Eduard Bernstein

Die Voraussetzungen des Sozialismus


Erstes Kapitel
Die grundlegenden Sätze des marxistischen Sozialismus


Erstes Kapitel aus dem Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie von 1899.
Die Wiedergabe folgt der Ausgabe im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, November 1969
Transkription u. HTML-Markierung: J.L.W. für das Marxists’ Internet Archive.


a) Die Wissenschaftselemente des Marxismus

„Mit ihnen wurde der Sozialismus eine Wissenschaft, die es sich nun handelt, in allen ihren Einzelheiten und Zusammenhängen weiter auszuarbeiten.“

Engels, Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft

Die deutsche Sozialdemokratie erkennt heute als die theoretische Grundlage ihres Wirkens die von Marx und Engels ausgearbeitete und von ihnen als wissenschaftlicher Sozialismus bezeichnete Gesellschaftslehre an. Das soll besagen, dass während die Sozialdemokratie als kämpfende Partei bestimmte Interessen und Tendenzen vertritt, für selbstgesetzte Ziele streitet, sie bei der Bestimmung dieser Ziele in letzter, entscheidender Linie einer Erkenntnis folgt, die eines objektiven, nur auf Erfahrung und Logik als Beweismaterial angewiesen und mit ihnen übereinstimmenden Beweises fähig ist. Denn was eines solchen Beweises nicht fähig ist, ist nicht mehr Wissenschaft, sondern beruht auf subjektiven Eingebungen, auf bloßem Wollen oder Meinen.

Bei allen Wissenschaften kann man zwischen einer reinen und einer angewandten Lehre unterscheiden. Die erstere besteht aus Erkenntnissätzen, die aus der Gesamtheit der einschlägigen Erfahrungen abgeleitet sind und daher als allgemeingültig betrachtet werden. Sie bilden in der Theorie das beständige Element. Aus den Anwendungen dieser Sätze auf die Einzelerscheinungen oder die Einzelfälle der Praxis baut sich die angewandte Wissenschaft auf: die aus dieser Anwendung gewonnenen Erkenntnisse, die in Lehrsätze zusammengefasst werden, sind Sätze der angewandten Wissenschaft. Sie bilden im Lehrgebäude das veränderliche Element.

Beständig und veränderlich sind indes hier nur bedingt zu verstehen. Auch die Sätze der reinen Wissenschaft sind Veränderungen unterworfen, die aber zumeist in der Form von Ein- schränkungen vor sich gehen. Mit der fortschreitenden Erkenntnis werden Sätze, denen vorher absolute Gültigkeit beigelegt wurde, als bedingt erkannt und durch neue Erkenntnissätze ergänzt, welche diese Gültigkeit einschränken, aber zugleich das Gebiet der reinen Wissenschaft erweitern. [1] Umgekehrt behalten in der angewandten Wissenschaft die einzelnen Sätze für bestimmte Fälle dauernde Geltung. Ein Satz der Agrikulturchemie oder der Elektrotechnik, sofern er überhaupt erprobt worden, bleibt immer richtig, sobald die Voraussetzungen, auf denen er beruht, wiederhergestellt sind. Aber die Vielheit der Voraussetzungselemente und ihrer Verbindungsmöglichkeiten bewirken eine unendliche Mannigfaltigkeit solcher Sätze und eine beständige Verschiebung im Wertverhältnis derselben zueinander. Die Praxis schafft immer neuen Erkenntnisstoff und verändert das Gesamtbild sozusagen mit jedem Tage, lässt fortgesetzt in die Rubrik der veralteten Methoden wandern, was einst neue Errungenschaft war.

Eine systematische Ausschälung der reinen Wissenschaft des marxistischen Sozialismus von ihrem angewandten Teile ist bisher noch nicht versucht worden, wenngleich es an wichtigen Vorarbeiten dazu nicht fehlt. Marx’ bekannte Darlegung seiner Geschichtsauffassung im Vorwort von Zur Kritik der politischen Ökonomie und der dritte Abschnitt von Fr. Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft sind als die bedeutsamsten Darlegungen hier an erster Stelle zu nennen. Im erwähnten Vorwort legt Marx die allgemeinen Grundzüge seiner Geschichts- oder Gesellschaftsphilosophie in so knappen, bestimmten, von allen Beziehungen auf Spezialerscheinungen und Spezialformen getrennten Sätze dar, wie es in gleicher Reinheit nirgends anders geschehen ist. Es fehlt da kein für die Marxsche Geschichtsphilosophie wesentlicher Gedanke.

Das Engelssche Schriftwerk ist teils eine gemeinverständlichere Fassung, teils eine Erweiterung der Marxschen Sätze. Es wird darin auf Spezialerscheinungen der Entwicklung, wie die von Marx als bürgerlich charakterisierte moderne Gesellschaft, Bezug genommen und wird deren weiterer Entwicklungsgang eingehender vorgezeichnet, so dass man an vielen Stellen schon von angewandter Wissenschaft sprechen kann. Engels kann da schon herausgebrochen werden, ohne dass der Fundamentalgedanke Schaden leidet. Aber in den Hauptsätzen ist die Darstellung noch allgemein genug, um für die reine Wissenschaft des Marxismus beansprucht werden zu können. Dazu berechtigt und nötigt auch die Tatsache, dass der Marxismus mehr sein will als abstrakte Geschichtstheorie. Er will zugleich Theorie der modernen Gesellschaft und ihrer Entwicklung sein. Man kann, wenn man streng unterscheiden will, diesen Teil der marxistischen Lehre schon als angewandte Doktrin bezeichnen, aber es ist eine für den Marxismus durchaus wesentliche Anwendung, ohne die er so ziemlich jede Bedeutung als politische Wissenschaft verlöre. Es müssen daher die allgemeinen oder Hauptsätze dieser Ausführungen über die moderne Gesellschaft noch der reinen Lehre des Marxismus zugerechnet werden. Wenn die gegenwärtige, rechtlich auf dem Privateigentum und der freien Konkurrenz beruhende Gesellschaftsordnung für die Geschichte der Menschheit ein spezieller Fall ist, so ist sie für die gegenwärtige Kulturepoche doch zugleich der allgemeine und dauernde Fall. Alles, was von der Marxschen Kennzeichnung der bürgerlichen Gesellschaft und ihres Entwicklungsganges bedingungslose, das heißt von nationalen und lokalen Besonderheiten unabhängige Geltung beansprucht, würde demgemäß in das Gebiet der reinen Doktrin gehören, alles, was sich auf zeitliche und örtliche Spezialerscheinungen und Konjekturen bezieht, alle Spezialformen der Entwicklung dagegen in die angewandte Wissenschaft.

