Eduard Bernstein

 

Die socialpolitische Bedeutung von Raum und Zahl

(1897)


Ursprünglich: Probleme des Sozialismus, Teil 5, Die Neue Zeit, XV. Jg 2. Bd., Nr.30, S.100-107 u. Nr.31, S.138-143.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.2, Berlin 1904, S.58-71.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


I.

In den socialistischen Discussionen der Gegenwart, die sich über Fragen des nächsten Tages hinaus wagen, werden Puncte mit auffälliger Gleichgiltigkeit und Oberflächlichkeit behandelt oder ganz übergangen, die für eine Gesellschaftslehre, welche auf Wissenschaftlichkeit Anspruch macht, von grösster Wichtigkeit sind: das Problem der socialpolitischen Gebietseinheiten und das damit eng verbundene Problm der socialpolitischen Verantwortlichkeiten.

Es war dies nicht immer so. Wenn wir von denjenigen Utopisten absehen, die sich damit begnügten, poetische Bilder eines Landes der unendlichen Glückseligkeit zu entwerfen, so haben schon viele der älteren Socialisten diesen Puncten Aufmerksamkeit geschenkt, ihren Mustergemeinwesen eine bestimmte Ausdehnung und Bevölkerung zugemessen, und nach Normen für die Regelung des gegenseitigen Verantwortlichkeitsverhältnisses gesucht. Überhaupt waren diejenigen, die man heute als socialistische Utopisten bezeichnet, keineswegs immer Träumer. Sie täuschten sich über die gegebenen Mittel und Möglichkeiten, und selbst das war jedenfalls so lange nichts Absonderliches, als der fürstliche Absolutismus in Blüte war. In ihrer Gesellschaftskritik und ihren Utopien selbst dagegen verraten sie oft einen recht entwickelten Realismus. Von den grossen Utopisten dieses Jahrhunderts sehen wir Owen seinen Gesellschaftsplan rechnerisch bis in die kleinsten Einzelheiten ausarbeiten, um seine Durchführbarkeit zu beweisen, und Fourier die menschlichen Triebe und Leidenschaften mit grossem psychologischen Verständnis ins Eingehendste analysieren, um ihnen im Phalansterium volle Rechnung tragen und sie zum Eckstein desselben machen zu können. Owen wie Fourier schlagen für ihre communistischen Gemeinschaften bestimmte Durchschnittssätze der Bevölkerung und des Niederlassungsgebiets vor, und Fourier weist dem Phalansterium die Rolle zu, für einen grossen nationalen und internationalen Föderativverband, der an die Stelle der alten Staatseinheiten treten soll, die grundlegende Einheit zu bilden.

Owen wie Fourier bezw. die Fourieristen stehen auch schon mit einem Bein im Lager derjenigen Socialisten, die ihre praktischen Massnahmen für die Verwirklichung ihrer Bestrebungen von der utopischen Zukunftsmalerei unabhängig machen und durch Reformen, die an die gegebenen Verhältnisse anknüpfen, die Gesellschaft dem erstrebten Ziele näher zu bringen suchen.

Zwei Hauptströmungen sind von da ab im socialistischen Lager zu unterscheiden: die einen suchen den gegebenen Staat nach bestimmten Grimdsätzen umzugestalten, um ihn so zum Hebel der Gesellschaftsreform zu machen, bis er schliesslich ganz und gar einen socialistischen Charakter erhielte, während die anderen den Staat gänzlich aufzuheben, ihn in eine Reihe völliger unabhängiger Gemeinden oder freier Gruppen zu zerschlagen suchen, denen es frei stehen soll, sich nach Laune der Bedürfnis zu organisieren und zu verbünden.

Das erstere, die Anknüpfung an den gegebenen Staat, wird noch heute von der deutschen Socialdemokratie aufrechterhalten. Aber in ihrer Stellung zum Staat hat sich, seit Engels im Anti-Dühring den bekannten Satz vom „Absterben“ des Staates niedergeschrieben hat, eine wesentliche Veränderung vollzogen. Man bekämpft den Staat nicht nur, sofern er der Träger betimmter ausbeuterischer Interessen ist, sondern scheut sich auch, dem Gedanken an einen anderen als den feudalistischen oder bürgerlich-capitalistischen Staat Raum zu geben. Man ist nicht so doctrinär, dass man sich davor fürchtete, dem Staate bestimmte sociale Aufgaben zu übertragen, aber man will nichts davon wissen, dass der Staat selbst einmal socialistisch werden könne. Mit dem Siege des Socialismus hört der Staat auf und beginnt die socialistische – Gesellschaft.

Es ist nun richtig, dass man dem Staate gegenüber nicht vorsichtig genug sein kann. Er ist eben, nach dem bekannte Schlagwort, ein „Racker“. Er ist das Mittel, Classeninteressen gleichzeitig durchzusetzen und zu verhüllen. Dadurch, dass er dies in der Form des Vertreters der Gesamtinteressen thut, hat er vielen Socialisten den Kopf verdreht. Es gab Zeiten, wo sich ein ziemlich kritikloser Staatscultus in der Socialdemokratie breit machte, und vornehmlich gegen diesen Staatscult richtete sich auch der erwähnte Engelssche Ausspruch. Er ist in erster Linie eine Verwahrung gegen die bureaukratische Auffassung des Socialismus und beruht auf der Idee der graduelle Ablösung der heutigen Functionen des Staates durch Organe demokratischer Selbstverwaltung. Wendet man nun den Begriff „Staat“ lediglich auf eine über der Gesamtheit der Nation stehende Macht an, die ihr Hoheitsrecht aus irgendeinem ausserhalb des ausdrücklichen Willens und Bedürfnisses derselben liegenden Rechtstitel schöpft, so ist es klar, dass ein solcher Staat mit voller demokratischer Selbstverwaltung unvereinbar ist. Es fragt sich aber, ob hier nicht dem Worte eine zu enge Bedeutung beigelegt wird, eine Bedeutung, die es teilweise heute schon nicht mehr hat.

Wir brauchen nur um uns zu blicken, um uns davon zu überzeugen, ein wie wandlungsfähiges Wesen der Staat ist. Russland ist ein Staat, Preussen und Österreich sind Staaten. Frankreich ist ein Staat, und selbst die schweizerischen Kantone stellen Staaten dar, verfügen über staatliche Hoheitsrechte. Wenn aber der republicanische Canton Zürich, der seine Regierung und eine grosse Zahl seiner Beamten in director Volkswahl ernennt, für die Rechtseinrichtungen, die die Verhältnisse seiner Bürger zu einander und zur Gesamtheit normieren, denselben Ausdruck wählt oder behält wie die monarchischen Despotieen, dann mag es wohl kommen, dass auch später die Menschen für das die Gesamtheit einer Nation umfassende Wesen das Wort Staat beibehalten, so sehr der Character dieses Wesens selbst sich geändert haben mag.

