Michail Bakunin

 

Gott und der Staat

II

Ich führte den Hauptgrund der noch heute von dem religiösen Glauben auf die Massen ausgeübten Macht an. Diese mystischen Neigungen bezeichnen bei den Massen nicht so sehr eine Verirrung des Geistes als tiefe innere Unzufriedenheit. Sie sind der instinktive und leidenschaftliche Aufschrei des menschlichen Wesens gegen die Enge, die Flachheit, die Schmerzen und die Schande eines erbärmlichen Lebens. Gegen diese Krankheit, sagte ich, gibt es nur ein einziges Mittel: die soziale Revolution.

Im Anhang suchte ich die Ursachen der Entstehung der geschichtlichen Entwicklung der religiösen Hirngespinste im Menschenbewußtsein auseinanderzusetzen. Hier will ich die Frage der Existenz eines Gottes oder des göttlichen Ursprungs der Welt und des Menschen nur vom Standpunkt ihrer moralischen und sozialen Nützlichkeit behandeln und über die theoretische Ursache dieses Glaubens nur wenige Worte sagen, um meine Gedanken besser klarzumachen.

Alle Religionen mit ihren Göttern, Halbgöttern, Propheten, Erlösern und Heiligen wurden von der leichtgläubigen Phantasie von Menschen geschaffen, die noch nicht zur vollen Entwicklung und zum Vollbesitz ihrer geistigen Fähigkeiten gelangt waren; der Himmel der Religion ist also nichts als eine Lichtspiegelung, in der der Mensch, von Unwissenheit und Glauben überspannt, sein eigenes Bild wiedersieht, aber vergrößert und verkehrt, d.h. vergöttlicht. Die Geschichte der Religionen, die des Ursprungs, der Größe und des Verfalls der Götter, wie sie im menschlichen Glauben aufeinander folgten, ist also nichts als die Entwicklung der Intelligenz und des kollektiven Bewußtseins der Menschen. Je nachdem sie auf ihrem geschichtlichen Vormarsch in sich selbst oder in der äußeren Natur eine Kraft, eine Fähigkeit oder selbst einen großen Fehler fanden, übertrugen sie dieselben durch einen Akt ihrer religiösen Phantasie auf ihre Götter, übertrieben, ins Maßlose ausgedehnt, wie Kinder es zu tun pflegen. Dank dieser Bescheidenheit und frommen Großmütigkeit der gläubigen und leichtgläubigen Menschen bereicherte sich der Himmel durch das, was der Erde geraubt wurde, und konsequenterweise wurden die Menschheit, die Erde desto elender, je reicher der Himmel wurde. Sobald einmal die Gottheit eingesetzt war, wurde sie natürlich als Grund, Ursache, Schiedsrichter und absoluter Verfüger über alle Dinge proklamiert: Die Welt war nichts mehr, die Gottheit alles, und der Mensch, ihr wahrer Schöpfer, der sie ohne sein Wissen aus dem Nichts herausgezogen, beugte sein Knie vor ihr, betete sie an und erklärte sich als ihr Geschöpf und ihr Sklave. Das Christentum ist gerade die Religion par excellence. Weil es in seiner Ganzheit die Natur, das eigentliche Wesen jedes religiösen Systems ausdrückt und äußert, nämlich die Verarmung, die Versklavung und die Vernichtung der Menschheit zum Vorteil der Gottheit.

Da Gott alles ist, sind die wirkliche Welt und der Mensch nichts. Da Gott die Wahrheit, die Gerechtigkeit, das Gute, das Schöne, die Macht und das Leben ist, ist der Mensch die Lüge, das Schlechte, das Übel, die Häßlichkeit, die Ohnmacht und der Tod. Da Gott der Herr ist, ist der Mensch der Sklave. Der Mensch ist unfähig, die Gerechtigkeit, die Wahrheit und das ewige Leben selbst zu finden, und kann sie nur durch göttliche Offenbarung erlangen. Wer aber Offenbarung sagt, sagt auch Offenbarer, Erlöser, Propheten, Priester und Gesetzgeber, die Gott selbst erleuchtete, und sobald diese einmal als Vertreter der Gottheit auf der Erde anerkannt sind, als die heiligen Lehrer der Menschheit, die Gott selbst auserwählte, um die Menschheit auf den Weg des Heils zu leiten, müssen sie notwendigerweise absolute Macht ausüben. Alle Menschen schulden ihnen unbegrenzten und demütigen Gehorsam; denn gegenüber der göttlichen Vernunft gibt es keine menschliche Vernunft, und vor der Gerechtigkeit Gottes bleibt keine irdische Gerechtigkeit bestehen. Als Sklaven Gottes müssen die Menschen auch Sklaven der Kirche und des Staates sein, insoweit als der Staat von der Kirche geheiligt ist. Dies begriff von allen bestehenden und vergangenen Religionen das Christentum am besten, nicht ausgenommen selbst die alten orientalischen Religionen, welche übrigens nur bestimmte und bevorrechtete Völker umfaßten, während das Christentum den Anspruch hat, die ganze Menschheit zu umfassen, und von allen christlichen Sekten hat der römische Katholizismus allein dies mit strenger Konsequenz verkündet und verwirklicht. Deshalb ist das Christentum die absolute Religion, die letzte Religion, und die römisch-apostolische Kirche die einzig konsequente, rechtmäßige und göttliche.

Ob es also den Metaphysikern und religiösen Idealisten, Philosophen, Politikern oder Dichtern gefällt oder nicht: Die Gottesidee enthält die Abdankung der menschlichen Vernunft und Gerechtigkeit in sich, sie ist die entschiedenste Verneinung der menschlichen Freiheit und führt notwendigerweise zur Versklavung der Menschen in Theorie und Praxis. Wenn wir also nicht die Versklavung und Herabwürdigung der Menschen wollen wie die Jesuiten, die protestantischen Momiers, Pietisten oder Methodisten, dann können und dürfen wir dem Gott der Theologie und dem Gott der Metaphysik nicht das geringste Zugeständnis machen. Denn wer in diesem geheimnisvollen Alphabet A sagt, sagt schließlich unvermeidlich auch Z, und wer Gott anbeten will, muß, ohne sich kindische Illusionen zu machen, tapfer auf seine Freiheit und Menschlichkeit verzichten. Wenn Gott existiert, ist der Mensch ein Sklave; der Mensch kann und soll aber frei sein: Folglich existiert Gott nicht. Ich fordere jeden auf, diesem Kreis zu entgehen, und nun mag man wählen.

Muß man daran erinnern, wie sehr und wie die Religionen die Völker verdummen und verderben? Sie töten in ihnen die Vernunft, dieses Hauptwerkzeug der menschlichen Befreiung, und führen sie zum Schwachsinn, der wesentlichen Voraussetzung ihrer Sklaverei. Sie entehren die menschliche Arbeit und machen sie zum Zeichen und zur Quelle der Knechtschaft. Sie töten Begriff und Gefühl der menschlichen Gerechtigkeit und lassen die Waagschale immer sich auf die Seite der triumphierenden Schurken, der bevorrechteten Auserwählten der göttlichen Gnade, neigen. Sie töten menschlichen Stolz und Würde und schützen nur die Kriechenden und Demütigen. Sie ersticken im Herz der Völker jedes Gefühl menschlicher Brüderlichkeit und erfüllen es mit göttlichen Grausamkeit. Alle Religionen sind grausam, alle sind auf Blut gegründet; denn alle ruhen hauptsächlich auf der Idee des Opfers, das heißt auf der beständigen Opferung der Menschheit zugunsten der unersättlichen Rache der Gottheit. In diesem blutigen Geheimnis ist der Mensch immer das Opfer, und der Priester, auch ein Mensch, aber ein durch die Gnade bevorrechteter, ist der göttliche Henker. Dies erklärt uns, warum die Priester aller Religionen, die Besten, die Menschlichsten, die Sanftesten, bei nahe immer auf dem Grund ihres Herzens – und wenn nicht im Herzen, in ihrer Einbildung, ihrem Geist (und man kennt den furchtbaren Einfluß beider auf das Herz der Menschen), – warum, sage ich, in den Gefühlen jedes Priesters etwas Grausames und Blutdürstiges liegt.

