Eduard Bernstein

 

Noch etwas Endziel und Bewegung

Ein Brief an Otto Lang

(Oktober 1899)


Quelle: Socialistische Monatshefte, Jg. 1899, Nr.10, Oktober 1899, S.499-506.
Transkription u. HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Lieber Lang!

Die Redaktion der Sozialistischen Monatshefte hat mich angefragt, ob ich auf Ihren Artikel: Endziel und Bewegung in der schweizerischen Sozialdemokratie etwas an dieser Stelle zu erwidern wünsche. Gerade heraus gesagt, würde ich von der freundlichen Aufforderung kaum Gebrauch gemacht haben, wenn sie mir nicht die Aussicht eröffnete, eine unter nicht erquicklichen Umständen begonnene Polemik in zufriedenstellender Weise zu Ende zu führen. Sie beziehen sich an einer Stelle auf Ihren in der Neuen Zeit gegen mich gerichteten Artikel. Da dieser letztere Artikel bei mir Ansichten voraussetzte, die mir zwar von einigen Gegnern vorgeworfen worden waren, zu denen ich mich selbst aber nirgends bekannt habe, so konnte meine Antwort nicht anders als scharf ablehnend ausfallen und konnte ich Ihnen den Vorwurf nicht ersparen, dass Sie in der Kritik meiner Schrift nicht mit derjenigen Sorgfalt verfahren sind, die ich gerade von Ihnen erwartet hätte und auch wohl erwarten durfte. Ich habe indess schon in der Neuen Zeit selbst bemerkt, dass es mir durchaus fern lag und liegt, Ihren guten Glauben anzuzweifeln. Mein Vorwurf besagt nur, dass Sie bei genauerer Prüfung meiner eigenen Sätze nicht zu jener Ansicht über mein Buch gelangt wären, der Sie in jenem Artikel Ausdruck geben. Und die sachliche Berechtigung jenes Vorwurfs glaube ich erbracht zu haben. Ich glaube auch ferner einen erheblichen Theil der Einwände entkräftet zu haben, die Sie gegen die wirklich von mir vertretenen Ansichten ins Feld führen. Aber in der Form würde meine Antwort sicher anders ausgefallen sein, wenn mir bei ihrer Abfassung Ihr an dieser Stelle abgedruckter Artikel schon vorgelegen hätte.

Nicht, dass dieser frei von Irrthümern über meine Auffassung wäre, aber er zeigt mir deutlicher, als der erste Artikel, woran es liegt, dass Sie mich mit Thatsachen zu schlagen glauben, die in Wirklichkeit nicht nur nichts gegen meine Ausführungen, sondern sogar sehr viel für dieselben bezeugen.

Zwei Erscheinungen, behaupten Sie, stehen „in schroffem Widerspruch mit den Bernsteinschen Behauptungen“: erstens, dass die Arbeiterschaft der Schweiz sich immer entschiedener auf den Boden des Klassenkampfes stellt, und zweitens, dass der Klassenkampf beständig an Schärfe zunimmt.

Was den ersten Punkt betrifft, so kenne ich keine „Bernsteinsche Behauptung“, die eine Zunahme des Klassenbewusstseins der Arbeiter und dessen Uebersetzung in eine entsprechende wirthschaftliche und politische Stellungnahme in Abrede stellt. Wohl bin ich gewissen Uebertreibungen und Einseitigkeiten in der Darstellung dieser Thatsache entgegengetreten, aber das werden Sie mir zuletzt als Verkennung des wirklichen Sachverhalts vorhalten können, der Sie auf Seite 428 feststellen, dass die Erkenntniss der Klassenlage sich nur allmählich verbreitet und gelegentlich wieder verloren geht. Diese Erklärung sagt fast noch mehr, als der Satz, der mir das Verdikt eintrug: Will die Klassensolidarität der Arbeiter als gering erscheinen lassen! Sehr verdächtig! Von schroffem Widerspruch gegen meine Behauptungen kann ich da nichts entdecken. Im Gegentheil. Aber „die beständige Zunahme der Schärfe des Klassenkampfes in der Schweiz“?