Es ist seit einiger Zeit Mode geworden, das mehr analytische Eindringen in die Marxsche Lehre mit dem Worte Scholastik zu diskreditieren. Solche Schlagworte sind sehr bequem und fordern gerade deswegen zur größten Vorsicht heraus. Untersuchung der Begriffe, Scheidung des Zufälligen vom Wesentlichen wird immer wieder von neuem notwendig, wenn die Begriffe sich nicht verflachen, die Ableitungen sich nicht zu reinen Glaubenssätzen versteinern sollen. Die Scholastik hat nicht bloß begriffliche Haarspalterei getrieben, sie hat nicht nur die Handlangerin der Orthodoxie gespielt, sondern sie hat, indem sie die Dogmen der Theologie begrifflich analysierte, sehr viel zur Überwindung des Dogmatismus beigetragen; sie hat den Wall unterminiert, den die orthodoxe Dogmenlehre der freien philosophischen Forschung entgegensetzte – auf dem Boden, den die Scholastik urbar gemacht, ist die Philosophie eines Descartes und Spinoza erwachsen. Es gibt eben verschiedene Arten von Scholastik: apologetische und kritische. Die letztere ist seit jeher aller Orthodoxie ein Gräuel.

Indem wir die Elemente des Marxschen Lehrgebäudes in der vorerwähnten Weise trennen, gewinnen wir einen leitenden Maßstab der Wertung einzelner seiner Sätze für das ganze System. Mit jedem Satze der reinen Wissenschaft würde ein Stück des Fundaments weggerissen und ein großer Teil des ganzen Gebäudes seiner Stütze beraubt und hinfällig werden. Anders mit den Sätzen der angewandten Wissenschaft. Diese können fallen, ohne das Fundament im geringsten zu erschüttern. Ja, ganze Satzreihen der angewandten Wissenschaft könnten fallen, ohne die anderen Teile in Mitleidenschaft zu ziehen. Es müsste sich nur nachweisen lassen, dass im Aufbau der Mittelglieder ein Fehler gemacht wurde. Wo sich solche Fehler nicht nachweisen lassen, würde allerdings der unvermeidliche Schluss der sein, dass im Fundament ein Fehler oder eine Lücke war.

Es liegt indes außerhalb des Planes dieser Arbeit, hier eine solche systematische Teilung bis in die feineren Einzelheiten vorzunehmen, da es sich um keine erschöpfende Darstellung und Kritik der Marxschen Lehre handelt. Es genügt für meinen Zweck, das schon erwähnte Programm des historischen Materialismus, die (in ihm bereits im Keim enthaltene) Lehre von den Klassenkämpfen im allgemeinen und dem Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat im besonderen, sowie die Mehrwertlehre mit der Lehre von der Produktionsweise der bürgerlichen Gesellschaft und den in ihr begründeten Entwicklungstendenzen dieser Gesellschaft als die Hauptbestandteile dessen zu kennzeichnen, was meines Erachtens das Gebäude der reinen Wissenschaft des Marxismus bildet. Wie die Sätze der angewandten, sind auch die der reinen Wissenschaft selbstverständlich unter sich wieder von verschiedenem Werte für das System.

So wird von niemand bestritten werden, dass das wichtigste Glied im Fundament des Marxismus sozusagen das Grundgesetz, das das ganze System durchdringt, seine spezifische Geschichtstheorie ist, die den Namen materialistische Geschichtsauffassung trägt. Mit ihr steht und fällt es im Prinzip, in dem Maße, wie sie Einschränkungen erleidet, wird die Stellung der übrigen Glieder zueinander in Mitleidenschaft gezogen. Jede Untersuchung seiner Richtigkeit muss daher von der Frage ausgehen, ob oder wie weit diese Theorie Gültigkeit hat.
 

b) Die materialistische Geschichtsauffassung und die historische Notwendigkeit

„Wir hatten, den Gegnern gegenüber, das von diesen geleugnete Hauptprinzip (die ökonomische Seite) zu betonen, und da war nicht immer Zeit, Ort und Gelegenheit, die übrigen, an der Wechselwirkung beteiligten Momente zu ihrem Recht kommen zu lassen.“

Friedrich Engels, Brief von 1890, abgedruckt im Soz. Akademiker, Oktober 1895

Die Frage nach der Richtigkeit der materialistischen Geschichtsauffassung ist die Frage nach der geschichtlichen Notwendigkeit und ihren Ursachen. Materialist sein heißt zunächst, alles Geschehen auf notwendige Bewegungen der Materie zurückführen. Die Bewegung der Materie vollzieht sich nach der materialistischen Lehre mit Notwendigkeit als ein mechanischer Prozess. Kein Vorgang ist da ohne seine von vornherein notwendige Wirkung, kein Geschehen ohne seine materielle Ursache. Es ist also die Bewegung der Materie, welche die Gestaltung der Ideen und Willensrichtungen bestimmt, und so sind auch diese und damit alles Geschehen in der Menschenwelt materiell notwendig. So ist der Materialist ein Calvinist ohne Gott. Wenn er an keine von einer Gottheit verfügte Vorherbestimmung glaubt, so glaubt er doch und muss er glauben, dass von jedem beliebigen Zeitpunkt an alles weitere Geschehen durch die Gesamtheit der gegebenen Materie und die Kraftbeziehungen ihrer Teile im voraus bestimmt ist.

Die Übertragung des Materialismus in die Geschichtserklärung heißt daher von vornherein die Behauptung der Notwendigkeit aller geschichtlichen Vorgänge und Entwicklungen. Die Frage für den Materialisten ist nur: auf welche Weise setzt sich in der menschlichen Geschichte die Notwendigkeit durch, welches Kraftelement oder welche Kraftfaktoren sprechen da das entscheidende Wort, welches ist das Verhältnis der verschiedenen Kraftfaktoren zueinander, welche Rolle kommt der Natur, der Wirtschaft, den Rechtseinrichtungen, den Ideen in der Geschichte zu?

Marx gibt an der schon erwähnten Stelle die Antwort dahin, dass er als den bestimmenden Faktor die jeweiligen materiellen Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse der Menschen bezeichnet.

„Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann ein Epoche sozialer Revolution ein. Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich der ganze ungeheure Überbau (die rechtlichen und politischen Einrichtungen, denen bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen) langsamer oder rascher um ... Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und neue höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoße der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet sind ... Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses ... aber die im Schoße der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsform schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab.“ (Zur Kritik der politischen Ökonomie, Vorwort)

Es sei zunächst vorwegnehmend bemerkt, dass der Schlusssatz und das Wort ‚letzte‘ in dem ihm vorhergehenden Satz nicht beweisbar, sondern mehr oder weniger begründete Annahmen sind. Sie sind aber auch für die Theorie unwesentlich, gehören vielmehr schon zu den Anwendungen und können daher hier übergangen werden.

Betrachtet man die übrigen Sätze, so fällt vor allem, von dem „langsamer oder rascher“ abgesehen (in dem allerdings sehr viel liegt), ihre apodiktische Fassung auf. So werden im zweiten der zitierten Sätze „Bewusstsein“ und „Sein“ so schroff gegenübergestellt, dass die Folgerung nahe liegt, die Menschen würden lediglich als lebendige Agenten geschichtlicher Mächte betrachtet, deren Werk sie geradezu wider Wissen und Willen ausführen. Und das wird nur zum Teil modifiziert durch einen hier als nebensächlich fortgelassenen Satz, worin die Notwendigkeit betont wird, bei sozialen Umwälzungen zwischen der materiellen Umwälzung in den Produktionsbedingungen und den „ideologischen Formen“ zu unterscheiden, „worin sich die Menschen dieses Konflikts bewusst werden und ihn ausfechten“. Im ganzen erscheint das Bewusstsein und Wollen der Menschen als ein der materiellen Bewegung sehr untergeordneter Faktor.