All das wissen unsere ausgezeichneten Idealisten der Gegenwart besser als irgend jemand. Sie sind gelehrte Leute, die ihre Geschichte kennen, und da sie gleichzeitig lebende Menschen sind, große Seelen, von aufrichtiger und tiefer Liebe zur Menschheit durchdrungen, so verfluchten und brandmarkten sie all diese Untaten, all diese Verbrechen der Religion mit unerreichter Beredsamkeit. Mit Entrüstung weisen sie jede Gemeinschaftlichkeit mit dem Gott der positiven Religionen und seinen vergangenen und gegenwärtigen irdischen Vertretern zurück.

Der Gott, den sie anbeten oder anzubeten glauben, unterscheidet sich von den wirklichen Göttern der Geschichte gerade dadurch, daß er durchaus kein positiver und auf irgendeine Weise theologisch oder selbst metaphysisch bestimmter Gott ist. Er ist weder das höchste Wesen Robespierres und Jean-Jacques Rousseaus, noch der pantheistische Gott Spinozas, noch selbst der gleichzeitig immanente und transzendente und sehr zweideutige Gott Hegels. Sie hüten sich, ihm irgendeine positive Bestimmung zu geben, da sie sehr gut fühlen, daß eine solche Bestimmung ihn der zersetzenden Tätigkeit der Kritik preisgeben würde. Sie werden nie sagen, ob es ein persönlicher oder unpersönlicher Gott ist, ob er die Welt erschaffen hat oder nicht; sie sprechen nicht einmal von seiner göttlichen Vorsehung. All das könnte ihn bloßstellen. Sie werden sich begnügen zu sagen: „Gott“ und nichts weiter. Aber was ist dann ihr Gott? Nicht einmal eine Idee, sondern ein bloßer Hauch.

Er ist der Gattungsname für alles, das ihnen groß, gut, schön, edel, menschlich erscheint. Aber warum sagen sie dann nicht:“Mensch“? Ach, weil König Wilhelm von Preußen und Napoleon III. und alle ihresgleichen auch Menschen sind, und dies setzt sie in große Verlegenheit. Die wirkliche Menschheit bildet eine Verbindung des Erhabensten und Schönsten und des Erbärmlichsten und Ungeheuerlichsten, das es gibt. Wie kommen sie aus dieser Verlegenheit heraus? Sie nennen das eine göttlich, das andere tierisch, und stellen sich die Göttlichkeit und die Animalität als zwei Pole vor, zwischen die sie die Menschheit stellen. Sie wollen oder können nicht begreifen, daß diese drei Ausdrücke nur einen einzigen bilden und daß man sie zerstört, wenn man sie trennt.

Sie sind in der Logik nicht stark, und man möchte glauben, daß sie sie verachten. Das unterscheidet sie von den pantheistischen und deistischen Metaphysikern und drückt ihren Ideen den Charakter eines praktischen Idealismus auf, der sein Trachten viel weniger aus der strengen Entwicklung eines Gedankens schöpft als aus den geschichtlichen, kollektiven und individuellen Erfahrungen, beinahe sagte ich Bewegungen des Lebens. Dies gibt ihrer Propaganda einen Schein von Reichtum und Lebenskraft, aber nur einen Schein; denn das Leben selbst wird unfruchtbar, wenn es von einem logischen Widerspruch gelähmt wird.

Dieser Widerspruch ist folgender: Sie wollen Gott und sie wollen die Menschheit. Sie versteifen sich darauf, zwei Begriffe zusammenzubringen, die, einmal getrennt, sich nur wieder treffen können, um sich gegenseitig zu zerstören. Sie sagen in einem Atemzug: „Gott und die Freiheit des Menschen“, „Gott und die Würde, Gerechtigkeit, Gleichheit, Brüderlichkeit, das Wohl der Menschen“, – ohne sich um die unvermeidliche Logik zu kümmern, nach welcher, wenn Gott existiert, dies alles zum Nichtvorhandensein verurteilt ist. Denn wenn Gott existiert, ist er notwendigerweise der ewige, höchste, absolute Herr, und wenn ein solcher Herr da ist, ist der Mensch Sklave; wenn er aber Sklave ist, sind für ihn weder Gerechtigkeit, noch Gleichheit, Brüderlichkeit, Wohlfahrt möglich. Mögen diese Idealisten sich immer gegen den gesunden Menschenverstand und alle geschichtliche Erfahrung, ihren Gott von der zartesten Liebe für die menschliche Freiheit beseelt vorstellen: Ein Herr, was er immer tun und wie freiheitlich er sich zeigen mag, bleibt nichtsdestoweniger ein Herr, und seine Existenz schließt notwendigerweise die Sklaverei von allem, das unter ihm ist, ein. Wenn also Gott existierte, gäbe es für ihn nur ein einziges Mittel, der menschlichen Freiheit zu dienen: aufhören zu existieren.

Als eifersüchtiger Anhänger der menschlichen Freiheit, die ich als die unbedingte Grundbedingung von allem, das wir in der Menschheit verehren und achten, ansehe, drehe ich Voltaires Satz um und sage: Wenn Gott wirklich existierte, müßte man ihn beseitigen. Die strenge Logik, die mir diese Worte diktiert, ist zu klar, als daß ich diesen Gedankengang weiter entwickeln müßte. Und es scheint mir unmöglich, daß dies den erwähnten ausgezeichneten Männern, deren Namen so berühmt und so mit Recht geachtet sind, nicht selbst aufgefallen ist und daß sie den Widerspruch nicht bemerkten, der darin liegt, daß sie gleichzeitig von Gott und von der menschlichen Freiheit sprachen. Zur Nichtbeachtung des Widerspruchs muß sie der Gedanke veranlaßt haben, daß diese Inkonsequenz oder diese Hintansetzung der Logik in der Praxis zum Besten der Menschheit notwendig ist.

Vielleicht verstehen sie auch die Freiheit, von der sie als von einer von ihnen sehr geachteten, ihnen sehr lieben Sache sprechen, in ganz anderem Sinn, als wir Materialisten und revolutionäre Sozialisten sie auffassen. Sie sprechen tatsächlich nie von ihr, ohne sofort ein anderes Wort hinzuzufügen, das Wort Autorität, ein Wort und eine Sache, die wir aus vollem Herzen verabscheuen.

Was ist die Autorität? Ist es die unvermeidliche Macht der Naturgesetze, die sich in der Verkettung und notwendigen Aufeinanderfolge der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt äußern? Gegen diese Gesetze ist tatsächlich die Empörung nicht nur verboten, sondern auch unmöglich. Wir mögen sie verkennen oder sie noch nicht kennen, aber wir können ihnen nicht ungehorsam sein, weil sie die Grundlage und Grundbedingung unseres Daseins sind; sie umgeben und durchdringen uns, regeln all unsere Bewegungen, Gedanken, Handlungen, so daß, selbst wenn wir ihnen ungehorsam zu sein glauben, wir nur ihre Allmacht beweisen.

Ja, wir sind unbedingt die Sklaven dieser Gesetze. Aber es liegt nichts Erniedrigendes in dieser Sklaverei oder vielmehr, es ist gar keine Sklaverei. Denn Sklaverei setzt einen äußeren Herrn, einen Gesetzgeber voraus, der sich außerhalb desjenigen befindet, dem er gebietet; diese Gesetze liegen aber nicht außer uns, sie sind uns eigen, bilden unser Wesen, unser ganzes körperliches, geistiges und moralisches Wesen; wir leben, atmen, handeln, denken und wollen nur durch sie. Außerhalb ihrer sind wir nichts, existieren wir nicht. Woher käme uns also die Macht und der Wille, uns gegen sie zu empören?

