Eduard Bernstein

 

Utopismus und Eklekticismus

(1896)


Ursprünglich: Probleme des Sozialismus, Teil 1, Die Neue Zeit, XV. Jg. 1. Bd, Nr.6, 1896/97, S.164-171.
Diese Version: Eduard Bernstein: Zur Theorie und Geschichte des Socialismus: Gesammelte Abhandlungen, Bd.2, Berlin 1904, S.32-40.
Transkription/HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Die socialdemokratische Bewegung hat in den letzten Jahren in fast allen Culturländem bedeutende Fortschritte gemacht. Auch wo sich diese nicht in einem so grossen Aufschwung der von der Socialdemokratie erlangten Wahlziffern widerspiegeln, wie in Deutschland, sind sie doch unverkennbar. In einem von Irrtümern und Übertreibungen nicht freien, aber immerhin sehr lesenswerten Artikel über den Londoner internationalen Socialistencongress – veröffentlicht im September-Heft der Cosmopolis – weist der bekannte fabianische Socialist G.B. Shaw darauf hin, dass, obgleich in England die Socialdemokratie noch keinen Vertreter ganz aus eigener Kraft ins Parlament zu schicken vermocht und keine hunderttausend Stimmen für ihre eigenen Candidaten zusammengebracht hat, doch in der Gesetzgebung in steigendem Masse socialistische Tendenzen zum Ausdruck gekommen sind. Die Thatsache ist unbestreitbar, wenn auch die Schlüsse, die Shaw aus ihr zieht, mindestens sehr einseitige sind. Die Sache ist ganz einfach die, dass in England die wirtschaftlichen und sonstigen gesellschaftlichen Voraussetzungen des Socialismus im ganzen vorgeschrittener, die bürgerlichen Parteien aber zeitgemässen socialistischen Forderungen gegenüber weniger spröde sind, als in Deutschland. Die alten Parteien sind hier entwicklungsfähiger und daher auch der als Partei ihnen entgegentretenden Socialdemokratie gegenüber widerstandsfähiger, und so äussert sich der Einfluss der socialistischen Propaganda bis auf weiteres mehr indirect, aber darum nicht minder wirksam. Ähnlich, nach Massgabe der anders gearteten Verhältnisse, in Frankreich und der Schweiz. Selbst in verhältnismässig zurückgebliebenen Ländern, wie Österreich und Italien, ist der Einfluss der socialdemokratischen Propaganda nicht unbedeutend gestiegen; das Beispiel der grossen Nachbarländer wirkt da ansteckend. Kurz, alles in allem ist die Socialdemokratie in allen Ländern in ersichtlichem Vorrücken begriffen.

Wenn es nun auch sehr voreilig wäre, aus dieser Thatsache folgern zu wollen, dass wir schon am Vorabend des endgiltigen Sieges des Socialismus stehen, so ist es doch erlaubt, aus der weiten Verbreitung des socialistischen Gedankens und den correspondierenden Erscheinungen in Production, Handel und Verkehr, Berufsleben und Arbeiterbewegung den Schluss zu ziehen, dass wir uns mit Riesenschritten der Zeit nähern, wo die Socialdemokratie ihren heute noch wesentlich kritischen Standpunct wird in dem Sinne modificieren müssen, dass sie über das Gebiet von Lohn-, Arbeiterschutz- und ähnlichen Forderungen hinaus mit positiven Reformvorschlägen herauszutreten haben wird. Wir stehen in den vorgeschrittensten Ländern am Vorabend, wenn nicht der „Dictatur“, so doch eines sehr massgebenden Einflusses der Arbeiterclasse, resp. der sie vertretenden Parteien, und es kann deshalb nicht überflüssig sein, einmal das geistige Rüstzeug zu untersuchen, mit dem wir dieser Epoche entgegengehen.

Die moderne Socialdemokratie setzt ihren Stolz darin, den socialistischen Utopismus theoretisch überwunden zu haben, und soweit die Zukunftsstaatsmodelei in Betracht kommt, unzweifelhaft auch mit Recht. Kein zurechnungsfähiger Socialist schreibt heute Zukunftsbilder in dem Sinne, dass durch sie der Menschheit gesagt werden soll, so und nicht anders darf es sein, wenn vollkommenes Glück auf Erden herrschen soll, hier das Recept, das am schnellsten und sichersten zum gewünschten Ziele führen wird. Was socialistischerseits an Zukunftsspeculationen heute noch vorgebracht wird, sind entweder Versuche, den wahrscheinlichen Gang der Entwicklung zur socialistischen Gesellschaftsordnung in allgemeinen Umrissen zu skizzieren, oder mit mehr oder weniger Talent entworfene Gemälde eines socialistischen Gesellschaftszustandes, die nichts als Phantasiebilder zu sein beanspruchen. Auch da kann noch mancher utopistische Gedanke mit unterlaufen, aber die eigentliche Utopie, die mit dem Anspruch auftritt, „Recept für die Garküche der Zukunft zu sein“, kann als ausgestorben betrachtet werden.