Auf einen nicht minder prädestinatorisch lautenden Satz stoßen wir im Vorwort zum ersten Band des Kapital. „Es handelt sich“, heißt es da mit Bezug auf die „Naturgesetze“ der kapitalistischen Produktion, „um diese mit eherner Notwendigkeit wirkenden und sich durchsetzenden Tendenzen.“ Und doch, wo eben noch von Gesetz gesprochen ward, drängt sich am Schluss statt dieses starren ein biegsamerer Begriff ein: die Tendenz. Und auf dem nächsten Blatte steht dann der oft zitierte Satz, dass die Gesellschaft die Geburtswehen naturgemäßer Entwicklungsphasen „abkürzen und mildern“ kann.

Sehr viel bedingter erscheint die Abhängigkeit der Menschen von den Produktionsverhältnissen in der Erklärung, wie sie Fr. Engels noch zu Lebzeiten von Karl Marx und in Übereinstimmung mit ihm in der Streitschrift wider Dühring vom historischen Materialismus gibt. Da heißt es, dass „die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen“ nicht in den Köpfen der Menschen, sondern „in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise“ zu suchen seien. „Letzte Ursachen“ schließt aber mitwirkende Ursachen anderer Art ein, Ursachen zweiten, dritten usw. Grades, und es ist klar, dass je größer die Reihe solcher Ursachen ist, um so mehr die bestimmende Kraft der letzten Ursachen qualitativ wie quantitativ beschränkt wird. Die Tatsache ihrer Wirkung bleibt, aber die schließliche Gestaltung der Dinge hängt nicht allein von ihr ab. Eine Wirkung, die das Ergebnis des Waltens verschiedener Kräfte ist, lässt sich nur dann mit Sicherheit berechnen, wenn alle Kräfte genau bekannt sind und nach ihrem vollen Wert in Rechnung gesetzt werden. Die Ignorierung selbst einer Kraft niederen Grades kann, wie jeder Mathematiker weiß, die größten Abweichungen zur Folge haben.

In seinen späteren Arbeiten hat Fr. Engels die bestimmende Kraft der Produktionsverhältnisse noch weiter eingeschränkt. Am meisten in zwei im Sozialistischen Akademiker vom Oktober 1895 abgedruckten Briefen, der eine davon im Jahre 1890, der andere im Jahre 1894 verfasst. Dort werden „Rechtsformen“, politische, juristische, philosophische Theorien, religiöse Anschauungen beziehungsweise Dogmen als Einflüsse aufgezählt, die auf den Verlauf der geschichtlichen Kämpfe einwirken und in vielen Fällen „vorwiegend deren Form bestimmen“. „Es sind also unzählige, einander durchkreuzende Kräfte“, heißt es, „eine unendliche Gruppe von Kräfteparallelogrammen, daraus eine Resultante – das geschichtliche Ereignis – hervorgeht, die selbst wieder als das Produkt einer, als Ganzes bewusstlos und willenlos wirkenden Macht angesehen werden kann. Denn was jeder einzelne will, wird von jedem anderen verhindert, und was herauskommt, ist etwas, was keiner gewollt hat.“ (Brief von 1890) „Die politische, rechtliche, philosophische, religiöse, literarische, künstlerische usw. Entwicklung beruht auf der ökonomischen. Aber sie alle reagieren aufeinander und auf die ökonomische Basis.“ (In einem Schreiben von 1894) Man wird gestehen, dass dies etwas anders klingt als die eingangs zitierte Stelle bei Marx.

Es soll natürlich nicht behauptet werden, dass Marx und Engels zu irgendeiner Zeit die Tatsache übersehen hätten, dass nichtökonomische Faktoren auf den Verlauf der Geschichte einen Einfluss ausüben. Unzählige Stellen aus ihren ersten Schriften ließen sich gegen solche Annahme anführen. Aber es handelt sich hier um ein Maßverhältnis, nicht darum, ob ideologische Faktoren anerkannt wurden, sondern welches Maß von Einfluss, welche Bedeutung für die Geschichte ihnen zugeschrieben wurden. In dieser Hinsicht aber ist ganz und gar nicht zu bestreiten, dass Marx und Engels ursprünglich den nichtökonomischen Faktoren eine sehr viel geringere Mitwirkung bei der Entwicklung der Gesellschaften, eine sehr viel geringere Rückwirkung auf die Produktionsverhältnisse zuerkannt haben als in ihren späteren Schriften. Es entspricht dies auch dem natürlichen Entwicklungsgang jeder neuen Theorie. Stets tritt eine solche zuerst in einer schroffen, apodiktischen Formulierung auf. Um sich Geltung zu verschaffen, muss sie die Hinfälligkeit der alten Theorien beweisen, und in diesem Kampfe sind Einseitigkeit und Übertreibung von selbst angezeigt. In dem Satz, den wir diesem Abschnitt als Motto vorangestellt haben, erkennt Engels dies rückhaltlos an, und anschließend an ihn bemerkt er noch:

„Es ist aber leider nur zu häufig, dass man glaubt, eine neue Theorie vollkommen verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die Hauptsätze sich angeeignet hat ...“

Wer heute die materialistische Geschichtstheorie anwendet, ist verpflichtet, sie in ihrer ausgebildetsten und nicht in ihrer ursprünglichen Form anzuwenden, das heißt, er ist verpflichtet, neben der Entwicklung und dem Einfluss der Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse den Rechts- und Moralbegriffen, den geschichtlichen und religiösen Traditionen jeder Epoche, den Einflüssen von geographischen und sonstigen Natureinflüssen, wozu denn auch die Natur des Menschen selbst und seiner geistigen Anlagen gehört, voll Rechnung zu tragen. Es ist das ganz besonders da im Auge zu behalten, wo es sich nicht mehr bloß um reine Erforschung früherer Geschichtsepochen, sondern schon um Projizierung kommender Entwicklungen handelt, wo die materialistische Geschichtsauffassung als Wegweiser für die Zukunft helfen soll.

Den Theorien gegenüber, die die menschliche Natur als etwas Gegebenes und Unveränderliches behandeln, ist von der sozialistischen Kritik mit Recht auf die großen Veränderungen hingewiesen worden, welche die menschliche Natur in den verschiedenen Ländern im Laufe der Zeiten durchgemacht hat, die Veränderungsfähigkeit, welche Menschen einer bestimmten Epoche an den Tag legen, wenn sie in andere Verhältnisse versetzt werden. In der Tat ist die Natur des Menschen sehr elastisch, soweit es sich um die Anpassungsfähigkeit an neue Naturverhältnisse und eine neue soziale Umgebung handelt. Aber man muss eines nicht vergessen. Wo so große Massen in Frage kommen wie die modernen Nationen mit ihren aus jahrtausendelanger Entwicklung herausgewachsenen Lebensgewohnheiten, ist selbst von größeren Eigentumsumwälzungen eine rasche Wandlung der Menschennatur um so weniger zu erwarten, als die Wirtschafts- und Eigentumsverhältnisse nur einen Teil der sozialen Umgebung ausmachen, die auf den menschlichen Charakter bestimmend einwirkt. Auch hier ist eine Vielheit von Faktoren in Betracht zu ziehen, und zu der Produktions- und Austauschweise, auf welche der historische Materialismus das Hauptgewicht legt, kommt unter anderem hinzu das zwar durch diese bedingte, aber, einmal gegeben, eigene Rückwirkungen äußernde territoriale Gruppierungs- oder Agglomerationsverhältnis, das heißt die örtliche Verteilung der Bevölkerung und das Verkehrswesen.