Den Naturgesetzen gegenüber ist für den Menschen nur eine Freiheit möglich: sie zu erkennen und sie immer mehr seinem Ziel der kollektiven und individuellen Befreiung oder Humanisierung entsprechend anzuwenden. Sind diese Gesetze einmal erkannt, üben sie eine von der Masse der Menschen nie erörterte Autorität aus. Man muß zum Beispiel ein Narr oder ein Theologe oder wenigstens ein Metaphysiker, Jurist oder Bourgeois-Ökonom sein, um sich gegen das Gesetz, daß zwei x zwei gleich vier ist, zu empören. Man muß Glauben besitzen, um sich einzubilden, daß man im Feuer nicht verbrennt und im Wasser nicht ertrinkt, außer man nimmt zu irgend etwas Zuflucht, das auch wieder auf einem anderen Naturgesetz beruht. Aber diese Empörungen oder vielmehr diese Versuche oder tollen Einbildungen einer unmöglichen Empörung bilden nur eine seltene Ausnahme; denn im allgemeinen kann man sagen, daß die Masse der Menschen im täglichen Leben beinahe unbedingt vom gesunden Menschenverstand,das heißt von der Summe der allgemein anerkannten Naturgesetze, geleitet wird.

Das große Unglück ist, daß eine große Menge von der Wissenschaft schon erkannter Naturgesetze den Volksmassen unbekannt bleibt dank der Sorgfalt der bevormundenden Regierungen, die bekanntlich nur zum Besten der Völker da sind. Ein anderer Nachteil ist der, daß der größte Teil der auf die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft bezüglichen Naturgesetze, die ebenso notwendig, unveränderlich, unvermeidlich sind wie die die physische Welt regierenden Gesetze, noch nicht von der Wissenschaft hinreichend festgestellt und erkannt ist. Sobald sie einmal von der Wissenschaft erkannt und aus der Wissenschaft durch ein großes System der Volkserziehung und des Volksunterrichts in das Bewußtsein aller übergegangen sein werden, wird die Frage der Freiheit vollständig gelöst sein.

Die verbissensten Verfechter der Autorität müssen zugeben, daß dann politische Organisation, Leitung und Gesetzgebung nicht mehr nötig sein werden, drei Dinge, die, mögen sie dem Willen des Herrschers oder den Abstimmungen eines vom allgemeinen Stimmrecht gewählten Parlaments entspringen und mögen sie selbst dem System der Naturgesetze entsprechen, stets auf gleiche Weise der Freiheit der Massen verhängnisvoll und feindlich sind, weil sie ihnen ein System äußerlicher und daher despotischer Gesetze aufzwingen. Die Freiheit des Menschen besteht einzig darin, daß er den Naturgesetzen gehorcht, weil er sie selbst als solche erkannt hat und nicht, weil sie ihm von außen her von irgend einem fremden Willen, sei er göttlich oder menschlich, kollektiv oder individuell, auferlegt sind.

Man nehme eine wissenschaftliche Körperschaft, die aus den erleuchtetsten Vertretern der Wissenschaft besteht; man nehme an, sie sei mit der Gesetzgebung, mit der Organisation der Gesellschaft beauftragt, sei von der lautersten Wahrheitsliebe erfüllt und erlasse nur Gesetze, die unbedingt den neuesten Entdeckungen der Wissenschaft entsprechen. Nun, ich behaupte, daß diese Gesetzgebung und diese Organisation Ungeheuerlichkeiten sein werden, und zwar aus zwei Gründen. Erstens, weil die menschliche Wissenschaft immer notwendigerweise unvollkommen ist und man, wenn man das schon Entdeckte mit dem noch nicht Entdeckten vergleicht, von ihr sagen kann, daß sie noch immer in der Wiege liegt. Wenn man also das praktische Leben der Gesellschaft und des einzelnen zwingen würde, sich streng und ausschließlich den letzten Ergebnissen der Wissenschaft anzupassen, würde man Gesellschaft und Individuen zu den Qualen eines Prokrustesbettes verurteilen, das sie bald auseinanderreißen und erdrücken würde, da das Leben immer unendlich weiter ist als die Wissenschaft.

Der zweite Grund ist der: Eine Gesellschaft, die den von einer wissenschaftlichen Körperschaft gegebenen Gesetzen nicht deshalb gehorchen würde, weil sie selbst den vernünftigen Charakter dieser Gesetze begriff, in welchem Fall die Existenz der Körperschaft unnötig würde, sondern weil die Gesetzgebung dieser Körperschaft im Namen einer Wissenschaft auferlegt wird, die man verehren würde, ohne sie zu begreifen, – eine solche Gesellschaft wäre nicht eine Gesellschaft von Menschen, sondern von stummen Tieren. Sie wäre eine zweite Auflage der armen Republik Paraguay, die sich so lange von der Gesellschaft Jesu regieren ließ. Eine solche Gesellschaft würde bald auf die tiefste Stufe des Blödsinns herabsinken.

Ein dritter Grund noch macht eine solche Regierung unmöglich. Eine mit solcher sozusagen absoluten Herrschaftsgewalt bekleidete wissenschaftliche Körperschaft würde, auch wenn sie aus den erleuchtetsten Männern bestände, unfehlbar und bald selbst moralisch und geistig verdorben werden. Dies ist schon heute bei den wenigen ihnen überlassenen Vorrechten die Geschichte aller Akademien. Das größte wissenschaftliche Genie sinkt unvermeidlich und schläft ein, sobald es Akademiker, offizieller, patentierter Gelehrter wird. Es verliert seine Selbstbestimmung, seine revolutionäre Kühnheit und die unbequeme und wilde Tatkraft, die für das Wesen der größten Genies charakteristisch sind, die stets berufen sind, hinfällige Welten zu zerstören und die Grundlagen neuer Welten zu legen. Zweifellos gewinnt es an Höflichkeit, nützlicher und praktischer Weisheit, was es an Denkkraft verliert. Es wird, mit einem Wort, verdorben.

Vorrechte, jede bevorrechtete Stellung haben die Eigentümlichkeit, Geist und Herz der Menschen zu töten. Der politisch oder wirtschaftlich Bevorzugte ist geistig und moralisch minderwertig. Dieses soziale Gesetz kennt keine Ausnahme und paßt auf ganze Nationen wie auf Klassen, auf Körperschaften und auf Individuen. Es ist das Gesetz der Gleichheit, der höchsten Bedingung der Freiheit und Menschlichkeit. Der Hauptzweck dieses Buches ist, dasselbe zu entwickeln und seine Wahrheit in allen Äußerungen menschlichen Lebens zu zeigen.

Eine wissenschaftliche Körperschaft, welcher die Regierung der Gesellschaft anvertraut wäre, würde sich bald gar nicht mehr mit der Wissenschaft, sondern mit ganz anderen Dingen beschäftigen; sie würde, wie alle bestehenden Mächte, sich damit befassen, sich ewige Dauer zu verschaffen, indem sie die ihr anvertraute Gesellschaft immer dümmer und folglich ihrer Regierung und Leitung immer bedürftiger machen würde.

Was aber von wissenschaftlichen Akademien gilt, gilt in gleicher Weise von allen konstituierenden und gesetzgebenden Versammlungen, selbst den aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangenen. Letzteres mag zwar ihre Zusammensetzung erneuern, was aber nicht hindert, daß sich in wenigen Jahren eine Körperschaft von Politikern bildet, die tatsächlich, nicht rechtlich bevorrechtet sind und durch ihre ausschließliche Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten eines Landes eine Art politischer Aristokratie oder Oligarchie bilden. Ein Beispiel dafür sind die Vereinigten Staaten und die Schweiz.

