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Haben Sie sich jemals gefragt, wie es möglich ist, daß Regierung und Kapitalismus trotz allen Unglücks und Verdrusses fortbestehen können, die sie in der Welt erzeugen? Falls Sie das getan haben, dann muß Ihre Antwort gelautet haben, es kann nur daran liegen, daß die Menschen diese Einrichtungen unterstützen und daß sie sie unterstützen, weil sie daran glauben.
Das ist das Problem der ganzen Angelegenheit: Die heutige Gesellschaft basiert auf dem Glauben der Menschen, daß sie gut und nützlich sei. Sie beruht auf der Idee der Autorität und des Privateigentums. Es sind Ideen, die die Zustände aufrechterhalten. Regierung und Kapitalismus sind die Formen, in denen sich die allgemeinen Ideen ausdrücken. Ideen bilden das Fundament; die Institutionen stellen das darauf erbaute Haus dar. Eine neue gesellschaftliche Struktur muß ein neues Fundament haben, neue Ideen für ihre Basis. Wie sehr Sie auch die Form einer Institution ändern, ihr Wesen und ihre Bedeutung wird die gleiche bleiben, wenn ihr Fundament nicht berührt wird. Sehen Sie sich das Leben einmal genau an, und Sie werden die Wahrheit dieser Aussage erkennen. Es gibt in der Welt alle möglichen Regierungsarten und -formen, aber ihr wahres Wesen ist überall gleich, genauso wie ihre Wirkung dieselbe ist: Sie führt immer zu Autorität und Gehorsam.
Nun, wodurch werden Regierungen am Leben erhalten? Durch Armeen und die Marine? Ja, aber auch nur scheinbar. Wodurch werden Armeen und Marine unterhalten? Es ist der Glaube der Menschen, der Massen, daß Regierung notwendig ist; es ist die allgemein akzeptierte Idee der Notwendigkeit einer Regierung. Das ist ihr wirkliches und dauerhaftes Fundament. Ohne diese Ideen oder diesen Glauben würde keine Regierung auch nur einen Tag länger bestehen.
Dasselbe gilt für das Privateigentum. Die Idee, daß es richtig und notwendig ist, stellt den Pfeiler dar, der es stützt und ihm Sicherheit gibt. Es gibt heute nicht eine Institution, die nicht auf dem weitverbreiteten Glauben basiert, daß sie gut und förderlich ist. Nehmen wir die USA als Beispiel. Fragen Sie sich selbst, warum revolutionäre Propaganda in diesem Land trotz der fünfzig Jahre andauernden Bemühungen von Sozialisten und Anarchisten so wenig Erfolg hatte. Wird der amerikanische Arbeiter nicht weit mehr ausgebeutet als der anderer Länder? Nimmt die politische Korruption in irgendeinem anderen Land dermaßen überhand? Ist die kapitalistische Klasse in Amerika nicht die willkürlichste, despotischste auf der ganzen Welt? Es stimmt, daß der Arbeiter in den USA materiell besser gestellt ist als der in Europa, aber wird er nicht gleichzeitig Terror und größter Brutalität ausgesetzt, sobald er auch nur die geringste Unzufriedenheit zu zeigen wagt? Trotzdem bleibt der amerikanische Arbeiter seiner Regierung treu und ist der erste, der sie gegen Kritik verteidigt. Er ist noch immer der eifrigste Verfechter dieser „großartigen und noblen Institutionen des größten Landes auf Erden“. Warum? Weil er glaubt, daß sie seine Institutionen seien, daß er sie als souveräner und freier Bürger leitet und daß er sie ändern könnte, wenn er es wollte. Es ist sein Glaube an die bestehende Ordnung, der die größte Sicherheit gegen eine Revolution bietet. Sein Glaube ist dumm und nicht angebracht, und eines Tages wird er zusammenbrechen und mit ihm der amerikanische Kapitalismus und Despotismus. Aber solange dieser Glaube fortbesteht, ist die amerikanische Geldherrschaft vor Revolutionen sicher.
