verkauf von 8½ Millioneu 51/5 Million Mark Profit, eine Profitrate von 14 Prozent auf den Verkauf und 24 Prozent auf das angewandte Kapital. Die Müllereigenossenschaften, von denen das Nämliche wie von den Bäckereien gilt, erzielten im Durchschnitt 14 Prozent Kapitalprofit.
Viel bescheidener ist die Durchschnittsprofitrate der Produktionsgenossenschaften, die keine Nahrungsmittel produzirten. Hier erzielten 120 Genossenschaften mit züsammen 14½ Millionen Kapital und 24 Millionen Verkauf 770,000 Mark Gewinn, das heißt 3¼ Prozent Verkaufs- und 5 Prozent Kapitalprofit.
Würden diese Zahlen für das Verhältniß der Profitraten in Industrie und Einzelverkauf als typisch gelten können, so würden sie den Satz, daß der Arbeiter als Produzent und nicht als Konsument ausgebeutet wird, als von sehr bedingter Geltung erscheinen lassen. Und thatsächlich spricht er auch nur eine bedingte Wahrheit aus. Dies geht schon daraus hervor, daß die Werththeorie, auf die er sich stützt, von dem Detailhandel ganz abstrahirt. Sie unterstellt ferner unbeschränkt Freiheit des Handels in der Waare „Arbeitskraft“, so daß jede Verbilligung in deren Herstellungskosten (das heißt der Lebensmittel des Arbeiters &c.) auch zu einer Senkung ihres Preises – des Lohnes – führe, was heute für einen großen Theil der Arbeiter durch Gewerkschaftsschutz, gesetzlichen Arbeiterschutz, Macht der öffentlichen Meinung schon eilte erhebliche Einschränkung erfahren hat. Und drittens unterstellt sie, daß der Arbeiter an diejenigen Mitesser am Mehrprodukt, mit denen der Unteruehuler theilen muß, vor Allem die Grundeigenthümer, nicht heran kann, was auch schon langsam anfängt, von den Thatsachen überholt zu werden. So lange z.B. die Arbeiter dem Unternehmerthum unorganisirt und als Parias der Gesetzgebung gegenüberstehen, ist es richtig, daß solche Fragen, wie Besteuerung der Grundwerthe, mehr ein Streithaudel der Besitzenden unter sich, als Angelegenheiten sind, an denen die Arbeiter ein Interesse haben. [16] Je mehr aber diese Voraussetzung fällt, um so mehr steigt die Gewißheit, daß Senkung der Bodenrente nicht zu Erhöhung des Kapitalprofits, sondern des Wohlstandsminimum führt. Umgekehrt würde ungehemmter Fortbestand und Fortentwicklung der Bodenrente auf die Dauer die meisten Vortheile illusorisch machen, welche Gewerkschaften, Genossenschaften &c. mit Bezug auf die Erhöhung der Lebenshaltung der Arbeiter auswirken können.
Dies nebenbei. Wir können als festgestellt betrachten, daß die Konsumgenossenschaft sich schon jetzt als eine ökonomische Kraft von Bedeutung erwiesen hat, und wenn andere Länder hierin noch hinter England zurück sind, so hat sie in Deutschland, Frankreich, Belgien &c. doch ebenfalls kräftig Boden gefaßt und greift immer weiter um sich. Ich unterlasse es, Zahlen anzuführen, weil die Thatsache bekannt ist und Ziffern auf die Dauer ermüden. Natürlich können gesetzliche Chikane die Ausbreitung der Konsumgenossenschaften und die volle Entfaltung ihrer inneren Möglichkeiten hemme und ist ihr Gedeihen selbst wieder von einem gewissen Höhegrad ökonomischer Entwicklung abhängig; aber hier handelt es sich uns vor Allem darum, aufzuzeigen, was die Genossenschaft überhaupt leisten kann. Und wenn es weder nöthig noch möglich ist, daß die Genossenschaft, wie wir sie heute kennen, jemals die ganze Produktion und Zustellung der Güter ergreife wird, wenn das sich immer mehr ausbreitende Gebiet der öffentlichen Dienste in Staat und Gemeinde ihr von der anderen Seite her Grenzen zieht, so ist ihr doch im Ganzen noch ein so weites Feld offen, da man, ohne in die vorerwähnte Genossenschaftsutopie zu verfallen, zu sehr großen Erwartungen bezüglich ihrer berechtigt ist. Hat sich in wenig über fünfzig Jahren aus der Bewegung, die mit den 28 Pfund Sterling der Weber von Rochdale begann, eine Bewegung entwickelt, die über ein Kapital von zwanzig Millionen Pfund Sterling verfügt, so gehörte wirklich ein gewisser Muth dazu, voraussagen zu wollen, wie nahe wir dem Zeitpunkt sind, wo die Grenze dieses Wachsthums erreicht ist, und welche Formen der Bewegung noch in der Zeiten Hintergrunde schlummern.
Vielen Sozialisten ist der Konsumverein deshalb wenig sympathisch, weil er zu „bürgerlich“ ist. Da sind Beamte im Gehalt, Arbeiter gegen Lohn angestellt, da wird Profit gemacht, werden Zinsen gezahlt und wird um die Höhe der Dividenden gestritten. Gewiß, hält man sich an die Form, so ist z.B. die Volksschule ein sehr viel sozialistischeres Institut wie der Konsumverein. Aber die Ausbildung der öffentlichen Dienste hat ihre Grenzen und braucht Zeit, und inzwischen ist der Konsumverein die der Arbeiterklasse am leichtesten zugängliche Form der Genossenschaft, gerade deshalb, weil sie so „bürgerlich“ ist. Wie es Utopie ist zu wähnen, die Gesellschaft könne mit zwei Füßen in eine ihrer heutigen diametral entgegengesetzte Organisation und Daseinsweise hineinspringen, so ist oder war es utopisch, mit der schwersten Form der genossenschaftlichen Organisation den Anfang machen zu wollen.
Ich erinnere mich noch, mit welchem Gefühl theoretischen Mitleids ich 1881 meinen Freund Louis Bertrand von Brüssel anhörte, als er auf dem Kongreß von Chur anhub, von Genossenschaften zu sprechen. Wie konnte ein sonst so vernünftiger Mensch von diesem Mittel noch etwas erwarten. Als ich dann 1883 den „Center Vooruit“ kennen lernte, leuchtete mir die Bäckerei allenfalls ein, und daß man nebenbei noch etwas Wäsche, Schuhwerk &c. verkaufte, schadete am Ende nichts. Wie mir aber die Leiter des „Vooruit“ von ihren weiteren Plänen sprachen, dachte ich wieder: ihr armen Kerle, ihr werdet euch ruiniren. Sie haben sich nicht ruinirt, sondern haben ruhig, mit klarem Blick auf der Linie des geringsten Widerstands gearbeitet und eine, den Verhältnissen ihres Landes angemessenen Form der Genossenschaft ausgearbeitet, die sich für die Arbeiterbewegung Belgiens von größtem Werth erwiesen und den soliden Kern geliefert hat, um den sich die bis dahin dissoluten Elemente dieser Bewegung krystallisiren konnten.
Es kommt eben alles darauf an, wie man eine Sache angreift, wenn sich ihre Möglichkeiten voll herausstellen sollen.
Kurz die genossenschaftliche Produktion wird verwirklicht werden, wenn auch wahrscheinlich in anderen Formen, als es sich die ersten Theoretiker des Genossenschaftswesens gedacht haben. Vorläufig ist sie noch immer die schwierigste Form der Verwirklichung des Genossenschaftsgedankens. Es ward schon erwähnt, daß die englischen Genossenschaften über mehr als die Hundertmillionen Thaler verfügen, die Lassalle für seinen Genossenschaftsplan forderte. Und wäre die Sache blos eine Finanzfrage, so würden ihnen noch ganz andere Geldmittel wie jetzt zur Verfügung stehen. Die freien Hilfskassen, die Gewerkschaften wissen nicht mehr, wo ihre angesammelten Fonds unterzubringen. (Letztere verlangen jetzt von der Regierung, sie solle ihnen erlauben, ihre Fonds bei den Sparkassen anzulegen, wo sie mehr Zins erhalten als die Regierung den Kapitalisten zahlt.) Aber sie ist eben nicht oder nicht nur eine Frage der finauziellen Mittel. Sie ist auch nicht die Frage der Errichtung neuer Fabriken auf einem schon besetzten Markt. An Gelegenheit, bestehende und gut eingerichtete Fabriken preiswerth zu kaufen, fehlt es nicht. Sie ist im hohen Grade eine Frage der Organisation und Leitung, und daran fehlt es noch sehr.
„Ist es in erster Reihe Kapital, was wir benöthigen“, lesen wir soeben in einem Artikel der Cooperative News, dem Zeutralblatt der britischen Genossenschaften, – und der Artikelschreiber beantwortet die Frage mit einem entschiedenen Nein. – „Wie es scheint, haben wir gegenwärtig einige zehn Millionen Pfund Sterling zur Verfügung, die blos darauf warten, genossenschaftlich verwendet zu werden, und weitere zehn Millionen könnten ohne Zweifel schnell aufgebracht werden, wenn wir völlig in der Lage wären, sie nutzbringend in unserer Bewegung anzuwenden. Verhehlen wir uns daher nicht die Thatsache – denn es ist Thatsache, – daß selbst in gegenwärtiger Stunde in der genossenschaftlichen Welt größerer Bedarf an mehr Intelligenz und Tüchtigkeit ist wie an mehr Geld. Wie viele unter uns würden nichts kaufen, was nicht unter rein genossenschaftlichen Bedingungen verfertigt und vertrieben worden, wenn es möglich wäre, diesem Ideal nachzuleben! Wie viele von uns haben nicht immer wieder versucht, von Genossenschaftlern angefertigte Waaren zu brauchen, ohne völlig befriedigt zu werden!“ (Cooperative News vom 3. Dezember 1898)
Mit anderen Worten, die finanziellen Mittel allein lösen das Problem der genossenschaftlichen Arbeit noch nicht. Sie braucht, von anderen Voraussetzungen abgesehen, ihre eigenen Organisationen und ihre eigenen Leiter, und beides improvisirt sich nicht. Beide müssen ausgesucht und erprobt werden, und darum ist es mehr wie zweifelhaft, ob ein Zeitpunkt, wo alle Gemüther erhitzt, alle Leidenschaften gespannt sind, wie in einer Revolution, der Lösung dieses Problems, das sich schon in gewöhnlichen Zeiten für so schwer erweist, irgendwie förderlich sein kann. Nach menschlichen Ermessen muß gerade das Gegentheil der Fall sein.
Selbst die mit genügeuden Mitteln eingerichteten und über hilfreichende Absatzmöglichkeiten verfügenden Produktionswerkstätten der englischen Großeinkaufsgenossenschaft brauchen, wie die Berichte und Debatten ihrer Generalversammlungen zeigen, oft recht lange Zeit, bis ihre Produkte die Konkurrenz mit denen der Privatindustrie aufnehmen können.
Indeß zeigten uns auch die wachsenden Zahlen der Eigenproduktion, daß das Problem gelöst werden kann. Selbst verschiedene Produktionsgenossenschaften haben es in ihrer Weise zu lösen verstanden. Die niedrige Profitrate, die wir oben von ihuen mittheilten, gilt nicht für alle. Passiren wir jedoch die Reihe durch, so finden wir, daß mit ganz wenigen Ausnahmen diejenigen Produktionsgenossenschaften am besten fuhren, die, von Gewerkschaften oder Konsumvereinen finanzirt, nicht vornehmlich für den Profit der Angestellten, sondern für den einer größeren Allgemeinheit produzirten, der die Angestellten als Mitglieder angehörten oder angehören konnten, wenn sie es wollten – also immerhin eine Form, die dem sozialistischen Gedanken näher kommt. Hierfür einige Zahlen, die dem 1897er Bericht des Verbandes der Arbeiter-Theilhabergenossenschaften entnommen sind. Sie gelten für das Geschäftsjahr 1896:
Titel der |
Zahl der |
|
Zahl der |
Antheilskapital |
Leihkapital |
|
Gewinn |
||
Masse |
|
Rate |
|||||||
Fustian (Moleskin) Weberei, Hebden Bridge |
797 |
294 |
528.340 |
129.420 |
96.580 |
14,7 % |
|||
Kaminvorlegerfabrik, Dudley |
71 |
70 |
40.800 |
31.360 |
23.100 |
32 % |
|||
Schuhfabrik, Kettering |
651 |
(210?) |
97.800 |
75.720 |
40.020 |
23 % |
|||
Konfektionsschneiderei, Kettering |
487 |
(50?) |
79.160 |
35.660 |
28.240 |
24,6 % |
|||
Schuhfabrik, Leicester |
1.070 |
‒ |
197.580 |
286.680 |
49.680 |
10¼ % |
|||
Schlosserei, Walsall |
87 |
190 |
52,280 |
48,260 |
22,080 |
9,24 % |
|||
Trikotwaarenfabrik, Leicester |
660 |
(250?) |
360,160 |
246,540 |
56040 |
22 % |
Alle diese Fabriken zahlen selbstverständlich Gewerkschaftslöhne und halten den Normalarbeitstag inne. Die Schuhfabrik in Kettering hat den Achtstundentag. Sie ist immer noch 50 Aufschwung 4nd baut jetzt wieder einen neuen Flügel zu ihrem, den modernsten Ansprüchen entsprechenden Fabrikgebä4de. Bei der Zahl der Theilhaber ist zu bemerken, daß fast überall sich eine große Anzahl juristischer Personen (Konsumvereine, Gewerkvereine &c.) unter ihnen befindet. So vertheilt sich die Mitgliedschaft der Fustian Weberei in Hebden Bridge auf: 297 Arbeiter, die das Personal der Fabrik ausmachen, mit 147,960 Mark, 200 außenstehende Einzelpersonen mit 140.640 Mark und 300 Vereine mit 208.300 Mark Kapitalantheil. Das Leihkapital besteht zumeist aus Guthaben, das die Mitglieder stehen lassen und das mit fünf Prozent verzinst wird. Die Vertheilung der Gewinne geschieht nach ziemlich verschiedenen Prinzipien. In einigen Fabriken wird auf das Aktienkapital eine etwas höhere Profitrate bezahlt als auf die Lohnsumme, die Schuhfabrik in Kettering zahlte aber für das erste Halbjahr 1896 den Aktionären nur 7½ Prozent, den Arbeitern aber 40 Prozent (auf den Lohn) Divideude. Dieselbe Rate erhielten die Kunden pro gekaufte Waare (so daß also die Gesellschaft sich der Käufergenossenschaft nähert). [17]
Eine ähnliche Vertheilung besteht in einer der kleineren Genossenschaftsschuhfabriken in Leicester. Die meisten Produktionsgenossenschaften finden einen großen Theil ihres Absatzes, wenn nicht fast den ganzen Absatz in der Genossenschaftswelt.
Ueber andere Formen des Genossenschaftswesen (Vorschuß- und Kreditverein, Rohstoff- und Magazingenossenschaften, Molkereigenossenschaften &c.) habe ich mich hier nicht zu verbreiten, da sie für die lohnarbeitende Klasse von keiner Bedeutung sind. Indeß bei der Wichtigkeit, welche die Frage der Kleinbauern, die ja auch zur Arbeiterklasse gehören, wenn sie auch keine Lohnempfänger sind, für die Sozialdemokratie hat, und angesichts der Thatsache, da Handwerk und Kleingewerbe wenigstens der Kopfzahl nach noch eine ganz beträchtliche Rolle spielen, muß doch auf dem Aufschwung hingewiesen werden, den das Genossenschaftswesen in diesen Kreisen erlangt hat. Die Vortheile des gemeinschaftlichen Einkaufs von Sämereien, der gemeinschaftlichen Beschaffung von Maschinen &c. und der gemeinschaftlichen Veräußerung der Produkte, sowie die Möglichkeit billigen Kredits können schon ruinirte Bauern nicht retten, sie sind aber für Tausende und Abertausende von Kleinbauern ein Mittel, sie vor dem Ruin zu schützen. Daran kann gar kein Zweifel sein. Für die Zähigkeit und Ergiebigkeit der kleinbäuerlichen Wirthschaft, die noch nicht zwergbäuerlich zu sein braucht, liegt heute ein ungemein reiches Material vor, ganz abgesehen von den Zahlen, welche die Statistik der Betriebe uns vorführt. Es würde vorschnell sein, zu sagen, wie es einige Schriftsteller thun, daß für die Landwirthschaft mit Bezug auf die Vortheile des großen und kleinen Betriebs genau das umgekehrte Gesetz gilt, wie für die Industrie. Aber es ist nicht zu viel gesagt, daß die Verschiedenheit ganz außerordentlich ist, und daß die Vortheile, welche der kapitalkräftige, wohleingerichtete Großbetrieb vor dem Kleinbetrieb voraus hat, nicht so bedeutend sind, daß sie der Kleinbetrieb nicht bei voller Ausnützung des Genossenschaftswesens zum großen Theil einholen könnte. Die Benützung mechanischer Kräfte, Kreditbeschaffung, bessere Sicherung des Absatzes – all das kann die Genossenschaft dem Bauer zugängig machen, während die Natur seiner Wirthschaft ihn gelegentliche Ausfälle leichter überwinden läßt als dies dem Großlandwirth möglich ist. Denn die große Masse der Bauern sind noch immer nicht lediglich Waarenproduzenten, sondern erzeugen einen beträchtlichen Theil ihrer nothwendigsten Lebensmittel selbst.
In allen Ländern vorgeschrittener Kultur nimmt das Genossenschaftswesen rasch an Ausdehnung und Spielraum zu. Belgien, Dänemark, Frankreich, Holland, neuerdings auch Irland zeigen hierin kein anderes Bild als ein großer Theil Deutschlands. Es ist wichtig für die Sozialdemokratie, statt aus der Statistik Beweise für die vorgefaßte Theorie vom Ruin des kleinen Bauernstandes herauszufischen, diese Frage der Genossenschaftsbewegung auf dem Laude und ihre Tragweite eindringlich zu prüfen. Die Statistik der Zwangsverkäufe, der Hypothekenbelastung &c. ist in vieler Hinsicht irreleitend. Unzweifelhaft ist das Eigenthum heute beweglicher als je, aber diese Beweglichkeit wirkt nicht blos nach der einen Seite hin. Bis jetzt sind die Lücken, welche die Subhastationen gerissen, noch immer wieder ausgefüllt worden.
Mit diesen allgemeinen Bemerkungen mag es hier genügen. Ein spezielles Agrarprogramm habe ich nicht zu entwickeln. Es ist aber meine feste Ueberzeugung, daß ein solches viel mehr auf die Erfahrungen Bezug zu nehmen hat, welche hinsichtlich der ländlichen Genossenschaften vorliegen, als es bisher geschehen, und daß es sich dabei weniger darum handeln wird, auszuführen, daß sie dem kleinen Bauer auf die Dauer nicht helfen können, als nachzuweisen, in welcher Weise sie ergänzt und erweitert werden müssen. Wo die kleine Bauernwirthschaft vorherrscht, ist die gewerkschaftliche oder sonstige Organisation der Landarbeiter aus allen möglichen Gründen eine Chimäre. Nur durch Erweiterung der Genossenschaftsform kann dort deren Erhebung aus dem Lohnverhältnisse herbeigeführt werden.
Höchst bemerkenswerth sind die Thatsachen, welche Dr. O. Wiedfeldt, Dresden, in Nr. 13 des Jahrgangs VIII der Sozialen Praxis über die Thätigkeit und Erfolge der landwirthschaftlichen Syndikate in Frankreich mittheilt. Darnach bestehen zur Zeit in Frankreich ungefähr 1.700 in zehn Verbänden gruppirte landwirthschaftliche (bäuerliche) Syndikate, die zusammen mehr als 700.000 Mitglieder zählen. „Diese Fachvereine haben sich zunächst als Einkaufsvereinigungen für landwirthschaftliche Futter- und Düngemittel bethätigt, und ihre Zentralstellen (Cooperatives agricoles) haben bereits einen gewissen Einfluß auf den Handel in diesen Artikeln erlangt. Sie haben sich ferner gemeinschaftlich Dreschmaschinen, Mähmaschinen u.s.w. beschafft oder Drainagen, Bewässerungsanlagen u.s.w. ausgeführt. Sie haben Zuchtgenossenschaften, Molkereien, Käsereien [18], Bäckereien, Müllereien, Konservenfabriken u.s.w. errichtet und den Absatz ihrer landwirthschaftlichen Produkte in einzelnen Zweigen mit Erfolg selbst in die Hand genommen.“ Sie haben sich in Verfolg dieses Zieles nicht damit begnügt, mit den auch in Frankreich sich ausbreitenden Konsumgenossenschaften in Verbindung zu treten, sondern sie haben selbst solche gegründet. „So in La Rochelle, Lyon, Dijon, Avignon, Toruelle &c. Hierher gehört auch die Errichtung von Genossenschaften wie Schlächtereien, Müllereien, Bäckereien, die halb landwirthschaftliche Produktivgenossenschaften und halb Konsumvereine sind.“ In den Departement Charente Inférieure allein giebt es 130 solcher Bäckereigenossenschaften. Weiter sind von den Syndikaten auch Konservenfabriken, Wurst-, Stärke-, Nudelfabriken gegründet worden, „so da also in gewissem Sinne eine Lokalisation der Industrie, soweit sie mit der Landwirthschaft verbunden ist, angestrebt wird“. Die Mehrheit der Syndikate nehmen die Arbeiter als Mitglieder auf; das Syndikat von Castelnaudardy zählt unter 1.000 Mitgliedern 600 Arbeiter. Ferner verlegen sich die Syndikate auf die Errichtung von allerhand Gegenseitigkeitsinstituten: Versicherungen, Schiedsgerichte, Volkssekretariate, Landwirthschaftsschulen, Unterhaltungsvereine.
Soweit der Bericht der Sozialen Praxis.
Es erhebt sich hinsichtlich seiner zunächst die Frage, welches die faktischen Rechte der Arbeiter in jenen Genossenschaften waren. Er spricht nur kurzweg von Gewinnbetheiligung der Beamten und Arbeiter, was aber noch sehr viele Deutungen zuläßt. Jedenfalls hat die Aufnahme der Arbeiter in die Genossenschaften vorläufig nichts daran geändert, da diese als landwirthschaftliche Vereinigungen wesentlich Unternehmer-Syndikate sind. Dies geht schon daraus hervor, daß, so viel genossenschaftliche Veranstaltungen sie auch getroffen haben, sich Eines doch bei ihnen der Genossenschaftlichkeit bisher entzogen hat: die Landwirthschaft selbst, d.h. die Bewirthschaftung von Acker und Wiese und die eigentliche Viehwirthschaft. Mit der Landwirthschaft verbundene, an sie sich anschließende Arbeiten werden genossenschaftlich oder wenigsten für Genossenschaften betrieben, sie selbst aber entzieht sich hier und anderwärts noch der genossenschaftlichen Arbeit. [19] Ist diese für sie weniger vortheilhaft wie der Sonderbetrieb? Oder ist es lediglich das bäuerliche Eigenthum, das hier im Wege steht?
Daß der bäuerliche Besitz, die Vertheilung des Bodens unter viele Besitzer, ein großes Hinderniß der genossenschaftlichen Bearbeitung des Bodens bildet, ist schon oft betont worden. Aber er bildet nicht das einzige Hinderniß, oder, um es anders auszudrücken: er erhöht ihre dinglichen Schwierigekeiten, aber er ist nicht durchgängig Ursache derselben. Die räumlich Trennung der Arbeitenden, sowie der individualistische Charakter eines großen Theils der landwirthschaftliche Verrichtungen spielt gleichfalls hier eine Rolle. Möglich, da die bäuerlichen Syndikate, die ja noch so jung sind, in ihrer weitere Entwicklung auch über diese Hindernisse hinwegkommen oder – was mir am wahrscheinlichste dünkt – über ihre jetzigen Schranke Schritt für Schritt hinausgedrängt werden. Vorläufig aber ist darauf noch nicht zu rechnen.
Selbst die landwirthschaftliche Produktion für Genossenschaften ist zur Zeit noch ein ungelöstes Problem. Die englischen Konsumgenossenschaften haben mit keinen Unternehmungen schlechtere Geschäfte gemacht als mit ihren Farmen. Der dritte Jahresbericht des britischen Arbeitsamts (1896) stellt für 106 Produktionsgenossenschaften einen Dnrchschnittsprofit von 8,4 Prozent fest. Die sechs Genossenschaftsfarmen und Meiereien darunter hatten nur 2,8 Prozent Durchschnittsprofit. Nirgends gewinnen die Bauern dem Boden größere Erträge ab wie in Schottland. Die Ertragsziffern für Weizen, Hafer &c. pro Acker sind in Schottland noch viel höher wie in England. Aber die mit guten Maschinen ausgerüstete, ein Kapital von einer Viertelmillion Mark repräseutirende Farm der schottischen Genossenschaften hat sich als ein großer Fehlschlag erwiesen. Für 1894 machte sie 6/10 Prozent Gewinn, für 1895 81/10 Prozent Verlust. Wie aber steht es bei der eigentlichen Landarbeiter-Genossenschaft? Bietet die Produttivgenossenschaft der Landarbeiter bessere Ansichten als die Produktivgenossenschaft der Industriearbeiter?
Die Frage ist um so schwerer zu beantworten, als es für sie an hinreichenden Beispielen aus der Praxis fehlt. Das klassische Beispiel einer solchen Genossenschaft, die berühmte Assoziation von Ralahine, hat zu kurze Zeit bestanden (1831 bis 1833) und stand während ihrer Dauer zu sehr unter dem Einfluß ihres Gründers Vandeleur und seines Vertreters Craig, als daß sie als vollgiltiger Beweis für die Lebensfähigkeit selbständiger Genossenschaften von Landarbeitern dienen könnte. [20] Sie beweist nur die großen Vortheile der Gemeinwirthschaft unter bestimmten Umständen und Voraussetzungen.
Aehnlich die Erfahrungen der kommunistischen Kolonien. Diese letzteren gedeihen in faktischer oder moralischer Einsiedelei oft längere Zeit unter den denkbar ungünstigsten Umständen. Sobald sie aber zu einem größeren Wohle stand gelangen und mit der Außenwelt in intimeren Verkehr treten, verfallen sie schnell. Nur ein starkes religiöses Band oder sonstiges, eine trennende Wand zwischen ihnen und der umgebenden Welt aufrichtendes Sektirerthum hält diese Kolonien auch dann noch zusammen, wenn sie zu Reichthum gelangt sind. Daß es dessen aber bedarf, daß die Menschen in irgend einer Art versimpeln müssen, um sich in solchen Kolonien wohlzufühlen, beweist, daß sie nie die allgemeine Form genossenschaftlicher Arbeit werden können. Sie stehen für den Sozialismus auf einer Stufe mit der reinen industriellen Produktivgenossenschaft. Aber sie haben glänzende Beweise für die Vortheile der Gemeinwirthschaft geliefert.