Also keine Gesetzgebung von außen her und keine Autorität; beide sind voneinander unzertrennlich und führen zur Knechtung der Gesellschaft und zur Verdummung der Gesetzgeber selbst. Folgt heraus, daß ich jede Autorität verwerfe? Dieser Gedanke liegt mir fern. Wenn es sich um Stiefel handelt, wende ich mich an die Autorität des Schusters; handelt es sich um ein Haus, einen Kanal oder eine Eisenbahn, so befrage ich die Autorität des Architekten oder des Ingenieurs. Für irgendeine Spezialwissenschaft wende ich mich an diesen oder jenen Gelehrten. Aber weder der Schuster, noch der Architekt oder der Gelehrte dürfen mir ihre Autorität aufzwingen. Ich höre sie frei und mit aller ihrer Intelligenz, ihrem Charakter, ihrem Wissen gebührenden Achtung an, behalte mir aber mein unbestreitbares Recht der Kritik und der Nachprüfung vor. Ich begnüge mich nicht, eine einzige Spezialautorität zu befragen, ich befrage mehrere, vergleiche ihre Meinungen und wähle die, die mir die richtigste zu sein scheint. Aber ich erkenne keine unfehlbare Autorität an, selbst nicht in ganz speziellen Fragen; folglich, welche Achtung ich auch immer für die Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit einer Person habe, setze ich in niemanden unbedingten Glauben. Ein solcher Glaube wäre verhängnisvoll für meine Vernunft, meine Freiheit und den Erfolg meines Unternehmens, er würde mich sofort in einen dummen Sklaven und ein Werkzeug des Willens und der Interessen anderer verwandeln.

Wenn ich mich vor der Autorität von Spezialisten beuge und bereit bin, ihren Angaben und selbst ihrer Leitung in gewissem Grade und, solange es mir notwendig erscheint, zu folgen, tue ich das, weil diese Autorität mir von niemand aufgezwungen ist, nicht von den Menschen und nicht von Gott. Sonst würde ich sie mit Abscheu zurückweisen und ihre Ratschläge, ihre Leitung und ihre Wissenschaft zum Teufel jagen, in der Gewißheit, daß sie mich die Brocken menschlicher Wahrheit, die sie mir geben könnten, in viele Lügen eingehüllt, durch den Verlust meiner Freiheit und Würde bezahlen ließen.

Ich neige mich vor der Autorität von Spezialisten, weil sie mir von meiner eigenen Vernunft auferlegt wird. Ich bin mir bewußt, daß ich nur einen sehr kleinen Teil der menschlichen Wissenschaft in allen Einzelheiten und positiven Entwicklungen umfassen kann. Die größte Intelligenz genügt nicht, alles zu umfassen. Daraus folgt für die Wissenschaft wie für die Industrie die Notwendigkeit der Arbeitsteilung und Vereinigung. Ich empfange und ich gebe, so ist das menschliche Leben. Jeder ist abwechselnd leitende Autorität oder Geleiteter. Es gibt also keine stetige und feststehende Autorität, sondern einen beständigen Wechsel von gegenseitiger Autorität und Unterordnung, die vorübergehend und vor allem freiwillig ist.

Diese gleiche Ursache verbietet mir also, eine feste, beständige und allgemeine Autorität anzuerkennen, weil es keinen universellen Menschen gibt, der imstande wäre, mit jenem Reichtum an Einzelheiten, ohne den die Anwendung der Wissenschaft auf das Leben nicht möglich ist, alle Wissenschaften, alle Zweige des sozialen Lebens zu umfassen. Und wenn es möglich wäre, daß eine solche Universalität je in einem einzigen Mann verwirklicht würde, und wenn er sich derselben bedienen wollte, um uns seine Autorität aufzuzwingen, so müßte man diesen Mann aus der Gesellschaft jagen, weil seine Autorität unvermeidlich alle anderen zur Sklaverei und zum Schwachsinn herabdrücken würde. Ich meine nicht, daß die Gesellschaft Männer von Genie mißhandeln soll, wie sie es bis jetzt getan hat. Aber ich meine ebensowenig, daß sie sie zu fett machen, vor allem ihnen irgendwelche Vorrechte oder ausschließlichen Rechte einräumen soll, und dies aus drei Ursachen: erstens weil es ihr oft vorkommen würde, einen Marktschreier für einen Mann von Genie zu halten; dann weil sie durch dieses System von Vorrechten selbst ein wahres Genie in einen Quacksalber verwandeln, demoralisieren, dumm machen kann, und endlich, weil sie sich einen Despoten geben würde.

Ich fasse zusammen. Wir erkennen also die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, weil die Wissenschaft keinen anderen Gegenstand hat, als die sorgfältige und möglichst systematische Wiedergabe der im materiellen, geistigen und moralischen Leben der physischen und der sozialen Welt liegenden Naturgesetze; diese beiden Welten bilden tatsächlich nur ein und dieselbe natürliche Welt. Außerhalb dieser Autorität, der einzig rechtmäßigen, weil vernünftigen und der menschlichen Freiheit entsprechenden, erklären wir alle anderen Autoritäten für lügenhaft, willkürlich, despotisch und verhängnisvoll.

Wir erkennen die unbedingte Autorität der Wissenschaft an, aber wir weisen die Unfehlbarkeit und Universalität der Vertreter der Wissenschaft zurück. In unserer Kirche – man erlaube mir einen Augenblick, dieses Wort zu gebrauchen, das ich im übrigen verabscheue; beide, Kirche und Staat, sind mir unausstehlich [sont mes deux betes noires] –, in unserer Kirche wie in der protestantischen Kirche haben wir ein Oberhaupt, einen unsichtbaren Christus, die Wissenschaft, und wie die Protestanten, sogar konsequenter als die Protestanten, wollen wir in derselben weder Papst, noch Konzile, noch Versammlungen unfehlbarer Kardinale, noch Bischöfe und selbst keine Priester dulden. Unser Christus unterscheidet sich vom protestantischen und christlichen Christus darin, daß letzterer ein persönliches Wesen und unserer unpersönlich ist; der christliche Christus, der schon in einer ewigen Vergangenheit zur Vollendung gelangte, stellt sich als vollkommenes Wesen dar, während die Vollendung und Vervollkommnung unseres Christus, der Wissenschaft, immer in der Zukunft liegen, was soviel heißt, als daß sie nie zur Verwirklichung gelangen wird. Wenn wir nur die unbedingte Autorität der absoluten Wissenschaft anerkennen, setzen wir also in keiner Weise unsere Freiheit aufs Spiel.

Ich verstehe unter „absoluter Wissenschaft“ die wirklich universelle Wissenschaft, die das Universum, das System oder die Zuordnung aller sich in der beständigen Entwicklung der Welten äußernden Naturgesetze, in seiner ganzen Ausdehnung und all seinen unendlichen Einzelheiten ideal wiedergeben würde. Es ist klar, daß diese Wissenschaft, das erhabenste Ziel aller Anstrengungen des menschlichen Geistes, nie in absoluter Vollständigkeit verwirklicht werden wird. Unser Christus wird also ewig unvollendet bleiben, was den Stolz seiner bevorrechteten Vertreter unter uns bedeutend vermindern muß. Gegen diesen Sohn Gottes, in dessen Namen sie uns ihre unverschämte und pedantische Autorität aufzulegen die Anmaßung haben würden, werden wir uns auf Gott den Vater berufen, der die wirkliche Welt, das wirkliche Leben ist, von denen jener nur der nur allzu unvollkommene Ausdruck ist und deren unmittelbare Vertreter wir selbst sind – die lebenden Wesen, die wir leben, arbeiten, kämpfen, lieben, streben, genießen und leiden.