Auf diese Frage habe ich zunächst die Gegenfrage zu stellen, ob die Thatsache wirklich so feststeht, wie Sie behaupten, oder ob nicht Ihr Artikel unter dem Eindruck von Augenblickserscheinungen geschrieben ist, die wohl für das schweizerische Parteileben eine gewisse Bedeutung haben mögen, aber für das, was ich behaupte, ganz unerheblich sind.

In jedem Lande giebt es in den Parteikämpfen Perioden der Erhitzung und solche der Mässigung. Eine Periode ersterer Art braucht nun noch gar nicht den gleichen Grad der Erhitzung zu erreichen, der in einer ähnlichen früheren Periode erreicht wurde, um gegen die ihr vorhergegangene Periode verhältnissmässiger Ruhe als gewaltige Verschärfung der Gegensätze zu erscheinen. Wie wir uns – glücklicherweise – frühere physische Schmerzen nur schwach vergegenwärtigen können, so verblassen auch die leidenschaftlichen Erregungen früherer Kämpfe in unserem Gedächtniss, namentlich wenn neue Erregungen uns beherrschen. Es ist mir nicht eingefallen, eine Periode inniger, dauernder Verbrüderung von Lamm und Tiger, oder sagen wir Hammel und Schäferhund, als das unmittelbare Resultat der Demokratie vorauszusagen.

Dann aber: was heisst Verschärfung des Klassenkampfes? Es kann Verschärfung der Formen bedeuten, in denen der Klassenkampf geführt wird, es kann aber auch lediglich die schärfere Scheidung der Klassen in den politischen Parteibildungen und Aeusserungen bezeichnen.

Ich glaube nicht irre zu gehen, wenn ich annehme, dass es wesentlich das Letztere ist, was Ihnen vorschwebt, während es sich bei meinen Darlegungen in erster Reihe um die Formen des Kampfes handelt. Ich spreche von den milderen Formen des Klassenkampfes in der Demokratie, und Sie – wie übrigens auch andere meiner Opponenten – antworten mir mit dem Hinweis auf die Verschärfung in den Beziehungen der oder bestimmter Klassenparteien zu einander. Aber das Eine schliesst das Andere nicht aus. Es existirt hier kein nothwendiger Zusammenhang in der Weise, dass die eine Verschärfung unvermeidlich die andere nach sich ziehen muss. Diese Vorstellung hat sich nur festgesetzt, weil naturgemäss die politische Scheidung von Klassen oder Parteien gerade in der ersten Periode unter den heftigsten Auseinandersetzungen vor sich zu gehen pflegt und nahestehende Parteien sich überhaupt stärker reiben als weiter entgegengesetzte. Die Sozialdemokraten der Schweiz befinden sich nun zufällig an verschiedenen Orten der Schweiz in einer solchen ersten Scheidungsperiode. Auf eine so reiche Vergangenheit die schweizerische Sozialdemokratie auch zurückblicken kann, so tritt sie doch erst neuerdings mit dem. Anspruch auf, eine selbständige politische Partei in grösserem Stil zu bilden, statt, wie bisher, sich an die bürgerlich demokratischen Parteien, anzulehnen. Das giebt nun so eine Art Erbtheilung, und dabei geht es, wie Sie ja als Jurist wissen, selbst unter Brüdern nicht immer fein brüderlich zu. Aehnliches sehen wir auch jetzt in England, wo der Prozess sich, trotz der ungleich vorgeschritteneren wirthschaftlichen Entwickelung, ebenso lange hinzieht, wie in der Schweiz. Aber Parteikämpfe, wie sie sich heute in der Presse und an der Wahlurne abspielen, sind erstens selbst nur bestimmte Aeusserungen des Klassenkampfes, die ihn nicht erschöpfen, und werden zweitens in ihren Formen durch die mannigfachsten Umstände bestimmt, wobei die Grosse des wirtschaftlichen oder sozialpolitischen Objekts keineswegs immer die entscheidende Rolle spielt. Parteien raufen sich um Läppereien oft wüthender, als um die wichtigsten politischen Maassregeln. Solange in England die Wahlen nur ein Kampf der Whig- und Tory-Oligarchie um die fetten Regierungsposten waren, schlug sich das Volk bei ihnen die Köpfe ein, heute, wo es sich um weitgreifende politische und wirtschaftliche Reformen handelt, ist davon keine Rede. Aehnlich ging es seiner Zeit in den oligarchischen Städterepubiiken Italiens zu, ähnlich bis vor Kurzem in Ungarn und anderwärts. So äussert sich das unbestimmte Klassengefühl viel gewaltthätiger und brutaler, wie das entwickelte Klassenbewusstsein, wie es sich gerade unter der Wirkung demokratischer Einrichtungen ausbildet.