Auf Grund all dieser Thatsachen und der Erfahrungen, die intelligente Grundbesitzer mit Theilpachter, Gewinnbetheiligung von Landarbeitern &c. gemacht haben, hat Dr. F. Oppenheimer in dem schon zitirten Buche den Gedanken einer ländlichen Genossenschaft entwickelt, die er Siedlungsgenossenschaft nennt. Sie soll eine Genossenschaft von Landarbeitern sein, bezw. als solche beginnen und Individualwirthschaft mit Gemeinwirthschaft bezw. Kleinbetrieb mit genossenschaftlichem Großbetrieb kombiniren, ähnlich wie dies heute auf großen Gütern der Fall ist, wo den Landarbeitern kleine Außenparzellen gegen mehr oder minder hohe Pacht abgelassen werden, die sie oft in wahrhaft mustergiltiger Weise bewirthen. Eine entsprechende Theilung stellt sich Oppenheimer in der Siedlungsgenosseuschaft vor, nur daß natürlich hier nicht die Absicht maßgebend ist, den Preis der Arbeitskräfte für die Zentralwirthschaft herabzusetzen, um die sich jene Kleinbetriebe gruppiren, sondern lediglich jeden einzelnen Mitglied Gelegenheit gegeben werden soll, auf einem ausreichenden Stück Boden alle moralischen Annehmlichkeiten einer eigenen Wirthschaft zu genießen und seine, auf der Zentralwirthschaft der Genossenschaft nicht benöthigte Arbeitskraft in jenen Kulturen zu bethätigen, die ihm entweder die höchsten Erträge versprechen oder sonst seiner Individualität am meisten zusagen. Im Uebrigen aber soll sich die Genossenschaft alle Vortheile des modernen Großbetriebs zu Nutze machen, und sollen für die geschäftlichen &c. Bedürfnisse der Mitglieder alle möglichen genossenschaftlichen oder Gegenseitigkeitseinrichtungen geschaffen werden. Durch Verarbeitung gewonnener Produkte und Zulassung von Handwerkern in die Genossenschaft soll ihr immer mehr der Charakter einer Landwirthschaft und Industrie vereinigenden Ansiedlung gegeben werden, wie sie Owen bei seinen Heimkolonien und anderen Sozialisten bei ihren kommunistischen Projekten vorschwebten. Nur daß Oppenheimer streng auf dem Boden des Prinzips freier Genossenschaftlichkeit zu bleiben sucht. Das wirthschaftliche Interesse allein soll zum Anschluß an die Siedlungsgenossenschaft augesprochen werden, dieses allein sie vor der Ausschließlichkeit der industriellen Produktivgenossenschaft schützen. Im Gegensatz zu jener ist sie nicht lediglich Verkäufergenossenschaft, sondern Käufer- und Verkäufergenossenschaft, und dieser Umstand bildet die Grundlage ihrer Kreditbeschaffung und schütz sie vor jenen Erschütterungen, denen heute der kapitalistische Großbetrieb in der Landwirthschaft ausgesetzt ist.
Es ist hier nicht der Ort, den Oppenheimerschen Vorschlag und die ihm zu Grunde liegende Theorie eingehender zu besprechen. Soviel glaube ich aber bemerken zu müssen, daß sie mir nicht jene geringschätzige Beurtheilung zu verdienen scheinen, die ihnen in einigen Parteiblättern zu Theil geworden ist. Ob sich die Sache genau in der von Oppenheimer entwickelten Form machen läßt oder machen wird, kann man bezweifeln. Aber die Grundgedanken, die er entwickelt, stützen sich so sehr auf die wissenschaftliche Analyse der Wirthschaftsformen, stimmen so sehr mit allen Erfahrungen der Genossenschaftspraxis überein, daß man wohl sagen kann, wenn der genossenschaftliche Betrieb der eigentlichen Landwirthschaft überhaupt je einmal verwirklicht werden wird, es schwerlich ins wesentlich anderer Form geschehen dürfte, als wie Oppenheimer dies entwickelt. [21]
Die große Expropriation, an die bei Kritik solcher Vorschläge meist gedacht wird, kann jedenfalls nicht über Nacht organische Schöpfungen aus dem Boden stampfen, und so käme selbst die großmächtigste revolutionäre Regierung nicht darum herum, sich nach einer Theorie der genossenschaftlichen Arbeit in der Landwirthschaft umzuschauen. Zu einer solchen hat nun Oppenheimer ein überaus reiches Material zusammengetragen und es einer scharfen, durchaus dem Grundgedanken des historischen Materialismus gerecht werdenden systematischen Analyse unterworfen, die schon allein die „Siedlungsgenossenschaft“ des Studiums werth erscheinen läßt.
Mit Bezug auf das Thema der ländlichen Genossenschaften ist hier noch Eines zu bemerken. Soweit der Sozialist politischer Parteimann ist, wird er die heutige Abwanderung vom Land in die Städte nur mit Genugthuung begrüßen. Sie konzentrirt die arbeitenden Massen, rebellirt die Köpfe und fördert jedenfalls die politische Emanzipation. Als Theoretiker, der über den Tag hinausdenkt, wird der Sozialist sich aber auch sagen müssen, daß es mit dieser Abwanderung auf die Dauer etwas des Guten zu viel werden kann. Es ist bekanntlich unendlich viel leichter, Landvolk in die Stadt zu ziehen, als Stadtvolk an das Land und die Landarbeit zu gewöhnen. So vermehrt der Strom der Einwanderung in die Städte und Industriezentren nicht nur die Probleme der heute Regierenden. Nehmen wir z.B. den Fall eines Sieges der Arbeiterdemokratie an, der die sozialistische Partei ans Ruder brächte. Nach aller bisherigen Erfahrung würde seine unmittelbare Wirkung voraussichtlich die sein, den Strom in die großen Städte vorerst noch bedeutend zu steigern, und ob sich die „industriellen Armeen für den Ackerbau“ alsdann williger aufs Land schicken lassen würden wie 1848 in Frankreich, ist einigermaßen zweifelhaft. Aber davon abgesehen, wird die Schöpfung lebens- und leistungsfähiger Genossenschaften unter allen Umständen eine um so schwerere Aufgabe sein, je weiter die Entvölkerung des platten Landes bereits vorgeschritten ist. Der Vortheil des Vorhandenseins von Vorbildern von solchen wäre selbst um den Preis eines etwas langsameren Anschwellens der Städteungeheuer nicht zu theuer erkauft. [22]
Für die Industriearbeiter aber bietet die Genossenschaft die Möglichkeit, einerseits der Ausbeutung durch den Handel entgegen zu wirken und andererseits Mittel aufzubringen, die in verschiedener Beziehung ihnen sonst das Befreiungswerk erleichtern. Welchen Rückhalt die Arbeiter an Konsumvereinen, bedrängten Zeiten, bei Aussperrungen &c., haben können, ist jetzt allgemein bekannt. Zu dem klassischen Beispiel der Unterstützung der ausgesperrten Bergarbeiter, der Spinner, der Maschinenbauer durch die großen englischen Konsumgenossenschaften, sei hier noch bemerkt, daß auch die Produktionsgenossenschaften den Arbeitern in ihrem Kampfe um die Lebensstellung von großem Dienst sein können. In Leicester und Kettering halten die genossenschaftlichen Schuhfabriken die Standardrate der Löhne des ganzen Bezirks auf ihrer Höhe. Dasselbe thut in Wallsall die Genossenschaftsschlosserei, eine Aussperrung ist dort unmöglich. Die Genossenschaftsspinnerei und -Weberei „Self Help“ in Burnley ließ während der Aussperrung von 1892 bis 1893 unausgesetzt arbeiten und trug im Verein mit den Konsumgenossenschaften so dazu bei, die Unternehmer zur Nachgiebigkeit zu zwingen. Kurz, wie es im Trade Unionist vom 2. November 1898 heißt: „Wo immer im Lande diese (Produktions-) Genossenschaften bestehen, werden die Menschen daran gewöhnt, die Fabrikation nicht nur auf den Profit hin zu betreiben, sondern auch in solcher Weise, daß der Arbeiter seine Männlichkeit nicht an der Fabrikthür abzulegen hat, sondern sich mit demjenigen Gefühl der Freiheit und jener Höflichkeit bewegt, wie sie der Bürgersinn in einem freien, auf gleichem Recht begründeten Gemeinwesen erzeugt.“ [23]
Lebensfähig haben sich die Produktionsgenossenschaften bisher aber nur da erwiesen, wo sie in Konsumvereinen einen Rückhalt hatten oder sich selbst in ihrer Organisation dieser Form näherten. Dies giebt einen Fingerzeig, in welcher Richtung wir die am meisten Erfolg versprechende Weiterausbildung der Arbeitergenossenschaft für die nächste Zukunft zu suchen haben.
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„Am 24. Februar 1848 brach die erste Morgenröthe einer neuen Geschichtsperiode an.“ „Wer allgemeines Wahlrecht sagt, stößt einen Ruf der Versöhnung aus.“ Ferd. Lassalle, Arbeiterprogramm |
Was die Konsumgenossenschaften für die Profitrate im Waarenhandel, sind die Gewerkschaften für die Profitrate in der Produktion. Der Kampf der gewerkschaftlich organisirten Arbeiter für die Hebung ihrer Lebenshaltung ist nach der Seite der Kapitalisten hin ein Kampf von Lohnrate gegen Profitrate. Es ist allerdings eine viel zu weit getriebene Verallgemeinerung, zu sagen, daß die Veränderungen von Lohnhöhe und Arbeitszeit gar keinen Einfluß auf die Preise hätten. Die Arbeitsmenge, die auf die Einheit einer bestimmten Waarenart zu verwenden ist, bleibt natürlich unverändert, solange die Produktionstechnik dieselbe bleibt, gleichviel ob der Lohn steigt oder fällt. Aber die Arbeitsmenge ist für den Markt ein leerer Begriff ohne die Grundlage eines Preises der Arbeit, denn es handelt sich da nicht um den abstrakten Werth der Gesammtproduktion, sondern um den verhältnißmäßigen Werth der verschiedenen Waarenarten gegeneinander, und für ihn ist die Lohnhöhe kein gleichgiltiger Faktor. Steigt der Lohn der Arbeiter bestimmter Industrien, so steigt auch im entsprechenden Verhältniß der Werth der betreffenden Produkte gegenüber dem Werth der Produkte aller Industrien, die keine solche Lohnerhöhung erfahren, und wenn es nicht gelingt, diese Steigerung durch Vervollkommnung der Technik auszugleichen, wird die betreffende Schicht der Unternehmer entweder den Preis des Produkts entsprechend erhöhen müssen oder eine Einbuße au der Profitrate erleiden. In dieser Hinsicht sind nun die verschiedenen Industrien sehr verschieden gestellt. Es giebt Industrien, die wegen der Natur des Produkts oder durch ihre monopolistische Organisation vom Weltmarkt ziemlich unabhängig sind, und dort wird eine Lohnerhöhung auch meist von einer Steigerung der Preise begleitet sein, so daß die Profitrate nicht nur nicht zu fallen braucht, sondern selbst mitsteigen kann.“ [24] In Weltmarktindustrien dagegen, wie überhaupt in allen Industrien, wo unter verschiedenen Verhältnissen hergestellte Produkte miteinander konkurriren und nur die größere Billigkeit den M|arkt behauptet, wirken Lohnsteigerungeu fast immer auf die Senkung der Profitrate hin. Dasselbe Resultat tritt ein, wenn der Versuch, eine durch den Kampf um den Absatz nöthig gewordene Herabsetzung der Preise durch proportionelle Ermäßigung der Löhne auszugleichen, am Widerstand der organisirten Arbeiter scheitert. Der Ausgleich durch Vervollkommnung der Technik bedeutet in der Regel größere relative Kapitalauslage für Maschinen und sonstige Arbeitsmittel, und dies heißt entsprechender Fall der Profitrate. Schließlich kann es sich auch beim Lohnkampf der Arbeiter faktisch nur um Verhinderung des Steigens der Profitrate auf Kosten der Lohnrate handeln, wie wenig dies den Kämpfenden im gegebenen Augenblick auch zum Bewußtsein kommen mag.
Daß der Kampf um die Arbeitszeit neben Anderem in ähnlicher Weise ein Kampf um die Profitrate ist, braucht hier nicht noch speziell nachgewiesen zu werden. Wenn der kürzere Arbeitstag nicht direkt Verminderung der für den bisherigen Lohn geleisteten Arbeitsmenge zur Folge hat – in vielen Fällen tritt bekanntlich das Umgekehrte ein – so führt er doch mittelbar zur Erhöhung der Lebensansprüche der Arbeiter und macht so Erhöhung der Löhne nothwendig.
Eine Lohnerhöhung, die zur Erhöhung der Preise führt, braucht unter bestimmten Umständen für die Gesammtheit kein Nachtheil zu sein, wird aber auch oft mehr schädlich als nützlich wirken. Für das Gemeinwesen macht es z.B. keinen besonderen Unterschied, ob eine Industrie lediglich zum Vortheil einer Handvoll Unternehmer Monopolpreise erzwingt, oder ob die Arbeiter dieser Industrie einen gewissen Antheil an solcher, der Gesammtheit abgepreßten Beute erhalten: der Monopolpreis bleibt darum doch ebenso bekämpfenswerth wie Billigkeit der Produkte, die nur durch Senkung der Löhne unter den Durchschnittsmindestsatz erzielt werden konnte. [25] Aber eine Lohnerhöhung,
die bloß die Profitrate berührt, wird unter heutigen Verhältnissen im Allgemeinen für das Gemeinwesen nur vortheilhaft sein. Ich sage ausdrücklich im Allgemeinen, weil es auch hier Fälle giebt, wo das Gegentheil der Fall sein kann. Wird in einem bestimmten Geschäftszweig die Profitrate weit unter den allgemeinen Mindestsatz gedrückt, so kann dies für das betreffende Land den Verlust dieser Industrie und deren Heimfall au Länder bedeuten, wo die Löhne sehr viel niedriger, die Arbeitsbedingungen sehr viel schlechter sind. Unter dem Gesichtspunkt der Weltwirthschaft könnte man das als belanglos betrachten, weil auf die Dauer in irgend einer Weise Ausgleichung stattfinde; indeß für die Betheiligten ist das immer nur ein schwacher Trost, zunächst und manchmal auf recht lange Zeit bedeutet solche Expatriirung für sie wie für die Allgemeinheit vielmehr positiven Verlust.
Zum Glück sind jedoch so extreme Fälle äußerst selten. Gewöhnlich wissen die Arbeiter ganz gut, wie weit sie mit ihren Forderungen gehen können. Auch verträgt die Profitrate einen ziemlich starken Druck. Ehe der Kapitalist sein Uuternehmen aufgiebt, wird er lieber alles Mögliche versuchen, die Mehrausgabe für Löhne auf andere Weise einzubringen. Die großen faktischen Unterschiede der Profitraten der verschiedenen Produktionssphären zeigen, daß die allgemeine Durchschnittsprofitrate schneller theoretisch konstruirt als auch nur annähernd verwirklicht wird. Sind doch die Beispiele nicht selten, wo sogar neues Kapital, das verwerthungsbedürftig den Markt betritt, Anlage nicht da sucht, wo die höchste Profitrate winkt, sondern, ähnlich wie der Mensch bei der Berufswahl, sich durch Rücksichten bestimmen läßt, bei denen die Höhe des Profits in zweite Linie rückt. So wirkt selbst dieser mächtigste Faktor der Ausgleichung der Profitraten nur unregelmäßig. Daß bereits angelegte Kapital aber, das doch jedesmal bei Weitem überwiegt, kann schon aus ganz materiellen Gründen nicht der Bewegung der Profitrate von einer Produktionssphäre in die andere folgen. Kurz, die Wirkung einer Erhöhung des Preises der menschlichen Arbeit hat in der übergroßen Mehrheit der Fälle theils technische Vervollkommnung und bessere Organisation der Industrie, theils gleichmäßigere Vertheilung des Arbeitsertrags zu Folge. Beides gleich vortheilhaft für den allgemeinen Wohlstand. Mit gewissen Einschränkungen kann man für kapitalistische Länder Destutt de Tracys bekanntes Wort dahin abändern, daß niedrige Profitraten hohe Wohlstand der Volksmasse anzeigen.
Ihrer sozialpolitischen Stellung nach sind die Gewerkschaften oder Gewerkvereine das demokratische Element in der Industrie. Ihre Tendenz ist, den Absolutismus des Kapitals zu brechen und dem Arbeiter direkten Einfluß auf die Leitung der Industrie zu verschaffen. Es ist nur naturgemäß, daß über den zu erstrebenden Grad dieses Einflusses große Meinungsverschiedenheiten obwalten. Einer bestimmten Denkart mag es schon ein Verstoß am Ptinzip erscheinen, für die Gewerkschaft weniger als das unbedingte Bestimmungsrecht im Gewerbe zu reklamiren. Die Erkenntniß, daß solches Recht unter den gegebenen Umständen ebenso utopisch ist, wie es in einer sozialistischen Gesellschaft sinnwidrig wäre, hat Andere dazu geführt, den Gewerkschaften jede dauernde Rolle im Wirthschaftsleben abzusprechen und sie nur als das kleinere von verschiedenen unvermeidlichen Uebel zeitweilig anzuerkennen. Es giebt Sozialisten, in deren Augen die Gewerkschaft nur ein Demonstrationsobjekt ist, die Nutzlosigkeit jeder anderen als der politisch-revolutionären Aktion praktisch nachzuweisen. Thatsächlich hat die Gewerkschaft heute und in der absehbaren Zukunft sehr wichtige gewerbepolitische Aufgaben zu erfüllen, die jedoch ihre Omnipotenz in keiner Weise erheischen, noch auch nur vertragen.
Das Verdienst, die Gewerkschaften zuerst als unerläßliche Organe der Demokratie und nicht blos als vorübergehende Koalitionen begriffen zu haben, gebührt einer Anzahl englischer Schriftsteller. Beiläufig kein Wunder, wenn man berücksichtigt, daß sie in England früher als irgendwo anders Bedeutung erlangt haben und England im letzten Drittel unseres Jahrhunderts eine Umwandlung aus einem oligarchisch regierten in ein fast demokratisches Staatswesen durchgemacht hat. Die neueste und gründlichste Arbeit in dieser Hinsicht, das Werk Theorie und Praxis der britischen Gewerkvereine von Sydney und Beatrice Webb, ist von den Verfassern mit Recht als eine Abhandlung über die Demokratie im Gewerbe bezeichnet worden. Vor ihnen hatte der verstorbene Thorold Rogers in seinen Vorlesungen über ökonomische Geschichtserklärung (die übrigens nur wenig mit der materialistischen Geschichtsauffassung gemein haben, sondern sich nur in einzelnen Punkten mit ihr berühren) die Gewerkschaft eine Arbeits-Theilhaberschaft – „labour partnership“ – genannt, was prinzipiell auf dasselbe hinausläuft, aber zugleich die Grenze bezeichnet, bis zu der die Gewerkschaftsfunktion in der Demokratie ausgedehnt werden kann und über die hinaus sie in einem demokratischen Gemeinwesen keinen Plaß hat. Gleichviel ob der Staat, die Gemeinde oder Kapitalisten Unternehmer sind, die Gewerkschaft als Organisation aller in bestimmten Gewerben beschäftigten Personen kann immer nur so lange gleichzeitig das Interesse jener Mitglieder wahren und das Allgemeinwohl fördern, als sie sich begnügt, Theilhaberin zu bleiben. Darüber hinaus würde sie immer Gefahr laufen, zur geschlossenen Korporation auszuarten, mit allen schlimmen Eigenschaften des Monopols. Es ist hier wie mit der Genossenschaft. Die Gewerkschaft als Herrin eines ganzen Gewerbszweiges, dieses Ideal verschiedener der älteren Sozialisten, wäre faktisch nur eine monopolistische Produktivgenossenschaft, und sobald sie sich auf ihr Monopol beriefe oder dasselbe ausspielte, wäre sie ein Widerspruch gegen den Sozialismus und die Demokratie, mag ihre innere Verfassung sein welche sie wolle. Warum sie gegen den Sozialismus verstieße, leuchtet ohne Weiteres ein. Genossenschaftlichkeit wider die Gesammtheit ist so wenig Sozialismus wie der Staatsbetrieb in einem oligarchischen Gemeinwesen Sozialismus ist. Warum aber verstieße solche Gewerkschaft gegen die Demokratie?
Diese Frage bedingt eine andere: Was ist Demokratie?
Die Antwort hierauf scheint sehr einfach, auf den ersten Blick möchte man sie mit der Uebersetzung: „Volksherrschaft“ für abgethan halten. Aber schon ein kurzes Nachdenken sagt uns, daß damit nur eine ganz äußerliche, rein formale Definition gegeben ist, während fast Alle, die heute das Wort Demokratie gebrauchen, darunter mehr wie eine bloße Herrschaftsform verstehen. Viel näher werden wir der Sache kommen, wenn wir uns negativ ausdrücken und Demokratie mit Abwesenheit von Klassenherrschaft übersetzen, als Bezeichnung eines Gesellschaftszustandes, wo keiner Klasse ein politisches Privilegium gegenüber der Gesammtheit zusteht. Damit ist denn auch schon die Erklärung gegeben, warum eine monopolistische Korporation im Prinzip antidemokratisch ist. Diese negative Erklärung hat außerdem den Vortheil, daß sie weniger als das Wort Volksherrschaft dem Gedanken der Unterdrückung des Individuums durch die Mehrheit Raum giebt, der dem modernen Bewußtsein unbedingt widerstrebt. Wir finden heute die Unterdrückung der Minderheit durch die Mehrheit „undemokratisch“, obwohl sie ursprünglich mit der Volksherrschaft durchaus vereinbar gehalten wurde. [26] In dem Begriff Demokratie liegt eben für die heutige Auffassung eine Rechtsvorstellung eingeschlossen: die Gleichberechtigung aller Angehörigen des Gemeinwesens, und an ihr findet die Herrschaft der Mehrheit, worauf in jedem konkreten Fall die Volksherrschaft hinausläuft, ihre Grenze. Je mehr sie eingebürgert ist und das allgemeine Bewußtsein beherrscht, um so mehr wird Demokratie gleichbedeutend mit dem höchstmöglichen Grad von Freiheit für Alle.
Allerdings sind Demokratie und Gesetzlosigkeit nicht ein und dasselbe. Nicht durch Abwesenheit aller Gesetze kann die Demokratie sich von anderen politischen Systemen unterscheiden, sondern nur durch Abwesenheit von Gesetzen, die auf Besitz, Abstammung und Bekenntniß gegründete Ausnahmen schaffen oder gutheißen, nicht durch totale Abwesenheit von Gesetzen, die die Rechte Einzelner beschränken, sondern durch Aufhebung aller Gesetze, die die allgemeine Rechtsgleichheit, das gleiche Recht Aller beschränken. Wenn so Demokratie und Anarchie durchaus verschiedene Dinge sind, so ist oder wäre es abgeschmackte Begriffsspielerei, bei der alle Unterscheidung verloren geht, Ausdrücke wie Despotie, Tyrannei,. blos daraufhin auf die Demokratie als Gesellschaftsverfassung anzuwenden, weil bei ihr Mehrheitsbeschlüsse entscheiden und von Jedem verlangt wird, daß er das von der Mehrheit beschlossene Gesetz anerkennt. Gewiß, die Demokratie ist keine absolute Schutzwehr gegen Gesetze, die von Einzelnen als tyrannisch empfunden werden. Aber in unserem Zeitalter ist eine fast unbedingte Sicherheit gegeben, daß die Mehrheit eines demokratischen Gemeinwesens kein Gesetz machen wird, das der persönlichen Freiheit dauernd Abbruch thut, da die Mehrheit von heute stets die Minderheit von morgen werden kann und jedes die Minderheiten bedrückende Gesetz die Mitglieder der zeitweiligen Mehrheit selbst bedrohen würde. Was immer in Zeiten wirklichen Bürgerkriegs von Mehrheitstyrannei ausgeübt worden, ist von der Mehrheitsherrschaft in der modernen Demokratie grundverschieden. In der Praxis hat sich vielmehr gezeigt, daß je länger in einem modernen Staatswesen demokratische Einrichtungen bestanden, um so mehr die Achtung und Berücksichtigung der Rechte der Minderheiten zunahm und die Parteikämpfe an Gehässigkeit verloren. [27] Leute, die sich die Verwirklichung des Sozialismus nicht ohne Gewaltakte vorstellen können, mögen darin ein Argument gegen die Demokratie erblicken, und thatsächlich hat es in der sozialistischen Literatur an solchen Stimmen nicht gefehlt. Aber wer sich nicht der utopistischen Vorstellung hingiebt, daß die modernen Nationen sich unter der Wirkung einer verlängerten revolutionären Katastrophe in eine Unzahl gänzlich von einander unabhängiger Gruppen auflösen werden, der wird in der Demokratie mehr erblicken als ein politisches Mittel, das nur gut ist, soweit es der Arbeiterklasse als Handhabe dient, dem Kapital den Garaus zu machen. Die Demokratie ist Mittel und Zweck zugleich. Sie ist das Mittel der Erkämpfung des Sozialismus, und sie ist die Form der Verwirklichung des Sozialismus. Sie kann, das ist richtig, keine Wunder thun. Sie kann nicht in einem Lande, wie die Schweiz, wo das industrielle Proletariat eine Minderheit der Bevölkerung bildet (noch nicht eine halbe von zwei Millionen Erwachsener), diesem Proletariat die politische Herrschaft in die Hand spielen. Sie kann auch nicht in einem Lande wie England, wo das Proletariat die bei Weitem zahlreichste Klasse der Bevölkerung bildet, dieses Proletariat zum Herrn der Industrie machen, wenn dasselbe theils überhaupt keine Neigung dazu verspürt, theils aber auch sich den damit verbundenen Aufgaben nicht oder noch nicht gewachsen fühlt. Aber in England wie in der Schweiz, und ebenso in Frankreich, den Vereinigten Staaten, den skandinavischen Ländern &c., hat sie sich als ein machtvoller Hebel des sozialen Fortschritts erwiesen. Wer sich nicht an die Aufschrift, sondern an den Inhalt hält, der wird, wenn er die Gesetzgebung Englands seit der Wahlreform von 1867 durchgeht, die den städtischen Arbeitern das Wahlrecht gab, einen ganz bedeutenden Fortschritt in der Richtung zum Sozialismus, wenn nicht im Sozialismus finden. Die öffentliche Volksschule besteht in drei Vierteln des Landes überhaupt erst seit jener Zeit, bis dahin gab es nur Privat- und Kirchenschulen. Der Schulbesuch belief sich 1865 auf 4,38, 1896 aber auf 14,2 Prozent der Bevölkerung, 1872 gab der Staat erst 15 Millionen, 1896 127 Millionen Mark jährlich allein für Elementarschulen aus. Das Verwaltungswesen in Grafschaft und Gemeinde, für Schul- und Armenwesen hat aufgehört, Monopol der Besitzenden und Privilegirten zu sein, die Masse der Arbeiter hat dort dasselbe Stimmrecht wie der größte Landlord und der reichste Kapitalist. Die indirekten Steuern sind stetig herabgesetzt, die direkten stetig erhöht worden (1866 wurden rund 120 Millionen, 1898 rund 830 Millionen Mark Einkommensteuer erhoben, wozu noch eine Mehreinnahme von mindestens 80 bis 100 Millionen Mark aus erhöhter Erbschaftssteuer kommt). Die Agrargesetzgebung hat die Scheu vor dem Eigenthumsabsolutismus der Grundbesitzer abgelegt und das Expropriationsrecht, das bisher nur für Verkehrs- und Sanitätszwecke anerkannt wurde, prinzipiell auch für Wirthschaftsveränderungen in Anspruch genommen. Die grundsätzlich veränderte Politik des Staates hinsichtlich der direkt und indirekt von ihm beschäftigten Arbeiter ist bekannt, ebenso die Erweiterungen, welche die Fabrikgesetzgebung seit 1870 erfahren. All das, und die Nachahmung, die es in verschiedenem Grade auf dem Festlande gefunden, ist nicht ausschließlich, aber wesentlich der Demokratie oder dem realisirten Stück Demokratie geschuldet, über welches die betreffenden Länder verfügen. Und wenn in einzelnen Fragen die Gesetzgebung der politisch vorgeschrittensten Länder nicht so rasch vorgeht als es in politisch verhältnißmäßig rückständigen Ländern unter dem Einfluß thatendurstiger Monarchen oder ihrer Minister gelegentlich der Fall, so giebt es dafür n Ländern eingewurzelter Demokratie in diesen Dingen kein Rückwärts.