Wenn die Menschen klüger werden, wenn sie neue Ideen entwickeln und ihr Vertrauen in den alten Glauben verlieren, dann verändern sich die Institutionen allmählich und werden schließlich beseitigt. Die Menschen begreifen langsam, daß ihre früheren Ideen falsch waren, daß sie nicht der Wahrheit sondern Vorurteil und Aberglauben entsprachen.
In dieser Hinsicht werden viele Ideen, die einst als wahr hingenommen wurden, als falsch und schlecht angesehen werden müssen. So zum Beispiel die Vorstellung über Königtum, Sklaverei und Leibeigenschaft von Gottes Gnaden. Es gab eine Zeit, in der die ganze Welt glaubte, daß diese Einrichtungen richtig, gerecht und unveränderbar waren. In dem Maße, wie diese als Aberglaube und falsche Ansicht von fortschrittlichen Denkern bekämpft wurden, kamen sie in Verruf, verloren die Unterstützung der Menschen und schließlich wurden die auf diesen Vorstellungen basierenden Institutionen abgeschafft. Intellektuelle werden Ihnen erklären, daß sie „ihre Nützlichkeit verloren“ hatten und daß sie darum „gestorben“ sind. Aber wie konnten sie „ihre Nützlichkeit verlieren“? Für wen waren sie nützlich, und wie sind sie „gestorben“?
Wir wissen schon, daß sie nur für die herrschende Klasse nützlich waren und daß sie durch Volksaufstände und Revolutionen beseitigt wurden. Warum „verschwanden“ alte und unbrauchbar gewordene Institutionen nicht von allein und starben friedlich? Aus zwei Gründen: Erstens, weil einige Leute schneller denken als andere. So kommt es vor, daß eine Minderheit bestimmte Gedanken schneller entwickelt als die restlichen Menschen an diesem Ort. Je mehr diese Minderheit von ihren neuen Ideen erfüllt wird, desto mehr ist sie von deren Wahrheit überzeugt und je stärker sie sich fühlt, desto schneller wird sie ihre Ideen verwirklichen wollen; und das ist in der Regel der Fall, bevor die Mehrheit zu diesen neuen Erkenntnissen kommt. Das heißt, daß die Minderheit gegen die noch an den alten Ansichten und Gegebenheiten festhaltende Mehrheit zu kämpfen hat. Zweitens ist der Widerstand jener zu nennen, die an der Macht sind. Gleichgültig, ob es die Kirche, ein König oder Kaiser, eine demokratische Regierung oder Diktatur, eine Republik oder eine Autokratie ist – die Machtbesitzenden werden bis zum letzten Augenblick verzweifelt um die Macht kämpfen, solange auch nur die geringsten Erfolgschancen vorhanden sind. Und je mehr Hilfe sie von der langsamer denkenden Mehrheit erhalten, desto größeren Widerstand können sie leisten. Hieraus ergibt sich die Heftigkeit der Revolte und Revolution.
Die Verzweiflung der Massen, der Haß auf die für ihr Elend Verantwortlichen und die Entschlossenheit der Herrscher, an ihren Privilegien und ihrer Herrschaft festzuhalten, münden in Gewalttätigkeit bei Aufständen und Rebellionen. Aber eine blinde Rebellion mit keinem bestimmten Ziel und ohne Zweck ist keine Revolution. Eine Revolution ist eine sich ihrer Ziele bewußte Rebellion. Eine Revolution ist sozial, wenn sie um grundlegende Veränderungen kämpft. Da das Fundament des Lebens die Wirtschaft ist, führt eine soziale Revolution zur Neuorganisation der Industrie und Wirtschaft des Landes und folglich auch der gesamten Gesellschaftsstruktur.