Annehmen, dass wir auch da, wo nicht die brutale Gewalt die Ausbildung freier Institutionen hindert, einer Verschärfung der Formen des Klassenkampfes entgegengehen, heisst u.A. annehmen, dass der Arbeiter um so gewaltthätiger wird, je mehr sein Klassenbewusstsein und seine sozialpolitische Erkenntniss zunehmen. Die Erfahrung zeigt, dass das Gegentheil der Fall ist. Je mehr sich der Horizont des Arbeiters erweitert, um so weniger ist sein Gemüth auf Gewaltakte gestimmt. Sie werden mir wahrscheinlich bestreiten, dass Sie bei Ihrem Satz an die Arbeiter gedacht haben. Die Zuflucht zur Gewalt sei auf der ändern. Seite zu gewärtigen, von der Bourgeoisie.

Aber ist das wirklich wahrscheinlicher? Ist von einer Klasse, welche doch nur die Minderheit der Bevölkerung bildet, im Ernst anzunehmen, dass sie mit dem Fortschritt der Demokratie mehr Neigung zum Appell an die Gewalt entwickeln werde als jetzt? Sie könnte doch, lokale Plänkeleien ausgenommen, in demokratischen Ländern nur dann Erfolg damit haben, wenn es sich um die Niederwerfung einer ändern Minderheit handelt, gegen welche alle übrigen Volksklassen auf ihrer Seite ständen. Das wird aber mit dem Fortgang der Entwickelung immer unwahrscheinlicher. Freilich, wenn sich die Arbeiterklasse, bezw. ihre Partei, die Sozialdemokratie, mit Gewalt darauf kaprizirre, den Keil am dicken Ende zuerst eintreiben zu wollen, wenn sie versuchen wollte, Maassregeln zu erzwingen, die im Widerspruch stehen mit allen Möglichkeiten, wie sie sich aus der derzeitigen Struktur der Gesellschaft ergeben, dann mögen solche Zusammenstösse, wo die Arbeiterklasse einer geschlossenen, reaktionären Masse gegenübersteht, unvermeidlich sein. Indess, wo finden wir eine solche widersinnige Politik, ausser in der Vorstellung phantasievoller Schwärmer? Nicht in den Reihen Derer, die in den verschiedenen Ländern an der Spitze wohlgeschulter, kampferprobter Arbeiterparteien stehen. Ueberall lernen die Sozialisten um so besser ihre Mittel abschätzen, je stärker die Bewegung wird, und in der Demokratie ist es – wie Sie ja selbst feststellen – am meisten der Fall. Mehr wie anderwärts kann und mehr wie anderwärts wird die Sozialdemokratie hier auf der Linie des geringsten Widerstandes arbeiten, und es ist darum nicht abzusehen, warum der Klassenkampf mit einem Mal schärfere Formen annehmen, die Kulturentwickelung in Bezug auf die Austragung politischer Kämpfe plötzlich eine andere Richtung einschlagen soll, als bisher.

Ich kann daher nicht anerkennen, dass irgend etwas, was Sie vom Kampf der schweizerischen Sozialdemokratie sagen, in Widerspruch steht mit meinen Ausführungen.