Es giebt indes noch eine andere Art Utopismus, der leider nicht ausgestorben ist. Dieser besteht in dem entgegengesetzten Extrem des alten Utopismus. Man vermeidet ängstlich alles Eingehen auf die zukünftige Gesellschaftsorganisation, unterstellt aber dafür einen jähen Sprung von der capitalistisehen in die socialistische Gesellschaft. Was in der ersteren geschieht, ist alles nur Flickerei, Palliativ und „capitalistisch“, die Lösungen bringt die socialistische Gesellschaft, wenn nicht in einem Tage, so doch in kürzester Zeit. Ohne an Wunder zu glauben, unterstellt man Wunder. Es wird ein grosser Strich gemacht: hier die capitalistische, dort die socialistische Gesellschaft. Von systematischer Arbeit in der ersteren ist nicht die Rede, man lebt von der Hand in den Mund und lässt sich von den Ereignissen treiben. Die Berufung auf den sehr einseitig gedachten Classenkampf und die ökonomische Entwicklung muss über alle theoretischen Schwierigkeiten hinweghelfen.

So wenig nun die fundamentale Wichtigkeit dieser beiden geschichtlichen Triebkräfte geleugnet werden soll, so ist doch klar, dass mit der ausschliesslichen und unqualificierten Verweisung auf sie sehr viel unbestimmt gelassen wird, was gerade der Socialismus, wenn anders er wirklich Wissenschaft sein soll, zu erklären oder zu ermitteln hat. Die Einsicht in die Triebkräfte und den bisherigen Gang der gesellschaftlichen Entwicklung ist von sehr massigem Wert, wenn sie mit ihren Folgerungen da abbricht, wo eben das bewusste und planmassige Handeln einzusetzen hat.