Die Demokratie ist prinzipiell die Aufhebung der Klassenherrschaft, wenn sie sie noch nicht die faktische Aufhebung der Klassen ist. Man spricht vom konservativen Charakter der Demokratie, und in gewisser Hinsicht mit Recht. Der Absolutismus oder Halb-Absolutismus täuscht seine Träger wie seine Gegner über den Umfang ihres Könnens. Daher in Ländern, wo er herrscht oder seine Traditionen noch bestehen, die überfliegenden Pläne, die forcirte Sprache, die Zickzackpolitik, die Furcht vor Umsturz und die Hoffnung auf Unterdrückung. In der Demokratie lernen die Parteien und die hinter ihnen stehenden Klassen bald die Grenzen ihrer Macht kennen und sich jedesmal nur so viel vornehmen, als sie nach Lage der Umstände vernünftigerweise hoffen können, durchzusetzen. Selbst wenn sie ihre Forderungen etwas höher spannen, als im Ernst gemeint, um beim unvermeidlichen Kompromiß – und die Demokratie ist die Hochschule des Kompromisses – ablassen zu können, geschieht es mit Maß. So erscheint in der Demokratie selbst die äußerste Linke meist in konservativem Lichte, und die Reform, weil gleichmäßiger, langsamer als sie in Wirklichkeit ist. Aber doch ist ihre Richtung unverkennbar. Das Wahlrecht der Demokratie macht seinen Inhaber virtuell zu einem Theilhaber am Gemeinwesen, und diese virtuelle Theilhaberschaft muß auf die Dauer zur thatsächlichen Theilhaberschaft führen. Bei einer, der Zahl und Ausbildung nach unentwickelten Arbeiterklasse kann das allgemeine Wahlrecht lange als das Recht erscheinen, den „Metzger“ selbst zu wählen, mit der Zahl und und Erkenntniß der Arbeiter wird es jedoch zum Werkzeug, die Volksvertreter aus Herren in wirkliche Diener des Volkes zu verwandeln. Wenn die englischen Arbeiter bei Parlamentswahlen für Mitglieder der alten Parteien stimmen und so formell als der Schwanz der Bourgeoisparteien erscheinen, so ist es bei alledem in den industriellen Wahlkreisen weit mehr dieser „Schwanz“, der den Kopf zum Wackeln bringt, wie umgekehrt. Ganz abgesehen davon, daß die Wahlrechtserweiterung von 1884 im Verein mit der Reform der Gemeindevertretungen der Sozialdemokratie in England Bürgerrecht als politische Partei erworben hat.
Und ist es anderwärts wesentlich anders? Das allgemeine Wahlrecht konnte in Deutschland vorübergehend Bismarck als Werkzeug dienen, aber schließlich zwang es Bismarck, als Werkzeug zu dienen. Es konnte zeitweilig den ostelbischen Junkern zu Gute kommen, aber es ist längst schon das Grauen dieser selben Junker. Es konnte Bismarck 1878 in die Lage bringen, sich die Waffe des Sozialistengesetzes zu schmieden, aber an ihm ist diese Waffe auch stumpf und brüchig geworden, bis sie mit seiner Hilfe Bismarck aus der Hand geschlagen wurde. Hätte Bismarck 1878 mit seiner damaligen Mehrheit statt ein polizistisches ein politisches Ausnahmegesetz geschaffen, das die Arbeiter wieder außerhalb des Wahlrechts stellte, so würde er auf eine ziemliche Zeit hinaus die Sozialdemokratie schärfer getroffen haben, als mit dem ersteren. Allerdings würde er dann auch andere Leute getroffen haben. Das allgemeine Wahlrecht ist nach zwei Seiten hin die Alternative des Umsturzes.
Aber das allgemeine Wahlrecht ist erst ein Stück Demokratie, wenn auch ein Stück, das auf die Dauer die anderen nach sich ziehen muß, wie der Magnet die zerstreuten Eisentheile an sich zieht. Das geht wohl langsamer vor sich, wie es Mancher wünscht, aber trotzdem ist es im Werk. Und die Sozialdemokratie kann dies Werk nicht besser fördern, als wenn sie sich rückhaltlos auch in der Doktrin, auf den Boden des allgemeinen Wahlrechts, der Demokratie, stellt, mit allen sich daraus für ihre Taktik ergebenden Konsequenzen.
In der Praxis, d.h. im ihren Handlungen, hat sie es schließlich immer gethan. Aber in ihren Erklärungen haben ihre literarischen Vertreter oft dagegen verstoßen und wird noch heute oft dagegen verstoßen. Phrasen, die in einer Zeit verfaßt wurden, wo überall in Europa das Privilegium des Besitzes unumschränkt herrschte, und die unter diesen Umständen erklärlich und bis zu einem gewissen Grade auch berechtigt waren, heute aber nur noch todtes Gewicht sind, werden mit einer Ehrfurcht behandelt, als ob von ihnen und nicht voll der lebendigen Erkenntniß dessen, was gethan werden kann und noththut, der Fortschritt der Bewegung abhinge. Oder hat es z.B. einen Sinn, die Phrase von der Diktatur des Proletariats zu einer Zeit festzuhalten, wo an allen möglichen Orten Vertreter der Sozialdemokratie sich praktisch auf den Boden der parlamentarischen Arbeit, der zahlengerechten Volksvertretung und der Volksgesetzgebung stellen, die alle der Diktatur widersprechen? [28] Sie ist heute so überlebt, daß sie mit der Wirklichkeit nur dadurch zu vereinen ist, daß man das Wort Diktatur seiner faktischen Bedeutung entkleidet und ihm irgend welchen abgeschwächten Sinn beilegt. Die ganze praktische Thätigkeit der Sozialdemokratie geht darauf hinaus, Zustände und Vorbedingungen zu schaffen, die eine von konvulsivischen Ausbrüchen freie Ueberführung der modernen Gesellschaftsordnung in eine höhere ermöglichen und verbürgen sollen. Aus dem Bewußtsein, die Pioniere einer höheren Kultur zu sein, schöpfen ihre Anhänger immer wieder Begeisterung und Anfeuerung, in ihm ruht auch zuletzt der sittliche Rechtstitel der angestrebten gesellschaftlichen Expropriation. Die Klassendiktatur aber gehört einer tieferen Kultur an, und abgesehen von der Zweckmäßigkeit und Durchführbarkeit der Sache, ist es nur als ein Rückfall, als politischer Atavismus zu betrachten, wenn der Gedanke erweckt wird, der Uebergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft müsse sich nothwendigerweise unter den Entwicklungsformen einer Zeit vollziehen, welche die heutigen Methoden der Propagirung und Erzielung von Gesetzen noch gar nicht oder nur in ganz unvollkommener Gestalt kannte und der geeigneten Organe dazu entbehrte.
Ich sage ausdrücklich Uebergang von der kapitalistischen zur sozialistischen Gesellschaft, und nicht „von der bürgerlichen Gesellschaft“, wie das heute so häufig geschieht. Diese Anwendung des Wortes „bürgerlich“ ist vielmehr ebenfalls ein Atavismus oder jedenfalls eine sprachliche Zweideutigkeit, die als ein Uebelstand der Phraseologie der deutschen Sozialdemokratie bezeichnet werden muß und eine vortreffliche Brücke zu Mißdeutungen bei Freund und Feind bildet. Die Schuld liegt hier zum Theil bei der deutschen Sprache, die kein eigenes Wort für den Begriff des gleichberechtigten Bürgers eines Gemeinwesens hat, getrennt vom Begriff des bevorrechtete Bürgers. Da alle Versuche, einen speziellen Ausdruck für den ersteren oder den letzteren Begriff zu bilden und in den Sprachgebrauch einzuführen, bisher fehlgeschlagen sind, scheint es mir immer noch besser, für den privilegirten Bürger und was sich an ihn bezieht, das Fremdwort Bourgeois zu gebrauchen, als durch seine Uebersetzung mit „Bürger“ oder „bürgerlich“ allen möglichen Mißverständnisse und Mißdeutungen das Thor zu öffnen.
Heute weiß schließlich Jeder, was gemeint ist, wenn von Bekämpfung der Bourgeoisie und Abschaffung der Bourgeoisgesellschaft gesprochen wird. Aber was heißt Bekämpfung oder Abschaffung der bürgerlichen Gesellschaft? Was heißt es namentlich in Deutschland, in dessen größtem und leitendem Staate, Preußen, es sich noch immer darum handelt, ein großes Stück Feudalismus erst loszuwerden, das der bürgerlichen Entwicklung im Wege steht? Kein Mensch denkt daran, der bürgerlichen Gesellschaft als einem zivilistisch geordneten Gemeinwesen an den Leib zu wollen. Im Gegentheil. Die Sozialdemokratie will nicht diese Gesellschaft auflösen und ihre Mitglieder allesammt proletarisiren, sie arbeitet vielmehr unablässig daran, den Arbeiter aus der sozialen Stellung eines Proletariers zu der eines Bürgers zu erheben und so das Bürgerthum oder Bürgersein zu verallgemeinern. Sie will nicht au die Stelle der bürgerlichen eine proletarische Gesellschaft, sondern sie will an die Stelle der kapitalistischen eine sozialistische Gesellschaftsordnung setzen. Es wäre gut, wenn man, statt jener zweideutigen Wendung sich zu bedienen, sich all diese letztere, ganz unzweideutige Erklärung hielte. Dann würde man auch einen guten Theil anderer Widersprüche los, welche die Gegner nicht ganz mit Unrecht zwischen der Phraseologie und der Praxis der Sozialdemokratie konstatiren. Einzelne sozialistische Blätter gefallen sich heute in einer forcirt antibürgerlichen Sprache, die allenfalls am Platze wäre, wenn wir sektirermäßig als Anachoreten lebten, die aber widersinnig ist zu einer Zeit, die es für keinen Verstoß gegen die sozialistische Gesinnung erklärt, sein Privatleben durchaus „bourgeoismäßig“ einzurichten. [29]
Schließlich wäre es auch zu empfehlen, in Kriegserklärungen gegen den „Liberalisums“ etwas Maß zu halteb. Es ist ja richtig, die große liberale Bewegung der Neuzeit ist zunächst der kapitalistischen Bourgeoisie zu Gute gekommen und die Parteien, die sich den Namen liberal zulegten, waren oder wurden im Verlaufe reine Schutzgarden des Kapitalismus. Zwischen diesen Parteien und der Sozialdemokratie kann natürlich nur Gegnerschaft herrschen. Was aber den Liberalismus als weltgeschichtliche Bewegung anbetrifft, so ist der Sozialismus nicht nur der Zeitfolge, sondern auch dem geistigen Gehalt nach sein legitimer Erbe, wie sich das übrigens auch praktisch bei jeder prinzipiellen Frage zeigt, zu der die Sozialdemokratie Stellung zu nehmen hatte. Wo irgend eine wirthschaftliche Forderung des sozialistischen Programms in einer Weise oder unter Umständen ausgeführt werden sollte, daß die freiheitliche Entwicklung dadurch ernsthaft gefährdet erschien, hat die Sozialdemokratie sich nie gescheut, dagegen Stellung zu nehmen. Die Sicherung der staatsbürgerlichen Freiheit hat ihr stets höher gestanden, als die Erfüllung irgend eines wirthschaftlichen Postulats. Die Ausbildung und Sicherung der freien Persönlichkeit ist der Zweck aller sozialistischen Maßregeln, auch derjenigen, die äußerlich sich als Zwangsmaßregeln darstellen. Stets wird ihre genauere Untersuchung zeigen, daß es sich dabei um einen Zwang handelt, der die Summe von Freiheit in der Gesellschaft erhöhen, der mehr und einem weiteren Kreise Freiheit geben soll, als er nimmt. Der gesetzliche Maximalarbeitstag z.B. ist faktisch eine Minimalfreiheitsbestimmung, ein Verbot, seine Freiheit auf länger als eine bestimmte Zahl von Stunden täglich zu verkaufen, und steht als solches prinzipiell auf demselben Boden, wie das von allen Liberalen gebilligte Verbot, sich dauernd in persönliche Knechtschaft zu veräußern. Es ist insofern kein Zufall, daß das erste Land, wo ein Maximalarbeitstag durchgeführt wurde, das demokratisch vorgeschrittenste Gemeinwesen Europas, die Schweiz, war, und die Demokratie ist nur die politische Form des Liberalismus. Gegenbewegung gegen die Unterwerfung der Völker unter von außen aufgedrungene oder nur noch aus der Tradition ihre Berechtigung schöpfende Einrichtungen, hatte der Liberalismus seine Verwirklichung zunächst als Prinzip der Souveränetät der Zeiten und der Völker zu verwirklichen gesucht, welche beide Prinzipien die ewige Diskussion der Staatsrechtsphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts bildeten, bis Rousseau in seinem Gesellschaftsvertrag sie als Grundbedingungen der Rechtsgiltigkeit jeder Verfassung aufstellte und die französische Revolution sie – in der von Rousseauschen Geist erfüllten demokratischen Verfassung von 1793 – als unveräußerliche Menschenrechte proklamirte. [30]
Die Verfassung von 1793 war der folgerichtige Ausdruck der liberalen Ideen der Epoche, und wie wenig sie den Sozialismus im Wege war oder ist, zeigt ein flüchtiger Durchblick ihres Inhalts. Babeuf und die Gleichen sahen denn auch in ihr einen trefflichen Ansatzpunkt für die Verwirklichung ihrer kommunistischen Bestrebungen und schrieben demgemäß die Wiederherstellung der Konstitution von 1793 an die Spitze ihrer Forderungen. Was sich später als politischer Liberalismus gab, sind Abschwächungen und Anpassungen, wie sie den Bedürfnissen des kapitalistischen Bürgerthums nach Sturz des alten Regimes entsprachen oder genügten, gerade wie die sogenannte Manchesterlehre nur eine Abschwächung und einseitige Darstellung der von den Klassikern des wirthschaftlichen Liberalismus niedergelegten Grundsätze war. Thatsächlich giebt es keinen liberalen Gedanken, der nicht auch zum Ideengehalt des Sozialismus gehörte. Selbst das Prinzip der wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit, das anscheinend so ganz und gar manchesterlich ist, kann meines Erachtens vom Sozialismus weder theoretisch negirt, noch unter irgend denkbaren Umständen außer Wirksamkeit gesetzt werden. Ohne Verantwortlichkeit keine Freiheit; wir mögen theoretisch über die Haudlungsfreiheit des Menschen denken wie wir wollen, praktisch müssen wir von ihr als Grundlage des Sittengesetzes ausgehen, denn nur unter dieser Bedingung ist eine soziale Moral möglich. Und ebenso ist im Zeitalter des Verkehrs in unseren nach Millionen zählenden Staaten ein gesundes soziales Leben unmöglich, wenn nicht die wirthschaftliche Selbstverantwortlichkeit aller Arbeitsfähigen unterstellt wird. Die Anerkennung der wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit ist die Gegenleistung des Individuums an die Gesellschaft für die ihm von ihr erwiesenen oder gebotenen Dienste.
Es sei mir erlaubt, hier einige Säße aus meinem schon erwähnten Artikel über die Sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl zu zitiren.
„Nur dem Grade nach wird denn auch in absehbarer Zeit au der wirthschaftlichen Selbstverantwortlichkeit der Arbeitsfähigen geändert werden können. Die Arbeitsstatistik kann sehr bedeutend ausgebildet, die Arbeitsvermittlung sehr vervollkommnet, der Arbeitswechsel erleichtert und ein Arbeitsrecht ausgebildet werden, das dem Einzelnen eine unendlich größere Sicherheit der Existenz und Leichtigkeit der Berufswahl ermöglicht, als sie heute gegeben ist. Die vorgeschrittensten Organe der wirthschaftlichen Selbsthilfe – die großen Gewerkschaften – zeigen in dieser Hinsicht schon den Weg an, den die Entwicklung voraussichtlich nehmen wird ... Wenn heute schon starke Gewerkschaften ihren leistungsfähigen Mitgliedern ein gewisses Recht auf Beschäftigung sichern, es den Unternehmern sehr unrathsam erscheinen lassen, ein Gewerkschaftsmitglied ohne sehr triftigen, auch von der Gewerkschaft anerkannten Grund zu entlassen, wenn sie beim Arbeitsnachweis Reihenfolge der Meldung und Bedürfniß kombiniren, so sind darin schon Fingerzeige fair die Entwicklung eines demokratischen Arbeitsrechts gegeben.“ (Neue Zeit, XVI, 2, S. 141)
Andere Anfänge dazu sind heute in der Foren von Gewerbegerichten, Arbeiterkammern und ähnlichen Schöpfungen gegeben, in denen die demokratische Selbstverwaltung, wenn auch oft noch unvollkommen, Gestalt gefunden hat. Auf der anderen Seite wird ohne Zweifel die Erweiterung der öffentlichen Dienste, insbesondere des Erziehungswesens und der Gegenseitigkeitseinrichtungen (Versicherungen &c.) sehr viel dazu beitragen, die wirthschaftliche Selbstverantwortlichkeit aller Härten zu entkleiden. Aber ein Recht auf Arbeit in dem Sinne, daß der Staat Jedem Beschäftigung in seinem Beruf garantirte, ist in absehbarer Zeit ganz und gar unwahrscheinlich und auch nicht einmal wünschbar. Was seine Befürworter wollten, kann nur auf dem geschilderten Wege, durch Kombination verschiedener Organe, mit Vortheil für das Gemeinwesen erzielt werden, und ebenso kann die allgemeine Arbeitspflicht nur auf diese Weise ohne ertödtende Bureaukratie verwirklicht werden. In so großen und komplizirten Organismen wie unsere modernen Kulturstaaten und ihre Industriezentren würde ein absolutes Recht auf Arbeit blos deorganisirend wirken, wäre es „nur als Quelle gehässigster Willkür und ewiger Zänkerei denkbare. (a.a.O.)
Der Liberalismus hatte geschichtlich die Aufgabe, die Fesseln zu sprengen, welche die gebundene Wirthschaft und die entsprechenden Rechtseinrichtungen des Mittelalters der Fortentwicklung der Gesellschaft anlegten. Daß er zunächst als Bourgeoisliberalismus feste Gestalt erhielt, hindert nicht, daß er thatsächlich ein sehr viel weiter reichendes allgemeines Gesellschaftsprinzip ausdrückt, dessen Vollendung der Sozialismus sein wird. Der Sozialismus will keine neue Gebundenheit irgend welcher Art schaffen. Das Individuum soll frei sein – nicht in dem metaphhysischen Sinne, wie es die Anarchisten träumen, d.h. frei aller Pflichten gegen das Gemeinwesen, wohl aber frei von jedem ökonomischen Zwange in seiner Bewegung und Berufswahl. Solche Freiheit ist für Alle nur möglich durch das Mittel der Organisation. In diesem Sinne könnte man den Sozialismus auch organisatorischen Liberalismus nennen, denn wenn man die Organisationen, die der Sozialismus will und wie er sie will, genauer prüft, so wird man finden, daß was sie von ihnen äußerlich ähnlichen feudalistischen Einrichtungen vor Allem unterscheidet, eben ihr Liberalismus ist: ihre demokratische Verfassung, ihre Zugänglichkeit. Daher ist der nach zunftähnlicher Abschließung strebende Gewerkverein zwar ein dem Sozialisten verständliches Produkt der Gegenwehr gegen die Tendenz des Kapitalismus, den Arbeitsmarkt zu überfüllen, aber zugleich auch gerade wegen seiner Abschließungstenden und in dem Grade, als sie ihn beherrscht, eine unsozialistische Körperschaft. Und eben dasselbe würde von der Gewerkschaft als Eignerin eine ganzen Produktionszweigs gelten, da sie in gleicher Weise mit Naturnothwendigkeit auf Ausschließlichkeit gerichtet wäre wie die „reine“ Produktivgenossenschaft. [31]
In diesem Zusammenhang sei ein Satz aus Lassalles System der erworbenen Rechte zitirt, der mir immer als ein trefflicher Wegweiser für die einschlägigen Probleme erschine: „Das, wogegen die tiefer gehenden Strömungen unserer Zeit gerichtet sind“, sagt Lassalle dort, „und woran sie sich noch abquälen, ist nicht das Moment des Individuellen – dieses würde vielmehr mit ebensolcher Konsequenz auf ihrer Seite stehen, wie das des Allgemeinen –, sondern es ist der noch aus dem Mittelalter mit herübergebrachte und uns noch immer im Fleisch haftende Knorren der Besonderheit.“ (System, 2. Aufl., 1. Theil, S. 221) Auf unseren Gegenstand übertragen, die Organisation soll verbindendes, nicht trennendes Glied zwischen Individuum und Allgemeinheit sein. Wenn Lassalle im Verlauf der zitirten Stelle dem Liberalismus vorwirft, er wolle die Rechte, die er proklamire, nicht für das Individuum als solches, sondern nur für das in besonderer Lage befindliche Individuum, so zielt das, wie es übrigens in einem unmittelbar vorhergehenden Satze auch ausdrücklich heißt, gegen die damalige liberale Partei, „unseren sogenannten Liberalismus“, nicht gegen den theoretischen Liberalismus.
Es ist kein sehr einfaches Problem, das mit den vorstehenden Ausführungen angezeigt ist, es birgt in seinen Schoße vielmehr eine ganze Reihe von Klippen. Die politische Gleichheit allein hat sich bisher nirgends als ausreichend erwiesen, die gesunde Entwicklung solcher Gemeinwesen zu sichern, deren Schwerpunkt in großen Städten lag. Sie ist, wie Frankreich und die Vereinigten Staaten zeigen, kein unfehlbares Heilmittel gegen das Ueberwuchern aller Arten von sozialem Parasitismus und Korruption. Steckte in einem großen Theile des französischen Volkes nicht ein so außerordentlicher Fond von Solidität und wäre das Land nicht geographisch so begünstigt, so hätte Frankreich längst an der Landplage der Beamtenzucht zu Grunde gehen müssen, wie sie sich dort eingenistet hat. Jedenfalls bildet diese Plage eine der Ursachen, warum trotz der hohen geistigen Regsamkeit der Franzosen Frankreichs industrielle Entwicklung hinter der der Nachbarländer immer mehr zurückbleibt. Soll die Demokratie nicht den zentralistischen Absolutismus im Hecken von Bureaukratien noch überbieten, so muß sie aufgebaut sein auf einer weit gegliederten Selbstverwaltung mit entsprechender wirthschaftlicher Selbstverantwortlichkeit aller Verwaltungseinheiten wie der mündigen Staatsbürger. Nichts ist ihrer gesunden Entwicklung schädlicher als erzwungene Uniformität und ein zu reichliches Maß von Protektionismus. Sie erschweren oder verhindern jede rationelle Unterscheidung zwischen lebensfähigen und parasitischen Einrichtungen. Wenn der Staat auf der einen Seite alle gesetzlichen Hindernisse der Oganisation der Produzenten aufhebt und den Berufsverbänden unter bestimmten Bedingungen, welche deren Ausartung in monopolistische Korporationen vorbeugen, gewisse Vollmachten hinsichtlich der Kontrolle der Industrie überträgt, so daß alle Garantien gegen Lohndrückerei und Ueberarbeit gegeben sind, und wenn auf der anderen Seite durch die früher skizzirten Einrichtungen dafür gesorgt wird, daß Niemand durch äußerste Noth gezwungen wird, seine Arbeit zu unwürdigen Bedingungen zu veräußern, dann kann es der Gesellschaft gleichgiltig sein, ob neben den öffentlichen und genossenschaftlichen Betrieben noch Unternehmungen existiren, welche von Privaten für den eigenen Gewinn betrieben werden. Sie werden ganz von selbst mit der Zeit genossenschaftlichen Charakter annehmen.
Die geschilderten Einrichtungen zu schaffen oder, soweit damit schon begonnen, sie weiterzubilden, ist die unerläßliche Vorbedingung dessen, was wir die Vergesellschaftung der Produktion nennen. Ohne sie würde die sogenannte gesellschaftliche Aneignung der Produktionsmittel voraussichtlich nur maßlose Verwüstung von Produktionskräften, sinnlose Experimentirerei und zwecklose Gewaltthätigkeit zur Folge haben, die politische Herrschaft der Arbeiterklasse sich in der That nur durchsetzen können in der Form einer diktatorischen revolutionären Zentralgewalt, unterstützt durch die terroristische Diktatur revolutionärer Klubs. Als solche schwebte sie den Blanquisten vor und als solche wird sie auch noch im Kommunistischen Manifest und den der Epoche seiner Abfassung angehörenden Publikationen seiner Verfasser unterstellt. Aber „gegenüber den praktischen Erfahrungen der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum ersten Male zwei Monate lang die politische Gewalt inne hatte“, ist das im Manifest gegebene Revolutionsprogramm „stellenweise veraltet“. „Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, daß die Arbeiterklasse nicht die Staatsmaschinerie einfach im Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann.“
So Marx und Engels 1872 im Vorwort zur Neuauflage des Manifests. Und sie verweisen auf die Schrift Der Bürgerkrieg in Frankreich, wo dies weiter entwickelt sei. Wenn wir aber die genannte Schrift aufschlagen und den betreffenden Abschnitt (es ist der dritte) nachlesen, so finden wir ein Programm entwickelt, das seinem politischen Gehalt nach in alleu wesentlichen Zügen die größte Aehnlichkeit aufweist mit dem Föderalismus – Proudhons.
„Die Einheit der Nation sollte nicht gebrochen, sondern im Gegentheil organisirt werden durch die Vernichtung jener Staatsmacht, welche sich für die Verkörperung dieser Einheit ausgab, aber unabhängig und überlegen sein wollte gegenüber der Nation, an deren Körper sie doch nur ein Schmarotzerauswuchs war. Während es galt, die blos unterdrückenden Organe der alten Regierungsmacht abzuschneiden, sollten ihre berechtigten Funktionen einer Gewalt, die über der Gesellschaft zu stehen beanspruchte, entrissen und den verantwortlichen Dienern der Gesellschaft übergeben werden. Statt einmal in drei oder sechs Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- und zertreten soll, sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituirten Volke dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem anderen Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen.“
„Der Gegensatz der Kommune gegen die Staatsgewalt ist angesehen worden für eine übertriebene Form des alten Kampfes gegen Ueberzentralisation ... Die Kommunalverfassung wurde im Gegentheil dem gesellschaftlichen Körper alle die Kräfte zurückgegeben haben, den bisher der Schmarotzerauswurf ‚Staat‘, der von der Gesellschaft sich nährt und ihre freie Bewegung hemmt, aufgezehrt hat. Durch diese That allein würde sie die Wiedergeburt Frankreichs in Gang gesetzt haben.“
So Marx im Bürgerkrieg in Frankreich.