Im Gegentheil, wenn Sie am Schluss sagen: „dann – sobald die schweizerische Sozialdemokratie erstarkt ist und Volkstheile in sich aufgenommen hat, die ihr heute noch fern stehen –, wird sich die Demokratie als das wirksamste Mittel zur Verwirklichung des sozialistischen Programms bewähren“, so kann ich Ihnen, ohne auch nur eine Zeile von dem zurücknehmen zu müssen, was ich geschrieben habe, mit gutem Gewissen zurufen: Soyons amis, Cinna! Wir sind durchaus einverstanden.

Wenden wir uns nun zu dem ändern Vorwurf in Ihrem Artikel, dass ich „offene Thüren einrenne“, wenn ich die Auffassung bekämpfe, die alle wesentlich positive Arbeit der Sozialdemokratie hinter den grossen Krach verlegt. Sie meinen, dass diese Ansicht kaum noch viele Anhänger in Deutschland zähle, und führen aus, gerade der Umstand charakterisire die Thätigkeit der deutschen Sozialdemokratie, dass „sie ihre Taktik nicht von der Aussicht auf eine bevorstehende soziale Katastrophe abhängig machte“; aber wem erzählen Sie das Letztere? Lesen Sie doch, bitte, die Einleitung zu meinem viel angefeindeten Zusammenbruchsartikel, und Sie werden genau das Gleiche dort dargelegt finden: “Man spekulirt nicht mehr über die Vertheilung des Bärenfells nach vollendetem grossen Kladderadatsch, man beschäftigt sich überhaupt nicht allzuviel mit diesem interessanten Ereigniss, sondern studirt die Einzelheiten der Probleme des Tages und sucht nach Hebeln und Ansatzpunkten, um auf dem Boden dieser die Entwickelung der Gesellschaft im Sinne des Sozialismus vorwärts zu treiben.“ So schrieb ich dort von der Thätigkeit der Sozialdemokratie in allen Ländern, wo diese zu politischer Bedeutung gelangt ist. Und mein Erstaunen war nicht gering, als mir dieser Artikel und die in ihm entwickelte Ansicht, dass die Wetterzeichen der Statistik noch keineswegs auf den grossen ökonomischen Zusammenbruch als nahe bevorstehend hindeuten, die wüthendsten Angriffe von Seiten einiger – ich will es, wie Sie, schreiben – „Marxisten“ zuzogen. Ich glaubte, mit meinem Nachweis, dass es absurd ist, die Stellungnahme zu den Kolonialfragen von der Aussicht auf den grossen Krach abhängig zu machen, nur mit einem einzelnen Querkopf zu thun zu haben – mein Artikel war eine Antwort auf einen Angriff von Bax –, und siehe da, es waren seiner Bundesgenossen eine schöne Anzahl. Seitdem, sind dann noch verschiedene Andere ins Baxsche Lager hinübergezogen, darunter auch Derjenige, gegen den der damalige Baxsche Angriff gleichzeitig gerichtetwar, und ich habe mir das Wundern abgewöhnt.

Die Thür war und ist also doch nicht so ganz „offen“. Die Sache ist die, dass die Partei, theils durch das praktische Bedürfniss getrieben und theils dank dem politischen Instinkt von Führern und Mitgliedern immer mehr so handelt, wie Sie und Andere, darunter auch ich, es hinstellen, dass aber in den Köpfen einer nicht geringen Anzahl von Genossen eine Auffassung vom Gang der Bewegung vorwaltet, die mit jener Praxis nicht übereinstimmt. Der Gegensatz ist allerdings kein absoluter. Die gedachte Auffassung lässt jene Thätigkeit schliesslich auch, zu, aber als eine untergeordnete Sache, eine Art Lückenbüsser. Oder, wie es ein geistreicher Kritiker meines Buches bezeichnete: „Was Bernstein von den Aufgaben der Sozialdemokratie sagt, geschieht alles schon jetzt, aber es geschieht theilweise mit halbem Herzen und mit schlechtem Gewissen. Sein Buch zeigt, dass es mit gutem Gewissen und mit vollem Herzen geschehen kann“.