Das Hinausschieben aller Lösungen auf den Tag des „endgiltigen Sieges des Socialismus“, wie die gangbare Phrase lautet, wird dadurch nicht seines utopistischen Charakters entkleidet, dass man es mit Schlagworten aus dem Arsenal der Schriften von Marx und Engels verbrämt. Die wissenschaftlichste Theorie kann zum Utopismus führen, wenn ihre Resultate dogmatisch aufgefasst werden. Nehmen wir z.B. das vielcitierte Capitel: Die geschichtliche Tendenz der capitalistischen Accumulation im ersten Bande des Capital. Schon das Wort Tendenz im Titel sollte davor warnen, die dort niedergelegten Sätze aus ihrem Zusammenhange herauszureissen und nach dem Buchstaben auszulegen. Trotzdem wird immer wieder die Vorstellung genährt, als handle es sich bei der „Expropriation der Expropriateurs“ um einen notwendig mit einer Katastrophe einsetzenden und sich gleichzeitig auf der ganzen i-inie abspielenden Act. Das ist aber ganz utopistisch gedacht, öenn wenngleich unzweifelhaft sociale Katastrophen den Gang der Entwicklung sehr beschleunigen können und wahrscheinlich auch werden, können sie doch nicht über Nacht diejenige Gleichartigkeit der Verhältnisse schaffen, die für eine gleichzeitige Umgestaltung der Wirtschaftsweise erforderlich wäre und die heute jedenfalls noch nicht vorhanden ist. Inzwischen steht aber die Welt nicht still. Bestimmte Productions- oder Betriebszweige reifen zu einem Zustande heran, wo ihre Überlassung an die private Exploitation unzweckässig, wenn nicht für die allgemeinen Gesellschaftsbedürfnisse verderblich wird. Daneben wächst der Einfluss der Arbeiterclasse und der sie vertretenden politischen Organisationen, ohne dass man schon von einer Dictatur des Proletariats sprechen könnte. Es wird unvermeidlich, dass Fragen auf die Tagesordnung gesetzt werden, die nach jener Auffassung hinter die Katastrophen gehörten. In dieser Hinsicht war es nicht unrichtig, von einem Hineinwachsen der Gesellschaft in den Socialismus zu sprechen, blos dass dieses Wort etwas zu sehr ein mechanisches Wachstum voraussetzen liess. Aber was soll man dazu sagen, wenn es plötzlich durch ein so begriffsloses Schlagwort wie Staatscapitalismus und Gemeindecapitalismus für alle diesseits der Katastrophe zu stande kommenden Wirtschaftsuntemehmen von Staat und Gemeinden ersetzt werden konnte? Das heisst, mit Dampf in den Utopismus zurücksausen. Für solche Betriebsunternehmungen von Staat und Gemeinden, die entweder nur Geldquellen schaffen sollen oder aus Gründen der privaten Ausbeutung entzogen sind, die mit ihrer wirtschaftspolitischen Aufgabe selbst nichts zu thun haben, reicht das alte Wort Fiscalismus oder fiscalischer Betrieb vollkommen aus. Es ist insbesondere da am Platze, wo das betreffende Gemeinwesen von einer privilegierten Minderheit in ihrem Interesse bureaukratisch regiert und verwaltet wird. Dieser Zustand aber ist im Schwinden begriffen. Die moderne, in der Arbeiterclasse wurzelnde Demokratie erhält, wie wir gesehen, in wachsendem Masse directen und indirecte. Einfluss auf Staat und Gemeinde. Je stärker er ist, um so mehr werden die Grundsätze der Betriebsleitung im Sinne de Demokratie modificiert. Das Interesse der privilegierten Minderheit wird dem Gemeininteresse immer mehr untergeordnet. Die Betriebe mehren sich, wo die wirtschaftspolitische Aufgäbe in erster, das fiscalische Interesse erst in zweiter Linie in Betracht gezogen wird, und bei den alten, ursprünglich nur zu fiscalischen Zwecken monopolisierten Staats- etc. Betriebe tritt ebenfalls die wirtschaftspolitische Seite derselben immer mehr in den Vordergrund. Diese ganz unverkennbar sich durchsetzende Entwicklung mit Worten wie Staatscapitalismus, Gemeindecapitalismus bezeichnen wollen, heisst sich mit Gewalt das Verständnis ihrer historischen Bedeutung versperren. Denn sie ist entschieden anticapitalistisch, gegen die Aneignung von Productionsmitteln und Productionsüberschüssen durch Capitalisten gerichtet, die gerade die charakteristische und wesentliche Seite des capitalistischen Wirtschaftssystems ist. Die Heranziehung des Wortes Capitalismus könnte sich nur auf die heutige Form der Verteilung des Productions- bezw. Betriebsertrags stützen; aber in der Form der Verteilung das entscheidende Kriterium erblicken, ist alles, nur nicht wissenschaftlicher Socialismus, der gerade auf der Erkenntnis beruht, dass die Productionsweise und die Productionsbedingungen das Entscheidende sind. Hinter der Redensart Staatscaptalismus steckt insofern ein durchaus utopistischer Gedankengang, der, statt von den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung, von irgend einer fertig gedachten Zukunftsstaat mit eigener Verteilungsform ausgeht. Und, was ebenso schlimm, es wird von der Thatsache abstrahiert, dass es sehr verschiedene Staaten giebt, es wird der Staatsbetrieb da, wo der Staat ein der Gesellschaft übergeordnetes, ihr fast selbständig gegenüber tretendes Organ ist, gleichgesetzt mit Staatsbetrieb da, wo de Staat der Gesellschaft untergeordnet und diese Gesellschaft selbst in hohem Grade demokratisiert ist. Je eher daher dies, wie gesagt, ganz begriffloses Wort aus dem Lexikon der Socialdemokratie wieder verschwindet, um so besser.

Das Übel all’ solcher, an secundäre Momente anknüpfenden Schlagworte ist, dass sie jede rationelle Unterscheidung abschneiden, sich jeder systematischen Auffassung und Behandlung der Dinge widersetzen. Sie führen vielmehr, wo sie nicht auf puren Impossibilismus hinauslaufen, zu einem ganz haltlosen Eklekticismus. Wenn die englischen Fabier, die den Staats- und Gemeindesocialismus auf ihre Fahne geschrieben haben, Eklektiker sind, so sind sie es bewusst und haben sie ihre bestimmten socialistischen Kriterien [1], auf Grund deren sie in wirtschaftspolitischen Fragen oft zu denselben Resultaten gelangen, wie der auf den historischen Materialismus aufgebaute wissenschaftliche Socialismus. Misst man aber die ökonomischen Einrichtungen nicht an ihrer Stellung und Bedeutung in der thatsächlich sich vollziehenden socialen Entwicklung, sondern an einem vorgestellten Gesellschaftszustand, so ist das notwendige Resultat eine Praxis, bei der es Sache der willkürlichen Schätzung, der Laune wird, wo im gegebenen Falle der Hebel der Gesellschaftsreform angesetzt wird, zur Sache des reinen Zufalls, ob er an der rechten Stelle angesetzt wird, um – was doch die Mission der Socialdemokratie als politische Partei ist – die Wehen des socialen Umwälzungsprocesses abzukürzen und zu mildern.