Indessen handelt es sich hier nicht um die Rettung des Wortes. Wir sind mit seiner Preisgabe sehr gern einverstanden, soweit dieselbe zur grösseren Klärung über das in Frage kommende Problem beiträgt. [1] Es scheint aber, als ob sie diese Aufgabe nur halb erfüllt hat, als ob an die Stelle der Confusion über den Begriff des Staates oder der confusen Anwendung des Wortes Staat eine andere Confusion getreten ist, die nicht minder verhängnisvoll werden kann als jene. Ein Zeichen dieser Confusion ist der unterschiedslose Gebrauch des Wortes Gesellschaft. [2]

Wie jedermann weiss, hat das Wort Gesellschaft eine ausserordentlich vielfältige Bedeutung. Es wird ebenso für sehr abgeschlossene Vereinigungen gebraucht, wie für unbegrenzte, nur durch gewisse gemeinsame Eigenschaften ausgezeichnete Vielheiten. Wir sprechen von Vereinen als Gesellschaften und ebenso von einer menschlichen Gesellschaft, die das ganze Menschengeschlecht umfasst, also eine bloss begriffliche Zusammenfassung darstellt. Dann wieder bezeichnen wir bestimmte Formen oder Zustände des Zusammenlebens kurzweg als Gesellschaften, sprechen von einer antiken, einer feudalen, einer bürgerlichen Gesellschaft. In diesem letzteren Sinne muss es natürlich auch erlaubt sein, von einer socialistischen oder communistischen Gesellschaft zu sprechen. Das Beiwort lässt hier unzweideutig erkennen, um was es sich handelt. Aber communistische Gesellschaften können sehr verschieden organisiert sein, ihre Verwaltung nach sehr verschiedenen Grundsätzen ordnen, und man sagt noch gar nichts, wenn man von der conununistischen Zukunft erklärt, die „Gesellschaft“ werde voraussichtlich alsdann die Dinge so oder so ordnen, dies oder jenes thun. Die „Gesellschaft“ schlechtweg ist, um einen heute vielgebrauchten Ausdruck anzuwenden, ein uferloser Begriff. Und doch werden dieser metaphysischen Wesenheit, dieser unbegrenzten Einheit, Leistungen zugeschrieben, deren Grossartigkeit ebenso grenzenlos ist. Sie verwirklicht oder verbürgt die vollste Harmonie, die schönste Solidarität auf Erden. Ausbeutung und Unterdrückung haben in ihr aufgehört, die Production und desgleichen der Austausch sind aufs beste geregelt.

Diese Versicherung beruht soweit auf abstract-speculativer Schlussfolgerung und hat keine höhere innere Wahrheit, wie der verspottete ontologische Beweis von der Existenz Gottes. Wir können uns Gott nur vollkommen denken, zur Vollkommenheit gehört die Existenz, folglich existiert Gott. Die Gesellschaftsordnung, die wir erstreben, soll von allen Schlacken der gegenwärtigen Gesellschaft gereinigt sein, zu diesen Schlacken gehört, oder eine Folge solcher Schlacken ist, dass Gesetze und dergleichen Verpflichtungen samt Organen zu ihrer Durchführung bestehen, folglich wird die von uns erstrebte Gesellschaft ohne solche Organe sein. Die Argumentierung ist in beiden Fällen so ziemlich die gleiche.

Man wird darauf erwidern, dass der Glaube an die Fähigkeit der kommenden Gesellschaft, ohne gesetzliche Verpflichtungen auszukommen, durch sehr materielle Thatsachen unterstützt wird, dass überhaupt die Entwicklung zur communistischen Gesellschaft gewährleistet wird durch die sich vor unseren Augen vollziehende ökonomische und sociale Entwicklung, in erster Linie durch die zunehmende Concentrierung der Betriebe und damit die immer stärkere Ausbildung der genossenschaftlichen Production. Die Genossenschaftlichkeit in der Production entwickle aber in den Menschen alle die Eigenschaften, die für die communistische Gesellschaft erfordert seien: freiwillige Unterordnung unter die Anforderungen des Gesamtwesens, Solidaritätsbewusstsein, Pflichtgefühl u.s.w. Die steigende Volksbildung, die steigenden Leistungen des Gesamtwesens für den einzelnen, die Aufhebung aller rechtlichen Ungleichheiten, die Gewährleistung gleicher Möglichkeiten für alle wirken auf das gleiche Resultat hin, und so sei der Schluss berechtigt, dass eines Tages Einzelinteresse und Allgemeinheit sich völlig deckten und die Menschen als selbstverständlich alles thun werden, was für die letztere erfordert sei.

Dass die aufgeführten Tendenzen vorhanden sind und dass überhaupt die gesellschaftliche Entwicklung sich heute in dieser Richtung bewegt, soll natürlich nicht geleugnet werden. Aber die Factoren, die diese Bewegung unterstützen, sind nicht die einzigen Kräfte, die in der modernen Gesellschaft wirken. Neben ihnen wirken andere, sehr starke Factoren in entgegengesetzter Richtung und heben eine Reihe ihrer Wirkungen zu einem grossen Teile wieder auf. Zu diesen Factoren gehören die Rückwirkungen der räumlichen Beziehungen und der Volksvermehrung auf das sonstige sociale und wirtschaftliche Leben der Völker.

Anscheinend einander entgegengesetzt, wirken diese beiden Factoren doch in gewissen Hinsichten in gleicher Richtung.

Die Fortschritte der Technik haben unendlich viel dazu beigetragen, die Menschen in den Stand zu setzen, die Entfernungen zu überwinden. Aber diese Fähigkeit, räumliche Entfernungen physisch zu überwinden, hat unser psychisches Raumvermögen fast unberührt gelassen. Hunderte von Meilen mögen für unsere Reiselust heute weniger zu bedeuten haben, wie einst eine einzige Meile, in unseren Kopf bringen wir wenig mehr Raumvorstellung hinein, wie der africanische Neger oder selbst der Feuerländer. Die Entfernungen, die darüber hinausgehen, ob es sich um die Riesenentfernungen im Weltall handelt oder um eine lumpige Meile auf unserer kleinen Erdkugel, sind für uns abgeleitete Begriffe, wir beherrschen sie qua Entfernungen, aber wir vermögen sie uns nicht als Raum vorzustellen. Ähnlich mit der wirtschaftlichen Beherrschung des Raumes. Das Dampfross, der electrisch und pneumatisch getriebene Wagen mögen uns mit noch so grosser Geschwindigkeit über das Land hinwegführen, der Dampfpflug wird nicht einmal relativ mit ihm Schritt halten, denn ihm können die zu überwindenden Schwierigkeiten nicht entfernt in gleichem Masse aus dem Wege geräumt werden, wie jenen. Die Tendenz der Bodenbewirtschaftung geht dahin, immer mehr Arbeit in den Boden zu stecken, die Betriebe immer mehr örtlich zu fixieren. Wie leicht auch der Mensch und das Product seiner Arbeit von Ort zu Ort befördert werden, können, die Productionsanstalten und mit ihnen ein grosser Procentsatz der Bevölkerung bleiben im wesentlichen territorial gebunden.