Man kann bei meinem Buche die Intentionen für die Praxis nicht besser charakterisiren. Gegner meiner Anschauungen haben so ziemlich dasselbe gesagt, wenn sie mich als den „Theoretiker des Opportunismus“ brandmarkten. Nichts lässt mich gleichmütiger, wie dieser Titel. Wo der erlaubte Opportunismus aufhört und der verwerfliche beginnt, wird wohl stets Gegenstand des Streites sein, aber gerade, wer das grundsatz- oder haltlose Rechnungtragen verfehmt, muss den Versuch, zwischen Doktrin und Praxis der Partei Einheit herzustellen, willkommen heissen. In diesem Sinne betrachte ich jenen Titel eher als ein Lob.

Ich könnte eine ganze Reihe von Beispielen anführen, wo die Partei – ich spreche hier von der deutschen Sozialdemokratie – ursprünglich unter dem Einfluss doktrinärer Argumente gewisse ihr zulallende Aufgaben und Möglichkeiten vernachlässigte, dann sich ihnen zwar zuwandte, aber unsicher unter allerhand Verlegenheitsvorwänden, bis schliesslich die Erkenntniss sich durchrang, dass die bisherige Auffassung falsch gewesen war, und nunmehr offen proklamirt wurde, was geschah. Ich kann aber auf die Einzelbeispiele verzichten und generell als Typus dieser Entwickelung die Wandlungen in der Stellung der Partei zum Parlamentarismus bezeichnen. Erst überwog die Auffassung, dass die Parlamentstribüne nur dazu da sei, zum Volk hinaus zu reden, und wurden auch die etwa gestellten Anträge demgemäss behandelt, die Vertreter der Partei xvaren im. Parlament nur auf Gastrolle, und die Parteipresse konnte sich nicht geringschätzig genug über die „Sprechbude“ äussern. Heute treten die Vertreter der Partei in den Parlamenten, und namentlich im Reichstag, als regel-mässig mitwirkende Mitglieder der Gesetzgebung auf, und die sozialistische Bewegung befindet sich nicht schlechter dabei. Erledigt ist die Frage des Parlamentarismus allerdings noch nicht, den Einen thut die Partei in dieser Beziehung des Guten zu viel, Anderen nicht genug, aber die Entwickelungslinie zeigt auf eine immer stärkere Theilnahme an der positiven Arbeit im Parlament. Hier ist von Zusammenbruchstheorie nicht mehr die Rede.

Man kann die Entwickelung auch so kennzeichnen: Im Beginn der sozialistischen Agitation dominirt das „Endziel“ über die Bewegung. Irgend ein Mittel, welches den direktesten und schnellsten Weg zu ihm verspricht, erscheint als das allein legitime, das alle anderen entweder ausschliesst (die Sektirerepoche) oder sich selbst wieder unterordnet. Allmählich zeigt sich aber, dass es keinen Königsweg ins tausendjährige Reich giebt, und die als nebensächlich betrachteten Mittel werden in ihrer eigenen Bedeutung besser erkannt und unterschieden, wobei das ursprüngliche Arkanum völlig in den Hintergrund gedrängt werden kann. Aber die Schärfung des Blicks für die Mittel lässt auch die Art der Betrachtung des „Endziels“ nicht unberührt.