Aber während wir die unbedingte, universelle und unfehlbare Autorität der Männer der Wissenschaft zurückweisen, beugen wir uns gern vor der achtenswerten, aber relativen und sehr vorübergehenden, sehr beschränkten Autorität der Vertreter der Spezialwissenschaften und verlangen nichts Besseres, als sie zu befragen, wenn die Reihe an sie kommt, sehr dankbar für die wertvollen Fingerzeige, die sie uns geben, unter der Bedingung, daß sie selbst bereit sind, von uns gleiche Angaben anzunehmen über Dinge und in Fällen, in denen wir gelehrter sind als sie. Im allgemeinen ist es uns ganz erwünscht zu sehen, daß Männer von großem Wissen, großer Erfahrung, großem Geist und vor allem großen Herzens auf uns einen natürlichen, rechtmäßigen, frei angenommenen Einfluß ausüben, der nie im Namen irgendeiner offiziellen, himmlischen oder irdischen Autorität auferlegt wird. Wir nehmen alle natürlichen Autoritäten und Einflüsse an, die im Wesen der Sache, nicht aber im Recht liegen; denn jede im Recht liegende und daher offiziell auferlegte Autorität und jeder Einfluß dieser Art wird sofort Unterdrückung und Lüge und würde uns unfehlbar, wie ich hinreichend bewiesen zu haben glaube, Sklaverei und Unsinn aufzwingen.

Mit einem Wort, wir weisen alle privilegierte, patentierte, offizielle und legale Gesetzgebung, Autorität und Beeinflussung zurück, selbst wenn sie aus dem allgemeinen Stimmrecht hervorgegangen sind, in der Überzeugung, daß sie immer nur zum Nutzen einer herrschenden und ausbeutenden Minderheit gegen die Interessen der ungeheuren geknechteten Mehrheit sich wenden können. In diesem Sinne sind wir wirklich Anarchisten.

Die modernen Idealisten verstehen die Autorität in ganz anderem Sinn. Obgleich sie sich von dem überlieferten Aberglauben aller bestehenden positiven Religionen befreit haben, geben sie nichtsdestoweniger der Idee der Autorität einen göttlichen, absoluten Sinn. Diese Autorität ist nicht die einer wunderbar geoffenbarten Wahrheit, noch die einer streng wissenschaftlich bewiesenen Wahrheit. Sie begründen sie auf ein wenig scheinphilosophischer Beweisführung und auf viel unbestimmt religiösem Glauben, auf viel ideal, abstrakt poetischem Gefühl. Ihre Religion ist wie ein letzter Versuch der Vergöttlichung von allem, was die Menschlichkeit in den Menschen bildet. Dies ist das gerade Gegenteil unseres Werkes. Wir glauben, in Hinsicht auf Menschenfreiheit, Menschenwürde und Menschenwohl dem Himmel die von ihm der Erde geraubten Güter nehmen zu müssen, um sie der Erde zurückzugeben; jene aber bemühen sich, einen letzten religiös heroischen Diebstahl zu begehen, und möchten im Gegenteil dem Himmel, diesem heute entlarvten göttlichen Dieb, den die kühne Pietätlosigkeit und wissenschaftliche Analyse der Freidenker ihrerseits plündert, alles zurückgeben, was die Menschheit an Größtem, Schönstem und Edelstem besitzt.

Zweifellos glauben die Idealisten, daß menschliche Ideen und Dinge, um bei den Menschen größere Achtung zu genießen, mit göttlicher Weihe umgeben sein müssen. Wie äußert sich diese Weihe? Nicht durch ein Wunder, wie bei den positiven Religionen, sondern durch die Größe und Heiligkeit der Ideen und Dinge selbst: Was groß, schön, edel, gerecht ist, das gilt als göttlich. In diesem neuen religiösen Kult wird jeder sich an diesen Ideen, diesen Dingen Erleuchtende ein unmittelbar von Gott selbst geweihter Priester. Und der Beweis dafür? Die Größe der Ideen, die er ausdrückt, der Dinge, die er vollbringt, ist der Beweis; ein anderer ist nicht nötig. Sie sind so heilig, daß sie nur von Gott eingegeben sein können.

Dies ist in wenigen Worten ihre ganze Philosophie, eine Philosophie von Gefühlen, nicht von wirklichen Gedanken, eine Art metaphysischer Pietismus. Dies scheint unschuldig, ist es aber durchaus nicht, und die sehr genaue, enge und trockene Lehre, die sich unter dem unfaßbar Weiten dieser poetischen Formen versteckt, führt zu denselben verderblichen Ergebnissen wie alle positiven Religionen: zur vollständigsten Verneinung der Menschenfreiheit und Menschenwürde.

Wenn man alles, was man Großes, Edles, Schönes in der Menschheit findet, als göttlich preist, erkennt man damit an, daß die Menschheit allein nicht imstande gewesen wäre, es hervorzubringen; dies kommt auf dasselbe hinaus, wie wenn man sagte, daß sie, sich selbst überlassen, ihrer eigenen Natur nach elend, ungerecht, niedrig und häßlich ist. Dadurch kommen wir zum Kern jeder Religion, der Herabsetzung der Menschheit zum größeren Ruhm der Gottheit. Und sobald man die natürliche Minderwertigkeit des Menschen und seine fundamentale Unfähigkeit, sich aus sich selbst heraus, außerhalb aller göttlichen Erleuchtung, zu gerechten und wahren Ideen zu erheben, zugibt, wird es nötig, auch alle theologischen, politischen und sozialen Folgerungen der positiven Religionen zuzugeben. Sobald Gott, das vollkommene und höchste Wesen, sich der Menschheit gegenüberstellt, entstehen von überall göttliche Vermittler, Auserwählte, von Gott Erleuchtete, um das Menschengeschlecht in seinem Namen zu leiten und zu regieren.

Kann man nicht annehmen, daß alle Menschen in gleicher Weise von Gott erleuchtet sind? Dann brauchte man allerdings keine Vermittler. Aber diese Annahme ist unmöglich, weil ihr die Tatsachen zu sehr widersprechen. Man müßte dann der göttlichen Erleuchtung alle Sinnlosigkeiten und Irrtümer, alle Greuel, Schändlichkeiten, Erbärmlichkeiten und Dummheiten, die in der Welt der Menschen vorkommen, zuschreiben. Es gibt also auf der Welt nur wenige göttlich erleuchtete Menschen. Dies sind die großen Männer der Geschichte, die tugendhaften Genies, wie der ausgezeichnete italienische Bürger und Prophet Giuseppe Mazzini sagt. Unmittelbar von Gott selbst erleuchtet und auf allgemeine, durch das Volksstimmrecht ausgedrückte Zustimmung gestützt – Dio e Popolo –, sind sie berufen, die menschlichen Gesellschaften zu regieren. [4]

Damit sind wir wieder bei der Kirche und dem Staat angelangt. Zwar würde die Kirche in dieser neuen Organisation nicht mehr Kirche, sondern Schule heißen, die, wie alle alten politischen Organisationen, von Gottes Gnaden sein würde, sich aber diesmal, wenigstens der Form nach, als notwendiges Zugeständnis an den modernen Geist und wie in den Einleitungen der kaiserlichen Dekrete Napoleons III. gesagt wird, auf den (fiktiven) Willen des Volkes stützen würde. Aber auf den Bänken dieser Schule würden nicht nur die Kinder sitzen: Dort säße der ewig Unmündige, der Schüler, der für immer als unfähig gilt, seine Prüfungen zu machen, die Kenntnisse seiner Lehrer zu erwerben und ihrer Zucht zu entwachsen, das Volk. [5] Der Staat wird nicht mehr Monarchie heißen, sondern Republik, wird aber nichtsdestoweniger der Staat sein, das heißt eine offiziell und regelrecht von einer Minderheit zuständiger Männer, von tugendhaften Männern von Genie oder Talent, errichtete Vormundschaft zur Überwachung und Leitung des Betragens dieses großen, unverbesserlichen Schreckenskindes, des Volkes. Die Schullehrer und Staatsbeamten werden sich Republikaner nennen, aber nichtsdestoweniger Vormünder, Hirten sein, und das Volk wird das bleiben, was es bis jetzt gewesen ist, eine Herde. Achtung also vor den Scherern, denn wo es eine Herde gibt, gibt es auch Scherer und Ausbeuter der Herde.