Bis jetzt ist den Fabiern aus den Reihen der Bekenner des wissenschaftlichen Socialismus ausser dem Hinweis auf den Classenkampf nichts entgegengehalten worden, was sie hätte veranlassen können, ihre eklektische Behandlungsweise der Dinge aufzugeben. Der Classenkampf aber ist zunächst eine ungeregelte Triebkraft in der gesellschaftlichen Evolution, er wirkt wie ein Naturgesetz in der vom Menschen unäbhängigen Natur, wo grenzenlose Verschwendung von Zeit, Arbeit und Material stattfindet. Dies das Bild, welches die von empirischem Geist erfüllte englische Arbeiterbewegung darbietet. Dass es ungenügend ist, wird niemand leugnen. Der Phrasen-Revolutionarismus ändert daran wenig, er führt nach einer anderen Seite hin zu eben solcher Verschwendung, Principienlosigkeit und Principienreiterei, oder, um es anders auszudrücken, roher Empirismus und utopistischer Doctrinarismus haben in dieser Hinsicht fast die gleiche Wirkung.

Die Fabier stellen, wie ich schon früher einmal ausgeführt habe, die Reaction dar gegen den sectiererisch-utopistischen Revolutionarismus, wie er von socialistischen Enthusiasten Englands anfangs der achtziger Jahre gepredigt wurde. Und wie keine Reaction, auch wenn sie noch so heilsam ist, ohne Übertreibung abgeht, so auch diese. Es wurde mehr über Bord geworfen, als blosser Phrasenballast. Der Socialismus wurde auf eine Reihe socialpolitischer Massregeln reduciert, ohne jedes verbindende, Einheitlichkeit des Grundgedankens und der Action ausdrückende Element. In Einzeluntersuchungen und als Gelegenheitssocialisten haben die Fabier manches Vortreffliche geleistet, dafür aber haben sie, soweit es in ihrer Macht lag, der socialistischen Bewegung den Compass vorenthalten, der sie von dem bloss tastenden Umhertreiben zu bewahren hat.

Das wird auf vielen Seiten empfunden, ohne dass sich bisher diese Unzufriedenheit anders als in persönlichen Invectiven oder wenig beweiskräftigen Allgemeinheiten Luft gemacht hätte. Die ganze Polemik gegen den Fabianismus hat sich bisher um Äusserlichkeiten gedreht, man hat ihm einige dem Arsenal des Marxismus entlehnte Schlagworte entgegengehalten, ohne sich jedoch die Mühe zu nehmen, die Marxsche Theorie über den Punct hinaus weiter zu bilden, wo der grosse Denker sie gelassen. Man hat sogar die Correcturen ignoriert, die Marx und Engels selbst ihren früheren Schriften haben angedeihen lassen. Ist es da ein Wunder, wenn das Schlagwort vom Staatscapitalismus selbst in England willige Abnehmer gefunden hat, wo es noch weniger Sinn hat, als irgend wo anders?


[Es folgt hier im Original ein Auszug aus einer, in der Progressive Review erschienenen Abhandlung über den Collectivismus in der Industrie, die einen Versuch darstellt, ein grundsätzliches Kriterium zu finden, auf Grund dessen sich ermessen lässt, welche Industrieen für den öffentlichen Collectivbetrieb geeignet sind, und hinsichtlich welcher es ratsam ist, sie dem Privatbetrieb zu überlassen oder erst später wie die andern in den öffentlichen Betrieb überzuleiten. Der Verfasser des anonym erschienenen Artikels – wahrscheinlich der Sociologe John A. Hobson – kommt im Anschluss an Adam Smith dahin, dass die vorwiegend routinemässig betriebenen Industrien zunächst für die Collectivwirtschaft in Anspruch zu nehmen seien, während diejenigen Industrieen, in denen die mehr künstlerische – individualisierende – Arbeit eine hervorragende Rolle spiele, sich weniger für diesen eignen. Er übersieht dabei nicht, dass die Entwicklung immer wieder Betriebe letzterer Gattung in Betriebe vorwiegend routinemässigen Charakters umwandelt, hält aber dafür, dass als Ersatz für jene sich auch immer wieder neue Gewerbe für den qualifizierten Consum ausbilden werden. Je stärker auf der einen Seite die Production für den Massenconsum sich entwickle, um so viel mehr Raum werde geschaffen für den individualisierten, dem künstlerischen Bedürfnis der Einzelnen nachkommenden Consum, so dass ein völliges Aufgehen der Production in öffentliche Collectivbetriebe in absehbarer Zeit weder wahrscheinlich noch wünschenswert sei.