Sie schreiben, ich strafte mich selbst Lügen, wenn ich sagte, das Endziel sei mir Nichts, die Bewegung Alles. Meine Untersuchungen bewiesen das Gegentheil, und ich würde mehr im Sinne meiner Ausführungen gesprochen haben, wenn ich statt jenes Paradoxons gesagt hätte: „Je grösser die Bewegung, desto wichtiger die Erkenntniss ihres Zieles und das Festhalten an demselben.“ Mein lieber Lang, was Sie da sagen, habe ich mit etwas anderen Worten schon längst klär und unzweideutig ausgesprochen. „Soll die sozialistische Bewegung nicht kompasslos hin- und hertreiben, so muss sie selbstverständlich ihr Ziel haben, dem sie bewusst zustrebt“, schrieb ich in der Neuen Zeit vom 12. März 1898 in Beantwortung der Kommentare, die jenes, allerdings etwas paradox klingende Wort hervorgerufen hatte. Was dieses letztere für einen vernünftig denkenden Menschen Anstössiges haben konnte, habe ich schon damals unbedenklich preisgegeben. Und wenn Sie den Artikel, in. dem es steht, nachträglich durchlesen, so werden Sie mir zugeben, dass ich es preisgeben durfte, ohne den Grundgedanken jenes Artikels im Geringsten zu beeinträchtigen. Zu ihm stehe ich noch heute mit voller Entschiedenheit; an der pointirten Formulirung des einen, im Trotz gegen einen unsinnigen Vorwurf hingeworfenen Satzes um jeden Preis festhalten zu wollen, wäre kindischer Eigensinn.

Beiläufig, in einigen Parteiblättern ist mir neuerdings – ich glaube, auf den Kredit der Genossin Rosa Luxemburg hin – vorgeworfen worden, ich sei „Ideologe geworden“. Welch ein Verbrechen! Allerdings schrieb Karl Marx im Bürgerkrieg, die Arbeiterklasse habe „keine Ideale zu verwirklichen“. Aber wenn die Arbeiterklasse keine Ideale zu verwirklichen hat, wie kann sie dann Ziele oder gar „Endziele“ zu verwirklichen haben? Bis mir die guten Leute dea Widerspruch lösen, der in jenem Marxschen Satz und der heute als Zeichen marxistischer Gesinnungstüchtigkeit ausgegebenen Versteifung aufs Endziel liegt, bescheide ich mich gern damit, das Brandmal der Ideologie herumzuschleppen.

Die Wahrheit liegt für mich hier in der Mitte. Wenn sich die Arbeiterklasse als Sozialdemokratie ein Endziel setzt, so kann dies nur ein Ideal sein, oder ist es vielmehr schon kraft seiner Eigenschaft als Endziel ein Ideal, Vernünftiger Weise aber kann ein solches ideales Endziel wieder nur ein Prinzip, eine soziale Regel ausdrücken, soll es nicht zur Utopie werden, und als solche Regel durchkreuzt es die praktischen. Ziele, welche sich die Partei in jedem gegebenen Moment, sei es für die nächste oder eine weitere Zukunft, setzt, die nach der materiellen Seite bestimmt werden durch die jeweilige Höhe der gesellschaftlichen Entwickelung in wirtschaftlicher, politischer und sonstiger kultureller Hinsicht, und die sich daraus ergebenden Bedürfnisse und Möglichkeiten der. Arbeiterklasse. Die Eroberung der politischen Macht, in welcher Form es auch sei, ist für die Sozialdemokratie nur ein subsidiäres Ziel und nie ein Endziel, wenn auch ein Ziel, dem wieder andere Ziele als Mittel untergeordnet werden, und ebenso ist auch die Vergesellschaftung der Produkttonsmittel nur als subsidiäres Ziel zu betrachten, bei dem Umfang und Modus durch den höheren Zweck bestimmt sind, zu dem jene Umwandlung das Mittel ist. Hier spricht z.B. der unmittelbare, sozialwirthschaftliche Zweck der Produktionsordnung: höchstmögliche Ergiebigkeit, ein grosses Wort mit, und schon deshalb kann die abstrakte Formel, wie sie hier und da auftaucht: Vergesellschaftung aller Produktions- und Austauschmittel, höchstens als ein unbeholfenes Schiboleth, das die steigende Kontrolle der Produktionsverhältnisse kennzeichnet, nie aber als ein rationelles Endziel gelten. Uebrigens fordert ja auch das Erfurter Programm nur die Verwandlung des kapitalistischen Privateigenthums an Produktionsmitteln in gesellschaftliches Eigenthum, und man braucht sich die Sache nur konkret vorzustellen, um sich zu sagen, dass diese Umwandlung keine gleichzeitige wird sein können.