In diesem System wird das Volk ewig Schüler und Mündel sein. Trotz seiner Herrschaftsgewalt, die ganz fiktiv ist, wird es das Werkzeug von Gedanken, Willen und folglich auch von Interessen sein, die nicht seine eigenen sein werden. Zwischen dieser Lage und der, die wir Freiheit, die einzige wahre Freiheit nennen, liegt ein Abgrund. Es würde unter neuen Formen die alte Unterdrückung und Knechtschaft sein, und wo Knechtschaft ist, ist Elend, Vertierung, die eigentliche Materialisierung der Gesellschaft, sowohl der bevorzugten Klassen wie der Massen. Durch Vergöttlichung menschlicher Dinge kommen die Idealisten stets zum Triumph eines niedrigen Materialismus. Und das aus einem sehr einfachen Grunde: Das Göttliche verflüchtigt sich und erhebt sich zu seiner Heimat, dem Himmel, und das Niedrige bleibt allein wirklich auf der Erde.

Jawohl, der theoretische Idealismus hat den niedrigsten Materialismus in der Praxis zur notwendigen Folge, nicht für die, die ihn guten Glaubens predigen – für diese ist die Unfruchtbarkeit all ihrer Bemühungen das gewöhnliche Ergebnis –, aber für die, die ihre Lehren im Leben für die ganze Gesellschaft zu verwirklichen sich bemühen, solange sich diese von den idealistischen Lehren beherrschen läßt. Es fehlt nicht an geschichtlichen Beweisen für diese allgemeine Tatsache, die zuerst sonderbar erscheinen mag, die sich aber natürlich erklärt, sobald man sie näher betrachtet.

Man vergleiche die beiden letzten Kulturen der antiken Welt, die griechische und die römische. Welche von beiden ist die materialistischere, in ihrem Ausgangspunkt natürlichere und menschlich idealere? Die griechische Kultur. Welche dagegen ist die an ihrem Ausgangspunkt abstrakt idealere, die die materielle Freiheit des Menschen der idealen Freiheit des Bürgers opfert, vertreten durch die Abstraktion des juristischen Rechts und die natürliche Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zur Abstraktion des Staates, und welche ist die in ihren Konsequenzen brutalere? Ohne Zweifel die römische. Die griechische Kultur war zwar, wie alle antiken Kulturen, die römische inbegriffen, ausschließlich national und hatte die Sklaverei zur Grundlage. Aber trotz dieser beiden ungeheuren historischen Fehler faßte und verwirklichte sie nichtsdestoweniger als erste die Idee der Menschheit; sie veredelte und idealisierte wirklich das Leben der Menschen; sie verwandelte die Menschenherden in Vereinigungen freier Menschen; sie schuf die Wissenschaften, Künste, eine unsterbliche Dichtkunst und Philosophie und die ersten Begriffe der Menschenachtung durch die Freiheit. Mit der politischen und sozialen Freiheit schuf sie das freie Denken. Und am Ende des Mittelalters, zur Zeit der Renaissance, genügte es, daß einige griechische Emigranten einige ihrer unsterblichen Bücher nach Italien brachten, um das Leben, die Freiheit, das Denken, die Menschheit, die in dem finsteren Kerker des Katholizismus vergraben waren, zur Wiedererstehung zu bringen. Die menschliche Befreiung, das ist der Name der griechischen Kultur. Und der Name der römischen Kultur? Eroberung mit all ihren brutalen Folgen. Und ihr letztes Wort? Die Allmacht der Cäsaren. Das ist die Herabwürdigung und Sklaverei der Nationen und Menschen.

Und was tötet und erdrückt noch heutzutage brutal, materiell in allen Ländern Europas die Freiheit und Menschlichkeit? Der Triumph des zäsarischen oder römischen Prinzips. Vergleichen wir jetzt zwei moderne Kulturen: die italienische und die deutsche. Die erstere vertritt zweifellos in ihrem allgemeinen Charakter den Materialismus, die letztere im Gegenteil das Abstrakteste, Reinste, Übersinnlichste, was es an Idealismus gibt. Was sind die praktischen Früchte beider? 

Italien leistete der Sache der menschlichen Befreiung schon ungeheure Dienste. Es war das erste Land, welches wieder aufstand und in weitem Sinn das Prinzip der Freiheit in Europa durchführte und der Menschheit ihre Adelstitel wiedergab: Industrie, Handel, Dichtkunst, Künste, positive Wissenschaften und freies Denken. Seitdem wurde es durch drei Jahrhunderte vom kaiserlichen und päpstlichen Despotismus erdrückt und von seiner herrschenden Bourgeoisie in den Kot gezogen, so daß es heute allerdings sehr verfallen erscheint im Vergleich zu dem, was es war. Und doch, welcher Unterschied, wenn man es mit Deutschland vergleicht! Trotz diesem, wie wir hoffen, vorübergehenden Verfall kann man in Italien menschlich und frei leben und atmen, von einem Volk umgeben, das für die Freiheit geboren zu sein scheint. Selbst das bourgeoise Italien kann mit Stolz auf Männer wie Mazzini und Garibaldi weisen. In Deutschland atmet man die Luft ungeheurer politischer und sozialer Knechtschaft, die ein großes Volk mit wohlbedachter Ergebung und gutem Willen philosophisch erklärt und annimmt. Seine Helden – ich spreche von denen des gegenwärtigen, nicht des künftigen Deutschland, des adligen, bürokratischen, politischen und bourgeoisen, nicht des proletarischen Deutschland – sind ganz das Gegenteil von Mazzini und Garibaldi: Es sind heute Wilhelm I., der rohe und naive Vertreter des protestantischen Gottes, und die Herren von Bismarck und Moltke, die Generale Manteuffel und Werder. In all seinen internationalen Beziehungen war Deutschland, seit es besteht, langsam, systematisch eindringend, erobernd, immer bereit, seine eigene freiwillige Knechtschaft auf die benachbarten Völker auszudehnen; seit es sich als einheitliche Macht bildete, wurde es eine Drohung, eine Gefahr für die Freiheit von ganz Europa. Der Name Deutschland bedeutet heute brutalen und triumphierenden Sklavensinn.

Um zu zeigen, wie sich der theoretische Idealismus sofort und unvermeidlich in praktischen Materialismus verwandelt, braucht man nur das Beispiel aller christlichen Kirchen und natürlich, vor allem, das der römisch-apostolischen Kirche anzuführen. Was gibt es Erhabeneres, im idealen Sinn Uneigennützigeres, von allen irdischen Interessen Losgelösteres als die von dieser Kirche gepredigte Lehre Christi – und was gibt es brutal Materialistischeres als die beständige Praxis derselben Kirche seit dem 8. Jahrhundert, seitdem sie sich als Macht zu bilden begann? Was war und ist wohl der Hauptgegenstand all ihrer Streitigkeiten mit den Herrschern Europas? Die weltlichen Güter, die Einkünfte der Kirche zunächst und dann die weltliche Macht, die politischen Vorrechte der Kirche. Man muß ihr die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß sie zuerst in der modernen Geschichte die unbestreitbare, aber sehr wenig christliche Wahrheit entdeckte, daß Reichtum und Macht, wirtschaftliche Ausbeutung und politische Unterdrückung der Massen der untrennbare Ausdruck des Reichs der göttlichen Idealität auf der Erde sind: Der Reichtum befestigt und vermehrt die Macht, die Macht entdeckt und schafft immer neue Reichtumsquellen, und beide sichern besser als Martyrium und Glaube der Apostel, besser als die göttliche Gnade den Erfolg der christlichen Lehre. Diese geschichtliche Wahrheit verkennen auch die protestantischen Kirchen nicht. Ich spreche natürlich von den unabhängigen Kirchen von England, Amerika und der Schweiz, nicht von den unterjochten Kirchen Deutschlands. Letztere haben keine eigene Initiative; sie tun, was ihre Herren, ihre weltlichen Herrscher, die gleichzeitig ihre geistlichen Oberhäupter sind, ihnen zu tun befehlen. Es ist bekannt, daß die protestantische Propaganda, die Englands und Amerikas besonders, sich sehr eng an die Propaganda der materiellen, der Handelsinteressen dieser beiden großen Nationen anschließt; es ist auch bekannt, daß letztere Propaganda durchaus nicht die Bereicherung und den materiellen Wohlstand der Länder, in die sie in Gesellschaft von Gottes Wort eindringt, zum Gegenstand hat, sondern die Ausbeutung dieser Länder zur wachsenden Bereicherung und wirtschaftlichem Wohlstand gewisser ausbeutender und gleichzeitig sehr frommer Klassen des eigenen Landes.