Aber wir haben gesehen, daß jede Gesellschaftsstruktur auf bestimmten Ideen beruht, was bedeutet, daß eine Veränderung der Struktur eine Veränderung der Ideen voraussetzt. Mit anderen Worten, die Ideen in einer Gesellschaft müssen zuerst verändert werden, bevor eine neue Gesellschaftsstruktur aufgebaut werden kann. Die soziale Revolution ist daher nichts Zufälliges und kein plötzliches Ereignis. Nichts daran ist plötzlich, denn Ideen wechseln nicht plötzlich. Sie wachsen langsam und allmählich wie eine Pflanze oder Blume. Daher ist die soziale Revolution ein Ergebnis, eine Entwicklung, das heißt, sie ist revolutionär. Sie entfaltet sich bis zu dem Punkt, an dem eine erhebliche Anzahl von Menschen sich die neuen Ideen zueigen gemacht hat und sie entschlossen in die Tat umsetzen will. Wenn sie das versucht und auf Widerstand trifft, wird die langsame, ruhige und friedliche soziale Entwicklung schnell militant und gewalttätig. Die Evolution geht über in die Revolution.
Merken Sie sich daher, daß Evolution und Revolution nicht zwei verschiedene und voneinander getrennte Dinge sind. Viel weniger sind sie Gegensätze, wie manche Menschen fälschlicherweise glauben. Revolution ist nur der Siedepunkt einer Evolution.
Weil die Revolution eine am Siedepunkt angelangte Evolution ist, können Sie eine richtige Revolution nicht „machen“, genauso wenig wie Sie das Kochen eines Teekessels beschleunigen können. Das Feuer darunter bringt ihn zum Kochen. Wie schnell die Flüssigkeit den Siedepunkt erreicht, hängt davon ab, wie stark das Feuer ist.
Die wirtschaftlichen und politischen Zustände in einem Land sind das Feuer unter dem Kessel der Evolution. Je stärker die Unterdrückung und je größer die Unzufriedenheit der Menschen ist, desto kräftiger ist die Flamme. Das erklärt, warum das Feuer der sozialen Revolution über Rußland dahinfegte, dem tyrannischsten und rückständigsten Land, und nicht über Amerika, wo die industrielle Entwicklung ihren Höhepunkt fast erreicht hat – und das all der gelehrten Äußerungen von Karl Marx zum Trotz.
Wir sehen also, daß, obwohl Revolutionen selbst nicht gemacht werden können, der Zeitpunkt ihres Beginns doch durch bestimmte Faktoren vorverlegt werden kann: nämlich durch Druck von oben, durch intensivere politische und wirtschaftliche Unterdrückung und durch den Druck von unten: durch größere Aufklärung und Agitation. Diese verbreiten die Ideen, sie treiben die Entwicklung voran und bringen damit den Zeitpunkt für eine Revolution näher. Aber Druck von oben, obwohl er für den Zeitpunkt des Beginns einer Revolution letztlich verantwortlich ist, kann eine Revolution auch zum Scheitern bringen, Nämlich dann, wenn solch eine Revolution dem evolutionären Prozeß zu sehr vorauseilt. Unter nicht ausgereiften Bedingungen wird sie im bloßen Rebellieren verpuffen; das heißt, sie ist ohne ein klares, bewußtes Ziel und sie bleibt ohne Wirkung. Eine Rebellion kann höchstens vorübergehend einige Erleichterungen bringen; sie dringt jedoch nicht zu den wahren Ursachen vor, diese bleiben unberührt durch sie wie zuvor der Quell von Unzufriedenheit und Rebellion.
Wenn wir das zusammenfassen, was ich über die Revolution gesagt habe, müssen wir zu der Schlußfolgerung kommen, daß eine soziale Revolution eine Revolution ist, die das Fundament der Gesellschaft, ihren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Charakter vollständig verändert;
Eine solche Vorbereitung stellt nicht nur den absolut notwendigen ersten Schritt dar. Darin liegt auch die Sicherheit, die einzige Garantie dafür, daß die Revolution ihre Ziele erreicht. Das Schicksal der meisten Revolutionen war es, daß sie aus Mangel an Vorbereitung von ihrem Hauptziel abgelenkt, mißbraucht und in Sackgassen geführt wurden. Rußland ist dafür das beste Beispiel aus der letzten Zeit. Die Februar-Revolution, deren Ziel es war, die Autokratie zu beseitigen, war ein voller Erfolg. Die Menschen wußten genau, was sie wollten: Nämlich das Zarentum abschaffen. All die Machenschaften der Politiker, die Beredsamkeit und Pläne des Lwows und Miljukows – der liberalen Führer jener Zeit – konnten das Romanow-Regime angesichts des klaren und bewußten Willens der Menschen nicht retten. Es war dieses klare Verständnis der Februar-Revolution für ihre Ziele, daß sie – wohlgemerkt fast ohne Blutvergießen -, zum vollen Erfolg führte.