In einem Briefe an Konrad Schmidt, datiert vom 27. Oktober 1890, hat Friedrich Engels in trefflicher Weise gezeigt, wie sich gesellschaftliche Einrichtungen aus Erzeugnissen wirtschaftlicher Entwicklung zu sozialen Mächten mit Eigenbewegung verselbständigen, die nun ihrerseits auf jene zurückwirken und sie je nachdem fördern, aufhalten oder in andere Bahnen lenken können. Er führt als Beispiel in erster Linie die Staatsmacht an, wobei er die meist von ihm gegebene Definition des Staates als Organ der Klassenherrschaft und Unterdrückung durch die sehr bedeutsame Zurückführung des Staates auf die gesellschaftliche Teilung der Arbeit ergänzt. [2] Der historische Materialismus leugnet also durchaus nicht eine Eigenbewegung politischer und ideologischer Mächte, er bestreitet nur die Unbedingtheit dieser Eigenbewegung und zeigt, dass die Entwicklung der ökonomischen Grundlagen des Gesellschaftslebens – Produktionsverhältnisse und Klassenentwicklung – schließlich doch auf die Bewegung jener Mächte den stärkeren Einfluss übt.

Aber jedenfalls bleibt die Vielheit der Faktoren, und es ist keineswegs immer leicht, die Zusammenhänge, die zwischen ihnen bestehen, so genau bloßzulegen, dass sich mit Sicherheit bestimmen lässt, wo im gegebenen Falle die jeweilig stärkste Triebkraft zu suchen ist. Die rein ökonomischen Ursachen schaffen zunächst nur die Anlage zur Aufnahme bestimmter Ideen, wie aber diese dann aufkommen und sich ausbreiten und welche Form sie annehmen, hängt von der Mitwirkung einer ganzen Reihe von Einflüssen ab. Man tut dem historischen Materialismus mehr Abbruch, als man ihm nützt, wenn man die entschiedene Betonung der Einflüsse anderer als rein ökonomischer Natur und die Rücksicht auf andere ökonomische Faktoren als die Produktionstechnik und ihre vorausgesehene Entwicklung von vornherein als Eklektizismus vornehm zurückweist. Der Eklektizismus – das Auswählen aus verschiedenen Erklärungen und Behandlungsarten der Erscheinungen – ist oft nur die natürliche Reaktion gegen den doktrinären Drang, alles aus einem herzuleiten und nach einer und derselben Methode zu behandeln. Sobald solcher Drang überwuchert, wird sich der eklektische Geist immer wieder mit elementarer Gewalt Bahn brechen. Er ist die Rebellion des nüchternen Verstandes gegen die jeder Doktrin innewohnende Neigung, den Gedanken „in spanische Stiefel einzuschnüren“. [3]

In je höherem Grade nun neben den rein ökonomischen Mächten andere Mächte das Leben der Gesellschaft beeinflussen, um so mehr verändert sich auch das Walten dessen, was wir historische Notwendigkeit nennen. In der modernen Gesellschaft haben wir in dieser Hinsicht zwei große Strömungen zu unterscheiden. Auf der einen Seite zeigt sich eine wachsende Einsicht in die Gesetze der Entwicklung und namentlich der ökonomischen Entwicklung. Mit dieser Erkenntnis geht, teils als ihre Ursache, teils aber wiederum als ihre Folge, Hand in Hand eine steigende Fähigkeit, die ökonomische Entwicklung zu leiten. Wie die physische, wird auch die ökonomische Naturmacht in dem Maße von der Herrscherin zur Dienerin der Menschen, als ihr Wesen erkannt ist. Die Gesellschaft steht so der ökonomischen Triebkraft theoretisch freier als je gegenüber, und nur der Gegensatz der Interessen zwischen ihren Elementen – die Macht der Privat- und Gruppeninteressen – verhindert die volle Übersetzung dieser theoretischen in praktische Freiheit. Indes gewinnt auch hier das Allgemeininteresse in wachsendem Maße an Macht gegenüber dem Privatinteresse, und in dem Grade, wie dies der Fall, und auf allen Gebieten, wo dies der Fall, hört das elementarische Walten der ökonomischen Mächte auf. Ihre Entwicklung wird vorweggenommen und setzt sich deshalb um so rascher und leichter durch. Individuen und ganze Völker entziehen so einen immer größeren Teil ihres Lebens dem Einfluss einer sich ohne oder gegen ihren Willen durchsetzenden Notwendigkeit.

Weil aber die Menschen den ökonomischen Faktoren immer größere Beachtung schenken, gewinnt es leicht den Anschein, als spielten diese heute eine größere Rolle als früher. Das ist jedoch nicht der Fall. Die Täuschung wird bloß dadurch erweckt, dass das ökonomische Motiv heute frei auftritt, wo es früher durch Herrschaftsverhältnisse und Ideologien aller Art verkleidet war. An Ideologie, die nicht von der Ökonomie und der als ökonomische Macht wirkenden Natur bestimmt ist, ist die moderne Gesellschaft vielmehr reicher als frühere Gesellschaften. [4] Die Wissenschaften, die Künste, eine größere Reihe sozialer Beziehungen sind heute viel weniger von der Ökonomie abhängig als zu irgendeiner früheren Zeit. Oder um keiner Missdeutung Raum zu geben, der heute erreichte Stand ökonomischer Entwicklung lässt den ideologischen und insbesondere den ethischen Faktoren einen größeren Spielraum selbständiger Betätigung, als dies vordem der Fall war. Infolgedessen wird der Kausalzusammenhang zwischen technisch-ökonomischer Entwicklung und der Entwicklung der sonstigen sozialen Einrichtungen ein immer mehr mittelbarer, und damit werden die Naturnotwendigkeiten der ersteren immer weniger maßgebend für die Gestaltung der letzteren.

Der „Geschichte ehernes Muss“ erhält auf diese Weise eine Einschränkung, die für die Praxis der Sozialdemokratie, um dies vorauszuschicken, keine Minderung, sondern eine Steigerung und Qualifizierung der sozialpolitischen Aufgaben bedeutet.