Hören wir uns Proudhon. Da ich sein Buch über den Föderalismus nicht zur Hand habe, mögen hier einige Sätze aus seiner Schrift über die politischen Fähigkeiten der Arbeiterklassen folgen, im der er beiläufig die Konstituirung der Arbeiter zur eigenen politischen Partei predigt.
„In einer nach den wahren Begriffen der Volkssouveränetät, d.h. nach den Grundsätzen des Vertragsrechts organisirten Demokratie ist jede unterdrückende oder korrumpirende Aktion der Zentralgewalt auf die Nation unmöglich gemacht; die bloße Annahme einer solchen ist schon abgeschmackt. “
„Und warum?
„Weil in einer wahrhaft freien Demokratie die Zentralgewalt sich nicht von der Versammlung der Delegirten, der natürlichen Organe der zur Vereinbarung zusammengerufeuen Lokalinteressen, unterscheidet. Weil jeder Deputirte vor Allem Mann der Lokalität ist, die ihn zum Vertreter ernannt hat, ihr Sendling, einer ihrer Mitbürger, ihr Spezialmandatar, der beauftragt ist, ihre besonderen Interessen zu vertheidigen, bezw. sie vor der großen Jury [der Nation] möglichst mit den allgemeinen Interessen in Einklang zu bringen. Weil die vereinigten Delegirten, wenn sie aus ihrem Schoße einen zentralen Vollziehungsausschuß wählen, diesen nicht von sich unterschieden und zu ihrem Oberen machen, der mit ihnen einen Konflikt unterhalten kann“
„Kein Mittelding, die Kommune wird souverän sein oder nur eine Sukkursale [des Staats], alles oder nichts. Gebt ihr ein so schönes Stück, wie ihr wollt, von dem Augenblick an, wo sie nicht ihr Recht aus sich selbst schöpft, wo sie ein höheres Gesetz anerkennen muß, wo die große Gruppe, der sie angehört, zu ihrem Oberen erklärt wird und nicht der Ausdruck ihrer föderativen Beziehungen ist, ist es unvermeidlich, daß sie sich eines Tages im Gegensatz zu einander finden, und der Konflikt ausbricht.“
Dann aber werde die Logik und die Gewalt auf Seiten der Zentralgewalt sein. „Die Idee einer Einschränkung der Staatsgewalt durch die Gruppen, wo das Prinzip der Subordination und Zentralisirung dieser Gruppen selbst herrscht, ist eine Inkonsequenz, um nicht zu sagen ein Widerspruch. Sie sei das Munizipalprinzip des Bourgeoisliberalismus. Ein „föderirtes Frankreich“ dagegen „ein Regime, welches das Ideal der Unabhängigkeit darstellt, und dessen erster Akt darin bestände, den Kommunen ihre volle Selbständigkeit und den Provinzen ihre Selbstbestimmung zurückzugeben“ – das sei die munizipale Freiheit, welche die Arbeiterklasse auf ihre Fahne zu schreiben habe. (Capacité Politique des Classes Ouvrières, S. 224, 225, 231, 235.) Und wenn es im Bürgerkrieg heißt, daß „die politische Herrschaft des Produzenten nicht bestehen kann neben der Verewigung seiner gesellschaftlichen Knechtschaft“, so lesen wir in der Capacité Politique: „Einmal die politische Gleichheit gegeben, durch das allgemeine Stimmrecht in die Praxis gesetzt, geht die Tendenz der Nation zur ökonomischen Gleichheit. Gerade so verstanden es die Arbeiterkandidaten. Aber dies ist es auch, was ihre Bourgeoisrivalen nicht wollen.“ (a.a.O., S. 214) Kurz, bei allen sonstigen Verschiedenheiten zwischen Marx und dem „Kleinbürger“ Proudhon ist in diesen Punkten der Gedankengang bei ihnen so nahe wie nur möglich.
Es ist auch gar nicht zweifelhaft, sondern hat sich seither schon vielfach praktisch erwiesen, daß die allgemeine Entwicklung der modernen Gesellschaft auf eine stetige Erhöhung der Aufgaben der Munizipalitäten und Erweiterung der Munizipalfreiheiten geht, daß die Kommune ein immer wichtigerer Hebel der sozialen Emanzipation wird. Ob freilich eine solche Auflösung der modernen Staatswesen und die völlige Umwandlung ihrer Organisation, wie Marx und Proudhon sie schildern (die Bildung der Nationalversammlung aus Delegirte der Provinz- bezw. Bezirksversammlungen, die ihrerseits aus Delegirte der Kommunen zusammenzusetzen wären), das erste Werk der Demokratie zu sein hätte, so daß also die bisherige Form der Nationalvertretungen wegfiele, erscheint mir zweifelhaft. Die moderne Entwicklung hat zu viele Einrichtungen gezeitigt, deren Umfang der Kontrolle der Munizipalitäten und selbst der Bezirke und Provinzen entwachsen ist, als daß vor der Umwandlung ihrer Organisation die Kontrolle der Zentralverwaltungen entbehrt werden könnte. Auch ist mir die absolute Souveränetät der Gemeinden &c. kein Ideal. Die Gemeinde ist ein integrirender Theil der Nation und hat so gut Pflichten gegen sie wie Rechte auf sie. So wenig wie dem Individuum kann z.B. der Gemeinde ein unbedingtes und ausschließliches Recht auf den Boden eingeräumt werden. Werthvolle Regale, Forsten, Flußrechte &c. gehören in letzter Instauz nicht den Gemeinden oder den Bezirken, die auch nur Nutznießer sind, sondern der Nation. So erscheint eine Vertretung, bei der das nationale und nicht das provinzielle oder lokale Interesse im Vordergrund sieht, bezw. erste Pflicht der Vertreter ist, gerade in einer Uebergangsepoche als unentbehrlich. Neben ihr werden aber jene Versammlungen und Vertretungen eine immer größere Bedeutung erlangen, so daß, Revolution oder nicht, die Funktionen der Zentralvertretungen immer geringer werden und damit auch die Gefahr dieser Vertretungen oder Behörden für die Demokratie. In vorgeschrittenen Ländern ist sie schon heute sehr gering.
Aber es kommt hier weniger auf die Kritik der Einzelnheiten jenes Programms an, als hervorzuheben, wie sehr energisch in demselben die Selbstverwaltung als die Vorbedingung der sozialen Emanzipation betont, wie die demokratische Organisation von unten auf als der Weg zur Verwirklichung des Sozialismus bezeichnet wird, wie sich die Antagonisten Proudhon und Marx doch wieder im – Liberalismus begegneten.
Wie die Gemeinden und die übrigen Selbstverwaltungen per sich unter der vollen Demokratie ihrer Aufgaben entledigen, wie weit sie diese Aufgaben sich stecken werden, das muß die Zukunft selbst lehren. Soviel aber ist klar: sie werden um so mehr und ungestümer experimentiren und daher um so größeren Fehlgriffen ausgesetzt sein, je plötzlicher sie in den Besitz ihrer Freiheit kommen, und sie werden um so umsichtiger und praktischer vorgehen und um so besser das Wohl der Allgemeinheit wahrnehmen, je mehr die Arbeiterdemokratie sich in der Schule der Selbstverwaltung geübt hat.
Einfach wie die Demokratie auf den ersten Blick erscheint, sind ihre Probleme in einer so verwickelten Gesellschaft wie die unserige doch keineswegs so leicht zu lösen. Man lese nur in der Webbschen Theorie der Gewerkvereine nach, wie viele Experimente die englischen Gewerkvereine zu machen hatten und noch machen, um nur die zweckgemäße Form ihrer Verwaltung und Leitung zu finden, und wie viel für die Gewerkschaften von dieser Verfassungsfrage abhängt. Die englischen Gewerkschaften haben sich in dieser Beziehung seit über siebzig Jahren in voller Freiheit entwickeln können. Sie haben mit der elementarsten Form der Selbstregierung begonnen und sich durch die Praxis überzeugen müssen, daß diese Form auch nur für die elementarsten Organismen, für ganz kleine Lokalvereine paßt. Sie haben, je mehr sie wuchsen, Schritt für Schritt auf gewisse Lieblingsideen des doktrinären Demokratismus (das gebundene Mandat, der unbezahlte Beamte, die machtlose Zentralvertretung) als ihre gedeihliche Entwicklung lähmend verzichten und dafür eine leistungsfähige Demokratie mit repräsentativen Versammlungen, bezahlten Beamten und bevollmächtigter Zentralleitung ausbilden gelernt. Dieses Stück Entwicklungsgeschichte der „gewerblichen Demokratie“ ist ungemein lehrreich. Paßt auch nicht alles, was von den Gewerkschaften zutrifft, für die Einheiten der nationalen Verwaltungskörper, so trifft doch sehr vieles davon auch für sie zu. Das betreffende Kapitel des Webbschen Buches ist ein Stück demokratischer Verwaltungslehre, das übrigens in vielen Punkten mit den Folgerungen Kautskys in dessen Buch über die direkte Volksgesetzgebung übereinstimmt. An der Entwicklungsgeschichte der Gewerkschaften zeigt sich, wie die vollziehende Zentralverwaltung – ihre Staatsregierung – rein aus der Arbeitstheilung hervorgehen kann, die durch die räumliche Ausdehnung des Organismus und die Zahl seiner Angehörigen nöthig wird. Möglich, daß mit der sozialistischen Entwicklung der Gesellschaft auch diese Zentralisation später wieder überflüssig werden wird. Vorläufig aber wird sie auch in der Demokratie nicht entbehrt werden können. Wie schon am Schlusse des ersten Abschnitts dieses Kapitels ausgeführt wurde, ist es eine Unmöglichkeit für die Gemeinden größerer Städte oder Industriezentren, alle örtlichen Produktions- und Handelsunternehmungen im Eigenbetrieb zu übernehmen. Es ist ebenso schon aus praktischen Gründen unwahrscheinlich – um von Billigkeitsgründen, die dagegen sprechen, ganz zu schweigen –, daß sie etwa in einer revolutionären Erhebung jene Unternehmungen sammt und sonders kurzerhand „expropriiren“ würden. Aber selbst wenn sie es thäten (wobei sie in der Mehrheit der Fälle übrigens nur die leeren Hülsen in die Hand bekämen), würden sie genöthigt sein, die Masse der Geschäfte au Genossenschaften zu verpachten, sei es an individuelle Genossenschaften, sei es an Gewerkschaften zum eigenen genossenschaftlichen Betrieb. [32]
In jedem dieser Fälle, wie auch den lokalen und nationalen Eigenbetrieben gegenüber, würden gewisse Interessen der Allgemeinheit der einzelnen Berufe wahrzunehmen sein und so immer noch Raum für eine Ueberwachungsthätigkeit der Gewerkschaften verbleiben. Besonders in Uebergangsperioden ist Mannigfaltigkeit der vorhandenen Organe von großem Werth.
Indeß so weit sind wir noch nicht, und es ist nicht meine Absicht, Zukunftsbilder zu entwickeln. Nicht was in der weiteren Zukunft geschehen wird, liegt mir am Herzen, sondern was in der Gegenwart für diese selbst und die nächste Zukunft geschehen kann und soll. Und da ist der Schluß dieser Darlegungen der sehr banale Satz, daß die Erkämpfung der Demokratie, die Ausbildung von politischen und wirthschaftlichen Organen der Demokratie die unerläßliche Vorbedingung für die Verwirklichung des Sozialismus ist. Wenn darauf erwidert wird, daß die Aussichten, dies ohne politische Katastrophe zu erringen, in Deutschland äußerst gering, ja so gut wie nicht vorhanden seien, daß das deutsche Bürgerthum immer reaktionärer werde, so mag das für den Moment vielleicht richtig sein, obgleich manche Erscheinungen auch dagegen sprechen. Aber es kann nicht auf die Dauer so sein. Das, was man Bürgerthum nennt, ist eine sehr zusammengesetzte Klasse, aus allerhand Schichten und sehr verschiedenartigen, bezw. unterschiedenen Interessen bestehend. Diese Schichten halten auf die Dauer nur zusammen, wenn sie sich entweder gleichmäßig bedrückt oder gleichmäßig bedroht sehen. Im vorliegenden Falle kann es sich natürlich nur um das Letztere handeln, d.h. daß das Bürgerthum eine einheitlich reaktionäre Masse bildete, weil sich alle seine Elemente von der Sozialdemokratie gleichmäßig bedroht fühlen, die Einen in ihren materiellen, die Anderen in ihren ideologischen Interessen: in ihrer Religion, ihrem Patriotismus, in ihrem Wunsche, dem Lande die Schrecken einer gewaltthätigen Revolution zu ersparen.
Das ist nun nicht nöthig. Denn die Sozialdemokratie bedroht sie nicht alle gleichmäßig und Niemand als Person, und sie selbst schwärmt in keiner Weise für eine gewaltthätige Revolution gegen die gesammte nichtproletarische Welt. Je deutlicher dies gesagt und begründet wird, um so eher wird jene einheitliche Furcht weichen, denn viele Elemente des Bürgerthums fühlen sich von anderer Seite her bedrückt, und würden lieber gegen diese, deren Druck auch auf der Arbeiterklasse lastet, als gegen die Arbeiter Front machen, lieber der Letzteren als der Ersteren Bundesgenossen sein. Sie mögen unsichere Kantonisten sein. Aber man erzieht schlechte Bundesgenossen, wenn man ihnen erklärt, wir wollen euch helfen, den Feind fressen, aber gleich hinterher fressen wir euch. Da es sich nun unter keinen Umständen um eine allgemeine, gleich zeitige und gewaltthätige Expropriation, sondern um die allmälige Ablösung durch Organisation und Gesetz handelt, so würde es der demokratischen Entwicklung sicher keinen Abbruch thun, der thatsächlich veralteten Freßlegende auch in der Phrase den Abschied zu geben.
Der Feudalismus mit seinen starren, ständischen Einrichtungen mußte fast überall mit Gewalt gesprengt werden. Die liberalen Einrichtungen der modernen Gesellschaft unterscheiden sich gerade darin von jenen, daß sie biegsam, wandlungs- und entwicklungsfähig sind. Sie brauchen nicht gesprengt, sie brauchen nur fortentwickelt zu werden. Dazu bedarf es der Organisation und energischen Aktion, aber nicht nothwendig der revolutionären Diktatur. „Da der Klassenkampf den Zweck hat, die Klassenunterschiede überhaupt aufzuheben“, schrieb vor einiger Zeit (Oktober 1897) ein sozialdemokratisches Organ der Schweiz, der Basler Vorwärts, „so muß logisch eine Periode angenommem werden, wo mit der Verwirklichung dieses Zweckes, dieses Ideals, angefangen werden muß. Dieser Anfang, diese aufeinander folgenden Perioden liegen in unserer demokratischen Entwicklung bereits begründet, sie kommt uns zu Hilfe, um den Klassenkampf nach und nach durch den Ausbau der sozialen Demokratie zu ersetzen, in sich zu absorbiren.“ „Die Bourgeoisie, welcher Schattirung sie auch sei“, erklärte der spanische Sozialist Pablo Iglesias jüngst, „muß sich davon überzeugen, daß wir uns nicht gewaltsam der Herrschaft bemächtigen wollen durch dieselben Mittel, die sie einst angewandt hat, durch Gewaltthätigkeit und Blutvergießen, sondern durch gesetzliche Mittel, wie sie der Zivilisation angemessen sind.“ (Vorwärts, 16. Oktober 1898) In ähnlicher Auffassung stimmte das leitende Organ der englischen unabhängigen Arbeiterpartei, der Labour Leader, den Bemerkungen Vollmars über die Pariser Kommune rückhaltlos zu. Niemand aber wird diesen Blatt Zahmheit in Bekämpfung des Kapitalismus und der kapitalistischen Parteien vorwerfen. Und ein anderes Organ der sozialistischen englischen Arbeiterdemokratie, das Clarion, begleitete den Abruch eines Auszugs aus meinem Artikel über die Zusammenbruchstheorie, dem es zustimmte, mit folgendem Kommentar:
„Ausbildung einer wahren Demokratie – das ist, dessen bin ich sicher, die dringendste und wesentlichste Aufgabe, die vor uns liegt. Das ist die Lektion, die unsere zehn Jahre sozialistischen Feldzugs gelehrt haben. Das ist die Lehre, die sich aus all meinen Kenntnissen und Erfahrungen politischer Dinge ergiebt. Bevor der Sozialismus möglich sein kann, müssen wir eine Nation von Demokraten aufbauen.“
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„Und was sie ist, das wage sie zu scheinen.“ Schiller, Maria Stuart |
Die Aufgaben einer Partei werden durch eine Vielheit von Faktoren bestinnt: durch den Stand der allgemeinen ökonomischen, politischen, intellektuellen und moralischen Entwicklung im Gebiet ihres Wirkens, durch die Natur der Parteien, die neben ihr oder gegen sie agiren, durch die Natur der ihr zu Gebote stehenden Mittel und durch eine Reihe subjektiver ideologischer Faktoren, voran ihr allgemeines Ziel und ihre Auffassung vom besten Wege zur Erreichung dieses Zieles. Welche großen Unterschiede in ersterer Hinsicht zwischen den verschiedenen Ländern noch bestehen, ist bekannt. Selbst in Ländern annähernd gleichen Höhegrads industrieller Entwicklung finden wir sehr bedeutsame politische Unterschiede und große Verschiedenheiten in der Geistesrichtung der Volksmasse. Eigenheiten der geographischen Lage, eingewurzelte Gewohnheiten des Volkslebens, überkommene Einrichtungen und Ueberlieferungen aller Art erzeugen eine Verschiedenheit der Ideologie, die dem Einfluß jener Entwicklung sich nur langsam unterwirft. Selbst wo sozialistische Parteien ursprünglich die gleichen Voraussetzungen zum Ausgangspunkt ihres Wirkens genommen haben, sind sie im Laufe der Zeit genöthigt worden, ihre Thätigkeit den speziellen Verhältnissen ihres Landes anzupassen. In einem gegebenen Moment kann man daher wohl allgemeine Grundsätze der Politik der Sozialdemokratie mit dem Anspruch auf Giltigkeit für alle Länder aufstellen, aber kein für alle Länder in gleicher Weise giltiges Aktionsprogramm.
Wie im vorhergehenden Abschnitt ausgeführt, ist die Demokratie in weit höherem Grade Voraussetzung des Sozialismus, als es vielfach noch angenommen wird, d.h. sie ist es nicht nur als Mittel, sondern auch als Substanz. Ohne ein bestimmtes Maß demokratischer Einrichtungen oder Ueberlieferungen wäre die sozialistische Lehre der Gegenwart überhaupt nicht möglich, gäbe es wohl eine Arbeiterbewegung, aber keine Sozialdemokratie. Die moderne sozialistische Bewegung, welches auch ihre theoretische Erklärung, ist faktisch das Produkt des Einflusses der in der großen französischen Revolution und durch sie zur allgemeinen Geltung gekommenen Rechtsbegriffe auf die Lohn- und Arbeitszeitbewegung der industriellen Arbeiter. Diese würde auch ohne sie bestehen, wie es ohne sie und vor ihnen einen an das Urchristenthum anknüpfenden Volkskommunismus [33] gab. Aber dieser Volkskommunismus war sehr unbestimmt und halb mystisch, und die Arbeiterbewegung würde ohne die Grundlage jener Rechtseinrichtungen und Rechtsauffassungen, die aber mindestens zu einem großen Theil nothwendige Begleiter der kapitalistischen Entwicklung sind, des inneren Zusammenhangs entbehren. Aehnlich wie dies, um ein annähernd entsprechendes Bild zu geben, heute in orientalischen Ländern der Fall ist. Eine politisch rechtlose, in Aberglauben und mit mangelhaftem Unterricht aufgewachsene Arbeiterklasse wird wohl zeitweilig revoltiren und ins Kleinen konspiriren, aber nie eine sozialistische Bewegung entwickeln. Es bedarf einer gewissen Weite des Blickes und eines ziemlich entwickelten Rechtsbewußtseins, um aus einem Arbeiter, der gelegentlich revoltirt, einen Sozialisten zu machen. Das politische Recht und die Schule stehen denn auch überall au hervorragender Stelle der sozialistischen Aktionsprogramme.
Dies ganz im Allgemeinen. Denn es liegt nicht ins Plane dieser Schrift, eine Werthung der einzelnen Punkte der sozialistischen Aktionsprogramme zu unternehmen. Was speziell die nächsten Forderungen des Erfurter Programms der deutschen Sozialdemokratie anbetrifft, so fühle ich mich in keiner Weise versucht, Abänderungen hinsichtlich ihrer vorzuschlagen. Wie wohl jeder Sozialdemokrat, halte ich nicht alle Punkte für gleich wichtig oder zweckmäßig. So ist es z.B. meine Ansicht, daß die Unentgeltlichkeit der Rechtspflege und Rechtsbeihilfe unter heutigen Verhältnissen sich nur in beschränkten Grenzen empfiehlt, daß zwar Vorkehrungen getroffen werden müssen, die es auch dem Mittellosen ermöglichen, sein Recht zu suchen, daß aber kein dringendes Bedürfniß vorliegt, die Masse der heutigen Eigenthumsprozesse auf Staatskosten zu übernehmen und die Advokatur völlig zu verstaatlichen. Indeß da die heutigen Gesetzgeber, wenn auch aus anderen Gründen, von einer solchen Maßregel erst recht nichts wissen wollen, eine sozialistische Gesetzgebung aber nicht ohne völlige Reform des Rechtswesens oder nur nach Maßgabe der Schaffung neuer Rechtsinstitute, wie sie z.B. in den Gewerbegerichten schon vorliegen, an ihre Durchführung ginge, kann die Forderung als Anzeiger der erstrebten Entwicklung ruhig stehen bleiben.
Meinem Zweifel an der Zweckmäßigkeit der Forderung in ihrer jetzigen Form habe ich übrigens schon 1891 in einem Aufsatz über die damals zur Diskussion stehenden Programmentwürfe sehr deutlichen Ausdruck gegeben und erklärt, der betreffende Paragraph gäbe „zu viel und zu wenig“. (Neue Zeit, IX, 2, S. 821.) Der Artikel gehört einer Serie an, die K. Kautsky und ich damals als Kollektivarbeit zur Programmfrage abfaßten und von der die erste drei Stücke fast ausschließlich das geistige Werk Kautskys sind, während der vierte Artikel von mir abgefaßt wurde. Aus ihm seien hier noch zwei Sätze zitirt, die den Standpunkt kennzeichnen, den ich zu jener Zeit hinsichtlich der Praxis der Sozialdemokratie vertrat, und die erkennen lassen, wie viel oder wenig sich seitdem in meinen Ansichten geändert hat:
„Schlechtweg Unterhalt aller Erwerbslosen aus Staatsmitteln verlangen, heißt nicht nur Jeden, der nicht Arbeit finden kann, sondern auch Jeden, der nicht Arbeit finden will, auf den Staatstrog verweisen ... Man braucht wirklich kein Anarchist zu sein, um die ewigen Anweisungen auf den Staat des Guten zu viel zu finden ... Wir wollen an dem Grundsatz festhalten, daß der moderne Proletarier zwar arm, aber kein Armer ist. In diesem Unterschied liegt eine ganze Welt, liegt das Wesen unseres Kampfes, die Hoffnung unseres Sieges.“
„Die Form ‚Umwandlung der stehenden Heere zur Volkswehr‘ anstatt ‚Volkswehr an Stelle der stehenden Heere‘ schlagen wir deshalb vor, weil sie das Ziel feststellt und doch der Partei freie Hand läßt, heute, wo die Auflösung der stehenden Heere nun einmal nicht angeht, bereits eine Reihe Maßregeln zu verlangen, die wenigstens den Gegensatz zwischen Heer und Volk möglichst verringern, wie z.B. die Aufhebung der besonderen Militärgerichtsbarkeit, Herabsetzung der Dienstzeit &c. &c. (S. 819, 824, 825).
Da die Frage „Stehendes Heer oder Miliz“ neuerdings der Gegenstand lebhafter Diskussionen geworden ist, wird es am Platze sein, einige Bemerkungen über diesen Gegenstand hier einzuflechten.
Mir scheint zunächst, daß die Frage in der vorbezeichneten Fassung falsch gestellt ist. Es sollte heißen: Regierungsheer oder Volksheer. Damit würde die politische Seite der Frage von vornherein unzweideutig gekennzeichnet: soll das Heer Werkzeug der Regierenden oder die bewaffnete Schutzwehr der Nation bilden, soll es von der Krone oder der Volksvertretung die entscheidenden Weisungen empfangen, auf irgend eine an der Spitze der Nation stehende Person oder auf die Verfassung und die Volksvertretung vereidet werden? Die Antwort kann für keinen Sozialdemokraten zweifelhaft sein. Allerdings ist weder die Volksvertretung sozialistisch noch die Verfassung demokratisch, und so könnte ein der Volksvertretung unterstehendes Heer immer noch gelegentlich zur Unterdrückung von Minderheiten oder thatsächlichen Mehrheiten, die nur im Parlament Minderheit sind, verwendet werden. Aber gegen solche Möglichkeiten giebt es, so lange überhaupt ein Theil der Nation unter Waffen ist, der der jeweiliecn Vertretung der Nation zu folgen hat, keine rettende Formel. Selbst die sogenannte „allgemeine Volksbewaffnung“ wäre meines Erachtens bei der heutigen Technik nur eine illusorische Schutzwehr gegen die organisirte bewaffnete Macht und würde, wenn nicht schon die Zusammensetzung dieser Macht das Volk gegen Vergewaltigung sichert – was aber bei allgemeiner Wehrpflicht immer mehr der Fall – jedesmal blos auf beiden Seiten nutzlose Opfer verursachen. Wo sie heute noch nöthig wäre, würde sie aus politischen Gründen nie bewilligt werden, und wo sie zu haben wäre, wäre sie überflüssig. So sehr ich die Erziehung eines kräftigen, furchtlosen Geschlechts wünsche, so wenig ist mir die allgemeine Volksbewaffnung ein sozialistisches Ideal. Wir gewöhnen uns glücklicherweise immer mehr daran, politische Differenzen anders als durch Schießerei zu erledigen.