Mit einem Wort, es ist durchaus nicht schwer, anhand der Geschichte zu beweisen, daß die Kirche, daß alle christlichen und nichtchristlichen Kirchen neben ihrer überirdischen Lehre, wahrscheinlich zur Beschleunigung und Erhöhung des Erfolgs derselben, niemals unterließen, sich zu großen Gesellschaften zu organisieren zur wirtschaftlichen Ausbeutung der Massen, der Arbeit der Massen, unter dem Schutz und mit dem unmittelbaren und besonderen Segen irgendeiner Gottheit; daß alle Staaten, die bekanntlich an ihrem Ursprung mit all ihren politischen und juristischen Einrichtungen und herrschenden und bevorzugten Klassen nichts anderes waren als weltliche Nebenstellen dieser verschiedenen Kirchen, gleicherweise als Hauptgegenstand dieselbe mittelbar von der Kirche gerechtfertigte Ausbeutung zum Nutzen weltlicher Minderheiten haben; und daß im allgemeinen die Tätigkeit des Herrgotts und aller göttlichen Idealitäten auf der Erde immer und überall schließlich zur Begründung des einer kleinen Zahl wohlbekommenden Materialismus auf dem fanatischen und beständig dem Hunger ausgesetzten Idealismus der Massen führte. Was wir heute sehen, ist ein neuer Beweis dafür. Wer sind heute, abgesehen von den oben erwähnten, in die Irre gehenden großen Herzen und Geistern, die erbittertsten Verteidiger des Idealismus? Zunächst alle fürstlichen Höfe. In Frankreich waren es Napoleon III. und seine Frau, Madame Eugenie; ihre Exminister, Höflinge und Exmarschälle, von Rouher und Bazaine bis Fleury und Pietri, die Männer und Frauen dieser kaiserlichen Welt, die Frankreich so gut idealisiert und gerettet haben; ihre Journalisten und Gelehrten, die Cassagnac, Girardin, Duvernois, Veuillot, Le Verrier, Dumas, dann die schwarze Phalanx der Jesuiten und Jesuitinnen jeder Kleidung; der ganze Adel und die ganze obere und mittlere Bourgeoisie Frankreichs; liberale Doktrinäre und Liberale ohne Doktrin: die Guizot, Thiers, Jules Favre, Pelletan und Jules Simon, alles verbissene Verteidiger der bourgeoisen Ausbeutung. In Preußen, in Deutschland ist es Wilhelm L, der wahre gegenwärtige Vertreter des Herrgotts auf Erden, all seine Generäle, alle seine pommerischen und anderen Offiziere, seine ganze Armee, die, auf ihren religiösen Glauben gestützt, soeben Frankreich auf die bekannte ideale Art erobert hat. In Rußland ist es der Zar und sein ganzer Hof, sind es die Murawjow und Berg, alle Würger und frommen Bekehrer Polens. Mit einem Wort, überall dient heute der religiöse oder philosophische Idealismus – letzterer ist nur die mehr oder weniger freie Übertragung des ersteren – der materiellen, blutigen und brutalen Gewalt, der schamlosen materiellen Ausbeutung als Fahne; die Fahne des theoretischen Materialismus, die rote Fahne der wirtschaftlichen Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit wird dagegen erhoben von dem praktischen Idealismus der unterdrückten und hungernden Massen, der die größte Freiheit und das menschliche Recht jedes einzelnen in der Brüderlichkeit aller Menschen der Erde zu verwirklichen sucht.

Wer sind die wahren Idealisten, die Idealisten nicht der Abstraktion, sondern des Lebens, nicht des Himmels, sondern der Erde, und wer sind die Materialisten? Es ist augenscheinlich, daß die Hauptbedingung des theoretischen oder göttlichen Idealismus die Opferung der Logik, der menschlichen Vernunft, der Verzicht auf die Wissenschaft ist. Man sieht andererseits, daß man durch die Verteidigung der idealistischen Lehren unbedingt zur Partei der Unterdrücker und Ausbeuter der Volksmassen hingezogen wird. Diese beiden großen Ursachen sollten, scheint es, genügen, jeden großen Geist, jedes große Herz vom Idealismus zu entfernen. Wie kommt es, daß unsere ausgezeichneten zeitgenössischen Idealisten, denen gewiß weder Geist, noch Herz, noch guter Wille fehlen und die ihr ganzes Dasein dem Dienst der Menschheit geweiht haben, – wie kommt es, daß diese darauf bestehen, in den Reihen der Vertreter einer hinfort verurteilten und entehrten Lehre zu verharren?

Ein sehr triftiger Grund muß sie hierzu treiben. Dies kann weder die Logik noch die Wissenschaft sein, da diese beide ihre Entscheidung gegen die idealistische Lehre abgegeben haben. Ebensowenig können es persönliche Interessen sein, da diese Männer über alles derartige unendlich erhaben sind. Es muß also ein mächtiger moralischer Beweggrund sein. Welcher? Es gibt nur einen einzigen: Diese ausgezeichneten Männer denken ohne Zweifel, daß die idealistischen Theorien oder der idealistische Glaube zur Würde und moralischen Größe des Menschen wesentlich notwendig sind und daß die materialistischen Lehren ihn im Gegensatz dazu auf die Stufe der Tiere herunterbringen würden.

Und wenn gerade das Gegenteil hiervon wahr wäre? Jede Entwicklung, sagte ich, schließt die Verneinung des Ausgangspunktes ein. Da nach der materialistischen Schule der Ausgangspunkt materiell sein muß, muß seine Verneinung notwendigerweise ideal sein. Von der Gesamtheit der wirklichen Welt oder von dem, das man abstrakt die Materie nennt, ausgehend, gelangt sie logisch zur wirklichen Idealisierung, das heißt zur Humanisierung, zur vollen und ganzen Befreiung der Gesellschaft. Da im Gegensatz dazu und aus dem gleichen Grunde der Ausgangspunkt der idealen Schule ideal ist, gelangt sie notwendigerweise zur Materialisierung der Gesellschaft, zur Organisation eines brutalen Despotismus und einer harten und schändlichen Ausbeutung unter der Form der Kirche und des Staates. Die geschichtliche Entwicklung des Menschen ist nach der materialistischen Schule ein fortschreitender Aufstieg; nach dem idealistischen System kann sie nur ein beständiges Fallen sein.

Bei jeder menschlichen Frage, die man in Betracht zieht, findet man stets denselben wesentlichen Gegensatz zwischen den beiden Schulen. So geht, wie ich schon bemerkte, der Materialismus von der tierischen Stufe aus, um die Menschheit zu bilden; der Idealismus geht von der Gottheit aus, um die Sklaverei zu errichten und die Massen zu aussichtsloser Vertierung zu verurteilen. Der Materialismus leugnet den freien Willen und führt zur Einführung der Freiheit; der Idealismus verkündet den freien Willen im Namen der Menschenwürde und gründet die Autorität auf den Ruinen aller Freiheit. Der Materialismus weist das Autoritätsprinzip zurück, weil er es mit gutem Grund als Zugabe zur tierischen Natur betrachtet und weil nach ihm der Sieg der Menschlichkeit, der in seinen Augen Hauptziel und -bedeutung der Geschichte ist, nur durch die Freiheit verwirklicht werden kann. Mit einem Wort, bei jeder Frage wird man die Idealisten stets bei unbedingtem praktischen Materialismus treffen, während man die Materialisten die höchsten idealen Ziele und Gedanken verfolgen und verwirklichen sieht.