Daneben wächst die Bevölkerung und verwickelt sich mit der wachsenden Bevölkerung das ganze Wirtschaftsgebiet. Welche Bedeutimg die Bevölkerungszunahme, die wachsende Dichtigkeit der Bevölkerung, auf die Entwicklung der Arbeitsteilung in der Industrie gehabt hat, ist bekannt. Mit der Vervollkommnung der Technik nimmt diese Differenzierung noch zu. Damit wachsen aber auch die Aufgaben der Verwaltung und dies um so mehr, je mehr Betriebszweige von ihr übernommen, in öffentliche Dienste verwandelt werden.

Wer ist nun die „Gesellschaft“? Es liegt auf der Hand, dass eine territoriale Abgrenzung der Verwaltungsgebiete eine unabweisbare Notwendigkeit ist. Hier kommt, neben der Rücksicht auf den Raum, die auf die Zahl ausschlaggebend in Betracht. Zehn, hundert Menschen können zur Not über alle sie betreffenden Angelegenheiten gemeinsam beraten und beschliessen, bei tausend ist eine direkte Beratung aller Einzelheiten schon physisch unmöglich, bei zehntausend könnt immer nur die wichtigsten Puncte durch directe Beratung geregelt werden. Aber es handelt sich nicht um Zehntausende sondern um Millionen von Menschen. Will man nach Art der Anarchisten die heutigen Staaten in unzählige kleine, völlig autonome Gemeinwesen zertrümmern, so kann man, sofern das gelingt, es auch erreichen, dass in jeder dieser kleinen Gemeinschaften die „Gesellschaft“ bis ins kleinste Detail sich selbst regiert. Innerhalb dieser Gruppen könnte auch unter günstigen Verhältnissen ein so hoher Grad von Solidarität erreicht werden, dass jedes geschriebene Gesetz entbehrlich wird. Aber im ganzen würde damit nur ein Sondereigentum geschaffen, das sehr viel schlechter wäre, als das heutige Privateigentum, und der Grund wäre gelegt zu den bittersten Interessenkämpfen von Gemeinde zu Gemeinde, da sich je nach Lage und Bodenverhältnissen die grösste Ungleichheit der Erwerbsmöglichkeil herausstellen würde. Der Zustand ist bei den heutigen Verkehrsmöglichkeiten ganz undenkbar. Diese sprechen durchaus für grosse Territorialgemeinschaften. Es lässt sich kein Grund absehen, warum in der Zukunft die grossen, geschichtlich entstandenen Nationen aufhören sollen, administrative Einheiten zu bilden. Ein völliges Aufgehen der Nationen ineinander ist weder zu erwarten, noch auch nur zu wünschen. Die Nationen können für die gemeinsamen Culturinteressen sehr gut durch Verträge und Ausbildung des internationalen Rechts sorgen, ohne damit ihre Individualität aufzugeben. Ebenso ist der Fortbestand der Nationalverbände nicht gleichbedeutend mit Fortbestand der staatlichen Centralisation derselben in der heutigen Form.

Aber man mag sich die Decentralisation der Verwaltung noch so weit entwickelt vorstellen, immer wird ein grosser Rest von gesellschaftlichen Aufgaben übrig bleiben, auf die der Begriff der Selbstthätigkeit der Gesellschaft nicht mehr passt. Nehmen wir ein vor Augen liegendes Bild: die Verwaltung des Transportwesens. Hält man es für möglich, dass die „Gesellschaft“ die sämtlichen Beamten dieses wichtigen Verwaltungszweiges alljährlich durch directe Wahl bestellt? Ebenso wenig wird sie diesen und ähnliche Verwaltungszweige an freie Associationen verpachten. Sie wird ständige Ämter für sie haben müssen, ausgearbeitete Normen für die Grundsätze ihres Betriebs, und sofern nicht die socialistische Gesellschaft den Dilettantismus zum leitenden Princip erheben will, facherprobte Beamte, die unter der Bedingung tadelloser Führung auf längere Zeit eingestellt werden. Weiter muss sie natürlich auch Organe der Controle über diese und andere Ämter haben.

Wer soll nun über all' das und die nötig werdenden Änderungen bestinunen? Das Volk selbst? Aber es wird sich da oft um Detailfragen sehr spezieller Natur handeln, für die bis zu jener glücklichen Zeit, wo die Menschheit aus lauter wandelnden Encyklopädien besteht, nur eine kleine Minderheit der Bevölkerung Interesse und volles Verständnis haben wird. Ausserdem müsste, selbst wenn nur die wichtigeren Verwaltungsmassnahmen der Volksabstimmung zu unterbreiten wären, der glückliche Bürger der Zukunft alle Sonntage einen Fragezettel vorgelegt bekommen, bei dem ihm Hören und Sehen vergehen würde. Es brauchte ein sehr entwickeltes Verantwortlichkeitsgefühl, um ihn zu bewegen, vor seiner Abstimmung über alle diese Fragen sich genauer zu informieren. Dieses Verantwortlichkeitsgefühl bei einem Körper von zehn Millionen Abstimmender voraussetzen, heisst sich einer durch nichts berechtigten Illusion hingeben. Alle bisherige Erfahrung hat vielmehr gelehrt, dass, je grösser der Kreis, der für irgend eine Angelegenheit verantwortlichen Personen, tun so geringer das Gefühl der einzelnen für diese Verantwortung ist. Auch hier wirkt der Einfluss der Zahl zurück. Mit der Zeit würde die Abstimmung zur reinen Spielerei werden und jedenfalls viel weniger Gewähr für sachgemässe Behandlung bieten, als durch Übertragung der Controle an die Volksvertretung oder dieser verantwortliche Körperschaften. Soll die directe Volksabstimmung, die auf einer gewissen Stufe demokratischer Entwickelung ihre volle Berechtigung hat, in einer dem Gemeinwohl förderlichen Weise functionieren, dann muss sie im grösseren Verband auf diejenigen Fragen beschränkt werden, die das Interesse der Gesamtheit tiefer berühren und nicht zu specieller Natur sind. Man denke sich nur ein Gemeinwesen von der Grösse des heutigen Preussen und unterstelle, dasselbe habe zu den jetzt schon von ihm besorgten Verwaltungsaufgaben noch eine ganze Anzahl anderer übernommen, und man wird sich vergegenwärtigen können, was für eine Menge wichtiger Fragen da Woche für Woche zu entscheiden sind.