Soweit die politische Seite der Frage. Hinsichtlich der technischen (Ausbildung, Dienstzeit unter Waffen &c.) gestehe ich offen, nicht genug Fachkundiger zu sein, um ein abgeschlossenes Urtheil zu haben. Die Beispiele aus früheren Zeiten, die für die schnell eingeschulten Armeen sprechen (Revolutionskriege, Freiheitskriege), können auf die total veränderten Bedingungen der heutigen Kriegführung nicht schlechtweg übertragen werden, und die neuerdings ins griechisch-türkischen und spanisch-amerikanischen Kriege mit Freiwilligen gemachten Erfahrungen erscheinen mir für die Möglichkeiten, mit denen Deutschland zu rechnen hat, ebenfalls nicht ohne Weiteres anwendbar. Denn wenn ich auch der Ansicht biss, daß man die „russische Gefahr“ in unseren Kreisen zuweilen übertreibt oder sie da sucht, wo sie vielleicht am wenigsten ist, gebe ich doch zu, daß ein Land, dessen übergroße Masse der Bevölkerung aus politisch willenlosen, sehr unwissenden Bauern besteht, stets eine Gefahr für seine Nachbarn werden kann. Im gegebenen Falle hieße es daher fähig sein, den Krieg so schnell als möglich in des Feindes Land zu tragen und dort zu führen, da in modernen Ländern Krieg im eigenen Lande schon die halbe Niederlage ist. Die Frage ist somit die, ob eine Milizarmee die Schlagfertigkeit, Sicherheit und Kohäsion besäße, jenes Resultat zu verbürgen, oder eine wie lange Ausbildung unter den Fahnen dazu erfordert wäre. In dieser Hinsicht läßt sich meines Erachtens zunächst nur so viel mit Sicherheit sagen, daß bei gehöriger Heranbildung der Jugend zur Wehrhaftigkeit und Beseitigung aller Reste und Erbschaften des Gamaschendienstes eine sehr bedeutende Herabsetzung der Dienstzeit möglich sein muß, ohne die Wehrkraft der Nation im Geringsten zu beeinträchtigen. Dabei spielt freilich der gute Wille Derer, die zur Zeit au der Spitze der Armee stehen, eine große Rolle, aber diesem guten Willen kann die Volksvertretung schon jetzt durch Druck auf den Militärhaushalt wirksam nachhelfen. Wie bei der Fabrikgesetzgebung würde auch hier eine erzwungene Verkürzung der Dienstzeit manche Dinge möglich machen, welche Zopfgeist und Sonderinteresse jetzt für „unmoglich“ erklären. So ist also – sofern mal auf die Erhaltung einer zum Angriff wie zur Vertheidigung bereiten Wehrkraft überhaupt Werth legt – neben der unerläßlichen Aenderung der politischen Stellung des Heeres die erste Frage nicht die, ob Miliz oder nicht, sondern, welche Verkürzung der Dienstzeit unmittelbar und – schrittweise – späterhin möglich ist, ohne Deutschland seinen Nachbarstaaten gegenüber in Nachtheil zu versetzen.
Hat aber die Sozialdemokratie als Partei der Arbeiterklasse und des Friedens ein Interesse an der Erhaltung der nationalen Wehrhaftigkeit? Unter verschiedenen Gesichtspunkten liegt die Versuchung nahe, die Frage zu verneinen, zumal wen man von dem Satz des Kommunistischen Manifests ausgeht: „Der Proletarier hat kein Vaterland.“ Indeß dieser Satz konnte allenfalls für den rechtlosen, aus dem öffentlichen Leben ausgeschlossenen Arbeiter der vierziger Jahre zutreffen, hat aber heute, trotz des enorm gestiegenen Verkehrs der Nationen miteinander, seine Wahrheit zum großen Theile schon eingebüßt und wird sie immer mehr einbüßen, je mehr durch den Einfluß der Sozialdemokratie der Arbeiter aus einen Proletarier ein – Bürger wird. Der Arbeiter, der in Staat, Gemeinde &c. gleichberechtigter Wähler und dadurch Mitinhaber ans Gemeingut der Nation ist, dessen Kinder die Gemeinschaft ausbildet, dessen Gesundheit sie schützt, den sie gegen Unbilden versichert, wird ein Vaterland haben, ohne darum aufzuhören, Weltbürger zu sein, wie die Nationen sich näher rücken, ohne darum aufzuhören, ein eigenes Leben zu führen. Es mag sehr bequem erscheinen, wenn alle Menschen eines Tages nur eine Sprache sprechen. Aber welch ein Reiz, welch eine Quelle geistigen Genusses ginge damit den Menschen der Zukunft verloren. Die völlige Auflösung der Nationen ist kein schöner Traum und jedenfalls in menschlicher Zukunft nicht zu erwarten. So wenig es aber wünschenswerth ist, daß irgend eine andere der großen Kulturnationen ihre Selbständigkeit verliert, so wenig kann es der Sozialdemokratie gleichgiltig sein, ob die deutsche Nation, die ja ihren redlichen Antheil an der Kulturarbeit der Nationen geleistet hat und leistet, im Rathe der Völker zurückgedrängt wird.
Man spricht heute viel von Eroberung der politischen Herrschaft durch die Sozialdemokratie, und es ist wenigstens bei der Stärke, welche diese in Deutschland erlangt hat, nicht unmöglich, daß ihr dort durch irgend ein politisches Ereigniß in näherer Zeit die eutscheidende Rolle in die Hand gespielt wird. Gerade dann aber würde sie, da die Nachbarvölker noch nicht so weit sind, gleich den Independenten der englischen und den Jakobinern der französischen Revolution, national sein müssen, wenn sie ihre Herrschaft behaupten soll, d.h. sie würde ihre Befähigung zur leitenden Partei, bezw. Klasse, dadurch zu bekräftigen haben, daß sie sich der Aufgabe gewachsen zeigte, Klasseninteressen und nationales Interesse gleich entschieden wahrzunehmen.
Ich schreibe dies ohne jede chauvinistische Anwandlnng nieder, zu der ich wirklich weder Anlaß noch Ursache habe, vielmehr lediglich im objektiver Untersuchung der Pflichten, welche der Sozialdemokratie in einer solchen Sitnation erwachsen würden. Mir steht die Internationalität heute noch so hoch wie zu irgend einer Zeit, und ich glaube auch nicht, daß sie durch die in den vorstehenden Zeilen entwickelten Grundsätze in irgend einer Weise verletzt wird. Nur wenn die Sozialdemokratie sich auf die doktrinäre Propaganda und das sozialistische Experiment beschränkte, würde sie den nationale-politischen Fragen gegenüber in rein kritischer Haltung verharren können. Die politische Aktion aber ist schon an sich der Kompromiß mit der nichtsozialistischen Welt und nöthigt zu Maßnahmen, die nicht von vornherein sozialistisch sind. Im weiteren Verlauf wird indes das Nationale so gut sozialistisch sein wie das Munizipale. Nennen sich doch schon heute Sozialisten demokratischer Staatswesen gern Nationalisten und sprechen unbedenklich von Nationalisirung des Grund und Bodens &c., statt sich auf den Ausdruck Vergesellschaftung zu beschränken, der sehr viel unbestimmter ist und| mehr einen Nothbehelf als eine Verbesserung jenes Wortes darstellt.
In dem Vorhergehendem ist im Prinzip schon der Gesichtspunkt angezeigt, von dem aus die Sozialdemokratie unter den gegenwärtigen Verhältnissen zu den Fragen der auswärtigen Politik Stellung zu nehmen hat. Ist der Arbeiter auch noch kein Vollbürger, so ist er doch nicht mehr in dem Sinne rechtlos, daß ihm die nationalen Interessen gleichgiltig sein können. Und ist die Sozialdemokratie auch noch nicht an der Macht, so nimmt sie doch schon eine Machtstellung ein, die ihr gewisse Verpflichtungen auferlegt. Ihr Wort fällt sehr erheblich in die Wagschale. Bei der gegenwärtigen Zusammensetzung des Heeres und der völligen Ungewißheit über die moralische Wirkung der kleinkalibrigen Geschütze wird die Reichsregierung es sich zehnmal überlegen, ehe sie einen Krieg wagte, der die Sozialdemokratie zu entschiedenen Gegnern hat. Auch ohne den berühmten Generalstreik kann die Sozialdemokratie so ein sehr gewichtiges, wenn nicht entscheidendes Wort für den Frieden sprechen und wird dies gemäß der alten Devise der Internationale so oft und so energisch thun, als dies nur immer nöthig und möglich ist. Sie wird auch, gemäß ihrem Programm, in solchen Fällen, wo sich Konflikte mit anderen Nationen ergeben und direkte Verständigung nicht möglich ist, für Erledigung der Differenz auf schiedsrichterlichem Wege eintreten. Aber nichts gebietet ihr, dem Verzicht auf Wahrung deutscher Interessen der Gegenwart oder Zukunft das Wort zu reden, wenn oder weil englische, französische oder russische Chauvinisten an den entsprechenden Maßnahmen Anstoß nehmen. Wo es sich auf deutscher Seite nicht blos um Liebhabereien oder Sonderinteressen einzelner Kreise handelt, die für die Volkswohlfahrt gleichgiltig oder gar nachtheilig sind, wo in der That wichtige Interessen der Nation in Frage stehen, kann die Internationalität kein Grund schwächlicher Nachgiebigkeit gegenüber den Prätensionen ausländischer Interessenten sein.
Es ist dies keine neue Auffassung, sondern einfach die Zusammenfassung des Gedankenganges, der fast allen Aeußerungen von Marx, Engels und Lassalle über Fragen der auswärtigen Politik zu Grunde liegt. Es ist auch keine den Frieden gefährdende Haltung, die damit empfohlen wird. Die Nationen gehen heute nicht mehr so leicht in den Krieg, und ein festes Auftreten kann unter Umständen dem Frieden dienlicher sein als fortgesetzte Nachgiebigkeit.
Die Doktrin vom europäischen Gleichgewicht gilt heute Vielen als überlebt, und im ihrer alten Form ist sie es auch. Aber in veränderter Gestalt spielt das Gleichgewicht der Mächte bei der Entscheidung internationaler Streitfragen noch eine große Rolle. Es kommt gelegentlich noch immer darauf an, eine wie starke Kombination von Mächten für eine bestimmte Maßnahme eintritt, um die Durchführung herbeizuführen oder zu verhindern. Sich für solche Fälle das Recht des Mitsprechens zu sichern, halte ich für eine legitime Aufgabe der deutschen Reichspolitik, und den entsprechenden Schritten prinzipiell zu opponiren für außerhalb des Aufgabenbereichs der Sozialdemokratie fallend.
Um ein bestimmtes Beispiel zu wählen. Die Pachtung der Kiautschoubucht ist seinerzeit von der sozialistischen Presse Deutschlands sehr abfällig kritisirt worden. Soweit diese Kritik sich auf die Umstände bezog, unter denen die Pachtung erfolgte, war sie das Recht, ja, die Pflicht der sozialdemokratischen Presse. Nicht minder richtig war es, auf das Entschiedenste der Einleitung oder Förderung einer Politik der Auftheilung Chinas zu opponiren, weil diese Auftheilung ganz und gar nicht im Interesse Deutschlands liegt. Wenn aber einige Blätter noch weiter gegangen sind und erklärt haben, die Partei müsse unter allen Umständen und grundsätzlich die Erwerbung der Bucht verurtheilen, so kann ich mich dem durchaus nicht anschließen.
Dem deutsche Volk hat kein Interesse daran, daß China aufgetheilt und Deutschland mit einem Stück Reich der Mitte abgefunden wird. Aber das deutsche Volk hat ein großes Interesse daran, daß China kein Raub anderer Nationen wird, es hat ein großes Interesse daran, daß Chinas Handelspolitik nicht dem Interesse einer einzelnen fremden Macht oder einer Koalition fremder Mächte untergeordnet werde – kurz, daß in Bezug auf alle, China betreffenden Fragen Deutschland ein entschiedenes Wort mitzusprechen habe. Sein Handel mit China erheischt ein solches Einspruchsrecht. Insofern nun die Erwerbung der Kiautschoubucht ein Mittel ist, ihn dieses Einspruchsrecht zu sichern und es zu stärken – und daß sie dazu beiträgt, wird schwerlich bestritten werden können – liegt meines Erachtens darin ein Grund für die Sozialdemokratie, sich nicht prinzipiell gegen sie aufzulehnen. Von der Art, wie die Erwerbung eingeleitet, und den guten Reden, mit denen sie begleitet wurde, abgesehen, war sie nicht der schlechteste Streich der auswärtigen Politik Deutschlands.
Es handelt sich um die Sicherung des freien Handels mit und in China. Dem daß auch ohne jene Erwerbung China in steigendem Grade in den Kreis der kapitalistischen Wirthschaft gezogen würde, auch ohne sie Rußland seine Politik der Umklammerung fortgesetzt und bei der ersten Gelegenheit die maudschurischen Häfen okkupirt hätte, kann keinen Zweifel unterliegen. Es war also nur die Frage, ob Deutschland ruhig zuschauen sollte, wie durch Schaffung einer vollendeten Thatsache nach der anderen China immer mehr in Abhängigkeit von Rußland gerieth, oder sich eine Position sichern sollte, auf Grund deren es auch unter normalen Verhältnissen jederzeit seinen Einfluß auf die Gestaltung der Dinge in China geltend machen kann, statt sich mit nachträglichen Protesten begnügen zu müssen. Soweit lief und läuft die Pachtung der Kiautschoubucht auf den Erwerb einer Bürgschaft für die zukünftigen Interessen Deutschlands in China hinaus, als was sonst sie auch proklamirt wurde, und soweit könnte auch die Sozialdemokratie sie gutheißen, ohne sich das Geringste an ihren Prinzipien zu vergeben.
Indeß kann es sich, bei der Unverantwortlichkeit der Leitung der auswärtigen Politik Deutschlands, gar nicht um deren positive Unterstützung, sondern nur um die richtige Begründung des negativen Verhaltens der Sozialdemokratie handeln. Ohne Garantie dafür, daß solche Unternehmungen nicht doch über den Kopf der Volksvertretung hinweg zu anderen als den angegebenen Zwecken ausgenützt werden, etwa als Mittel, um irgend einen kleinen Tageserfolg zu erzielen, der die größeren Interessen der Zukunft preisgiebt – ohne solche Bürgschaften kann die Sozialdemokratie keinen Antheil an der Verantwortung für Maßregeln der auswärtigen Politik auf sich nehmen.
Somit läuft, wie wie man sieht, die hier entwickelte Regel für die Stellungnahme zu den Fragen der auswärtigen Politik so ziemlich auf die bisher in der Praxis von der Sozialdemokratie beobachtete Haltung hinaus. Inwieweit sie in ihren grundsätzlichen Voraussetzungen mit der in der Partei herrschenden Anschauungsweise übereinstimmt, liegt nicht bei mir zu erörtern.
Im Großen und Ganzen spielt bei diesen Dingen die Ueberlieferung eine viel größere Rolle, als wir meinen. Es liegt in der Natur aller vorwärts strebenden Parteien, auf schon vollzogene Aenderungen nur geringes Gewicht zu legen. Ihr Hauptaugenmerk ist stets auf das gerichtet, was sich noch nicht geändert hat, eine für bestimnite Zwecke – das Setzen von Zielen – ganz berechtigte und nützliche Tendenz. Durchdrungen von ihr verfallen solche Parteien aber auch leicht der Gewohnheit, länger als nöthig oder nützlich an überkommenen Urtheilen festzuhalten, an deren Voranssetzungen sich sehr viel geändert hat. Sie übersehen oder unterschätzen diese Veränderungen, sie suchen immer mehr nach Thatsachen, jene Urtheile trotzdem als richtig erscheinen zu lassen, als sie auf Grund der Gesammtheit der einschlägigen Thatsachen die Frage untersuchen, ob das Urtheil nicht mittlerweile Vorurtheil geworden ist.
Solch politischer Apriorismus scheint mir auch oft bei der Behandlung der Frage der Kolonien eine Rolle zu spielen.
Prinzipiell ist es für den Sozialismus oder die Arbeiterbewegung heute ganz gleichgiltig, ob neue Kolonien Erfolge erzielen oder nicht. Die Vorstellung, daß die Ausbreitung der Kolonien die Verwirklichung des Sozialismus aufhalten werde, beruht zuletzt auf der ganz veralteten Idee, daß die Verwirklichung des Sozialismus von der zunehmenden Verengerung des Kreises der ganz Wohlhabenden und der steigenden Verelendung der Massen abhänge. Daß die erstere ein Märchen ist, ward in den früheren Abschnitten nachgewiesen, und die Elendstheorie ist nun so ziemlich allgemein aufgegeben worden, wenn nicht mit allen Konsequenzen und gerade heraus, so doch mindestens in der Form, daß man sie möglichst hinweginterpretirt. [34] Aber selbst wenn sie richtig wäre, sind die Kolonien, um welche es sich heute für Deutschland handelt, auch entfernt nicht im Staude, so schnell auf die sozialen Zustände daheim zurückzuwirken, daß sie einen etwaigen Zusammenbruch auch nur um ein Jahr aufhalten könnten. In dieser Hinsicht hätte die deutsche Sozialdemokratie von der Kolonialpolitik des Deutschen Reiches ganz und gar nichts zu fürchten. Und weil dem so ist, weil die Entwicklung der Kolonien, die Deutschland erworben hat (und von denen, die es etwa noch erwerben könnte, gilt das Gleiche), so viel Zeit in Anspruch nehmen wird, daß von nennenswerther Rückwirkung auf die sozialen Verhältnisse Deutschlands auf lange Jahre hinaus nicht die Rede sein kann, gerade aus diesem Grunde kann die deutsche Sozialdemokratie auch die Frage dieser Kolonien ohne Voreingenommenheit behandeln. Selbst von ernsthafter Rückwirkung des Kolonialbesitzen auf die politischen Verhältnisse in Deutschland kann nicht die Rede sein. Der Marinechauvinismus z.B. steht unzweifelhaft mit dem Kolonialchauvinismus in enger Verbindung und zieht aus ihm eine gewisse Nahrung. Aber er würde auch ohne ihn bestehen, wie Deutschland seine Marine hatte, lange ehe es an den Erwerb von Kolonien dachte. Immerhin ist einzuräumen, daß dieser Zusammenhang noch ans ehesten geeignet ist, eine grundsätzliche Bekämpfung der Kolonialpolitik zu rechtfertigen.
Sonst liegt wohl Grund vor, bei Erwerbung von Kolonien stets deren Werth und Aussichten streng zu prüfen und die Abfindung und Behandlung der Eingeborenen, sowie die sonstige Verwaltung scharf zu kontrolliren, aber kein Grund, solchen Erwerb als etwas von vornherein Verwerfliches zu betrachten. Ihre, durch das gegenwärtige Regierungssystem gebotene politische Stellung verbietet der Sozialdemokratie, in diesen Dingen eine andere als kritisirende Haltung einzunehmen, und die Frage, ob Deutschland heute der Kolonien bedarf, kann hinsichtlich der Kolonien, die überhaupt noch zu haben sind, mit gutem Fug verneint werden. Aber auch die Zukunft hat an uns ihre Rechte. Wenn wir berücksichtigen, daß Deutschland zur Zeit jährlich ganz erhebliche Mengen Kolonialprodukte einführt, so müssen wir uns auch sagen, daß einmal die Zeit kommen kann, wo es wünschenswerth sein mag, mindestens einen Theil dieser Produkte aus eigenen Kolonien beziehen zu können. Wir mögen uns den Gang der Entwicklung in Deutschland so rasch wie nur möglich vorstellen, so werden wir uns doch darüber keinen Täuschungen hingeben können, daß in einer ganzen Reihe anderer Länder es noch eine geraume Zeit braucht, bis sie zum Sozialismus übergehen werden. Wenn es aber nicht verwerflich ist, die Produkte tropischer Pflanzungen zu genießen, so kann es auch nicht verwerflich sein, solche Pflanzungen selbst zu bewirthen. Nicht das Ob, sondern das Wie ist hier das Entscheidende. Es ist weder nöthig, daß Besetzung tropischer Länder durch Europäer den Eingeboreneb Schaden an ihrem Lebensgenuß bringt, noch ist es selbst bisher durchgängig der Fall gewesen. Zudem kann nur ein bedingtes Recht der Wilden auf den von ihnen besetzten Boden anerkannt werden. Die höhere Kultur hat hier im äußersten Falle auch das höhere Recht. Nicht die Eroberung, sondern die Bewirthung des Bodens giebt den geschichtlichen Rechtstitel auf seine Benutzung. [35]
Dies die wesentlichen Gesichtspunkte, welche meines Erachtens für die Stellung der Sozialdemokratie zu den Fragen der Kolonialpolitik maßgebend sein sollten. Auch sie würden in der Praxis keine nennenswerthe Aenderung in den Abstimmungen der Partei herbeiführen, aber es kommt, wiederhole ich, nicht nur darauf an, wie im gegebenen Fall abgestimmt wird, sondern auch, wie diese Abstimmung begründet wird.
Es giebt in der Sozialdemokratie Leute, denen jedes Eintreten für nationale Interessen als Chauvinismus oder Verletzung der Internationalität und der Klassenpolitik des Proletariats erscheint. Wie seiner Zeit Domela Nieuwenhuis Bebels bekannte Erklärung, daß im Falle eines Angriffs von Seiten Rußlands die Sozialdemokratie für die Vertheidigung Deutschlands ihren Mann stellen werde, für Chauvinismus erklärte, so fand auch neuerdings Herr Belfort Bax in einer ähnlichen Erklärung H.M. Hyndmans verwerflichen Jingoismus. [36] Es soll nun zugegeben werden, daß es nicht immer leicht ist, die Grenze zu bestimmen, wo die Vertretung der Interessen der eigenen Nation aufhört berechtigt zu sein und in Afterpatriotismus übergeht; aber das Heilmittel gegen Uebertreibungen nach dieser Seite hin liegt sicherlich nicht in noch größerer Uebertreibung nach der anderen Seite. Es ist vielmehr im regen Gedankenaustausch der Demokratien der Kulturländer zu suchen und in Unterstützung aller für den Frieden wirkenden Faktoren und Institute.
Kehren wir jedoch zur Frage der nächsten Forderungen des Parteiprogramms zurück. Wenn einige dieser Forderungen in der Agitation und parlamentarischen Aktion der Partei bisher gar nicht oder nur in Form von Theilreformen auf die Tagesordnung gestellt wurden, so ist hinsichtlich anderer das Ziel hier und da schon weiter gesteckt worden, als es das Programm verlangt. So fordert dieses, daß die Erwerbsarbeit der Kinder unter vierzehn Jahren verboten werde, auf dem Züricher Arbeiterschutzkongreß von 1897 ward dagegen fünfzehn Jahre als die Mindestgrenze für die Erwerbsarbeit der Kinder bezeichnet, und verschiedenen Sozialisten ist auch das noch zu wenig. Es ist indeß meine Ueberzeugung, daß unter den gegebenen Verhältnissen diese Erweiterung nicht als eine Verbesserung betrachtet werden kann. Wird die Arbeitszeit auf ein Maß beschränkt, wie es der junge Körper ohne Schaden verträgt und das ausreichende Zeit zu Spiel, Erholung und Fortbildung frei läßt, so ist der Beginn produktiven Arbeitens für junge Leute, die das vierzehnte Lebensjahr zurückgelegt haben, kein so großes Uebel, daß ein allgemeines Verbot gegen sie nöthig wäre. Es kommt da ganz auf die Natur und die Bedingungen der Arbeit an, wie das übrigens die Gesetzgebung prinzipiell heute schon anerkennt, indem sie für einzelne Gewerbe die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter ganz verbietet, in anderen die Tageszeiten genau bestimmt, während deren sie stattfinden darf. In der Weiterausbildung dieser Regulirungen, sowie in der Vervollkommnung des Unterrichtswesens sehe ich die rationelle Entwicklung des Jugendschutzes und nicht in mechanischer Heraufsetzung der Altersgrenze fair die gewerbliche Arbeit.
Der Zusammenhang dieser Frage mit der Schulfrage ist übrigens allgemein anerkannt. Von der Schule her und in Verbindung mit dieser ist die Frage der jugendlichen Arbeit zu regeln, wenn das Resultat befriedigend sein soll. [37] Wo und soweit die gewerbliche Arbeit der Gesundheitspflege und den
geistigen und sittlichen Erziehungsaufgaben der Schule Eintrag thut, ist sie zu verbieten, dagegen ist jedes allgemeine Verbot, das auch nicht mehr schulpflichtige Altersklassen trifft, entschieden zu verwerfen. Ganz und gar verkehrt ist es, in diese Frage solche ökonomische Rücksichten wie Beschränkung der Produktion oder Arbeiterkonkurrenz hineinspielen zu lassen. In Gegentheil wird es immer gut sein, sich gegenwärtig zu halten, daß die produktive oder, um einen weniger zweideutigen Ausdruck zu gebrauchen, die gesellschaftlich nützliche Arbeit einen hohen Erziehungswerth besitzt und schon darum nicht als eine Sache betrachtet werden darf, die um ihrer selbst willen bekämpfenswerth ist.
Von größerer Bedeutung als die Frage der Erhöhung der schon auf den Programm stehenden Forderungen ist heute die Frage der Ergänzung des Parteiprogramms. Hier hat die Praxis eine ganze Reihe von Fragen auf die Tagesordnung gesetzt, die bei Schaffung des Programms theils als in noch zu weiter Ferne liegend betrachtet wurden, als daß die Sozialdemokratie sich speziell mit ihnen zu befassen hätte, theils aber auch in ihrer Tragweite nicht hinreichend erkannt wurden. Hierhin gehören die Agrarfrage, die Fragen der Kommunalpolitik, die Genossenschaftsfrage und verschiedene Fragen des gewerblichen Rechts. Das große Wachsthum der Sozialdemokratie in den acht Jahren seit Abfassung des Erfurter Programms, seine Rückwirkung auf die innere Politik Deutschlands, sowie die Erfahrungen anderer Länder, haben die intimere Beschäftigung mit all diesen Fragen unabweisbar gemacht, und dabei sind denn manche Ansichten, die damals hin sichtlich ihrer vorherrschten, wesentlich berichtigt worden.
Was die Agrarfrage anbetrifft, so haben selbst diejenigen, die die bäuerliche Wirthschaft für den Untergang geweiht betrachtet, ihre Anschauungen über den Zeitmaß der Vollziehung dieses Untergangs erheblich geändert. Bei den neueren Debatten über die von der Sozialdemokratie zu beobachtende Agrarpolitik haben zwar auch noch große Meinungsverschiedenheiten über diesen Punkt mitgespielt, aber prinzipiell drehten diese sich darum, ob und gegebenenfalls bis zu welcher Grenze die Sozialdemokratie dem Bauern als solchen, d.h. als selbständigem ländlichem Unternehmer, gegen den Kapitalismus Beistand zu leisten habe.
Die Frage ist leichter gestellt als beantwortet. Daß die große Masse der Bauern, wenn sie auch keine Lohnarbeiter sind, dennoch zu den arbeitenden Klassen gehören, d.h. ihre Existenz nicht ans bloßem Besitztitel oder Geburtsprivilegium ziehen, stellt sie von vornherein der Lohnarbeiterschaft näher. Andererseits bilden sie in Deutschland einen so bedeutenden Bruchtheil der Bevölkerung, daß bei Wahlen in sehr vielen Kreisen ihre Stimmen den Entscheid zwischen kapitalistischen und sozialistischen Parteien geben. Wollte oder will die Sozialdemokratie sich nicht darauf beschränken, Arbeiterpartei in dem Sinne zu sein, daß sie im Wesentlichen nur die politische Ergänzung der Gewerkschaftsbewegung bildet, so muß sie darauf bedacht sein, mindestens einen großen Theil der Bauern an Siege ihrer Kandidaten zu interessiren. Das geht bei der Masse der Kleinbauern auf die Dauer nur dadurch, daß man für Maßregeln eintritt, die ihnen in unmittelbarer Zukunft Besserung in Aussicht stellen, ihnen unmittelbare Erleichterung bringen. Aber die Gesetzgebung kann bei vielen dahin zielenden Maßregeln nicht zwischen Klein- und Mittelbauer unterscheiden, und andererseits kann sie nicht dem Bauer als Staatsbürger und Arbeiter helfen, ohne ihn mindestens indirekt auch als „Unternehmer“ zu unterstützen.