Nach alledem sehen wir die materialistische Geschichtsauffassung heute in anderer Gestalt vor uns, als sie ihr zuerst von ihren Urhebern gegeben wurde. Bei ihnen selbst hat sie eine Entwicklung durchgemacht, bei ihnen selbst an absolutistischer Deutung Einschränkungen erlitten. Das ist, wie gezeigt, die Geschichte jeder Theorie. Es wäre der größte Rückschritt, etwa von der reifen Form, die ihr Engels in den Briefen an Konrad Schmidt und den vom Sozialistischen Akademiker veröffentlichten Briefen gegeben hat, zurückzugehen auf die ersten Definitionen und ihr, gestützt auf diese, eine ‚monistische‘ Deutung zu geben. Vielmehr sind die ersten Definitionen durch jene Briefe zu ergänzen. Der Grundgedanke der Theorie verliert dadurch nicht an Einheitlichkeit, aber die Theorie selbst gewinnt an Wissenschaftlichkeit. Sie wird mit diesen Ergänzungen erst wahrhaft zur Theorie wissenschaftlicher Geschichtsbetrachtung. In ihrer ersten Form konnte sie in der Hand eines Marx zum Hebel großartiger geschichtlicher Entdeckungen werden, aber selbst sein Genie ward durch sie zu allerhand Fehlschlüssen verleitet. [5] Wie viel mehr erst alle diejenigen, welche weder über sein Genie noch über seine Kenntnisse verfügen. Als wissenschaftliche Grundlage für die sozialistische Theorie kann die materialistische Geschichtsauffassung heute nur noch in der vorgeführten Erweiterung gelten, und alle Anwendungen, die ohne Berücksichtigung oder mit ungenügender Berücksichtigung der damit angezeigten Wechselwirkung der materiellen und ideologischen Kräfte vorgenommen wurden, sind, ob von den Urhebern der Theorie selbst oder von anderen herrührend, demgemäß entsprechend zu berichtigen.

Das Vorstehende war bereits geschrieben, als mir das Oktoberheft der Deutschen Worte, Jahr 1898, mit einem Artikel von Wolfgang Heine über Paul Barths Geschichtsphilosophie und seine Einwände gegen den Marxismus zuging. Heine verteidigt dort die Marxsche Geschichtsauffassung gegen den Vorwurf des bekannten Leipziger Dozenten, den Begriff des Materiellen auf das Technisch-Ökonomische zu beschränken, so dass auf sie eher die Bezeichnung ökonomische Geschichtsauffassung passte. Er hält dieser Bemerkung die zitierten Engelsschen Briefe aus den neunziger Jahren gegenüber und ergänzt sie durch einige sehr beachtenswerte eigene Betrachtungen über die Einzelbeweise des Marxismus und die Entstehung, Fortbildung und Wirkungskraft der Ideologien. Nach ihm kann die marxistische Theorie der Ideologie größere Zugeständnisse machen, als es bisher geschehen, ohne dadurch an ihrer gedanklichen Einheit zu verlieren, und muss sie ihr solche Zugeständnisse machen, um wissenschaftliche, die Tatsachen gebührend würdigende Theorie zu bleiben. Nicht darauf komme es an, ob sich die marxistischen Schriftsteller überall des unleugbaren Zusammenhangs zwischen dem Einfluss überlieferter Ideen und neuer ökonomischer Tatsachen eingedenk gewesen seien oder ihn genügend betont hätten, sondern, ob sich seine volle Anerkennung in das System der materialistischen Geschichtsauffassung hineinfüge.

Prinzipiell ist diese Fragestellung unbedingt richtig. Es handelt sich hier, wie zuletzt überall in der Wissenschaft, um eine Grenzfrage. So stellt sie auch Karl Kautsky in seiner Abhandlung: Was kann die materialistische Geschichtsauffassung leisten? Aber man muss sich dessen bewusst bleiben, dass ursprünglich die Frage nicht in dieser Begrenzung gestellt, sondern dem technisch-ökonomischen Faktor eine fast unbeschränkte Bestimmungsmacht in der Geschichte zugeschrieben wurde.

Der Streit dreht sich schließlich, meint Heine, um das quantitative Verhältnis der bestimmenden Faktoren, und er setzt hinzu, die Entscheidung habe „mehr praktische als theoretische Wichtigkeit“.

Ich würde vorschlagen, statt „mehr – als“ „ebensoviel – wie“ zu sagen. Aber dass es sich um eine Frage von großer praktischer Wichtigkeit handelt, ist auch meine Überzeugung. Es ist von großer praktischer Bedeutung, Sätze, die auf Grund übermäßiger Hervorhebung des technischökonomischen Bestimmungsfaktors in der Geschichte formuliert wurden, nach Maßgabe des erkannten Quantitätsverhältnisses der anderen Faktoren zu berichtigen. Es ist nicht genug, dass die Praxis die Theorie korrigiert, die Theorie – wenn sie überhaupt einen Wert haben soll – muss sich dazu verstehen, die Bedeutung der Korrektur anzuerkennen.

Es erhebt sich dann schließlich die Frage, bis zu welchem Punkte die materialistische Geschichtsauffassung noch Anspruch auf ihren Namen hat, wenn man fortfährt, sie in der vorerwähnten Weise durch Einfügung anderer Potenzen zu erweitern. Tatsächlich ist sie nach Engels’ vorgeführten Erklärungen nicht rein materialistisch, geschweige denn rein ökonomisch. Ich leugne nicht, dass Name und Sache sich nicht völlig decken. Aber ich suche den Fortschritt nicht in der Verwischung, sondern in der Präzisierung der Begriffe, und da es bei Bezeichnung einer Geschichtstheorie vor allem darauf ankommt, erkennen zu lassen, worin sie sich von anderen unterscheidet, würde ich, weit entfernt, an Barths Titel ökonomische Geschichtsauffassung Anstoß zu nehmen, trotz alledem ihn für die angemessenste Bezeichnung der marxistischen Geschichtstheorie halten.

In dem Gewicht, das sie auf die Ökonomie legt, ruht ihre Bedeutung, aus der Erkenntnis und Wertung der ökonomischen Tatsachen stammen ihre großen Leistungen für die Geschichtswissenschaft, stammt die Bereicherung, die ihr dieser Zweig des menschlichen Wissens verdankt. Ökonomische Geschichtsauffassung braucht nicht zu heißen, dass bloß ökonomische Kräfte, bloß ökonomische Motive anerkannt werden, sondern nur, dass die Ökonomie die immer wieder entscheidende Kraft, den Angelpunkt der großen Bewegungen in der Geschichte bildet. Dem Worte materialistische Geschichtsauffassung haften von vornherein alle Missverständnisse an, die sich überhaupt an den Begriff Materialismus knüpfen. Der philosophische oder naturwissenschaftliche Materialismus ist streng deterministisch, die marxistische Geschichtsauffassung aber misst der ökonomischen Grundlage des Völkerlebens keinen bedingungslos bestimmenden Einfluss auf dessen Gestaltungen zu.
 

c) Die marxistische Lehre vom Klassenkampf und der kapitalistischen Entwicklung

Auf der Grundlage der materialistischen Geschichtsauffassung ruht die Lehre von den Klassenkämpfen.