Aber ein Gemeinwesen, das nach Millionen von erwachsenen Bürgern zählt, hat noch in einem anderen Puncte die Consequenzen von Raum und Zahl zu tragen.

In den communistischen Gemeinschaften der Vergangenheit konnte das Gesetz entbehrt werden, weil diese Gemeinschaften klein und die Verhältnisse äusserst durchsichtige waren. Die Gewohnheit, das Herkommen, bildeten da das Recht, und die öffentliche Meinung war der Wächter über die Befolgung desselben. Auch war der Antrieb zum Verstoss gegen das Gesamtinteresse äusserst gering.

Der socialisierte Staat hat auf längere Zeit hinaus auf analoge Gewährleistungen seiner Rechtsordnung nicht mit Sicherheit zu rechnen. Die Verhältnisse sind, namentlich in den grossen Bevölkerungscentren, schwer übersehbar, die öffentliche Meinung, selbst wenn einheitlich ausgebildet, wegen der wachsenden Leichtigkeit des Ortswechsels schwer als Wächter von Recht und Sitte zu gebrauchen, und der Antrieb, das Gesamtinteresse im Auge zu behalten, nicht so stark, um von Verstössen gegen dasselbe abzuhalten, wo starke Gegenreize zu solchen vorliegen. Nur wer die Dinge sehr leicht nimmt, kann sich verheimlichen, dass hier eine Klippe liegt, gegen die es angezeigt ist, sich von vornherein vorzusehen, namentlich wenn er bedenkt, dass solche Verstösse nicht nur in Begehungssünden, sondern auch in Unterlassungssünden bestehen können. Wenn das Verantwortlichkeitsgefühl bereits entwickelt genug ist, von ersteren zurückzuhalten, braucht es darum noch nicht stark genug zu sein, um die letzteren zu verhindern. Die Hoffnung auf die Kraft des Solidaritätsgefühls kann sich leicht als trügerisch erweisen. Es sei uns hier erlaubt, einen Gedanken zu wiederholen, dem wir schon vor fünf Jahren in der Neuen Zeit Ausdruck gaben. Auf grossem Gebiet, heisst es da, „wirkt das Solidaritätsbewusstsein nur unter einem gewissen Drucke stark genug, um zum freiwilligen Verzicht auf Einzelinteressen zu veranlassen.“ Wo Pflichten sich auf Millionen verteilen, kann auf den einzelnen kein übermässiger Anteil vom Gefühl der Verantwortung für diese Pflichten entfallen.

Es ist dieser Gedankengang, der es gerade Socialisten als bedenklich erscheinen lassen muss, die Agitation und die gesetzgeberische Thätigkeit auf Massregeln zu richten, die geeignet sind, die Bevölkerung zu Almosenempfängem zu erziehen. Es liegft nicht im Interesse der Socialdemokratie, und ist überhaupt schlechte Socialpolitik, das Gefühl der socialen Verantwortlichkeit abzustumpfen.

Wem das philiströs, kleinbürgerlich, manchesterlich erscheint, dem sei die Geschichte der englischen Armengesetze zum Studium empfohlen. Sie wird ihn eines Besseren belehren. Sicher hat das englische Parlament, als es 1834 das alte Armengesetz abschaffte, unter dem ein grosser Teil der Arbeiter Almosenempfänger war, über die Schnur gehauen, indem es in das entgegengesetzte Extrem verfiel und die Armut als Verbrechen behandelte. Aber die Beseitigung des schlaffen Armengesetzes, über die die Socialisten und Philanthropen der Epoche in so grosse Entrüstung gerieten, hat sich für die moralische und ökonomische Hebung der Arbeiterclasse im ganzen als höchst förderlich erwiesen. Kein verständiger Socialist wünscht heute das alte „humane“ Armengesetz zurück.

Wenn die Gewerkschaften und Genossenschaften gar keinen anderen Zweck hätten, als in den Arbeitern das Gefühl der Solidarität, der gegenseitigen Verantwortung wachzuhalten, so müssten sie schon deshalb allein jedem Socialisten hochwillkommen sein.

Kehren wir zu dem socialisierten Staate zurück. Er hat, sagten wir, nicht mit Sicherheit darauf zu rechnen, dass alle Bürger von selbst dem Gemeinwesen ihre Pflicht thun. Für grosse Verbrechen kann ein grosses Gemeinwesen der Strafrechtspflege nicht entbehren. Selbst wenn es den Verbrecher als Kranken behandelt, ist das nur der Form, nicht aber dem Wesen nach eine Änderung. Ob jemand wegen Notzucht zu Zuchthaus verurteilt oder als „geschlechtskrank“ auf einige Zeit in ein moralisches Krankenhaus gesteckt wird, kommt in der Hauptsache auf dasselbe hinaus: das Gemeinwesen schützt das Recht der Person und kann daher die Vergewaltigung nicht bloss mit den Worten abthun: Geh’ hin und thu’s nicht wieder.

Aber es ist selbstverständlich, dass die repressive Gewalt nach Möglichkeit verringert werden soll. Und so bleibt die Frage übrig: welche Mittel hat das socialistische Gemeinwesen, das auf die Kraft des moralischen Zwanges nur bedingt rechnen darf, seine Angehörigen zur Erfüllung ihrer Bürgerpflichten – in erster Linie zur Leistung des ihnen zukommenden Anteils an der Gesamtarbeit, anzuhalten?
 

II.