Es zeigt sich dies unter Anderem an dem Programm sozialistischer Agrarpolitik, das Kautsky am Schlusse seines Werkes über die Agrarfrage unter der Rubrik Die Neutralisirung der Bauernschaft skizzirt hat. Kautsky weist überzeugend nach, daß selbst nach einem Siege der Sozialdemokratie für diese kein Grund vorliege, die Beseitigung der bäuerlichen Gitter mit Hochdruck zu betreiben, ist aber auch zugleich entschiedener Gegner der Unterstützung solcher Maßregeln oder Aufstellung solcher Forderungen, die daran abzielen, „Bauernschutz, in dem Sinne zu bilden, daß sie den Bauer als Unternehmer künstlich erhalten. Er schlägt nun eine ganze Reihe von Reformen vor, bezw. erklärt ihre Unterstützung für zulässig, die auf Entlastung der Landgemeinden und Vermehrung ihrer Einnahmequellen hinauslaufen. Welcher Klasse aber würden diese Maßregeln in erster Reihe zu Gute kommen? Nach Kautskys eigenen Darlegung den Bauern. Denn, wie er an anderer Stelle seines Werkes betont, könne auf dem Lande selbst unter der Herrschaft des allgemeinen Stimmrechts von nennenswerther Einwirkung des Proletariats auf die Gemeindeangelegenheiten nicht die Rede sein. Dazu sei es dort zu isolirt, zu rückständig, zu abhängig von den wenigen Arbeitgebern, die es kontrolliren. „An eine andere Kommunalpolitik als eine im Interesse des Grundbesitzes ist da nicht zu denken.“ Ebenso wenig sei heute „an eine moderne Landwirthschaft durch die Gemeinde, an einen genossenschaftlichen landwirthschaftlichen Großbetrieb, betrieben von der Dorfgemeinde, zu denken.“ (Die Agrarfrage, S. 337 u. 338.) Soweit und solange das richtig, würden aber Maßregeln wie „Einverleibung der Jagdbezirke des großen Grundbesitzes in die Landgemeinden“, „Verstaatlichung der Schul-, Armen- und Wegelasten, offenbar zur Verbesserung der okonomischen Lage der Bauern und damit auch zur Befestigung ihres Besitzes beitragen, praktisch also doch als Bauernschutz wirken.
Unter zwei Voraussetzungen scheint mir das Eintreten für solchen Bauernschutz als unbedenklich: Erstens daß ihm ein kräftiger Schutz der ländlichen Arbeiter gegenübersteht, und zweitens daß, was ohnehin Vorbedingung seiner Verwirklichung ist, Demokratie in Staat und Gemeinde herrscht. [38] Beides ist auch bei Kautsky unterstellt. Aber Kautsky unterschätzt das Gewicht der läündlichen Arbeiter in der demokratisirten Landgemeinde. So hilflos wie er es an der angegebenen Stelle beschreibt, sind die Landarbeiter nur noch in solchen Gemeinden, die ganz außerhalb des Verkehrs liegen, und deren Zahl wird immer geringer. Im Allgemeinen ist der Landarbeiter, wofür Kautsky selbst genug Material vorführt, sich heute schon seiner Interessen ziemlich bewußt und würde es unter den allgemeinen Stimmrecht immer mehr werden. Außerdem bestehen in den meisten Gemeinden zwischen den Bauern selbst allerhand Interessengegensätze, und zählt die Dorfgemeinde in Handwerkern und kleineren Geschäftsleuten Elemente, die in vielen Dingen mehr Interessen mit den Landarbeitern als mit der Bauernaristokratie gemein haben. All das würde es in den wenigsten Fällen dazu kommen lassen, daß die Landarbeiter allein einer geschlossenen „reaktionären Masse“ gegenüberständen. Auf die Dauer müßte vielmehr auch in der Landgemeinde die Demokratie im Sinne des Sozialismus wirke. Ich halte die Demokratie im Verein mit den Rückwirkungen der großen Umwälzungen im Verkehrswesen für mächtigere Hebel der Emanzipation der Landarbeiter, wie die technischen Veränderungen der bäuerlichen Wirthschaft.
Faktisch ist übrigens Kautskys Programm in der Hauptsache, und zwar grade in den Punkten, auf die er das größte Gewicht legt, blos Anwendung der Forderungen der bürgerlichen Demokratie auf die Agrarverhältnisse, verstärkt durch ausgedehnte Schutzbestimmungen für die ländlichen Arbeiter. Nach dem Vorausgeschickten liegt es auf der Hand, daß dies in meinen Augen nichts weniger als ein Tadel sein soll. Auch sage ich damit nichts, was nicht Kautsky selbst sehr ausdrücklich hervorgehoben hat. Er meint sogar, seinem Programm den Titel eines sozialdemokratischen Agrarprogramms absprechen zu müssen, weil dessen Forderungen zu Gunsten der Landarbeiter in der ländlichen Selbstverwaltung theils schon in den Arbeiterschutzforderungen und den nächsten politischen Forderungen der Sozialdemokratie im Wesentlichen enthalten seien, theils aber, außer der Forderung der Verstaatlichung der Wald- und Wasserwirthschaft, nur „kleine Mittel“ aufzählen, die anderwärts theilweise schon durchgeführt seien, und bezüglich deren sich die Sozialdemokratie von anderen Parteien nur durch die Rücksichtslosigkeit unterscheide, mit der sie das Allgemeininteresse gegen das Privateigenthum vertreten. Indeß hängt es ja auch gar nicht von der Tragweite der einzelnen Forderungen, sondern vom Charakter und der Tragweite der Gesammtheit der Forderungen in ihrem Znsammenhange ab, ob ein Programm als sozialdemokratisch bezeichnet werden kann oder nicht. Die Sozialdemokratie kann als nächste Forderungen nur solche aufstellen, die auf die Verhältnisse in der Gegenwart passen, wobei die Bedingung ist, daß sie in sich den Keim zur Weiterentwicklung in der Richtung der von ihr erstrebten Gesellschaftsordnung tragen. Es giebt aber keine Forderung dieser Art, für welche nicht die eine oder die andere nichtsozialdemokratische Partei auch eintreten könnte und wird. Eine Forderung, die alle bürgerlichen Parteien nothwendigerweise zu prinzipiellen Gegnern hätte, wäre durch diese Thatsache allein als utopistisch gekennzeichnet. Die Sozialdemokratie kann andererseits Forderungen, die unter den gegebenen Wirthschafts- und Machtverhältnissen mehr zur Befestigung der heutigen Eigenthums- und Herrschaftsverhältnisse als zur Lockerung derselben dienen würden, nicht daraufhin aufstellen, daß die betreffenden Maßregeln unter anderen Verhältnissen, auf einer vorgerückteren Stufe der Entwicklung Hebel zur sozialistischen Umgestaltung der Produktion werden können. Eine solche Forderung, von der Kautsky nach sorgfältiger Prüfung Abstand genommen hat, ist z.B. die der Verstaatlichung der Hypotheken. Die ist heute keine Sache der Sozialdemokratie.
Ich versage es mir, Kautskys Programm, dem ich, wie schon bemerkt, prinzipiell durchaus zustimme, in allen Einzelheiten durchzugehen, glaube aber einige auf dasselbe bezügliche Bemerkungen nicht unterdrücken zu sollen. Für mich lassen sich, wie schon dargelegt, die Hauptaufgaben, welche die Sozialdemokratie heute gegenüber der Landbevölkerung zu erfüllen hat, in drei Gruppen zerlegen. Nämlich 1) Bekämpfung aller noch vorhandenen Reste und Stützen der Grundbesitzerfeudalität und Kampf für die Demokratie in der Gemeinde und dem Distrikt. Also Eintreten für Aufhebung der Fideikommisse, der Gutsbezirke, der Jagdprivilegien &c., wie bei Kautsky. In Kautskys Fassung, durch Führung vollster Selbstverwaltung in der Gemeinde und der Provinz scheint mir das Wort „vollster“ nicht gut gewählt und würde ich es durch das Wort „demokratisch“ ersetzen. Superlative sind fast immer irreführend. „Vollste Selbstverwaltung“ kann auf den Kreis der Theilnehmer gehen, wo das, was es sagen will, sicher besser durch demokratische Selbstverwaltung bezeichnet wird; es kann aber auch auf die Verfügungsrechte gehen, und da würde es einen Absolutismus der Gemeinde bedeuten, der weder nöthig ist, noch mit den Anforderungen einer gesunden Demokratie vereinbar wäre. Ueber der Gemeinde steht, ihr bestimmte Funktionen zuweisend und das Gesammtinteresse gegen ihr Sonderinteresse vertretend, die allgemeine Gesetzgebung der Nation. 2) Schutz und Entlastung der arbeitenden Klassen in der Landwirthschaft. Unter diese Rubrik fällt der Arbeiterschutz im engeren Sinne: Aufhebung der Gesindeordnung, Begrenzung der Arbeitszeit der verschiedenen Kategorien der Lohnarbeiter, Gesundheitspolizei, Unterrichtswesen, sowie solche Maßregeln, welche den Kleinbauern als Steuerzahler entlasten. In Hinsicht des Arbeiterschutzes scheint mir Kautskys Vorschlag, die Arbeit der jugendlichen Arbeiter zwischen 7 Uhr Abends und 7 Uhr Morgens zu verbieten, nicht zweckmäßig. In den Sommermonaten würde dies Verlegung der Arbeiten von den Morgenstunden in die heißeste Tageszeit bedeuten, wo jetzt vielmehr gewöhnlich die Arbeit gänzlich ruht. Auf dem Lande wird im Sommer allgemein früh aufgestanden, und für gewisse Arbeiten in der Erntezeit ist zeitiger Beginn unumgänglich. [39] Der Normalarbeitstag läßt sich auf dem Laude nicht in der gleichen Weise durchführen wie in der Industrie. Seine Verwirklichung ist nur möglich, wie diess Kautsky auch selbst ausführt, durch das Mittel eines Arbeitsplans, der für den ganzen Turnus der Arbeiten des Jahres festgesetzt wird, auf die Natur der verschiedenen, vom Wetter &c. abhängigen Saisonarbeiten Rücksicht nimmt, und dem für die jüngeren Arbeiter ebenso wie für die Erwachsenen ein Durchschnitt des Maximums der zulässigen Arbeitszeit zu Grunde gelegt wird. Dem Normalarbeitstag von acht Stunden für die Erwachsenen würde dann ein Normalarbeitstag von sechs Stunden für die jungen Leute entsprechen. 3) Bekämpfung des Eigenthumsabsolutismus und Förderung des Genossenschaftswesens. Hierunter fallen Forderungen wie „Einschränkung der Rechte des Privateigenthums an Boden zur Förderung: 1) der Separation, der Aufhebung der Gemenglage, 2) der Landeskultur, 3) der Seuchenverhütung.“ (Kautsky) „Reduzirung übermäßiger Pachtzinsen durch dazu eingesetzte Gerichtshöfe.“ (Kautsky) Bau gesunder und bequemer Arbeiterwohnungen durch die Gemeinden. „Erleichternng des genossenschaftlichen Zusammenschlusses durch die Gesetzgebung.“ (Kautsky) Berechtigung der Gemeinden, Boden durch Kauf oder Expropriation zu erwerben und an Arbeiter und Arbeitergenossenschaften zu billigem Zins zu verpachten. [40]
Diese letztere Forderung leitet zur Genossenschaftsfrage über. Nach dem, was im Abschnitt über die ökonomischen Möglichkeiten der Genossenschaften gesagt wurde, kann ich hier kurz sein. Es handelt sich heute nicht mehr darum, ob Genossenschaften sein sollen oder nicht. Sie sind und werden sein, ob die Sozialdemokratie es will oder nicht. Zwar könnte oder kann sie durch das Gewicht ihres Einflusses auf die Arbeiterklasse die Ausbreitung der Arbeitergenossenschaften verlangsamen, aber dadurch würde sie weder sich noch der Arbeiterklasse einen Dienst leisten. Ebenso wenig empfiehlt sich das spröde Manchesterthum, das vielfach in der Partei gegenüber der Genossenschaftsbewegung an den Tag gelegt und mit der Erklärung begründet wird, es könne innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft keine sozialistischen Genossenschaften geben. Es gilt vielmehr bestimmt Stellung zu nehmen und sich klar zu werden, welche Genossenschaften die Sozialdemokratie empfehlen und nach Maßgabe ihrer Mittel moralisch unterstützen kann und welche nicht. Die Resolution, welche der Berliner Parteitag von 1892 bezüglich des Genossenschaftswesens gefaßt hat, ist schon deshalb ungenügend, weil sie nur eine Form desselben, die industrielle Produktivgenossenschaft, im Auge hat, gegenüber der, soweit sie als selbständiges Konkurrenzunternehmen gegen die kapitalistischen Fabriken gedacht ist, allerdings die größte Sprödigkeit am Platze ist. Aber was von ihren wirthschaftlichen Möglichkeiten gilt, gilt nicht von anderen Formen der genossenschaftlichen Unternehmung. Es gilt nicht von dem Konsumgenossenschaften und den mit ihnen verbundenen Produktionsanstalten. Und es fragt sich, ob es nicht auch hinfällig ist hinsichtlich der ländlichen Genossenschaft.
Wir haben gesehen, welchen außerordentlichen Aufschwung die Kredit-, Einkaufs-, Molkerei-, Werk- und Vertriebsgenossenschaften in allen modernen Ländern bei der Landbevölkerung nehmen. Aber diese Genossenschaften sind in Deutschland durchgängig Bauerngenossenschaften, Repräsentanten der „Mittelstandsbewegung“ auf dem Lande. Daß sie im Verein mit der Verbilligung des Zinsfußes, die die steigende Kapitalakkumulation mit sich bringt, in der That viel dazu beitragen können, bäuerliche Wirthschaften gegenüber dem Großbetrieb konkurrenzfähig zu erhalten, halte ich für unwiderlegt. Diese bäuerlichen Genossenschaften sind denn auch zumeist der Tummelplatz von antisozialistischen Elementen, von kleinbürgerlichen Liberalen, Klerikalen, Antisemiten. Für die Sozialdemokratie kommen sie heute fast überall außer Betracht, wenn es auch in ihren Reihen manchen Kleinbauern geben mag, dem die Sozialdemokratie näher steht als jene Parteien. Den Ton giebt bei ihnen der Mittelbauer an. Wenn die Sozialdemokratie jemals Aussicht hatte, durch das Mittel der Genossenschaften stärkeren Einfluß auf die betreffende Schicht der Landbevölkerung zu gewinnen, so hat sie den Anschluß eben verpaßt. Für sie kann oder könnte heute nur die Genossenschaft der Landarbeiter und Zwergbauern in Betracht kommen, deren Foren noch nicht gefunden oder jedenfalls noch nicht erprobt ist. Bedenken wir aber, daß dauernde gewerkschaftliche Organisationen der Landarbeiter bisher selbst in England noch nicht möglich gewesen sind, wo keine Gesindeordnung und kein Koalitionsverbot sie hindern, daß daher ihre Aussichten auch bei uns sehr gering sind, während andererseits alle möglichen Agenten heute am Werke sind, durch Rentengüter und ähnliche Schöpfungen Landarbeiter an die Scholle zu ketten, dann müssen wir uns auch sagen, daß der Sozialdemokratie die Aufgabe zufällt, mindestens einen Weg aufzuzeigen, der die Landarbeiter befähigte, sich auf ihre eigene Weise das Mittel der Genossenschaft zu Nutze zu machen. Die wichtigsten Erfordernisse dazu sind: genügender Grund und Boden und Eröffnung von Absatzmöglichkeiten. Im Hinblick auf das Erstere scheint mir die oben formulirte Forderung, wonach die Gemeinden das Recht erhalten sollten, Boden durch Expropriation zu erwerben und zu billigen Bedingungen an Arbeitergenossenschaften zu verpachten, diejenige, die bei demokratischer Entwicklung am nächsten liegt. Die Absatzmöglichkeit aber würden der ländlichen Arbeitergenossenschaft, sofern sie mit dem Boykott der kapitalistischen Geschäftswelt zu kämpfen hätte, die Arbeiterkonsumgenossenschaften der Städte bieten können.
Indeß stehen die ländlichen Arbeitergenossenschaften damit noch auf dem Papier, denn die Demokratie soll erst noch erkämpft werden. Es könnte nun noch die Gründung solcher durch Selbsthilfe oder Privatmittel in Betracht kommen, wie F. Oppenheimer sie vorschlägt. Das ist aber eine Sache, die ebenso wie die Gründung von Konsumgenossenschaften für die Sozialdemokratie als Partei außerhalb des Bereichs ihrer Aufgaben liegt. Als politische Kampfpartei kann sie sich nicht auf wirthschaftliche Experimente einlassen. Ihre Aufgabe ist es, die gesetzlichen Hindernisse aus dem Wege zu räumen, welche der genossenschaftlichen Bewegung der Arbeiter im Wege stehen, und für die zweckmäßige Umgestaltung derjenigen Verwaltungsorgane zu kämpfen, die eventuell berufen sind, die Bewegung zu fördern.
Wenn aber die Sozialdemokratie als Partei nicht den Beruf hat, Konsumgenossenschaften zu gründen, so heißt das nicht, daß sie ihnen kein Interesse widmen soll. Die beliebte Erklärung, die Konsumgenossenschaften seien keine sozialistischen Unternehmungen, beruht auf demselben Formalismus, wie er lange gegenüber den Gewerkschaften geübt wurde und jetzt anfängt, den entgegengesetzten Extrem Platz zu machen. Ob eine Gewerkschaft oder ein Arbeiter-Konsumverein sozialistisch sind oder nicht, hängt nicht von ihrer Form ab, sondern von ihren Wesen, von dem Geiste, der sie durchdringt. Sie sind sicherlich niemals der Wald, aber sie sind Bäume, die sehr nützliche Theile und wahre Zierden des Waldes abgeben können. Unbildlich gesprochen, sie sind nicht der Sozialismus, aber sie tragen als Arbeiterorganisationen genug vom Element des Sozialismus in sich, um sich zu werthvollen und unerläßlichen Hebeln der sozialistischen Befreiung zu entwickeln. Ihren wirthschaftlichen Aufgaben werden sie sicher am besten nachkommen, wenn sie in ihrer Organisation und Verwaltung vollständig sich selbst überlassen bleiben. Aber wie sich die Abneigung und selbst Gegnerschaft, die viele Sozialisten früher der Gewerkschaftsbewegung gegenüber fühlten, allmälig in freundschaftliche Neutralität und dann in das Gefühl der Zusammengehörigkeit verwandelt hat, so wird es ähnlich mit den Konsumvereinen gehen – ist es theilweise schon mit ihnen gegangen. Die Praxis ist auch hier die stärkste Führerin.
Diejenigen Elemente, die Feinde nicht nur der revolutionären, sondern jeder Emanzipationsbewegung der Arbeiter sind, haben durch ihren Feldzug gegen die Arbeiterkonsumvereine die Sozialdemokratie genöthigt, als Partei für die selben einzutreten. Ebenso hat die Erfahrung gezeigt, daß solche Befürchtungen, wie daß die Genossenschaften der politischen Arbeiterbewegung intellektuelle oder andere Kräfte entziehen würden, durchaus unbegründet sind. An einzelnen Orten mag das vorübergehend einmal der Fall sein, auf die Dauer wird aber überall eher das umgekehrte eintreten. Die Sozialdemokratie kann der Gründung von Arbeiterkonsumgenossenschaften, wo die wirthschaftlichen und gesetzlichen Vorbedingungen dazu gegeben sind, ohne Bedenken zusehen, und sie wird gut tnun, ihnen ihr volles Wohlwollen zu schenken und sie nach Möglichkeit zu fördern. [41]
Nur unter einem Gesichtspunkt könnte der Arbeiterkonsumverein prinzipiell als bedenklich erscheinen, nämlich als das Gute, das dem Besseren im Wege steht, wobei als das Bessere die Organisation der Güterbeschaffung und des Gütervertriebs durch die Gemeinden zu gelten hätte, wie sie in fast allen sozialistischen Systemen vorgezeichnet wird. Aber erstens braucht der demokratische Konsumverein, um alle Mitglieder der Gemeinde zu umfassen, in der er lokalisirt ist, gar keine prinzipielle Aenderung, sondern nur eine Erweiterung seiner Konstitution, die durchaus im Einklang mit seinen natürlichen Tendenzen steht (an einzelnen kleineren Orten sind Konsumgenossenschaften heute schon sehr nahe daran, alle Bewohner der Gemeinde zu Mitgliedern zu zählen), und zweitens liegt die Verwirklichung dieses Gedankens noch in so weiter Ferne, setzt sie so viele politische und wirthschaftliche Veränderungen und Zwischenstufen der Entwicklung voraus, daß es unsinnig wäre, im Hinblick auf sie auf die Vortheile zu verzichten, welche die Arbeiter heute mittels der Konsumvereine erzielen können. Heute kann es sich, soweit die politischen Gemeinden in Betracht kommen, nur um Fürsorge für ganz bestimmtet, allgemeine Bedürfnisse durch sie handeln.
Damit kommen wir schließlich zur Gemeindepolitik der Sozialdemokratie. Auch diese war lange Zeit das oder ein Stiefkind der sozialistischen Bewegung. Es ist z.B. noch nicht allzu lange her, daß in einem, mittlerweile eingegangenen, von sehr geistreichen Leuten redigirten sozialistischen Blatte des Auslands der Gedanke, die Munizipalitäten heute schon als Hebel sozialistischer Reformarbeit zu benützen und, ohne deshalb von der parlamentarischen Aktion abzusehen, von der Gemeinde her an die Verwirklichung sozialistischer Forderungen zu gehen, mit Hohn als kleinbürgerlich zurückgewiesen wurde. Die Ironie des Schicksals hat es gewollt, daß der Hauptredakteur jenes Blattes nur auf dem Rücken des Munizipalsozialismus ins Parlament seines Landes einzurücken vermocht hat. Aehnlich hat in England die Sozialdemokratie in den Gemeinden ein ergiebiges Feld fruchtbarer Thätigkeit gefunden, ehe es ihr gelungen ist, eigene Vertreter ins Parlament zu schicken. In Deutschland war die Entwicklung eine andere, hier hatte die Sozialdemokratie längst parlamentarisches Bürgerrecht erlangt, ehe sie in den Gemeindevertretungen in nennenswerthem Maße Fuß faßte. Mit ihrer wachsenden Ausbreitung mehrten sich indeß auch ihre Erfolge in den Gemeinderathswahlen, so daß sich immer mehr die Nothwendigkeit der Ausarbeitung eines sozialistischen Munizipalprogramms herausgestellt hat, wie solche für
einzelne Staaten oder Provinzen auch schon vereinbart wurden. So hat erst kürzlich, am 27. und 28. Dezember 1898, eine Konferenz sozialistischer Gemeindevertreter der Provinz Brandenburg sich über ein Programm für Gemeindewahlen geeinigt, das im Ganzen seinen Zweck vortrefflich entsprechen dürfte und in keinem Punkte zu prinzipieller Kritik herausfordert. Aber es beschränkt sich, wie man dies von einen Aktionsprogranim auch nicht anders erwarten kann, auf Forderungen, die innerhalb der heute den Gemeinden zustehenden Rechte liegen, ohne sich auf eine prinzipielle Auseinandersetzung darüber einzulassen, welches nach sozialistischer Auffassung die Rechte und die Aufgaben der Gemeinde sein sollen. Auf diese Frage hätte dagegen ein allgemeines Munizipalprogramm der Sozialdemokratie wohl mit einigen Worten einzugehen. Was verlangt die Sozialdemokratie für die Gemeinde und was erwartet sie von der Gemeinde?
Das Erfurter Programm sagt in dieser Hinsicht nur: „Selbstbestimmung und Selbstverwaltung des Volkes in Reich, Staat, Provinz und Gemeinde, Wahl der Behörden durch das Volk“, und verlangt für alle Wahlen das allgemeine, gleiche und direkte Stimmrecht aller Erwachsenen. Ueber das rechtliche Verhältniß der aufgezählten Verwaltungskörper zu einander äußert es sich nicht. Zweifelsohne haben die Masse der Delegirten, gleich dem Schreiber dieses, seinerzeit die Sache so verstanden, daß die Reihenfolge in der Aufzählung der Körper ihre rechtliche Rangordnung anzeigen sollte, so daß in Konfliktfällen Reichsgesetz über Staatsgesetz u.s.w. zu gehen hätte. Aber damit würde z.B. die Selbstbestimmung des Volkes in der Gemeinde zum Theil wieder aufgehoben, bezw. eingeschränkt. Wie weiter oben ausgeführt, halte ich in der That auch heute noch dafür, daß das Gesetz oder der Beschluß der Nation die höchste Rechtsinstanz der Gesellschaft zu bilden hat. indeß das sagt nicht, daß die Begrenzung der Rechte und Vollmachten zwischen Staat und Gemeinde dieselbe sein soll wie sie heute ist.
Heute ist z.B. das Expropriationsrecht der Gemeinden sehr eingeschränkt, so daß eine ganze Reihe von Maßnahmen wirthschaftspolitischen Charakters am Widerstand oder übertriebenen Forderungen der Grundeigenthümer ein geradezu unübersteigbares Hinderniß finden würden. Eine Erweiterung des Expropriationsrechts wäre demgemäß eine der nächsten Forderungen des Munizipalsozialismus. Es ist indeß nicht nöthig, ein absolutistisches, ganz unbeschränktes Expropriationsrecht zu verlangen. Die Gemeinde würde immer zu verpflichten sein, sich bei Enteignungen an die Bestimmungen des allgemeinen Rechtes zu halten, die den Einzelnen gegen Willkür zufälliger Mehrheiten schützen. Eigenthumsrechte, die das allgemeine Gesetz zuläßt, müssen in jedem Gemeinwesen unantastbar sein, solange als, und in dem Maße wie, das allgemeine Gesetz sie zuläßt. Zulässiges Eigenthum anders als gegen Entschädigung entziehen, ist Koufiskatiou, die nur im Falle außergewöhnlichen Zwangs der Umstände (Krieg, Seuchen) gerechtfertigt werden kann. [42]
Die Sozialdemokratie wird also für die Gemeinden neben der Demokratisirung des Wahlrechts Erweiterung ihres, in verschiedenen deutschen Staaten noch sehr beschränkten Expropriationsrechts verlangen müssen, wenn eine sozialistische Gemeindepolitik möglich sein soll. Außerdem volle Unabhängigkeit ihrer Verwaltung, insbesondere der Sicherheitspolizei von der Staatsgewalt. Was sie von den Gemeinden zu verlangeu hat, ist hinsichtlich der Steuer- und Schulpolitik im Wesentlichen schon im allgemeinen Programm der Partei niederhelegt, hat aber im Brandenburger Programm einige werthvolle Erweiterungen erfahren (Errichtung von Schulkantinen, Einstellung von Schulärzten &c.). Ferner sind heute mit Recht in den Vordergrund gerückt die auf die Ausbildung der kommunalen Eigenbetriebe, bezw. der öffentlichen Dienste und der Arbeiterpolitik der Gemeinden bezüglichen Forderungen. In ersterer Hinsicht wird als prinzipielle Forderung aufzustellen sein, daß alle auf das allgemeine Bedürfniß der Gemeindemitglieder berechneten und Monopolcharakter tragenden Unternehmungen von der Gemeinde in eigener Regie zu betreiben sind und daß im Uebrigen die Gemeinde danach streben soll, den Kreis der Leistungen für ihre Angehörigen beständig zu erweitern. Hinsichtlich der Arbeiterpolitik muß von den Gemeinden verlangt werden, daß sie als Beschäftiger von Arbeitern, ob es sich nun um Arbeiten in eigener Regie oder um Verdingungsarbeiten handelt, als Mindestbedingung die von den Organisationen der betreffendem Arbeiter anerkannten Lohn- und Arbeitszeitsätze innehalten und das Koalitionsrecht dieser Arbeiter verbürgen. Es soll indeß hierbei bemerkt werden, daß wenn es auch nur richtig ist, dahin zu wirken, daß die Kommunen als Beschäftiger von Arbeitern den privaten Unternehmern hinsichtlich der Arbeitsbedingungen und Wohlfahrtseinrichtungen mit gutem Beispiel vorangehen, es doch eine kurzsichtige Politik wäre, für die kommunalen Arbeiter so hohe Bedingungen zu verlangen, daß sie ihren Berufskollegen gegenüber in die Lage einer außergewöhnlich privilegirten Schicht kämen und die Kommune erheblich theure produzirte als die Privatunternehmer. Das würde ans die Dauer nur zu Korruption und Schwächung des Gemeinsinns führen.