„Es fand sich“, schreibt Fr. Engels im Anti-Dühring, „dass alle bisherige Geschichte [6] die Geschichte von Klassenkämpfen war, dass diese einander bekämpfenden Klassen jedes Mal Erzeugnisse sind der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Worte der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche.“ (3. Auflage, Seite 12)

In der modernen Gesellschaft ist es der Klassenkampf zwischen den kapitalistischen Besitzern der Produktionsmittel und den kapitallosen Produzenten, den Lohnarbeitern, der ihr in dieser Hinsicht seinen Stempel aufdrückt. Für die erstere Klasse hat Marx den Ausdruck Bourgeoisie, für die letztere den Ausdruck Proletariat aus Frankreich übernommen, wo sie zur Zeit, als er seine Theorie ausarbeitete, von den dortigen Sozialisten schon mit Vorliebe gebraucht wurden. Dieser Klassenkampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat ist der auf die Menschen übertragene Gegensatz in den heutigen Produktionsverhältnissen, nämlich zwischen dem privaten Charakter der Aneignungsweise und dem gesellschaftlichen Charakter der Produktionsweise. Die Produktionsmittel sind Eigentum von einzelnen Kapitalisten, die sich den Ertrag der Produktion aneignen, die Produktion selbst aber ist ein gesellschaftlicher Prozess geworden, das heißt eine von vielen auf Grund planmäßiger Teilung und Organisation der Arbeit ausgeführte Herstellung von Gebrauchsgütern. Und dieser Gegensatz birgt in sich oder hat als Ergänzung einen zweiten: der planmäßigen Teilung und Organisation der Arbeit innerhalb der Produktionsanstalten (Werkstatt, Fabrik, Fabrikkomplex usw.) steht die planlose Veräußerung der Produkte auf dem Markte gegenüber.

Ausgangspunkt des Klassenkampfes zwischen Kapitalisten und Arbeiter ist der Interessengegensatz, wie er sich aus der Natur der Verwertung der Arbeit des letzteren durch den ersteren ergibt. Die Untersuchung dieses Verwertungsprozesses führt zur Lehre vom Wert und der Produktion und Aneignung des Mehrwerts.

Bezeichnend für die kapitalistische Produktion und für die auf ihr beruhende Gesellschaftsordnung ist, dass sich die Menschen in ihren wirtschaftlichen Beziehungen als Käufer und Verkäufer gegenüberstehen. Sie anerkennt im Wirtschaftsleben keine formalgesetzlichen, sondern nur tatsächliche, aus den rein wirtschaftlichen Beziehungen (Besitzunterschiede, Lohnverhältnisse usw.) sich ergebende Abhängigkeitsverhältnisse. Der Arbeiter verkauft dem Kapitalisten seine Arbeitskraft für bestimmte Zeit und unter bestimmten Bedingungen zu einem bestimmten Preis, dem Arbeitslohn. Der Kapitalist verkauft die mit Hilfe des Arbeiters respektive von der Gesamtheit der von ihm beschäftigten Arbeiter hergestellte Produktenmasse auf dem Warenmarkt zu einem Preis, der in der Regel und als Bedingung des Fortgangs seiner Unternehmung einen Überschuss über den Betrag ergibt, den ihn die Herstellung gekostet hat. Was ist nun dieser Überschuss?

Nach Marx ist er der Mehrwert der vom Arbeiter geleisteten Arbeit. Die Waren tauschen sich auf dem Markte zu einem Wert aus, der bestimmt wird durch die in ihnen verkörperte Arbeit, gemessen nach Zeit. Was der Kapitalist an vergangener – wir können auch sagen toter Arbeit in Form von Rohstoff, Hilfsstoff, Maschinenabnutzung, Miete und anderen Unkosten in die Produktion gesteckt hat, erscheint im Werte des Produkts unverändert wieder. Anders mit der aufgewendeten lebendigen Arbeit. Diese kostete den Kapitalisten den Arbeitslohn, sie bringt ihm einen diesen übersteigenden Erlös, den Gegenwert des Arbeitswerts. Der Arbeitswert ist der Wert der in dem Produkt steckenden Arbeitsmenge, der Arbeitslohn ist der Kaufpreis der in der Produktion aufgewendeten Arbeitskraft. Preis beziehungsweise Wert der Arbeitskraft sind bestimmt durch die Unterhaltskosten des Arbeiters, wie. sie dessen geschichtlich ausgebildeten Lebensgewohnheiten entsprechen. Die Differenz zwischen dem Gegenwert (Erlös) des Arbeitswerts und dem Arbeitslohn ist der Mehrwert, den möglichst zu erhöhen und jedenfalls nicht sinken zu lassen das natürliche Bestreben des Kapitalisten ist.

Nun drückt aber die Konkurrenz auf dem Warenmarkt beständig auf die Warenpreise, und Vergrößerung des Absatzes ist immer wieder nur durch Verbilligung der Produktion zu erzielen. Der Kapitalist kann diese Verbilligung auf dreierlei Weise erzielen: Herabsetzung der Löhne, Verlängerung der Arbeitszeit, Steigerung der Produktivität der Arbeit. Da es jedes Mal bestimmte Grenzen für die zwei ersteren gibt, wird seine Energie immer wieder auf die letztere hingelenkt. Bessere Organisierung der Arbeit, Verdichtung der Arbeit und Vervollkommnung der Maschinerie ist in der entwickelteren kapitalistischen Gesellschaft das vorherrschende Mittel, die Produktion zu verbilligen. In allen diesen Fällen ist die Folge, dass sich die organische Zusammensetzung des Kapitals, wie Marx es nennt, ändert. Das Verhältnis des auf Rohstoffe, Arbeitsmittel usw. ausgelegten Kapitalteils steigt, das des auf Arbeitslöhne ausgelegten Kapitalteils sinkt; dieselbe Produktenmasse wird durch weniger Arbeiter, eine erhöhte Produktenmasse durch die alte oder ebenfalls eine verringerte Zahl von Arbeitern hergestellt. Das Verhältnis des Mehrwerts zu dem in Löhnen ausgelegten Kapitalteil nennt Marx die Mehrwerts- oder Ausbeutungsrate, das Verhältnis des Mehrwerts zum gesamten in die Produktion gesteckten Kapital die Profitrate. Es liegt nach dem Vorhergehenden auf der Hand, dass die Mehrwertsrate steigen kann, während gleichzeitig die Profitrate sinkt.

Je nach der Natur des Produktionszweigs finden wir eine sehr verschiedene organische Zusammensetzung des Kapitals. Es gibt Unternehmungen, wo ein unverhältnismäßig großer Kapitalteil für Arbeitsmittel, Rohstoffe usw. und ein im Verhältnis nur geringer Kapitalteil für Löhne verausgabt wird, und andere, wo die Löhne den wichtigsten Teil der Kapitalsauslage bilden. Die ersteren stellen höhere, die letzteren niedere organische Zusammensetzungen des Kapitals dar. Herrschte durchgängig das gleiche proportionelle Verhältnis zwischen erzieltem Mehrwert und Arbeitslohn, so müssten in diesen letzteren Produktionszweigen die Profitraten die der ersteren Gruppen in vielen Fällen um ein Vielfaches übersteigen. Das ist aber nicht der Fall. Tatsächlich werden die Waren in der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft nicht zu ihrem Arbeitswert, sondern zu ihren Produktionspreisen veräußert, die in den ausgelegten Herstellungskosten (Arbeitslohn plus verausgabter toter Arbeit) und einem Aufschlag bestehen, der dem Durchschnittsprofit der gesellschaftlichen Gesamtproduktion oder der Profitrate derjenigen Produktionszweige entspricht, in denen die organische Zusammensetzung des Kapitals ein Durchschnittsverhältnis vom Lohnkapital zum übrigen angewandten Kapital aufweist. Die Preise der Waren bewegen sich also in den verschiedenen Produktionszweigen keineswegs in gleicher Weise um ihre Werte. In den einen sind sie beständig weit unter, in anderen beständig über dem Wert, und nur in Produktionszweigen mittlerer organischer Zusammensetzung des Kapitals nähern sie sich den Werten an. Das Wertgesetz verschwindet völlig aus dem Bewusstsein der Produzenten, es wirkt nur hinter ihrem Rücken, indem sich nach ihm in längeren Zwischenräumen die Höhe der Durchschnittsprofitrate reguliert.