Die praktischen oder materiellen Ziele, welche sich die Bewegung setzt, sind, wieviel auch vom Inhalt sich gleich bleibt, nach Werthung und Form dem Wechsel unterworfen. Hier ist die Bewegung selbst das Beharrliche, aus ihrem Bedürfniss heraus erwachsen im Lauf der Zeit immer neue Aufgaben, und werden die alten umgewerthet oder erhalten neue Gestalt. Was aus der Ferne als einfache Sache erschien, differenzirt sich, je näher wir ihm kommen, und so markiren nicht die alten Formeln, sondern die neuen Probleme den. Fortschritt der Bewegung. Dauernd ist in dieser Hinsicht einzig das als Prinzip verstandene Endziel. Als Prinzip ist es wirklich und erfüllt es jederzeit, die sozialistische Bewegung.

Das wird Ihnen vielleicht etwas zu ideologisch klingen. Indess, es ist durchaus realistisch gedacht und auch durch die Erfahrung erwiesen. Erinnern Sie sich, welcher Sturm 1891 durch die sozialistische Presse lief, als Friedrich, Engels den Brief von Karl Marx über das Gothaer Programm veröffentlichte.. Es fielen damals sehr bittere Worte, und sie würden noch viel herber ausgefallen sein, wenn nicht eben Friedrich Engels der Veröffentlicher und Karl Marx der Verfasser gewesen wäre. Aber energisch betont wurde, das von Karl Marx in so schroffer Weise verurtheilte Programm habe seine Aufgabe herrlich erfüllt. Und bis zu einem gewissen Grade war das auch richtig. Warum? Weil das Gothaer Programm mit all seinen Fehlern auf der einen. Seite doch den realen Bedürfnissen der Arbeiterbewegung in bestimmten Forderungen genügenden Ausdruck lieh und auf der anderen ihr Prinzip deutlich und energisch betonte. Hätte man damals beschlossen, mit der Programmänderung noch etwas zu warten, so würde die sozialistische Bewegung, heute schwerlich weniger stark sein, als sie thatsächlich ist.

Ich wurde an jenen Marx-Brief und seine Aufnahme lebhaft erinnert, als neulich der Versuch gemacht wurde, mich als Hochverräther an den ersten, sechs Sätzen des theoretischen Theils des Erfurter Programms anzunageln. Offen gestanden, ich hatte mir wirklich keinen Augenblick graue Haare darüber wachsen, lassen, ob ich noch auf die ersten sechs oder vielmehr die ersten fünf Sätze des Programms schwören könne. Sie charakterisiren nicht den Kampf, die Absichten, die Prinzipien der Partei – das thun die anderen fünf Absätze –, sondern eine Ansicht vom objektiven Gang der wirthschaftlichen Entwickelung. in der gegenwärtigen Gesellschaft. Und da werde ich verhört – nicht: wie stehst Du zu den Absichten, Prinzipien, Forderungen, sondern: wie stehst Du zu den Ansichten? Unterschreibst Du auch hier noch jeden Satz? Oder, wenn nicht, warum schlägst Du keine Programmänderung vor? Und als ich es ablehnte, mich so katechisiren zu lassen, war die Entrüstung gross – bei einem Schüler desselben Marx, der geschrieben hatte: Ein Schritt wirklicher Bewegung ist mehr werth, wie ein Dutzend Programme.

Nicht dass ich den Werth von Programmen unterschätzte. Eine Bewegung braucht ein Programm, als Fahne, als Wegweiser, auch als Prüfstein. Aber von alledem war hier nicht die Rede. Oder soll es wirklich ein Prüfstein meiner sozialistischen Gesinnung sein, wenn ich Klassen nicht versinken sehe, die sich thatsächlich noch ganz kräftig auf der Oberfläche bewegen? Dann unterschreibe ich nächstens auch, dass 1 + 1 = 1 ist.