Die moderne Entwicklung hat den Munizipalitäten noch andere Aufgaben zugewiesen: die Einrichtung und Ueberwachung von Ortskrankenkassen, wozu auch vielleicht in nicht allzulanger Zeit die Uebernahme der Invaliditätsversicherung gesellen wird. Ferner die Errichtung von Arbeitsnachweisen und von Gewerbegerichten. Hinsichtlich der Arbeitsnachweise vertritt die Sozialdemokratie als Mindestforderung die Sicherstellung ihres paritätischen Charakters und hinsichtlich der Gewerbegerichte ihre obligatorische Einführung, die Ausdehnung ihrer Vollmachten. Skeptisch, wo nicht abweisend steht sie den Versuchen kommunaler Versicherung gegen Arbeitslosigkeit gegenüber, da die Anschauung vorherrscht, daß diese Versicherung eine der legitimen Aufgaben der Gewerkschaften bildet, und von ihnen auch besser besorgt werden kann. Das kann aber nur für gut organisirte Gewerbe gelten, die leider noch eine kleine Minderheit der Arbeiterschaft bilden. Die große Masse der Arbeiter ist noch unorganisirt, und es fragt sich, ob nicht die kommunale Versicherung gegen Arbeitslosigkeit mit Heranziehung der Gewerkschaften so organisirt werden kann, daß sie, weit entfernt einen Eingriff in die legitimen Funktionen der Letzteren zu bilden, gerade zum Mittel wird, sie zu fördern. Jedenfalls würde es die Aufgabe sozialdemokratischer Gemeindevertreter sein, da, wo solche Versicherungen unternommen werden, mit aller Energie auf die Heranziehung der Gewerkschaften zu dringen.
Seiner ganzen Natur nach ist so der Munizipalsozialismus ein unumgänglicher Hebel zur Ausbildung oder vollen Verwirklichung dessen, was wir im vorigen Abschnitt als demokratisches Arbeitsrecht bezeichnet haben. Aber er wird und muß Stückwerk bleiben, wo das Wahlrecht der Gemeinde Klassenwahlrecht ist. Das aber ist in weit mehr als drei Vierteln Deutschlands der Fall. Und so stehen wir auch hier, wie mit Bezug auf die Landtage, von denen ja die Gemeinden in hohem Grade abhängen, und die anderen Organe der Selbstverwaltung (Kreis, Provinz) vor der Frage, wie gelangt die Sozialdemokratie dazu, das für sie geltende Klassenwahlsystem zu beseitigen, ihre Demokratisirung zu erkämpfen?
Die Sozialdemokratie hat zur Zeit in Deutschland, neben dem Mittel der Propaganda durch Wort und Schrift, das Reichstagswahlrecht als wirksamstes Mittel der Geltendmachung ihrer Forderungen. Sein Einfluß ist so stark, daß er sich selbst auf diejenigen Körper erstreckt, die durch Zensuswahlrecht oder Klassenwahlsystem der Arbeiterklasse unzugänglich gemacht sind, denn die Parteien müssen auch dort auf die Reichstagswähler Rücksicht nehmen. Wäre das Reichstagswahlrecht vor jedem Eingriff geschützt, so ließe es sich daher bis zu einem gewissen Grade rechtfertigen, daß die Frage des Wahlrechts zu den anderen Körpern als eine untergeordnete behandelt wird, obwohl es auch dann falsch wäre, sie auf die leichte Schulter zu nehmen. Aber das Reichstagswahlrecht ist nichts weniger als gesichert. Wohl werden die Regierungen und die Regierungsparteien nicht leicht sich zu seiner Abänderung entschließen, denn sie sagen sich wohl selbst, daß ein solcher Schritt bei der Masse der deutschen Arbeiter einen Haß und eine Erbitterung erregen müßte, die sich ihnen bei geeigneten Gelegenheiten in verschiedener Weise sehr unangenehm fühlbar machen würde. Die sozialistische Bewegung ist zu stark, das politische Selbstbewußtfein der deutschen Arbeiter zu entwickelt, als daß man mit ihnen kavaliermäßig verfahren könnte. Auch darf man bei einem großen Theil selbst der prinzipiellen Gegner des allgemeinen Wahlrechts eine gewisse moralische Scheu voraussetzen, dem Volk ein solches Recht zu nehmen. Wenn aber unter normalen Verhältnissen die Verkürzung des Wahlrechts eine revolutionäre Spannung mit all ihren Gefahren für die Regierenden schaffen würde, so kann dagegen von ernsthaften technischen Schwierigkeiten einer solchen Aenderung des Wahlrechts, die einen Erfolg unabhängiger sozialistischer Kandidaturen nur noch als Ausnahme zuließe, nicht die Rede sein. Es sind lediglich die politischen Rücksichten, die hier den Ausschlag geben. Daß es aber Situationen giebt, wo die auf sie gestützten Bedenken wie Spreu vor dem Winde zerstieben würden, braucht hier nicht des Ausführlichen dargelegt zu werden, noch daß es nicht innerhalb der Macht der Sozialdemokratie liegt, sie zu verhindern. Sie kann wohl ihrerseits den Entschluß, sich durch keine Provokation zu gewalthätigen Zusammenstößen verleiten zu lassen, bis in seine äußersten Konsequenzen durchführen, aber sie hat nicht die Macht, die politisch unorganisirte Masse unter allen Umständen von solchen zurückzuhalten.
Aus diesem und anderen Gründen erscheint es nicht wohlgethan, die Politik der Sozialdemokratie einseitig von den Bedingungen und Möglichkeiten des Reichstagswahlrechts abhängig zu machen. Obendrein haben wir gesehen, daß es auch mit diesem nicht so schnell vorwärts geht, wie man nach den Erfolgen von 1890 und 1893 folgern mochte. Während die sozialistische Stimmenzahl in den dreijährigen Perioden von 1887 bis 1890 um 87 Prozent, und von 1890 auf 1893 um 25 Prozent stieg, ist sie in den fünf Jahren von 1893 auf 1898 nur um 18 Prozent gestiegen. Ein an sich auch noch sehr bedeutender Zuwachs, aber kein Zuwachs, der dazu berechtigte, von der nächsten Zukunft Außergewöhnliches zu erwarten.
Nun ist die Sozialdemokratie nicht ausschließlich auf das Wahlrecht und die parlamentarische Thätigkeit angewiesen. Es bleibt ihr auch außerhalb der Parlamente ein großes und reiches Arbeitsfeld. Die sozialistische Arbeiterbewegung würde sein, auch wenn ihr die Parlamente verschlossen wären. Nichts zeigt dies besser als die erfreulichen Regungen der russischen Arbeiterwelt. Aber mit ihrem Ausschluß aus den Vertretungskörpern würde die deutsche Arbeiterbewegung in hohem Grade des inneren Zusammenhangs verlustig gehen, der heute ihre verschiedenen Glieder verbindet, sie würde einen chaotischen Charakter erhalten, und an die Stelle des ruhigen, unablässigen Vormarsches mit festen Schritte würden sprunghafte Vorwärtsbewegungen treten mir den unausbleiblichen Rückschlägen und Ermattungen.
Eine solche Entwicklung liegt weder im Interesse der Arbeiterklasse, noch kann sie jenen Gegnern der Sozialdemokratie als wünschenswerth erscheinen, die zu der Erkenntniß gelangt sind, daß die gegenwärtige Gesellschaftsordnung nicht für alle Ewigkeiten geschaffen ist, sondern dem Gesetz der Veränderung unterliegt, und daß eine katastrophenmäßige Entwicklung mit all ihren Schrecken und Verheerungen nur dadurch vermieden werden kann, daß den Veränderungen in den Produktions- und Verkehrsverhältnissen und der Klassenentwicklung auch im politischen Recht Rechnung getragen wird. Und die Zahl derer, die das einsehen, ist im steten Wachsen. Ihr Einfluß würde ein viel größerer sein als er heute ist, wenn die Sozialdemokratie den Muth fände, sich von einer Phraseologie zu emanzipiren, die thatsächlich überlebt ist, und das scheinen zu wollen, was sie heute in Wirklichkeit ist: eine demokratisch-sozialistische Reformpartei.
Es handelt sich nicht darum, das sogenannte Recht auf Revolution abzuschwören, dieses rein spekulative Recht, das keine Verfassung paragraphiren und kein Gesetzbuch der Welt prohibiren kann, und das bestehen wird, solange das Naturgesetz uns, wenn wir auf das Recht zu athmen verzichten, zu sterben zwingt. Dieses ungeschriebene und unvorschreibbare Recht wird dadurch, daß man sich auf den Boden der Reform stellt, so wenig berührt, wie das Recht der Nothwehr dadurch aufgehoben wird, daß wir Gesetze zur Regelung unserer persönlichen und Eigenthumsstreitigkeiten schaffen.
Ist aber die Sozialdemokratie heute etwas Anderes als eine Partei, welche die sozialistische Umgestaltung der Gesellschaft durch das Mittel demokratischer und wirthschaftlicher Reform anstrebt? Nach einigen Erklärungen, die mir auf dem Parteitag in Stuttgart entgegengehalten wurden, möchte es vielleicht so scheinen. Aber in Stuttgart hat man meine Zuschrift an den Parteitag als eine Anklage gegen die Partei aufgefaßt, daß sie im Fahrwasser des Blanquismus segle, während sie thatsächlich nur gegen einige Leute gerichtet war, die mit Argumenten und Redensarten blanquistischer Natur gegen mich losgezogen waren und ein Pronunciamento des Kongresses gegen mich erwirken wollten. Und wenn sich einige, sonst ruhige und objektiv urtheilende Leute durch das Geräusch, das meine Artikel sehr wider meinen Willen und mein Erwarten verursacht hatten, vorübergehend haben dazu verleiten lassen, gegen mich aufzutreten und so scheinbar jenen Anathema-Rufern zuzustimmen, so hat mich das keinen Augenblick über den ephemeren Charakter dieser Uebereinstimmung täuschen können. Wie sollte ich desselben Cunow Widerlegung meiner Ausführungen gegen die Zusammenbruchsspekulation anders als Produkt einer vorübergehenden Stimmung nehmen, der noch im Frühjahr 1897 schrieb:
„Noch stehen wir recht weit ab vom Endziel der kapitalistischen Entwicklung. In den Hauptzentren des Handels und der Industrie lebend, die enorme Steigerung der Produktion und den Verfall des liberalen Bürgerthums vor Augen, unterschätzen wir nur allzugerne die Entfernung und die Hindernisse, welche uns noch vom Ziele trennen. In welchem Lande ist denn schon die Selbstabwirthschaftung des Kapitalismus so weit vorgeschritten, daß es als reif für die sozialistische Wirthschastsform gelten kann? In England nicht, in Deutschland und Frankreich noch weniger.“ (H. Cunow, Unsere Interessen in Ostasien, Neue Zeit, XV, 1, S. 806)
Selbst ein positives Verdikt des Stuttgarter Parteitags gegen meine Erklärung hätte mich nicht an meiner Ueberzeugung irre machen können, daß die große Masse der deutschen Sozialdemokratie von blanquistischen Anwandlungen weit entfernt ist. Nach der Oeynhausener Rede wußte ich, daß eine andere Haltung des Parteitags, als die er thatsächlich eingenommen, nicht zu erwarten war, und habe das auch vorher in Briefen ganz bestimmt ausgesprochen.
Die Oeynhausener Rede hat seitdem das Schicksal so vieler anderer Reden außergewöhnlicher Menschen getheilt, sie ist offiziös berichtigt und die Wolke für ein Wiesel erklärt worden. Und in welchem Sinne hat die Partei sich seit Stuttgart geäußert? Bebel hat in seinen Reden über die Attentate mit der äußersten Energie Verwahrung dagegen eingelegt, daß die Sozialdemokratie eine Politik der Gewalt vertrete, und alle Parteiblätter haben diese Reden mit Beifall registrirt, nirgends ist ein Protest laut geworden. Kautsky entwickelt in seiner Agrarfrage Grundsätze der Agrarpolitik der Sozialdemokratie, die durchaus solche demokratischer Reform sind, das in Brandenburg beschlossene Kommunalprogramm ist ein demokratisches Reformprogramm. Im Reichstag tritt die Partei für Erweiterung der Vollmachten und obligatorische Einführung der gewerblichen Schiedsgerichte ein, dieser Organe zur Förderung des gewerblichen Friedens. Alle Reden ihrer Vertreter daselbst athmen Reform. In demselben Stuttgart, wo nach Klara Zetkin der „Bernsteiniade“ der Garaus gemacht ward, gingen kurz nach dem Kongreß die Sozialdemokraten mit der bürgerlichen Demokratie ein Wahlbündniß für die Gemeinderathswahlen ein, und in auderen württembergischen Städten folgte man ihrem Beispiel. In der Gewerkschaftsbewegung geht eine Gewerkschaft nach der auderen dazu über, die Arbeitslosenunterstützung einzuführen, was praktisch ein Aufgeben des reinen Koalitionscharakters bedeutet, und erklären sie sich für paritätische, Unternehmer und Arbeiter umfassende städtische Arbeitsnachweise, während in verschiedenen großen Parteiorten – Hamburg, Elberfeld – von Sozialisten und Gewerkschaftlern an die Gründung von Konsumgenossenschaften gegangen wird. Ueberall Aktion für Reform, Aktion für sozialen Fortschritt, Aktion für Erringung der Demokratie – „man studirt die Einzelnheiten der Probleme des Tages und sucht nach Hebeln und Ansatzpunkten, um auf dem Boden dieser die Entwicklung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus vorwärts zu treiben.“ So schrieb ich gerade vor einem Jahre [43], und ich sehe keine Thatsache, die mich veranlassen könnte, ein Wort davon zurückzunehmen.
Im Uebrigen wiederhole ich, je mehr die Sozialdemokratie sich entschließt, das scheinen zu wollen, was sie ist, um so mehr werden auch ihre Aussichten wachsen, politische Reformen durchzusetzen. Die Furcht ist gewiß ein großer Faktor in der Politik, aber man täuscht sich, wenn man glaubt, daß Erregung von Furcht alles vermag. Nicht als die Chartistenbewegung sich am revolutionärsten geberdete, erlangten die englischen Arbeiter das Stimmrecht, sondern als die revolutionären Schlagworte verhallt waren und sie sich mit denn radikalen Bürgerthum für die Erkämpfung von Reformen verbündeten. Und wer mir entgegenhält, daß Aehnliches in Deutschland unmöglich sei, den ersuche ich nachzulesen, wie noch vor fünfzehn und zwanzig Jahren die liberale Presse über Gewerkschaftskämpfe und Arbeitergesetzgebung schrieb, und die Vertreter dieser Parteien ihn Reichstag sprachen und stimmten, wo darauf bezügliche Fragen zu entscheiden waren. Er wird dann vielleicht zugeben, daß die politische Reaktion durchaus nicht die bezeichnendste Erscheinung im bürgerlichen Deutschland ist.
1. Ich halte mich nicht weiter bei den Mißdeutungen auf, die Parvus meinen Ausführungen gab, noch bei den grotesken Gegenüberstellungen (Droschkenkutscher gegen Eisenbahnen &c.), womit er meinen Hinweis auf die relative Stärke der kleinen und Mittelbetriebe lächerlich zu machen suchte. Sie konnten mich im ersten Augenblick reizen, weil sie von einem Manne kamen, dem ich Besseres zugetraut hatte, aber einer ernsthaften Widerlegung sind sie nicht werth.
Aber aus den im Texte angeführten Gründen kann ich auch den Thatsachen, die Heinrich Cunow in seinem durchaus sachgemäß gehaltenen Artikel über die Zusammenbruchstheorie gegen mich vorbringt, kein Gewicht für meine These beilegen. Daß das, was er dort vom Bankgeschäft und den Handelsagenturen sagt, mir nicht unbekannt war, wird er mir glauben, wenn er erfährt, daß ich selbst viele Jahre im Bankgeschäft thätig war und auch den Großhandel aus der Erfahrung kenne. Und was die Unter- und Filialbetriebe in der Industrie betrifft, so habe ich selbst in einem früheren Artikel der Probleme des Sozialismus geschrieben: „Solch ein Unterbetrieb, der vielleicht mit sehr viel konstantem und sehr wenig variablem Kapital arbeitet, kostspielige Maschinen und wenig Arbeiter anwendet, kommt also nach der Praxis der Reichsstatistik unter die kleinen Fabriken oder gar Handwerksbetriebe, während er in der That dem fabrikmäßigen Betrieb angehört ... Wir dürfen als feststehend annehmen, daß das Handwerk und der kleine Fabrikbetrieb in der Gewerbestatistik numerisch sehr viel stärker erscheinen als sie in Wirklichkeit sind.“ (Neue Zeit, XV, 1, S. 808) und hinsichtlich der Landwirthschaft: „Das Areal kann ziemlich klein sein und doch einem durchaus kapitalistischen Betrieb als Grundlage dienen. Die auf der räumlichen Ausdehnung der Betriebe fußende Statistik sagt immer weniger über deren wirthschaftlichen Charakter.“ (A.a.O., S. 380) Aehnlich in meinem Artikel über die „Zusammenbruchstheorie“ auf S. 552, XVI, 1, hinsichtlich der Zahlen für Handel und Verkehr.
2. Vergl. Schmöle, Die sozialdemokratischen Gewerkschaften in Deutschland, zweiter Theil, erster Band, S. 1 ff., wo auch die Schattenseiten des kleinen Unternehmerthums im Baugewerbe aufgezeigt werden.
3. Revolution wird hier und im Folgenden ausschließlich in der politischen Bedeutung des Wortes gebraucht, als gleichbedeutend mit Aufstand, bezw. außergesetzlicher Gewalt. Für die prinzipielle Aenderung der Gesellschaftsordnung wird dagegen das Wort „soziale Umgestaltung“ gebraucht werden, das die Frage des Weges offen läßt. Zweck dieser Unterscheidung ist, alle Mißverständnisse und Zweideutigkeiten auszuschließen.
4. „Aber wem dürfte nicht einleuchten, daß für die großen Städte, wo ja die Arbeiter die überwiegende Mehrheit bilden, wenn sie einmal zu unbeschränkter Verfügung über die öffentliche Gewalt, über ihre Verwaltung und Gesetzgebung gelangt wären – die ökonomische Revolution nur eine Frage von Monaten, ja vielleicht nur Wochen gewesen wären.“ (Jules Guesde, Der achtzehnte März [1871] in der Provinz, Zukunft von 1877, S. 87)
„Wir aber erklären: Gebt uns auf ein halbes Jahr die Regierungsgewalt, und die kapitalistische Gesellschaft gehört der Geschichte an.“ (Parvus in der Sächs. Arbeiterzeitung vom 6. März 1898)
Letzterer Satz steht am Schluß eines Artikels, worin u.A. ausgeführt wird, da auch nachdem die sozialrevolutionäre Regierung die Regelung der gesammten Produktion in die Hand genommen, die Ersetzung des Waarenverkehrs durch ein künstlich erdachtes Tauschsystem nicht angehe. Mit anderen Worten, Parvus, der sich ernsthaft mit der Oekonomie beschäftigt hat, sieht auf der einen Seite ein, daß „der Waarenverkehr so sehr in alle Verhältnisse des wirthschaftlichen Lebens hineingedrungen ist, daß er durch ein künstlich erdachtes Tauschsystem nicht ersetzt werden kann“, und trotz dieser Ueberzeugung, die seit Langem auch die meine ist (sie ist schon angedeutet im Artikel über die Sozialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl, sollte aber in einem späteren Artikel der Serie Probleme des Sozialismus eingehender behandelt werden), bildet er sich ein, eine sozialrevolutionäre Regierung könne bei der gegebenen Gliederung der Wirthschaft die ganze Produktion „regeln“ und in einem halben Jahre das aus der Waarenproduktion erwachsene und mit ihr eng verbundene kapitalistische System bis auf Stumpf und Stiel ausrotten. Man sieht, was für politische Kinder der Gewaltkoller selbst aus sonst unterrichteten Leuten machen kann.
5. In der sozialistischen Bewegung Englands stellen genau wie anderwärts die besser bezahlten, bezw. die gelernten, geistig höher stehenden Arbeiter die Kerntruppen. Man wird in den Mitgliederversammlungen der sozialistischen Vereine nur sehr wenig sogenannte unqualifizirte Arbeiter vorfinden.
6. Immerhin waren schon in fünf Berufen mehr als ein Drittel der Arbeiter organisirt, nämlich: Buchdrucker 61,8, Bildhauer 55,5, Hafenarbeiter 38, Kupferschmiede 38,6, Handschuhmacher 31,7 Prozent der Beschäftigten. Ihnen folgten die Lithographen mit 21,8 und die Porzellanarbeiter mit 21 Prozent der Beschäftigten.
7. Die Zahlen der Berufsstatistik für Handel und Verkehr sind:
Selbständige und Geschäftsleiter |
848.556 |
|
Kaufmännisches Personal |
261.907 |
|
Kommis, Hausdiener, Kutscher, mitthätige Familienmitglieder |
1.288.045 |
|
|
|
|
|
Insgesammt |
2.338.508 |
Uebrigens hat die Parvussche Tabelle ihren Vorgänger gehabt. In der Höchbergschen Zukunft rechnete 1877 Herr C.A. Schramm auf Grund der gerade bekannt gegebenen Ergebnisse der Preußischen Berufsstatistik von 1876 ein „sozialistisches Kontingent“ von 85 Prozent der Bevölkerung für Preußen heraus, 4,6 Millionen mögliche Anhänger des Sozialismus gegen 992.000 Klassengegner (Zukunft, S. 186 ff.). Nur zog Schramm nicht die kühne Moral aus den Zahlen wie Parvus.
8. „Zum Theil wirft es [das Proletariat] sich auf doktrinäre Experimente, Tauschbanken und Arbeiterassoziationen, also in eine Bewegung, worin es darauf verzichtet, die alte Welt mit ihren eigenen großen Gesammtmitteln umzuwälzen.“ (Der 18. Brumaire, 1. Aufl., S. 8.)
9. Wenn Proudhon bald als entschiedener Gegner und bald als Befürworter der Assoziation auftrat, so erklärt sich dieser Widerspruch dadurch, daß er das eine Mal eine ganz andere Form der Assoziation im Auge hatte wie das andere. Er bestritt der wesentlich monopolistischen Genossenschaft, was er der mutualistischme Genossenschaft, das heißt der Assoziation im Gegenseitigkeitssystem, zuerkannte. Seine Kritik ist indeß mehr intuitiv als wissenschaftlich und voller Uebertreibungen.
10. Die Zahlen für letztere Art Produktivgenossenschaften sind ungeheuer schwer zu ermitteln, da die amtlichen Statistiken der genossenschaftlichen Produktion nicht zwischen ihnen und den sehr viel zahlreicheren und größeren Arbeiter-Aktiengesellschaften für Produktionszwecke unterscheiden. Nach den Ausweisen des britischen Handelsamts war im Jahre 1897 der Werth der Jahresproduktion derjenigen Genossenschaften, die dem Amte Bericht erstatteten, in Mark:
Von Konsumgenossenschaften in eigenen Werkstätten |
. . . . |
122.014.600 |
Von Müllereigenossenschaften |
. . . . |
25.288.040 |
Von irischen Molkereien |
. . . . |
7.164.940 |
Von Arbeitergenossenschaften für Produktionszwecke |
. . . . |
32.518.800 |
Die Müllereigenossenschaften, neun an der Zahl, hatten 6.378 Mitglieder und beschäftigten 1895/96 (die betreffenden Angaben für 1897 liegen mir noch nicht vor) 404 Personen, die irischen Molkereien und die Arbeitergenossenschaften für Produktionszwecke, zusammen 214 Vereine, hatten 32.183 Aktionäre und beschäftigten 1895/96 7.685 Personen. Wir greifen sehr hoch, wenn wir annehmen, daß etwa der zwanzigste Theil der Arbeitergenossenschaften als solche bezeichnet werden können, wo die beschäftigten Arbeiter als Assoziation ihre eigenen Kapitalisten sind.
Dagegen hatten die registririen britischen Arbeiterkonsumgenossenschaften im Jahre 1897:
Mitglieder |
. . . . |
|
1.468.955 |
Kapitalvermögen |
. . . . |
Mark |
408.174.860 |
Absatz |
. . . . |
Mark |
1.132.649.000 |
Gewinn |
. . . . |
Mark |
128.048.560 |
11. Oppenheimer hält die Unterscheidung „Käufer-“ und „Verkäufergenossenschaft“ schon deshalb für besser wie die bisher übliche von Produktions- und Distributionsgenossenschaft, weil die letztere überhaupt von einer unrichtigen Begriffsbestimmung ausgehe. Es sei ganz falsch, das zu Markte bezw. zum Käufer Bringen eines Gegenstandes als einen nichtproduktiven Akt zu bezeichnen; dies sei so gut ein „producere“ (Hervorbringen), wie die Herstellung eines Gegendstandes (Fabrikat) aus einem anderen (Rohstoff). Distribution aber bedeute einfach Vertheilung, und daß man dieses Wort auch für jene andere Funktion gebrauche, sei die Ursache der ärgsten Begriffsverwirrung.
Das Letztere ist auch unsere Meinung, und der Gebrauch verschiedener Ausdrücke für die so verschiedenen Funktionen der Zustellung und Vertheilung sicher sehr zu empfehlen. Dagegen würde die Zusammenfassung der Funktionen des Anfertigens und Zustellens unter ein und denselben Begriff „Produktion“ ihrerseits nur neue Verwirrung hervorrufen. Daß es in der Praxis Fälle giebt, wo sie sich kaum auseinander halten oder unterscheiden lassen, ist kein Grund, die Begriffe nicht zu trennen. Uebergänge kommen überall vor. Der bei Vielen hinter der Trennung lauernden Tendenz, nur die Fabrikationsarbeit als produktiv zu bezeichnen, kann man auf andere Weise begegnen.
12. „Die Sache war nicht leicht. Leute wie die Baumwollarbeiter reihen sich nicht leicht zu der gleichartigen Masse, welche für den erfolgreichen Betrieb einer Genossenschaft erfordert ist.“ (Abriß der Geschichte der Burnley Self Help Genossenschaft in Cooperative Workshops in Great Britain, S. 20.)