Dem Auszug aus dieser Abhandlung liess der Verfasser des vorliegenden Buches einige kritische Bemerkungen folgen. Hier der wesentlichste Teil derselben:]

Wichtiger ist, dass der Consument, wie meist bei dieser Art Untersuchungen, hier nur als letzter, resp. „unproductiver“ Consument auftritt, während thatsächlich der productive Consument im heutigen Wirtschaftsgetriebe eine so bedeutende Rolle spielt, dass ihn übersehen den verhängnisvollsten Trugschlüssen Thür und Thor öffnen heisst. Ehe ein Product Gebrauchsgut für den letzten Consumenten wird, ist es, ganz oder in seinen Bestandteilen, so und so oft Gebrauchsartikel für productive Consumenten gewesen, die natürlich keine individuellen künstlerischen Anforderungen stellen, sondern nur auf Güte des Materials etc. sehen. Dies, um erkennen zu lassen, dass der Kreis der „Routine-Industrieen“ bedeutend grösser ist, als einer Vorstellung erscheinen muss, die die Production nur im Hinblick auf den letzten Consumenten betrachtet. Die Industrieen der Rohstoffe und Halbfabricate sind fast sämtlich Routine-Industrieen, oder streben mit Macht darauf hin, solche zu werden. Erst bei der letzten Verarbeitung des Gebrauchsgegenstandes spielt das individualistische, künstlerische Moment seine Rolle.

Im übrigen ist das Kriterium: Routine oder Kunstproduction, in der im obigen entwickelten weiteren Fassung offenbar ein für die behandelte Frage sehr fruchtbares. Vor allem was die geschichtliche Perspective anbetrifft. Fällt es im allgemeinen mit dem im Capital gegebenen Kriterium der Betriebsarten zusammen, die im concreten Falle demi auch von ihm unberührt bleibt, so ist es insofern eine, wertvolle Ergänzung desselben, als es eine Handhabe bietet für die genauere Abschätzung des voraussichtlichen Ganges der weiteren Entwicklung, uns vor voreiligen Schlüssen mit Bezug auf eine bevorstehende Alleinherrschaft der collectivistischen Betriebsform hütet. Denn wie man sich auch inuner das quantitative Verhältnis der Routine-Industrieen zu den Kunst-Industrieen (im obigen Sinne) vorstellen mag, so leuchtet doch nach dem Vorgeführten so viel ein, dass es voraussichtlich nie so überwältigend sein wird, dass die letzteren gegenüber den ersteren völlig „verschwinden“. Es entspricht vielmehr durchaus dem Gesetz der Dialektik, dass gerade die wachsende Vermehrung und Steigerung der collectivistischen Betriebe selbst wieder Boden schafft für neue individualistische Productionsthätigkeit, dass sie selbst die Bedingungen erzeugt, die ihrem Überwuchern entgegenwirken. An vielen Beispielen sehen wir das heute schon ganz klar, und es wäre ja auch eine traurige Aussicht, wenn die Menschheit einer Zukunft entgegenginge, die nur eine Form der Bewegung kennen sollte.

Wenn wir daher auch in verschiedenen Einzelheiten die Ausführungen des Verfassers nicht unterschreiben können, so scheint uns ihr Grundgedanke doch im Ganzen unwiderlegbar. Jedenfalls auf lange Zeit hinaus müssen wir uns der Vorstellung entschlagen, als ob wir einem vollkommen collectivistischen Gesellschaftszustande entgegengingen. Wir müssen uns mit dem Gedanken an partielle Collectivwirtschaft vertraut machen.


Fussnote

1. Vergl. u.a. das Pamphlet: Socialism: True and False von Sidney Webb.


Zuletzt aktualisiert am 26.1.2009