In der gegenwärtigen Gesellschaft wird die Arbeitspflicht unter normalen Verhältnissen durch die Hungerpeitsche erzwungen. Wer nicht arbeiten will und nicht auf irgend eine Weise über aufgespeicherte Arbeit verfügt oder ohne Anwendung physischen Zwanges andere bewegen kann, für ihn zu arbeiten, muss verhungern, Kinder und Arbeitsunfähige natürlich ausgenommen. Die auf dem Privateigentum beruhende Gesellschaft handelt durchaus folgerichtig, wenn sie die Armut im allgemeinen als ein sociales Vergehen betrachtet. Man kann von ihr verlangen, dass sie, wie beim Verbrecher, so auch beim Armen imterscheidet, dass sie dem ohne eigenes Verschulden Verarmten über Wasser hilft und Anstalten zur Unterstützung unfreiwillig Arbeitsloser trifft, aber es ist widersinnig, zu erwarten, und reine Demagogie, zu verlangen, dass sie dem gesunden Arbeitslosen mehr gewährt als solche Hilfe, die ihn arbeitsfähig erhält, ohne dabei den Antrieb zur Erlangung anderer als. der mit der Hilfeleistung verbundenen Arbeit abzuschwächen. Das socialökonomische Gnmdprincip in der gegenwärtigen Gesellschaft ist das der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit, und jede Wohlfahrtspolitik, die ernsthaft daran rüttelt, würde vom Standpunct der gegebenen Gesellschaftsordnung als unsocial oder auch antisocial zu betrachten sein. Wenn Staat und Gemeinde schon heute die unentgeltliche Versorgung einer Reihe von Bedürfnissen auf sich nehmen, für deren Befriedigung früher der einzelne selbst aufzukommen hatte, so schränken sie damit die Pflicht der Selbstsorge nach Massgabe dieser Dienste etwas ein, aber ohne an dem Princip selbst zu rütteln. In der Regel beschränken sie die Unentgeltlichkeit auf solche Dienste, bei denen entweder der Genussanteil der einzelnen Bürger unmessbar ist oder deren Benützung sie im Interesse aller wünschen und vorschreiben. Als Beispiel für die erstere Kategorie können Strassenanlagen, Parks etc. dienen, als Beispiel für die letztere das Volksschulwesen.

Der Socialismus hat die stetige Vermehrung der unentgeltlichen Leistungen der organisierten Gemeinschaft an ihre Mitglieder auf seine Fahne geschrieben. Auf lien ersten Blick leuchtet jedoch ein, dass die Gemeinschaft ihren Angehörigen nichts geben kann, was sie nicht in irgend einer Form vorher empfangen hat. So steht dem rechtlichen Anspruch des einzelnen an den von der Gemeinschaft übernommenen Leistungen die Pflicht gegenüber, zu den Kosten dieser Leistungen oder den zu ihrer Bewältigung erforderten Arbeiten in bestimmtem Massverhältnis beizutragen. Kein Socialist, der dies bestreitet. „Keine Rechte ohne Pflichten“, heisst es im Statut der internationalen Arbeiterassociation. Es ist aber durch die politische Stellung der Socialdemokratie zum gegebenen Staate bedingt, dass diese Anerkennung zunächst Theorie bleibt, während in der praktischen Agitation – und die Praxis ist hier das Entscheidende – die Ansprüche an das Gemeinwesen in den Vordergrund geschoben werden, von ökonomischen Ansprüchen des Gemeinwesens an seine Bürger dagegen – solche ausgenommen, welche die höheren Einkommensclassen betreffen – wenig geredet wird. Vom ökonomisch-socialen Gesichtspunct aus hat das heute gewiss seine Berechtigung, in seiner Rückwirkung auf die Socialethik der Masse ist es nicht ohne seine Gefahren.

Man kann nicht erwarten, dass die Gesamtbevölkerung nach einem Siege der Socialdemokratie plötzlich eine andere sociale Denkweise annehmen werde als die bisher gehegte. Möglich und sogar wahrscheinlich, dass der moralische Anstoss des Sieges einen Teil der Arbeiterschaft zu noch grösserer Hingabe an die gemeine Sache begeistern wird als die bisher bewiesene. Ähnliches hat sich 1848 in Paris gezeigt, und es ist gar nicht einzusehen, warum es sich nicht gelegentlich in noch grösserem Masstab wiederholen sollte. Indes dieser gesteigerten Selbstlosigkeit der einen würden ausserordentlich hochgespannte Erwartungen und Ansprüche der anderen gegenüberstehen, und wenn wir uns das Verhältnis des für politische oder gewerkschaftliche Zwecke Opfer tragenden Teiles zur Gesamtheit der Arbeiterclasse vergegenwärtigen, werden wir uns sagen müssen, dass die ersteren voraussichtlich nur eine Minderheit, die letzteren aber die grosse Mehrheit derselben bilden werden.

Wird die Gesellschaft in der Lage sein, jenen erhöhten Ansprüchen alsbald Genüge zu leisten? Kann in absehbarer Zeit ein durch politische Constellationen, durch unerwartete Katastrophen etc. herbeigeführter Umschwung, der der Socialdemokratie die Gewalt in die Hand spielt, unmittelbar dazu führen, dass die Gesellschaft den einzelnen die Pflicht der Selbstsorge abnimmt? Um sich über die Antwort auf diese Frage klar zu werden, wird es gut sein, den Stand der Productionsentwicklung noch einmal etwas näher ins Auge zu fassen.

Ich habe in einem früheren Aufsatz gezeigt, dass die Entwicklung der Production keineswegs sich ausschliesslich in der Richtung der Concentrierung und Centralisierung der Betriebe bewegft, dass die Tendenz zum Gross- und Riesenbetrieb zwar in der Industrie vorherrscht, aber sich nicht überall durchsetzt, und dass ausserdem mit dem Fortschritt der Technik und der erhöhten Productionskraft der Arbeit neben den alten Productionszweigen fortgesetzt neue ins Leben gerufen werden, so dass trotz der steigenden Verdichtung der Betriebe die Gesamtzahl derselben sich nur unmerklich vermindert. [3] Nach der früher gegebenen Statistik ist in den 13 Jahren zwischen der Gewecrbezählung von 1882 und der von 1895 die Zahl der selbstständigen Geschäftsleiter in der Industrie von rund 1.861.000 auf 1.774.000, d.h. um 87.000 gefallen, d.h. um noch nicht fünf Procent. Nehmen wir für die nächsten 13 Jahre selbst eine verdoppelte Proportion des Rückganges an, und so steigend von Epoche zu Epoche, so würden wir im Jahre 1908 noch mit 1.600.000, im Jahre 1921 mit 1.280.000 selbständigen Geschäftsleitern resp. Betrieben zu rechnen haben. [4] 1882 wurden zusammen 40.000 Gross- und Mittelbetriebe gezählt. Wenn ein Teil von diesen ebenfalls allmähhch der Verdichtung der Betriebe zum Opfer fällt, so steigen dafür in vermehrter Zahl Betriebe in die Lücken, die sich in der gleichen Zeit aus handwerksmässigen zu Mittel- und Grossbetrieben entwickelt haben. Es heisst sicher den Gang der Verdichtung nicht unterschätzen, wenn wir im Durchschnitt für jede 20 Kleinbetriebe, die ausfallen, das Aufkommen eines neuen Mittel- oder Grossbetriebs unterstellen. Nehmen wir aber selbst eine Proportion von 25 : 1 an, so würden für rund 600.000 verschwundene Kleinbetriebe 24.000 neue Mittel- und Grossbetriebe zu rechnen sein. Mit den obigen 40.000 gäbe das zusammen 64.000, wovon wir 4.000 auf das Conto der von ganz grossen Betrieben verschlungenen Mittel- und mässig grossen Betriebe setzen wollen. Die handwerksmässigen Betriebe ganz ausgenommen (die hausindustriellen Betriebe sind hier überhaupt nicht mitgezählt), hätte im Jahre 1921 in der Industrie allein die „Gesellschaft“ in Deutschland mit gegen 60.000 Gross- und Mittelbetrieben zu thun.