13. Das Wort parasitisch gilt natürlich nur für die Sache, nicht für die Personen, die sie ausüben. Wollte man es auf diese übertragen, dann müßte man auch sehr viele sogenannte „prodüktive“ Arbeiter als Parasiten bezeichnen, weil, was sie produziren, nutzlos und schlimmer für das Gemeinwesen ist.
Parasitär ist der Zwischenhandel vornehmlich deshalb, weil die Vermehrung der Zwischenhändler von einer bestimmten Grenze ab nicht Verbilligung durch erhöhte Konkurrenz, sondern Vertheuerung zur Folge hat.
14. Wir sehen hier von den beiden Großeinkaufsgenossenschaften ab, die ihre Waaren den Konsumvereinen mit einem sehr mäßigen Aufschlag überlassen.
15. Sie hatten 230 Vereine und 7.778 Einzelpersonen zu Aktionären und beschäftigten zusammen 1.196 Personen, was die Züge der Einkaufsgenossenschaft verräth. Die von allgemeinen Konsumvereinen in Eigenbetrieb verwalteten Bäckereien sind hierbei nicht eingerechnet.
16. Ich gebe indeß nur das „mehr“ zu, da auch dann die Sache nicht ohne materielles Interesse für die Arbeiter wäre.
17. Zur Veranschaulichung hier die Zahlen. Es erhielten für das halbe Jahr:
Die Aktionäre (außer den Zinsen) |
. . . . |
1.164 Mark |
Kunden |
. . . . |
8.325 Mark |
Arbeiter |
. . . . |
8.068 Mark |
Das Leitungskomite |
. . . . |
700 Mark |
Der Fonds für Erziehungszwecke |
. . . . |
525 Mark |
Der Fonds für Unterstückungszwecke |
. . . . |
1.050 Mark |
18. Nach der Émancipation vom 15. November 1898 giebt es in Frankreich allein 2000 Genossenschaftskäsereien, die Mehrzahl davon im Jura und in beiden Savoyen.
19. So z.B. auch in den schnell emporkommenden irischen Landwirthschafts-Genossenschaften, die im Jahre 1889 mit einem kleinen Verein von 50 Mitgliedern anfingen, im März 1898 aber schon 248 Vereine mit 27.322 Mitgliedern, darunter viele Landarbeiter (cottiers) zählten.
20. Ihre Verfassung war, wie der geistreiche Owenit Finch 1838 humoristisch schrieb, eine Verbindung aller Vortheile des Toryismus, Whiggismus und Radikalismus, ohne deren Fehler. „Sie hatte alle Kraft und Einheit ins Zweck und Handeln wie die Monarchie und das Torythum, alle Mäßigung, Auskünftelei, Vorbeugungs- und Vorsichtsmaßregeln wie das Whigthum und weit mehr als die Freiheit und Gleichheit des Radikalismus.“ Mr. Vandeleur war „König“, die aus Schatzmeister, Sekretär und Magazinier bestehende Leitung das „Oberhaus“, das Komite der Arbeiter die „Volksvertretung“.
21. Auf dem jüngsten Kongreß der britischen Genossenschaften (Peterborough, Mai 1898) verlas ein Delegirter, Mr. J.C. Gray von Manchester, ein Referat über Genossenschaft und Landwirthschaft, wo er nach objektiver Prüfung aller in England gemachten Erfahrungen am Schlusse zu einem Vorschlag kommt, der dem Oppenheimerschen Projekt ungemein ähnlich sieht. „Der Boden sollte genossenschaftliches Eigenthum sein, genossenschaftlich die Beschaffung allen Bedarfs und genossenschaftlich der Verkauf aller Produkte. Aber in der Bodenbewirthung muß für ein individuelles Interesse gesorgt sein, mit gebührender Vorsorge gegen Uebergriffe wider das Interesse der Gemeinschaft.“ (Cooperation and Agriculture, Manchester 1898, S. 9)
22. Ich sehe mit Vergnügen, daß Karl Kautsky in seinem soeben erschienenen Werk über die Agrarfrage die Frage der ländlichen Genossenschaft ernsthaft in den Kreis seiner Untersuchung gezogen hat. Was er über die Hindernisse sagt, die der Umbildung bäuerlicher Kleinbetriebe in Landwirthschaft treibende Genossenschaften entgegenstehen, stimmt durchaus mit dem überein, was Oppenheimer über dasselbe Thema ausführt. Kautsky erwartet die Lösung des Problems von der Industrie her und der Eroberung der politischen Herrschaft durch das Proletariat. Die Entwicklung bringe heute schon die Bauern immer mehr in Abhängigkeit von kapitalistisch betriebenen Brennereien, Brauereien, Zuckerfabriken, Mahlmühlen, Butter- und Käsefabriken, Weinkellereien &c. und mache sie zu Theilarbeitern anderer Arten kapitalistischer Betriebe, wie Ziegeleien, Bergwerke &c. wo heute Zwergbauern zeitweilig Arbeit nehmen, um das Defizit ihrer Wirthschaft zu decken. Mit der Vergesellschaftung all dieser Unternehmungen würden Bauern zu „gesellschaftlichen Arbeitern“, zu Theilarbeitern sozialistisch:genossenschaftlicher Betriebe werden, während andererseits die proletarische Revolution zur Umwandlung der landwirthschaftlichen Großbetriebe, an die sich ein großer Theil der Kleinbauern heute anlehnt, in Genossenschaftsbetriebe führen müsse. So verlören die kleinbäuerlichen Wirthschaften mehr und mehr ihren Halt, und ihre Zusammenschmelzung in genossenschaftliche Betriebe stoße auf immer weniger Schwierigkeiten. Verstaatlichung der Hypotheken, Aufhebung des Militarismus würden diese Entwicklung noch erleichtern.
In alledem ist sehr viel Richtiges, nur scheint mir Kautsky in den Fehler zu verfallen, die nach der ihm sympathischen Richtung wirkenden Kräfte in hohem Grade zu überschätzen und die nach der anderen Seite hin wirkenden Kräfte ebenso zu unterschätzen. Ein Theil der industriellen Unternehmungen, die er aufzählt, sind auf dem besten Wege, nicht zu Herren der Bauernwirthschaften, sondern zu Anhängseln von bäuerlichen Genossenschaften zu werden, und bei anderen, wie z.B. im Braugeschäft, ist die Verbindung mit der Bauernwirthschaft zu lose, als daß ihre Aenderung eine starke Rückwirkung auf die Betriebsform jener ausüben könnte. Ferner läßt sich Kautsky meines Erachtens zu sehr von den starken Worten, die er hier und da gebraucht, zu Folgerungen verleiten, die richtig wären, wenn jene Worte allgemein zuträfen, so aber, da sie nur für einen Theil der Wirklichkeit zutreffen, auch nicht allgemeine Geltung beanspruchen können. Um es deutlicher zu machen: Bei Kautsky erscheint das Dasein des Kleinbauern als eine „Hölle“. Das wird auch von einem großen Theil der Kleinbauern mit Recht gesagt werden können; von einem anderen Theil aber ist es eine arge Hyperbel genau wie das Wort vom Kleinbauern als modernen „Barbaren“ heute in vielen Fällen durchaus von der Entwicklung überholt ist. Eine ähnliche Hyperbel ist es, die Arbeit, die der Kleinbauer auf benachbarten Gütern leistet, weil sein Gut ihn nicht voll in Anspruch nimmt, als „Sklavenarbeit“ zu bezeichnen. Durch den Gebrauch solcher Ausdrücke setzen sich nun Vorstellungen fest, die Empfindungen und Neigungen bei jenen Klassen voraussetzen lassen, welche sie in Wirklichkeit nur in Ausnahmefällen haben.
Kann ich so nicht allen Ausführungen Kautskys über die voraussichtliche Entwicklung der Bauernwirthschaften zustimmen, so bin ich dafür mit den Grundsätzen seines Programms der heute von der Sozialdemokratie zu beobachtenden Agrarpolitik um so mehr einverstanden. Darüber indeß an anderer Stelle.
23. „Ich habe mehr als einmal auf Gewerkschaftskongressen öffentlich erklärt, daß die Genossenschaften im Allgemeinen die besten Freunde sind, welche die Bäckergehilfen in diesem Lande haben, und an dieser Erklärung halte ich fest ... Mit den großen Konsumgenossenschaften und ihren Bäckereien stehen sowohl ich wie meine Gewerkschaft auf bestem Fuße und hoffen, daß es so bleibt.“ J. Jenkins, Sekretär des Verbands der Britischen Bäckergehilfen in Labour Co-partnership vom November 1898.
24. Auf diese partielle Wahrheit stützte sich u.A. Carey in seiner Harmonielehre. Beispiele liefern gewisse extraktive Industrien, Baugewerbe u.s.f.
25. Das Obenstehende war schon geschrieben, als mir der Artikel Karl Kautskys in Nr. 14 der Neuen Zeit zuging, wo Kautsky die neuerdings in den englischen Mittelgrafschaften aufgekommenen und von mir in einem früheren Artikel beschriebenen Gewerbeallianzen als Gewerkschaften bezeichnet, die sich „mit Kapitalistenringen verbinden zur Brandschatzung des Publikums“, als ein „Mittel der englischen Fabrikanten, die gewerkschaftliche Bewegung zu korrumpiren“. An die Stelle des Kampfes gegen das Kapital trete bei ihnen „der Kampf gegen die Gesellschaft, Arm in Arm mit dem Kapital“ (Neue Zeit, XVII, 1, S. 421). Wie aus meinen im Text folgenden Bemerkungen und meinen Ausführungen über das Genossenschaftswesen ersichtlich, bin ich gegen die Tendenz, die Kautsky da denunzirt, durchaus nicht blind und stehe den gegen das Publikum gerichteten Koalitionen, ob sie nun solche von Kapitalisten oder Arbeitern sind, grundsätzlich ebenso gegenüber, wie er. Dennoch halte ich seine Kritik für übertrieben. Ich kann eine derartige Organisation der Industrie gegen Schmutzkomurrenz und maßloses Unterbieten, wie sie in den Gewerbeallianzen vorliegt, nicht von vorne herein als Verbindungen zur Brandschatzung des Publikums verurtheilen. Selbst bei einem großen Theil der Trusts ist von solcher Brandschatzung bisher noch wenig zu verspüren gewesen. Oft genug liegt vielmehr in Ausnutzung der Schmutzkonkurrenz behufs Herabdrückung der Preise eine meines Erachtens ganz und gar nicht zu billigende Brandschatzung der Produzenten vor. Kurz, ich erblicke in den Gewerbeallianzen, die sich immer mehr auszubreiten scheinen (zur Zeit sind Verhandlungen über ihre Einführung in der Glasindustrie und der Töpferei im Gange) und die in den deutschen Tarifgemeinschaften ein Gegenstück besitzen, eine Erscheinung, die sicher nicht ohne ihre Bedenken ist, die aber, ebenso wie ihre Vorgänger (die gemischten Lohnkomites, gleitenden Lohnlisten &c.), als ein naturgemäßes Produkt der Gegenbewegung gegen die Anarchie im Gewerbe beurtheilt sein will. Sie bedrohen die Interessen der Gesammtheit nicht mehr, wie eine ganze Reihe von anderen Mitteln der Gewerkschaftspolitik, die längst von den organisirten Arbeitern ausgeübt und blos auf die Thatsache hin, daß sie formell – nicht wirklich – gegen das Kapital gerichtet sind, von der Sozialdemokratie bisher stillschweigend anerkannt, wenn nicht unterstützt wurden.
Uebrigens ist Kautsky im Irrthum, wenn er annimmt, daß die englischen Gewerkschaften sich heute prinzipiell gegen die gleitenden Lohntarife wendeten. Sie bekämpfen nur die „bodenlosen“ („bottomless“) Wandeltarife. Gegen Wandeltarife mit einem Mindestlohn, der zum ordentlichen Leben ausreicht, als „Boden“, und mit Bestimmungen, die auf technische Veränderungen in der Produktion Rücksicht nehmen, haben sie ganz und gar nichts einzuwenden.
26. Die folgerichtigen Vertreter des Blanquismus faßten die Demokratie denn auch immer zuerst als unterdrückende Macht auf. So schickt Hippolyte Castille seiner Geschichte der zweiten Republik eine Einleitung voraus, die in einer wahren Verherrlichung der Schreckensherrschaft gipfelt. „Die vollkommenste Gesellschaft“, heißt es da, „wäre die, wo die Tyrannei Sache der Gesammtheit wäre. Was im Grunde beweist, daß die vollkommenste Gesellschaft diejenige wäre, wo es am wenigsten Freiheit im satanischen [d.h. individualistischen] Sinne dieses Wortes gäbe ... Was man politische Freiheiten nennt, ist nur ein schöner Name, um die berechtigte Tyrannei der Zahl auszuschmücken. Die politischen Freiheiten sind nur die Opferung einer Anzahl individueller Freiheiten an den despotischen Gott der menschlichen Gesellschaften, an die soziale Vernunft, an den Kontrakt.“ – „Von dieser Epoche [die Zeit vom Oktober 1793 bis April 1794, wo Girondisten, Hebertisten, Dantonisten nacheinander geköpft wurden] datirt in Wahrheit die Wiedergeburt des Prinzips der Autorität, dieser ewigen Schutzwehr der menschlichen Gesellschaften. Befreit von den Gemäßigten und von den Ultras, gegen jeden Konflikt der Gewalten gesichert, gewinnt der öffentliche Wohlfahrtsausschuß, die durch die Umstände gegebene Form der Regierung, die nothwendige Kraft und Einheit, um die Lage zu behaupten und Frankreich von den Gefahren einer andringenden Anarchie zu schützen ... Nein, nicht das Regieren ist es, was die erste französische Republik tödtete, sondern die Parlamentler, die Verräther des Thermidor. Die anarchistischen und liberalen Republikaner, deren wimmelnde Rasse Frankreich bedeckt, setzen vergeblich die alte Verleumdung fort. Robespierre bleibt ein bedeutender Mann, nicht seiner Talente und Tugenden wegen, die hier nebensächlich sind, sondern wegen seines Sinnes für die Autorität, wegen seines mächtigen politischen Instinkts.“
Dieser Kultus Robespierres sollte das zweite Kaiserreich nicht überdauern. Der jüngeren Generation blanquistischer Sozialrevolutionäre, die Mitte der sechziger Jahre auf die Bühne traten und vor allem antikirchlich waren, war Robespierre wegen seines Deismus zu spießbürgerlich. Sie schworen zu Hebert und Anacharsis Cloots. Aber sonst räsonnirten sie wie Castille, d.h. sie trieben, wie er, den richtigen Gedanken von der Unterordnung individueller Interessen unter das Allgemeininteresse auf die Spitze.
27. Von diesem Gesichtspunkt aus ist es bezeichnend, daß die heftigsten Angriffe gegen meine Versündigungen an dem Gedanken von der Diktatur des Proletariats von Angehörigen, des despotischst regierten europäischen Staatswesens – Rußlands – kamen und am meisten Anklang in – Sachsen fanden, wo die Regierenden im Interesse der Ordnung ein leidlich demokratisches Wahlrecht zur Landesvertretung dem Dreiklassenwahl-Unrecht aufgeopfert haben, wogegen bei Sozialisten mehr demokratischer Länder die betreffenden Artikel theils rückhaltsloser Zustimmung, theils weitgehender Anerkennung begegneten.
28. Vergl. z.B. die Erklärung der Offenbacher Sozialisten gegen die Vergewaltigung der nichtsozialistischen Minderheit in der Gemeindevertretung und die Zustimmung, die sie auf der Konferenz der sozialistischen Gemeindevertreter der Provinz Brandenburg gefunden hat. (Vorwärts vom 28. Dezember 1898)
29. In diesem Punkte war Lassalle sehr viel logischer, als wir es heute sind. Wohl war es eine große Einseitigkeit, daß er den Begriff des Bourgeois lediglich aus dem politischen Privilegium ableitete, statt mindestens zugleich aus der ökonomischen Machtstellung. Aber im Uebrigen war er Realist genug, dem obigen Widersinn von vornherein die spitze abzuschneiden, wenn er im Arbeiterprogramm erklärte:,. In die deutsche Sprache würde das Wort Bourgeoisie mit Bürgerthum zu übersetzen sein. Diese Bedeutung aber hat es bei mir nicht. Bürger sind wir Alle; der Arbeiter, der Kleinbürger, der Großbürger u.s.w. Das Wort Bourgeoisie hat vielmehr im Laufe der Geschichte die Bedeutung angenommen, eine ganz bestimmte politische Richtung zu bezeichnen.“ (Gesammtausgabe II, S. 27.) Was Lassalle dort weiterhin von der verdrehten Logik des Sansculottismus sagt, ist namentlich den Belletristen zu empfehlen, die das Bürgerthum „naturalistisch“ im Café studiren und dann ebenso die ganze Klasse nach ihren trockenen Früchten beurtheilen, wie der Philister im Schnapsbruder den Typus des modernen Arbeiters zu sehen glaubt. Ich stehe nicht an, zu erklären, daß ich das Bürgerthum – das deutsche nicht ausgenommen – im Großen und Ganzen nicht nur ökonomisch, sondern auch moralisch für noch ziemlich gesund halte.
30. „Die Sonveränetät ruht beim Volke. Sie ist untheilbar, unverjährbar und unveräußerlich.“ Art. 25. „Ein Volk hat jederzeit das Recht, seine Verfassung zu revidiren, zu reformiren und abzuändern. Keine Generation kann die andere an ihre Gesetze binden.“ Art. 28.
31. An dem obige Kriterium ist meines Erachtens auch die heute so lebhaft erörterte Frage der freien Arztwahl in den Krankenkassen zu beurtheilen. Welche örtlichen Umstände immer die Krankenkassen veranlassen mögen, die Arztwahl zu beschränken, prinzipiell ist solche Beschränkung sicherlich unsozialistisch. Der Arzt soll nicht Beamter einer geschlossenen Körperschaft, sondern des Gemeinwesens sein, sonst würden wir allmälig dahin kommen, daß der Satz des Kommunistischen Manifests: „Die Bourgeoisie hat den Arzt, den Juristen, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt“, eine eigenthümliche Umarbeitung zu erfahre hätte.
32. Wobei es allerdings zu recht verzwickten Problemen käme. Man denke an die vielen kombinirten Unteruehmungen der Neuzeit, die Angehörige aller möglichen Gewerbe beschäftigen.
33. Wiederholt ist es mir (und sicher auch Anderen) in früheren Jahren passirt, daß am Schlusse einer Agitationsversammlung Arbeiter oder Handwerker, die zum ersten Male eine sozialistische Rede gehört, zu mir kamen und mir erklärten, was ich da gesagt hätte, das stünde alles schon in der Bibel, sie könnten mir die Stellen Satz für Satz zeigen.
34. Einen solchen Weginterpretirungsversuch macht H. Cunow in seinem Zusammenbruchsartikel. Wenn Marx am Schlusse des ersten Bandes Kapital von der „wachsenden Masse des Elends“ spreche, die mit dem Fortgang der kapitalistischen Produktion eintrete, so sei damit, schreibt er, „nicht ein blos absoluter Rückgang der wirthschaftlichen Existenzlage des Arbeiters“ zu verstehen, sondern „nur ein Rückgang seiner gesellschaftlichen Gesammtlage im Verhältniß znr fortschreitenden kulturellen Entwicklung, also im Verhältniß zur Zunahme der Produktivität und der Steigerung der allgemeinen Kulturbedürfnisse“. Der Begriff des Elends sei kein feststehender. „Was dem einen Arbeiter einer bestimmten Kategorie, den von seinen ‚Arbeitsherrn‘ eine tiefe Bildungsdifferenz trennt, als ein erstrebenswerther Zustand erscheint, das mag dem qualifizirten Arbeiter einer anderen Kategorie, der geistig seinen ‚Arbeitsherrn‘ vielleicht überlegen ist, als eine solche Menge des ‚Elends und des Drucks‘ erscheinen, daß er sich in Empörung dagegen auslehnt.“ (Neue Zeit, XVII, 1, S. 402-403)
Leider spricht Marx in dem betreffenden Satze nicht blos von der steigenden Masse des Elends, des Drucks, sondern auch von der „der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung“. Sollen wir nun auch diese alle im besagten – pickwickscher Sinne verstehend Etwa eine Entartung des Arbeiters annehmen, die nur eine relative Entartung ist im Verhältniß zur Steigerung der allgemeinen Gesittung? Ich bin nicht dazu geneigt, und Cunow wohl auch nicht. Nein, Marx spricht an der betreffenden Stelle ganz positiv: „beständig abnehmende Zahl der Kapitalmagnaten“, welche „alle Vortheile“ des kapitalistischen Umwandlungsprozesses „usurpirt“, und Wachsthum „der Masse des Elends, des Drucks“ &c., &c. (Kapital, Bd. 1, Kap. 24, 7) Auf diese Gegenüberstellung kann man die Zusammenbruchstheorie begründen, auf das moralische Elend über geistig inferiore Vorgesetzte, wie es in jeder Schreibstube, in allen hierarchischen Organisationen zu finden ist, nicht.
Beiläufig ist es für mich eine kleine Genugthunng, zu sehen, wie Cunow hier die Sätze, auf welche die Zusammenbruchstheorie sich stützt, nur dadurch mit der Wirklichkeit versöhnen kann, daß er plötzlich Arbeiter verschiedener Kategorien mit grundverschiedenen sozialen Begriffen auftreten lässt. Sind das nun auch „englische Arbeiter“?
35. „Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen sind nicht Eigenthümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und haben sie als boni patres familias, den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.“ (Marx, Kapital, III, 2, S. 309)
36. Hyndman vertritt mit großer Entschiedenheit die Idee, daß England zum Schutz seiner Nahrungsmittelzufuhr eine, jeder möglichen Kombination von Gegnern gewachsene Kriegsflotte bedarf. „Unsere Existenz als eine Nation von freien Menschen hängt von unserer Beherrschung der See ab. Dies kann von einem anderen Volke der Gegenwart gesagt werden. So sehr wir Sozialisten naturnothwendig Gegner von Rüstungen sind, müssen wir doch die Thatsachen anerkennen.“ (Justice, 31. Dezember 1898)
37. In einer Schrift Wie es gemacht werden kann hat ein englischer Ingenieur, John Richardson, Mitglied der sozialdemokratischen Föderation, einen Plan der Verwirklichung des Sozialismus ausgearbeitet, nach dem der Unterricht bis zum einundzwanzigsten Jahre obligatorisch gemacht und mit vollständig freiem Unterhalt der Schüler verbunden werden soll. Aber von vierzehnten Jahre ab sollen je vier Stunden, und vom neunzehnten Jahre ab je sechs Stunden täglich produktiver Arbeit gewidmet werden. Darin und in verschiedenen anderen Punkten geht der Plan, so sehr er die ökonomischen Schwierigkeiten der Sache unterschätzt, jedenfalls von durchaus vernünftigen Grundsätzen aus. „Soll eine soziale Reform erfolgreich ausfallen„“ schreibt der Verfasser, „so muß sie folgen den Bedingungen nachkommen: Erstens muß sie möglich sein, d.h. sie muß mit der menschlichen Natur rechnen wie sie ist und nicht wie sie sein sollte; zweitens darf sie keine gewaltsame und plötzliche Veränderung in der Verfassung der Gesellschaft versuchen; drittens muß, während die Anwendung schrittweise erfolgt, die Wirkung jedesmal eine unmittelbare und sichere sein; viertens muß sie, wenn erst eingeleitet, in ihrer Wirkung dauernd sein und automatisch funktioniren; fünftens muß ihr Wirken den Anforderungen der Gerechtigkeit, ihre Verwirklichung, denen der Billigkeit entsprechen, und sechstens muß sie elastisch sein, d.h. beständige Erweiterung, Modifizirung und Vervollkommnung zulassen.“ (How it can be done, or Constructive Socialism, London, The Twentieth Century Press)
38. Ich sehe hier von den verwaltungstechnischen Fragen ab, die mit diesen Fragen verknüpft sind. Offenbar wäre es ein Widersinn, dem einen Körper – den Staat – die Pflicht der Aufbringung der Mittel, dem anderen – den Gemeinden – ein unbeschränktes Verfügungsrecht über diese Mittel zuzuweisen. Entweder müßte dein Staat, als Organ, das die Mittel aufbringt, ein weitgehendes Recht finanzieller Kontrolle der Gemeindeausgaben eingeräumt werden, oder aber es müßten die Gemeinden mindestens für einen Antheil an den Kosten für die ausgeführten Zwecke selbst aufzukommen haben, so daß zweckwidrige Ausgaben auch ihnen zur Last fielen. Was mich betrifft, so bin ich der Ansicht, daß in diesen Dingen der Staat die susidiäre und nicht die primäre Finanzbehörde zu bilden hat.
39. So in der Wiesenkultur beim Schnitt des Grases, wobei den jungen Personen die Aufgabe zufällt, das geschnittene Gras auszubreiten, damit es Tags über in der Sonne trockne. Will man ihnen diese Arbeit und die ergänzende Arbeit des Wendens und Häufens nicht verbieten, so ist es ihnen wie der Sache selbst zuträglicher, diese in den heißesten Monaten etwa in der Zeit von 6 bis 10 Uhr Vormittags und 4 bis 8 Uhr Nachmittags zu erlauben.
40. Einen derartigen, allerdings mit zuviel Einschränkungen versehenen Paragraphen enthält das neue englische Lokalverwaltungsgesetz. Er war in der ursprünglichen Fassung, in der die liberale Regierung ihn 1894 vorschlug, viel radikaler, mußte aber Angesichts der Opposition der Konservativen, hinter denen das Haus der Lords stand, abgeschwächt werden.
41. Welche Förderung aber nicht darin bestehen darf, daß man dem Konsumverein erlaubt, minderwerthige Waaren zu führen &c.
42. Ich habe diesen Gedanken schon vor Jahren sehr energisch in meinem Vorwort zum Auszug aus Lassalles System der erworbenen Rechte Ausdruck gegeben, welches Wert ja selbst, wie Lassalle schreibt, dem Zwecke gewidmet ist, das revolutionäre Recht mit dem positivem Recht zu versöhnen, d.h. noch im revolutionären Recht dem positiven Recht Genüge zu leisten. Auf die Gefahr hin, spießbürgerlicher Gesinnung bezichtigt zu werden, stehe ich nicht an zu erklären, daß mir der Gedanke oder die Vorstellung einer Expropriation, die nur in Rechtsform gekleidete Wegnahme wäre – von einer Expropriation nach dem Rezept Barères gar nicht zu reden –, durchaus verwerflich erscheint, ganz abgesehen davon, daß ein solches Enteignen auch aus rein wirthschastlich utilitarischen Gründen zu verwerfen wäre. „Wie weitreichende Eingriffe in das Gebiet bisheriger Eigenthumsprivilegien man auch dabei – in der Uebergangsepoche zur sozialistischen Gesellschaft – voraussetzen mag, es werden nicht die sinnlos waltender brutaler Gewalt sein können, sondern sie werden der Ausdruck einer bestimmten, wenn auch neuen und sich mit elementarer Kraft geltend machenden Rechtsidee sein.“ (Gesammtausgabe von Lassalles Werken, Bd. III, S. 791) Die dem ureigenen Rechtsprinzip des Sozialismus am meisten entsprechende Form der Expropriation der Erpropriateure ist die der Ablösung durch Organisationen und Institutionen.
43. Der Kampf der Sozialdemokratie und die Revolution der Gesellschaft, Neue Zeit, XVI, 1, S. 451.
Zuletzt aktualisiert am 10 February 2010