Die Zwangsgesetze der Konkurrenz und der wachsende Kapitalreichtum der Gesellschaft wirken auf ein beständiges Sinken der Profitrate hin, das durch gegenwirkende Kräfte verlangsamt, aber nicht dauernd aufgehalten wird. Überproduktion von Kapital geht mit Überschüssigmachung von Arbeitern Hand in Hand. Immer größere Zentralisation greift in Industrie, Handel und Landwirtschaft um sich und immer stärkere Expropriation kleiner Kapitalisten durch größere. Periodische Krisen, herbeigeführt durch die Produktionsanarchie in Verbindung mit der Unterkonsum- tion der Massen treten immer heftiger, immer zerstörender auf und beschleunigen durch Vernichtung unzähliger kleiner Kapitalisten den Zentralisierungs- und Expropriierungsprozess. Auf der einen Seite verallgemeinert sich die kollektivistische – kooperative – Form des Arbeitsprozesses auf stets wachsender Stufenleiter in steigendem Grade, auf der anderen wächst „mit der beständig abnehmenden Zahl der Kapitalmagnaten, welche alle Vorteile dieses Umwandlungsprozesses usurpieren und monopolisieren, die Masse des Elends, des Druckes, der Knechtschaft, der Entartung, der Ausbeutung, aber auch der Empörung der stets anschwellenden und durch den Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses selbst geschulten, vereinten und organisierten Arbeiterklasse“. So strebt die Entwicklung einem Punkte zu, wo das Kapitalmonopol zur Fessel wird der mit ihm aufgeblühten Produktionsweise, wo die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesellschaftung der Arbeit unverträglich werden mit ihrer kapitalistischen Hülle. Diese wird alsdann gesprengt, die Expropriierer und Usurpatoren werden durch die Volksmasse expropriiert, das kapitalistische Privateigentum wird aufgehoben.

Dies die geschichtliche Tendenz der kapitalistischen Produktions- beziehungsweise Aneignungsweise nach Marx. Die Klasse, die dazu berufen ist, die Expropriation der Kapitalistenklasse und die Verwandlung des kapitalistischen in öffentliches Eigentum durchzuführen, ist die Klasse der Lohnarbeiter, das Proletariat. Zu diesem Behuf ist es als politische Partei der Klasse zu organisieren. Diese Klasse ergreift im gegebenen Moment die Staatsmacht und „verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum. Aber damit hebt das Proletariat sich selbst als Proletariat, damit hebt es alle Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat.“ Der Kampf ums Einzeldasein mit seinen Konflikten und Exzessen hört auf, der Staat hat nichts mehr zu unterdrücken und „stirbt ab“ (Engels, Entwicklung des Sozialismus).

Dies in möglichst knapper Zusammenfassung die wichtigsten Sätze desjenigen Teiles der marxistischen Lehre, den wir noch zur reinen Theorie des auf ihr beruhenden Sozialismus zu rechnen haben. Ebensowenig oder vielmehr noch weniger wie die materialistische Geschichtstheorie ist dieser Teil von Anfang an in vollendeter Form dem Haupte seiner Urheber entsprungen. Mehr noch als dort lässt sich hier eine Entwicklung der Lehre nachweisen, die, bei Festhaltung der Hauptgesichtspunkte, in Einschränkung zuerst apodiktisch hingestellter Sätze besteht. Teilweise ist diese Änderung der Lehre von Marx und Engels selbst zugestanden worden. Im Vorwort zum Kapital (1867), im Vorwort zur Neuauflage des Kommunistischen Manifests (1872), im Vorwort und einer Note zur Neuauflage des Elends der Philosophie (1884) und im Vorwort zu Die Klassenkämpfe in der Französischen Revolution [1*] (1895) sind einige der Wandlungen angezeigt, die sich mit Bezug auf verschiedene der einschlägigen Fragen in den Ansichten von Marx und Engels im Laufe der Zeit vollzogen haben. Aber nicht alle der dort und anderwärts zu konstatierenden Wandlungen hinsichtlich einzelner Teile oder Voraussetzungen der Theorie haben bei der schließlichen Ausgestaltung dieser volle Berücksichtigung gefunden. Um nur ein Beispiel herauszugreifen. Im Vorwort zur Neuauflage des Kommunistischen Manifests sagen Marx und Engels von dem in diesem entwickelten Revolutionsprogramm: „Gegenüber der immensen Fortentwicklung der großen Industrie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und der mit ihr fortschreitenden Parteiorganisation der Arbeiterklasse, gegenüber den praktischen Erfahrungen zuerst der Februarrevolution und noch weit mehr der Pariser Kommune, wo das Proletariat zum ersten Male zwei Monate lang die politische Gewalt inne hatte, ist heute dies Programm stellenweise veraltet. Namentlich hat die Kommune den Beweis geliefert, dass ‚die Arbeiterklasse nicht die fertige Staatsmaschinerie einfach in Besitz nehmen und sie für ihre eigenen Zwecke in Bewegung setzen kann‘.“ Das war 1872 geschrieben. Aber fünf Jahre später, in der Streitschrift gegen Dühring, heißt es wieder kurzweg: „Das Proletariat ergreift die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum.“ (1. Auflage, S. 233, 3. Auflage, S. 302) Und in der Neuauflage der Enthüllungen über den Kommunistenprozess druckt Engels 1885 ein auf Grund der alten Auffassung aufgestelltes Revolutionsprogramm von 1848 [2*] sowie ein ebenfalls im Sinne dieser abgefasstes Rundschreiben der Exekutive des Kommunistenbundes [3*] ab und bemerkt vom ersteren nur lakonisch, dass aus ihm „auch heute noch mancher etwas lernen kann“, vom zweiten, dass „manches von dem dort Gesagten auch heute noch passt“ (Seite 14). Man kann nun auf die Worte „zunächst“, „mancher“, „manches“ verweisen und erklären, dass die Sätze eben nur bedingt zu verstehen sind,! aber damit wird, wie wir noch sehen werden, die Sache nicht verbessert. Marx und Engels haben sich darauf beschränkt, die Rückwirkungen, welche die von ihnen anerkannten Änderungen in den Tatsachen und die bessere Erkenntnis der Tatsachen auf die Ausgestaltung und Anwendung der Theorie haben müssen, teils überhaupt nur anzudeuten, teils bloß in Bezug auf einzelne Punkte festzustellen. Und auch in letzterer Beziehung fehlt es bei ihnen nicht an Widersprüchen. Die Aufgabe, wieder Einheit in die Theorie zu bringen und Einheit zwischen Theorie und Praxis herzustellen, haben sie ihren Nachfolgern hinterlassen.