Weiss man, was das heisst? Die Zahl ist sehr leicht niedergeschrieben und noch leichter ausgesprochen. Aber man versuche es einmal ernsthaft, sich ihre socialpolitische Bedeutung vorzustellen, sich klar zu machen, was dazu gehört, die Leitung von sechzigtausend Betrieben unter die directe Controle der „Gesellschaft“ zu nehmen. Diese Zahl allein, zu der aber noch die mindestens ebenso grosse, wenn nicht sehr viel grössere der Mittel- und Grossbetriebe in der Landwirtschaft kommt, lässt erkennen, auf wie lange hinaus es nicht viel mehr als eine Abstraction sein kann, zu sagen, dass „die Gesellschaft“ produciert. Selbst wenn die Gesellschaft nur mit den Gross- und Mittelbetrieben zu thun hätte, setzte die direct für sie geleitete Production eine Verwaltungsmaschine voraus, von deren Umfang und Ausbildung selbst die heutigen Post- und Eisenbahnverwaltungen nur eine schwache Vorstellung geben, und die man am allerwenigsten in einer bewegten Zeit aus dem Boden stampfen kann. Eine Übertragung, bei der aber mit der Verantwortung auch Rechte übertragen werden müssen, ist unumgänglich, ob es sich nun um private Producentengruppen oder öffentliche Körper handelt.

Wir sehen hier wieder, wie ein Allgemeininteresse bleibt, das gegen partielle oder Sonderinteressen wird gewahrt werden müssen. Um es wirksam wahrzunehmen, braucht die Gemeinschaft regelmässig functionicrende Bevollmächtigte, d.h. Beamte, um Willkür bei der Abmessung und Überwachung vorzubeugen, stehende, allgemeingiltige Vorschriften, d.h. Gesetze. Die Zahl der Menschen, um die es sich da handelt, die Grösse des Raumgebiets, das sie einnehmen, die wachsende Zahl der Zweige, in die die Production sich differenziert, und die grosse Zahl, Vielfältigkeit und Ausdehnung der Productionseinheiten – all das macht eine automatische Harmonisierung aller Individualinteressen zu einem überall und in jeder Hinsicht gleichmässig sich bewährenden Gemeininteresse zu einer grossen Unwahrscheinlichkeit. Nur im Zustande undifferenzierter Wirtschaften kann – um ein Bild aus der Biologie zu wählen – die „Gesellschaft“ ein mollusken- oder plattwurmartiges Dasein führen. Wie in der Tierwelt mit dem Fortschritt der Differenzierung der Functionen die Ausbildung eines Knochengerüsts unvermeidlich wird, so im gesellschaftlichen Leben mit der Differenzierung der Wirtschaften die Heranbildung eines das Gesellschaftsinteresse als solches vertretenden Verwaltungskörpers. Ein solcher Körper war bisher und ist heute der Staat. [5] Da nun die Weiterentwicklung der Production ganz ersichtlich nicht in Aufhebung der differenzierten Production bestehen kann, sondern nur in neuer Zusammenfassung auf Grundlage der ausgebildeten Differenzierung – auf die Personen übertragen, nicht in Aufhebung, sondern in Ergänzung der beruflichen Arbeitsteilung, so kann der Verwaltungskörper der Gesellschaft der absehbaren Zukunft sich vom gegenwärtigen Staate nur dem Grade nach unterscheiden. [6]

Und nur dem Grade nach wird denn auch in absehbarer Zeil an der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit der Arbeitsfähigen geändert werden können. Die Arbeitsstatistik kann sehr bedeutend ausgebildet, die Arbeitsvermittlung sehr vervollkommnet, der Arbeitswechsel erleichtert und ein Arbeitsrecht ausgebildet werden, das dem einzelnen eine unendlich grössere Sicherheit der Existenz und Leichtigkeit der Berufswahl ermöglicht, als sie heute gegeben ist. Die vorgeschrittensten Organe der wirtschaftlichen Selbsthilfe – die grossen Gewerkschaften – zeigen in dieser Hinsicht schon den Weg an, den die Entwicklung voraussichtlich nehmen wird. Aber weder wird es möglich sein, dem Arbeitsrecht den Charakter eines bedingungslosen Rechtes auf Beschäftigung in einem bestimmten Beruf und womöglich gar dazu an einem bestimmten Orte zu geben, noch kann es als wünschbar betrachtet werden, dass solch ein Recht existiere. In einem so grossen und complicierten Organismus, wie ihn die modernen Culturnationen darstellen und, wie oben gezeigt, noch lange darstellen werden, wäre es in der That nur – darin haben die Gegner des Socialismus recht – als Quelle gehässigster Willkür und ewiger Zänkerei denkbar und ein wirtschaftspolitischer Widersinn. Es ist aber auch ein ganz falscher Schluss, dass ein solches bedingungsloses „Recht auf Arbeit“ eine notwendige Folgerung der socialistischen Lehre sei. Ebenso wenig wie der Socialismus eine Arbeitspflicht bedeutet, wonach jeder nach Belieben zu einer bestimmten Arbeit kommandiert werden könne.

Es kann sich auf der nächstmöglichen Stufe gesellschaftlicher Entwicklung nur um ein bedingtes Arbeitsrecht und eine bedingte Arbeitspflicht handeln. Wenn schon heute starke Gewerkschaften ihren leistungsfähigen Mitgliedern ein gewisses Recht auf Beschäftigung sichern, es den Unternehmern als sehr unratsam erscheinen lassen, ein Gewerkschaftsmitglied ohne sehr triftigen, auch von der Gewerkschaft anerkannten Grund zu entlassen, wenn sie beim Arbeitsnachweis Reihenfolge der Meldung und Bedürfnis combinieren, so sind darin, wie gesagt, schon Fingerzeige für die Entwicklung eines demokratischen Arbeitsrechts gegeben. Die Arbeitspflicht kann aber zwingende Notfälle und solche Arbeiten für das Gemeinwesen ausgenommen, die allen Gesellschaftsangehörigen abwechselnd obliegen, nur auf Grundlage der Regel aufrecht erhalten werden, dass, wer nicht arbeiten will, nicht essen soll, d.h. auf die Festhaltung des schon heute geltenden Princips der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit.