Darüber hinaus konnten weder Appelle noch Drohungen der provisorischen Regierung gegen die Entschlossenheit der Menschen, den Krieg zu beenden, etwas ausrichten.
Die Armeen verließen die Fronten und machten durch eigene direkte Aktion der Sache ein Ende. Der Wille eines Volkes, das sich seiner Ziele bewußt ist, siegt immer. Es war auch wieder der Wille der Menschen – ihr festes Ziel -, das Land in ihren Besitz zu bringen, das dem Bauern seinen Unterhalt sicherte. Ebenso besetzten die Arbeiter in den Städten, wie mehrfach schon erwähnt, die Fabriken und Produktionsanlagen. Insoweit war die russische Revolution ein voller Erfolg. Aber ihre Niederlage bahnte sich in dem Augenblick an, als die Massen das feste Ziel der Revolution aus den Augen verloren. Das geschieht immer dann, wenn Politiker und politische Parteien eingreifen und die Revolution für ihre eigenen Zwecke ausbeuten oder ihre Theorien daran ausprobieren. Das ist in der russischen genauso wie in vielen vorhergehenden Revolutionen geschehen. Die Menschen führten einen gerechten Kampf – die politischen Parteien kämpften um die Beute zum Schaden der Revolution und zum Nachteil der Menschen.
Genau das vollzog sich in Rußland. Nachdem der Bauer sich sein Land erkämpft hatte, fehlten ihm die notwendigen Werkzeuge und Maschinen. Der Arbeiter hatte Maschinen und Fabriken in Besitz genommen, wußte aber nicht, wie er sie für seine Ziele einsetzen mußte. Mit anderen Worten, er hatte nicht die nötige Erfahrung, um die Produktion zu organisieren und er verstand es nicht, seine Produkte zu verteilen.
Durch ihren Einsatz hatten die Arbeiter, die Bauern und die Soldaten das Zarentum beseitigt, die Regierung paralysiert, den Krieg beendet und das Privateigentum an Land und an Produktionsanlagen abgeschafft. Darauf waren sie in vielen Jahren revolutionärer Erziehung und Agitation vorbereitet. Aber auf sonst weiter nichts. Und weil sie so unvorbereitet waren, betrat die politische Partei die Bühne und nahm den revolutionären Massen genau in dem Augenblick das Geschehen aus den Händen, als die Kenntnisse nicht mehr ausreichten und sie das Ziel der Revolution nicht mehr klar erkannten. Die Politik trat an die Stelle des wirtschaftlichen Neuaufbaus und läutete damit der sozialen Revolution die Totenglocke; denn die Menschen leben vom Brot, von dem erwirtschafteten, aber nicht von Politik. Nahrungsmittel und Versorgungsgüter werden nicht durch einen Erlaß einer Regierung oder Partei erzeugt. Gesetzliche Verordnungen bestellen nicht den Boden; Gesetze können die Räder der Industrie nicht in Gang halten. Unzufriedenheit, Streit und Hungersnot folgten den Zwangseingriffen der Regierung und der Diktatur auf dem Fuße. Wie immer erwiesen sich Politik und Autorität auch hier als der Sumpf, in dem die revolutionären Feuer erloschen. Nehmen wir uns diese außerordentlich wichtige Lektion zu Herzen: Nur das richtige Verständnis der Massen für die wahren Ziele der Revolution führt zum Erfolg. Die Umsetzung ihrer Vorstellungen in die Tat durch sie selbst garantiert erst, daß das neue Leben sich in die richtige Richtung entwickelt. Andererseits führt ein Mangel an diesem Verständnis und der Vorbereitung zur sicheren Niederlage entweder durch die Reaktion oder durch unausgegorene Theorien von Möchte-Gern-Freunden aus politischen Parteien. Bereiten wir uns vor. Wozu und wie?
Zuletzt aktualisiert am 17.10.2004