Diese Aufgabe kann aber nur gelöst werden, wenn man sich rückhaltlos Rechenschaft ablegt über die Lücken und Widersprüche der Theorie. Mit anderen Worten, die Fortentwicklung und Ausbildung der marxistischen Lehre muss mit ihrer Kritik beginnen. Heute [7] steht es so, dass man aus Marx und Engels alles beweisen kann. Das ist für den Apologeten und den literarischen Rabulisten sehr bequem. Wer sich aber nur ein wenig theoretischen Sinn bewahrt hat, für wen die Wissenschaftlichkeit des Sozialismus nicht auch „bloß ein Schaustück ist, das man bei festlichen Anlässen aus dem Silberschrank nimmt, sonst aber unberücksichtigt lässt“, der wird, sobald er sich dieser Widersprüche bewusst wird, auch das Bedürfnis empfinden, mit ihnen aufzuräumen. Darin und nicht im ewigen Wiederholen der Worte der Meister beruht die Aufgabe ihrer Schüler.

In diesem Sinne wird im nachfolgenden an die Kritik einiger Elemente der marxistischen Lehre gegangen. Der Wunsch, die in erster Linie auf Arbeiter berechnete Schrift in mäßigem Umfang zu halten, und die Notwendigkeit, sie innerhalb weniger Wochen fertig zu stellen, mögen es erklären, dass erschöpfende Behandlung des Gegenstandes nicht einmal versucht wurde. Zugleich sei hier ein für allemal erklärt, dass kein Anspruch auf Originalität der Kritik erhoben wird. Das meiste, wenn nicht alles von dem hier Folgenden ist der Sache nach auch schon von anderen ausgeführt oder mindestens angedeutet worden. Insofern besteht die Legitimierung dieser Schrift nicht darin, dass sie vordem Unbekanntes aufdeckt, sondern darin, dass sie schon Entdecktes anerkennt.

Aber auch das ist notwendige Arbeit. Es war, glaube ich, Marx selbst, der einmal mit Bezug auf die Schicksale von Theorien schrieb: „Moors Geliebte kann nur durch Moor sterben.“ So können die Irrtümer einer Lehre nur dann als überwunden gelten, wenn sie als solche von den Verfechtern der Lehre anerkannt sind. Solche Anerkennung bedeutet noch nicht den Untergang der Lehre. Es kann sich vielmehr herausstellen, dass nach Ablösung dessen, was für irrig erkannt ist – man erlaube mir die Benützung eines Lassalleschen Bildes –, es schließlich doch Marx ist, der gegen Marx recht behält.




Anmerkungen des Verfassers

1. In dieser Hinsicht bieten namentlich die Naturwissenschaften überzeugende Beispiele. Man denke unter anderem an das Schicksal der Atomenlehre.

2. Allerdings wird auch im Ursprung der Familie eingehend gezeigt, wie die gesellschaftliche Arbeitsteilung das Aufkommen des Staates nötig machte. Aber Engels lässt diese Seite der Entstehung des Staates später völlig fallen und behandelt, wie im Anti-Dühring, den Staat schließlich nur noch als Organ der politischen Repression.

3. Damit soll natürlich weder die verflachende Tendenz des Eklektizismus, noch der große theoretische wie praktische Wert des Strebens nach einheitlicher Erfassung der Dinge geleugnet werden. Ohne dieses Streben kein wissenschaftliches Denken. Aber das Leben ist umfassender als alle Theorie, und so hat sich die gestrenge Doktrin noch immer schließlich dazu bequemen müssen, bei der Eklektik, dieser frivolen Person, die im Garten des Lebens keck herumnascht, unter der Hand stille Anleihen zu machen und sie vor der Welt damit zu quittieren, dass sie nachträglich erklärte, sie habe dies oder jenes „im Grunde auch immer“ gemeint.

„Doch hat Genie und Herz vollbracht,
Was Locke und Descartes nie gedacht,
Sogleich wird auch von diesen
Die Möglichkeit bewiesen.“

Ein gutes Beispiel dafür liefert in der Geschichte der Sozialwissenschaften die Geschichte der Theorie und Praxis des Genossenschaftswesens.

4. Wem das paradox erscheint, der sei daran erinnert, dass die zahlreichste Klasse der Bevölkerung überhaupt erst in der modernen Gesellschaft für die in dem oben entwickelten Sinne freie Ideologie mitzählt. Landvolk und Arbeiter waren früher teils für ökonomische Zwecke rechtlich gebunden, teils unter dem Einfluss von Ideologien, in denen sich die Beherrschung des Menschen durch die Natur widerspiegelte. Letzteres ist bekanntlich auch der Grundzug der Ideologien (Aberglauben) der Naturvölker. Wenn also Ernest Belfort-Bax in seinem Artikel (Synthetische und materialistische Geschichtsauffassung, Sozialistische Monatshefte, Dezember 1897) sagt, er gebe zu, dass in der Zivilisation das ökonomische Moment fast immer ausschlaggebend gewesen sei, in der vorgeschichtlichen Periode habe es dagegen auf den spekulativen Glauben weniger direkten Einfluss gehabt, da seien die „Grundgesetze menschlichen Denkens und Fühlens“ bestimmend gewesen, so stellt er, auf rein äußerliche Unterschiede hin, die Dinge auf den Kopf. Bei den vorgeschichtlichen Völkern ist die sie umgebende Natur die entscheidende ökonomische Macht und als solche von größtem Einfluss auf ihr Denken und Fühlen. Bax’ Kritik des historischen Materialismus schießt unter anderem auch deshalb fast immer am Ziele vorbei, weil er gerade da ultra-orthodox ist, wo in der Vorführung des historischen Materialismus ursprünglich am meisten übertrieben wurde.

5. „Es ist viel leichter“, sagt Marx an einer viel zitierten Stelle im Kapital, „durch Analyse den irdischen Kern der religiösen Nebenbildungen zu finden, als umgekehrt aus den jedesmaligen wirklichen Lebensverhältnissen ihre verhimmelten Formen zu entwickeln. Das letztere ist die einzig materialistische und daher wissenschaftliche Methode.“ (Kapital, I, 2. Aufl., Seite 386) In dieser Gegenüberstellung liegt eine große Übertreibung. Ohne dass man die verhimmelten Formen schon kennt, würde die beschriebene Art der Entwicklung zu allerhand willkürlichen Konstruktionen verleiten, und wenn man sie kennt, ist die geschilderte Entwicklung Mittel wissenschaftlicher Analyse, aber nicht wissenschaftlicher Gegensatz analytischer Erklärung.

6. In der vierten Auflage der Schrift Die Entwicklung des Sozialismus usw. folgen hier die einschränkenden Worte: „mit Ausnahme der Urzustände“.

.] 1899 geschrieben.




Anmerkungen der Herausgeber

1*. Bernstein irrt sich in Bezug auf den Titel, der richtig lautet Die Klassenkämpfe in Frankreich, vgl. http://www.mlwerke.de/me/me22/me22_509.htmd. Hrsgb.

2*. Vgl. http://www.mlwerke.de/me/me05/me05_003.htmd. Hrsgb.

3*. Vgl. http://www.marxists.org/deutsch/archiv/marx-engels/1850/03/zen-bund.htmd. Hrsgb.


Zuletzt aktualisiert am 10 February 2010