Es ist ganz und gar nicht zu erwarten, dass eine kommende Gesellschaftsordnung die Pflicht der wirtschaftlichen Selbstverantwortlichkeit aus der Welt schaffen wird. Der Socialismus kann lediglich ihre Erfüllung erleichtern. Und mehr ist auch gar nicht wünschbar. Selbstverantwortlichkeit ist bekanntlich nur die eine Seite eines socialen Princips, dessen andere Seite persönliche Freiheit heisst. Die eine ist ohne die andere nicht denkbar. So widerspruchsvoll es klingen mag, die Idee der Aufhebung der Selbstverantwortlichkeit ist durchaus antisocialistisch. Ihre Alternative hiesse entweder vollendete Tyrannei oder Auflösung jeder Gesellschaftsordnung.

Noch einmal, es ist der Gedanke durchaus als utopistisch abzuweisen, als ob eine socialistische Umwälzung den Staat in eine automatische Versorgungsanstalt umwandeln könne. Demgemäss hat die Socialdemokratie in dieser Voraussicht das Problem zu lösen, wie die Agitation für grössere Leistungen von Staat und Gemeinde zu gunsten der Massen zu vereinigen ist mit der Erhaltung des Gefühls der socialen Verantwortlichkeit. Und hier ist der Punct, wo die Schöpfungen der socialen Selbsthilfe eine erhöhte Bedeutung für die Gesellschaft der Zukunft erlangen. Wäre die socialistische Bewegung lediglich auf die politische Agitation beschränkt, so könnte sie sehr leicht in das Gegenteil von dem umschlagen, worauf sie abzielt: nämlich in eine Untergrabung nicht des bestehenden, sondern des erstrebten Gesellschaftszustandes. Das sociale Pflichtgefühl, das die politische Agitation als solche den Massen beibringt, sitzt kaum haut tief, weil sie eben naturgemäss nur im Erheben von Forderungen für die Masse bestehen kann. Das zeigt sich namentlich in Ländern, wo den Massen wesentliche politische Rechte nicht mehr vorenthalten sind, der politische Kampf somit eines starken moralischen Impulses beraubt ist. Anders mit den Organen der socialen Selbsthilfe. Die Wirtschaftsgenossenschaft und die Gewerkschaft können der Allgemeinheit gegenüber gelegentlich sehr engherzig und selbst reactionär sein innerhalb ihrer Sphäre aber wirken sie notwendig auf die Stärkung des socialen Pflichtgefühls. Die Leistungsfähigkeit der Gewerkschaft hängt von der Grösse der Opfer ab, welche ihre Mitglieder ihr bringen, ihre Kraft von der Disciplin, die sie über ihre Mitglieder ausübt. Wie alle demokratischen Körper, beurteilt die gut geleitete Gewerkschaft Pflichtverstösse mit grosser Strenge, sie weiss die Verantwortungsfähigkeit ihrer Mitglieder zu beurteilen und sieht darauf, dass sie innegehalten wird.

Die grosse räumliche Ausdehnung der modernen Staatswesen und die Riesenzahl der Bewohner ihres Gebiets machen es dem einzelnen immer schwerer, die Leistungsmöglichkeiten der Staatsverwaltung zu überblicken. Die grossen Zahlen, die er darüber zu lesen bekommt, haben keine Wirklichkeit für ihn, sprechen eine Sprache, deren volle Bedeutung uns immer wieder entschwindet, auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, sie uns zu vergegenwärtigen und festzuhalten. Stünde der einzelne diesem grossen Gemeinwesen unvermittelt, nur als Einheit unter Millionen Miteinheiten gegenüber, so könnte die Demokratie nur ein leeres Wort sein. Das beste Wahlrecht, die weitestgehende Durchführung des Princips der directen Gesetzgebung würden an sich daran wenig ändern. Die Einzelwillen würden durch andere Einzelwillen zerrieben, thatsächliche Herrscher wären die leitenden Häupter der Verwaltung, die Bureaukratie. Daher die Wichtigkeit und faktische Unumgänglichkeit von Zwischenorganen. Solche Zwischenorgane sind die eben besprochenen und andere Schöpfungen wirtschaftlicher Interessenvertretung, sowie diejenigen politischen Körperschaften, die man speciell als Organe der Selbstverwaltung bezeichnet: die Orts-, Districts- und Provinzialvertretungen. Mit ihnen hat sich die deutsche socialistische Litteratur bisher noch wenig befasst. Man hat sie in der Praxis so genommen, wie sie sind, generell das allgemeine Wahlrecht für sie verlangt, und wo das bestehende Wahlrecht es erlaubte, Vertreter in sie zu wählen, die Arbeiterinteressen in ihnen zur Geltung zu bringen gesucht. Alles das blieb aber rein eklektisch, ward sozusagen nur von Fall zu Fall betrieben. Weil der praktische Anlass fehlte, hat man sich nicht weiter mit der Frage geplagt, welche anderen Functionen als die gegebenen diesen Vertretungen in einem socialistischen Gemeinwesen, ob man es nun Staat, Republik oder sonstwie nennen mag, zufallen würden, welches ihre wirtschaftliche Rolle in der socialistischen Gesellschaft oder gegenüber dem socialistischen Staatswesen sein würde. Von der Kreis- oder Provinzialvertretung ist überhaupt noch wenig gesprochen worden, von der Gemeinde theoretisch bisher fast nur in den Discussionen über den Anarchismus, wobei dann begreiflicherweise mehr der Unterschied von Gemeinde und Staat, als der Zusammenhang beider, mehr ihr formaler Gegensatz, als ihre intimen wirtschaftspolitischen Beziehungen betont wurden. Erst neuerdings hat man, unter der Rückwirkung des englischen und französischen Municipalsocialismus, die Frage principieller zu behandeln angefangen. Es ist das sehr erfreulich, denn es wird nach dem Vorhergeschickten klar sein, dass die Frage der Selbstverwaltung der Gemeinden etc. für den Socialismus noch etwas mehr umfasst, als die Gas-, Wasser-, Tramway- etc. Regie, Gewerkschaftslöhne und dergleichen. Der Staat oder jede analoge Centralverwaltung würde, auf sich selbst angewiesen, der enormen Masse der Productionsbetriebe, deren Zahl wir oben vorgeführt, im grossen und ganzen hilflos gegenüberstehen. Raum und Zahl verhinderten jedes mehr als oberflächliches Eingreifen in ihre Ökonomie. Werden aber die Selbstverwaltungskörper herangezogen, so verändert sich das ganze Bild. Es verschwindet die räumliche Ungeheuerlichkeit und die Zahlenverhältnisse werden menschlicher. Damit wird jedoch der „Staat“ noch immer nicht überflüssig. Mit der zweckmässigen Verteilung der Functionen zwischen Centralverwaltung und Localverwaltungen werden naturgemäss auch die Hoheitsrechte der ersteren eingeschränkt. Ihre vollständige Übertragung an letztere verbietet sich aber schon aus dem einfachen Grunde, weil dann die politische Verbindung zwischen ihnen aufhörte. Auch hiesse sie nur Verkleinerung und nicht Aufhebung der Centralvertretungsgebiete.