Uebrigens hat der erwähnte Marxsche Programmbrief auch eine Beziehung auf unsere Auseinandersetzung. In ihm steht das Wort von der „Diktatur des Proletariats“, das bis dahin ebenso im Sprachschatz der deutschen Sozialdemokratie fehlte, wie es nach Ihnen noch heute im Wortschatz des schweizerischen Arbeiters fehlt. Aber nach Ihren Darlegungen über die Bewegung und Ziele der schweizerischen Sozialdemokratie fehlt es auch in deren Ideenschatz. Trotzdem erklären Sie, es sei ihnen „doch sehr sympathisch“. Wollen Sie mir erlauben, das zu bezweifeln? Das Wort oder, wie Sie sagen, die Redensart drückt einen Zustand aus, den überflüssig zu machen gerade das eifrige Bestreben der schweizerischen Sozialdemokratie ist. Alle Ihre Bemühungen für die Ausbildung der Volksgesetzgebung zielen darauf hin. Denn, wo das Gesetz herrscht, ist keine Diktatur, selbst wenn in der Gesetzgebung der Wille oder der Geist einer bestimmten Klasse dominirt. Wenn Ihnen nur. das vorschwebt, so brauchen Sie dafür jenes Wort nicht, das bei Marx in wesentlich anderem Sinne gebraucht wird.

Ich sage das nicht aus spiessbürgerlicher Gegnerschaft gegen eine energischere Aktion der Arbeiterklasse. Wo sie wirklich durch die Verhältnisse geboten ist, werde ich der Letzte sein, der gegen sie sein Wort erhebt. Aber gerade deshalb wende ich mich dagegen, dass man von der Sache auch da spricht, wo dergleichen weder vonnöthen ist, noch auch im Ernst beabsichtigt wird. Es wäre ja doch der höchste Widersinn, wenn wir Sozialisten, die Anstreber einer höheren Kultur, an niederen Kampfformen rein um ihrer selbst willen Gefallen finden sollten. Die Diktatur ist eine solche niedere Form der Bewegung, und wenn sie einmal nöthig werden sollte, was für mich aber gerade in der Demokratie am wenigsten ausgemacht ist, so werden die Interessen der Arbeiter selbst ihre möglichste Abkürzung erheischen.

Wahrscheinlich werden Sie mir antworten, was mir schon im Frühjahr einer meiner Gegner antwortete, dass Sie das Wort Diktatur gar nicht in dem alten Sinne verstehen. Dann möchte ich aber fragen: wozu es alsdann überhaupt kultiviren, statt für die andere Sache ein anderes Wort zu brauchen? Die Methode, an Worten oder Begriffen festzuhalten, deren ursprünglichen Sinn man aufgegeben hat, – ich erinnere Sie nur an die Diskussionen über die Verelendungsfrage, die Zusammenbruchsfrage etc. – verhindert nicht nur die Klärung der Meinungen, sie ist auch eine der Hauptursachen der grossen Verbitterung unserer Debatten. Der Löwenantheil der oft geradezu unglaublichen Missdeutungen meiner Schrift in einigen Parteiblättern ist auf die sich allmählich einwurzelnde Gewohnheit zurückzuführen. Nachdem die Diskussion verschiedene dieser Irrthümer aufgeklärt hat, glauben einige der betreffenden Ankläger von einem Rückzug meinerseits sprechen zu dürfen. Ich weiss mich frei von dem Fehler, um jeden Preis bis auf den i-Punkt Recht haben zu wollen. Aber ich kann mit dem besten Willen nichts von Dem zurücknehmen, was ich in meiner Schrift entwickelt habe.

Damit sei diese Auseinandersetzung geschlossen. Wenn sie dazu beiträgt, dass wir uns fortan nur da bekämpfen, wo wir wirklich gegensätzliche Anschauungen vertreten, dann hat sie ihr Ziel, in diesem Fall ihr Endziel, erreicht.


Zuletzt aktualisiert am 15.10.2008