Es handelt sich also, wie Marx im Bürgerkrieg in Frankreich darlegt, nicht darum, die Einheit der geschichtlich gewordenen grossen Nationen aufzulösen, sondern sie auf eine neue Grundlage zu stellen. Ob das durchgängig so ausgeführt werden kann, wie es Marx an der betreffenden Stelle entwickelt, kann dahingestellt bleiben. Aber der Grundgedanke: die Ablösung des grössten Teiles der jetzt vom Staate erfüllten Functionen durch demokratische Selbstverwaltungskörper, muss unbedingt festgehalten werden. Nur zu einem sehr geringen Teile kann die Überführung der Production in öffentlichen Betrieb direct über den Staat hinweg verwirklicht werden. Soll es nicht bei dem verbleiben, was der Staat und die Bureaukratie in dieser Hinsicht administrativ leisten können, so ist die stärkere Heranziehung der demokratisierten Organe der Selbstverwaltung eine unumgängliche Notwendigkeit. Nur mit ihrer Hilfe sind die Schwierigkeiten zu überwinden, die Raum und Zahl auf socialpolitischem Gebiet der socialistischen Reformarbeit entgegenstellen.


Fussnoten

1. Selbst in dieser bedingten Form ist das Zugeständnis an die Antistaatler theoretisch unhaltbar. [Zusatznote]

2. Der Verfasser kann sich nicht davon freisprechen, seinerzeit zu dieser Confusion ein gutes Stück beigetragen zu haben. Er glaubt aber darauf hinweisen zu dürfen, dass er schon im Züricher Socialdemokrat wiederholt übertriebenen Auslegungen der Theorie vom Absterben des Staates entgegengetreten ist. Ebenso in der Neuen Zeit. „Nun klingt ja das Wort Gesellschaft harmlos genug. Man kann sich dabei das Allerunschuldigste, den reinen Begriff einer Vielheit ungezwungen nebeneinander lebender Individuen denken. Aber in der Wirklichkeit braucht eine Gesellschaft, dei eingreifen, für gewisse Bedürfnisse sorgen, gewissen Missbräuchen steuern will, Organe, eine Verfassung, financielle Mittel und eventuell Mittel des Zwanges ... Dass dazu mehr gehört als eine mystische, körperlose Gesellschaft, liegt auf der Hand“ (Die Neue Zeit, 1891-92, Bd.II, pag.815).

3. Der hier erwähnte Autsatz trägt den Titel: Der gegenwärtige Stand der industriellen Entwicklung in Deutschland und ward in Bd. I der Neuen Zeit, 1896-97, veröffentlicht (pag.303ff.). Es besteht im wesentlichen aus Auszügen aus, und Commentaren zu der vortrefflichen Studie von Dr. L. Sinzheimer: Über die Grenzen der Weiterbildung des fabrikmässigen Grossbetriebs in Deutschland (Stuttgart, J.G. Cotta) und schliesst mit folgenden Worten:

„Zwei Drittel, wenn nicht drei Viertel der gewerblichen Production Deutschlands gehören der fabrikmässigen Grossproduction, dem collectivistisohen Grossbetrieb. Die Thatsache wird dem Auge durch tausend Umstände verdeckt, vor allem dadurch, dass ein sehr grosser Teil dieser Producte der grossen Industrie Halbfabrikate sind, und ein anderer uns durch Personen vermittelt wird, die nur scheinbar an ihrer Herstellung beteiligt, in Wirklichkeit in Bezug auf sie nichts als Händler sind. Aber an ihrer Richtigkeit scheint kein Zweifel möglich. Ob freilich die collectivistischen Betriebe, die diesen grossen Anteil an der nationalen Production tragen, auch schon in ihrer Mehrheit reif sind, der Privatwirtschaft entzogen zu werden, ist eine andere Frage.“ (a.a.O., pag.311.) [Zusatznote]

4. Es wurden hier der Kürze halber die Zahlen der selbständigen Gcschäftsleiter und der Betriebe gleichgesetzt. Dass dies für die obige Betrachtung nicht zu wesentlichen Irrtümern führt, zeigt die Statistik. 1882 wurden 1.861.000 selbständige Geschäftsleiter gezählt und 1.954.000 Betriebe; die Zahl der letzteren war also noch grösser, als die der ersteren.

5. Über die Ausbildung des Staates als Folge der Erweiterung und Differenzierung des Wirtschaftslebens und der Ausdehnung des besetzten Gebiets vergl. K. Kautsky: Der Parlamentarismus, die Volksgesetzgebung und die Socialdemokratie, pag.9ff.

6. Der Satz, dass an die Stelle des Staates die Gesellschaft tritt, enthält eine begriffliche Ellipse. Der Staat kann durch eine Administration abgelöst werden, die das Interesse der Gesamtheit der Gesellschaftsmitglieder gegenüber jedem Sonder-(Classen-)Interesse gleichmässig vertritt, aber nicht durch „die Gesellschaft“. Sonst könnte man mit gleicher Logik sagen, dass an die Stelle des capitalistischen Betriebs (statt des socialistischen oder genossenschaftlichen Betriebsl „die Gesamtheit der Arbeiter“ treten soll. Mit dem Inhalt ändert sich die Form, aber der Inhalt tritt nicht an die Stelle der Form. [In einer Zusatzbemerkung zu dieser Note führte der Redacteur der Neuen Zeit aus, die „Schwierigkeit“ liesse sich dadurch lösen, dass anstatt „Staat“ Gemeinwesen oder Republik gesagt werde. Aber es handelt sich nicht um das Wort, sondern um den Begriff, das heisst nicht um den Namen, sondern um die wissenschaftliche Bestimmung der Sache. Die Republik ist eine Staatsform, aber keine Alternative des Staats, und Gemeinwesen wieder ein der Formbestimmung entbehrender Begriff.]


Zuletzt aktualisiert am 27.1.2009