Die Geschichte, sagte ich, kann im System der Idealisten nur ein beständiges Fallen sein. Sie beginnen mit einem schrecklichen Fall, von dem sie sich nie wieder erholen: mit dem göttlichen Salto mortale aus den erhabenen Regionen der reinen, absoluten Idee zur Materie: nicht zu der stets tätigen und bewegten Materie voll Eigenschaften und Kräften, Leben und Intelligenz, wie sie uns in der wirklichen Welt erscheint, sondern zur abstrakten, verarmten Materie, die ins absolute Elend gebracht wird durch die regelrechte Plünderung jener Preußen des Denkens, der Theologen und Metaphysiker, die ihr alles raubten, um es ihrem Kaiser, ihrem Gott zu geben; zu jener Materie, die, aller Eigenschaften, aller eigenen Tätigkeit und Bewegung beraubt, nur mehr – im Gegensatz zur Gottesidee – absolute Dummheit, Undurchdringlichkeit, Untätigkeit und Unbeweglichkeit darstellt.

Der Fall ist so schrecklich, daß die Gottheit, die göttliche Person oder Idee, sich breitschlägt, ihr Eigenbewußtsein verliert und sich nie wiederfindet. Und in dieser verzweifelten Lage ist sie noch gezwungen, Wunder zu üben! Denn sobald die Materie untätig ist, ist jede Bewegung, selbst die materiellste, ein Wunder und kann nur die Wirkung einer göttlichen Dazwischenkunft, von Gottes Einwirkung auf die Materie, sein. Und so bleibt denn diese arme Gottheit, durch ihren Fall heruntergekommen und fast vernichtet, einige hundert Jahrtausende in diesem Ohnmachtszustand, dann erwacht sie langsam, sucht stets vergeblich eine unbestimmte Erinnerung von sich selbst zu gewinnen, und jede Bewegung, die sie im Hinblick auf dieses Ziel in der Materie macht, wird eine neue Schöpfung, eine neue Bildung, ein neues Wunder. Auf diese Weise durchschreitet sie alle Grade der Materialität und Bestialität; zuerst ein Gas, ein einfacher und zusammengesetzter chemischer Körper, ein Mineral, verbreitet sie sich dann auf der Erde als pflanzlicher und tierischer Organismus und konzentriert sich dann im Menschen. Hier scheint sie bestimmt, sich wiederzufinden, denn sie zündet in jedem menschlichen Wesen einen Engelsfunken an, ein Teilchen ihres eigenen göttlichen Wesens, die unsterbliche Seele.

Wie konnte sie eine absolut unkörperliche Sache in etwas absolut Materiellem unterbringen? Wie kann der Körper den reinen Geist enthalten, einschließen, begrenzen, binden? Dies ist wieder eine jener Fragen, die allein der Glaube, diese leidenschaftliche und dumme Behauptung des Unsinnigen, lösen kann. Es ist das größte aller Wunder. Hier haben wir nur die Wirkungen und praktischen Folgen dieses Wunders festzustellen. Nach Hunderten von Jahrtausenden vergeblicher Bemühungen, zu sich zu kommen, findet die verlorene, in der von ihr belebten und in Bewegung gesetzten Materie verbreitete Gottheit einen Stützpunkt, eine Art Heim, um sich zu sammeln. Dies ist der Mensch, dies ist seine unsterbliche Seele, die eigentümlicherweise in einen sterblichen Körper gesperrt ist. Aber jeder Mensch, für sich genommen, ist viel zu beschränkt, zu klein, um die göttliche Unendlichkeit zu umschließen; er kann nur einen sehr kleinen Teil derselben enthalten, der, unsterblich wie das Ganze, aber unendlich viel kleiner als das Ganze ist. Daraus ergibt sich, daß das göttliche Wesen, das absolut unkörperliche Wesen, der Geist, teilbar ist wie die Materie. Dies ist ein weiteres Geheimnis, dessen Lösung dem Glauben überlassen werden muß.

Wenn sich Gott ganz in jedem Menschen unterbringen könnte, dann wäre jeder Mensch Gott. Wir hätten eine ungeheure Anzahl von Göttern, von denen jeder von allen anderen beschränkt und doch unendlich wäre, ein Widerspruch, der die gegenseitige Vernichtung der Menschen bedeuten würde und die Unmöglichkeit, daß mehr als ein Mensch da wäre. Was die Teile betrifft, ist dies eine andere Sache: Nichts ist tatsächlich der Vernunft entsprechender, als daß ein Teil von einem anderen Teil begrenzt und kleiner als das Ganze sei. Nur zeigt sich hier mehr oder weniger ein anderer Widerspruch. Begrenzt zu sein ist eine Eigenschaft der Materie, nicht des Geistes; des Geistes hier im Sinn der Materialisten, da der Geist für die Materialisten nur die Äußerung des ganz materiellen Organismus des Menschen ist; in diesem Fall hängt Größe oder Kleinheit des Geistes ganz von der mehr oder weniger großen materiellen Vollendung des menschlichen Organismus ab. Aber diese Eigenschaften der Begrenzung und relativen Größe können dem Geist, wie ihn die Idealisten verstehen, nicht angehören, dem absolut unkörperlichen, außerhalb jeder Materie existierenden Geist. Da kann es nichts Größeres und Kleineres, keine Grenze zwischen den Geistern geben, denn es gibt nur einen Geist: Gott. Nimmt man noch dazu, daß die unendlich kleinen und beschränkten Teilchen, die die menschlichen Seelen bilden, gleichzeitig unsterblich sind, so erreicht man den Gipfel der Widersprüche. Aber das ist eine Frage des Glaubens; gehen wir weiter.

So also ist die Gottheit zerrissen und in unendlich kleinen Teilen in einer ungeheuren Anzahl von Wesen jeden Geschlechts, jeden Alters, aller Rassen und Farben untergebracht. Dies ist eine für sie außerordentlich unbequeme und unglückliche Lage; denn die göttlichen Teilchen kennen sich zu Beginn ihrer menschlichen Existenz so wenig untereinander, daß sie beginnen, sich gegenseitig aufzufressen. Jedoch bewahren die göttlichen Teilchen, die Menschenseelen, in diesem Zustand ganz und gar tierischer Barbarei und Brutalität eine gewisse unbestimmte Erinnerung an ihre ursprüngliche Göttlichkeit: Sie werden unaufhaltsam nach ihrem Ganzen zu angezogen; sie suchen sich und suchen das Ganze. Die Gottheit selbst, in der materiellen Welt verbreitet und verloren, sucht sich in den Menschen, und sie ist derart durch diese Menge menschlicher Gefängnisse, in denen sie zerstreut ist, verwirrt, daß sie bei diesem Suchen eine Menge Dummheiten macht.

Mildem Fetischismus beginnend, sucht sie sich selbst und betet sich an bald in einem Stein, bald in einem Stück Holz oder einem Stück Tuch. Wahrscheinlich sogar hätte sie sich nie aus dem Tuchfetzen erhoben, wenn die andere Gottheit, die nicht in die Materie fiel und im Zustand reinen Geistes in den erhabenen Höhen des absoluten Ideals oder in den himmlischen Regionen blieb, nicht mir ihr Mitleid gehabt hätte.

Hier liegt ein neues Geheimnis, das der in zwei Hälften gespaltenen Gottheit, welche Hälften aber jede ein Ganzes und jede unendlich sind und von denen die eine – Gott der Vater – sich in den reinen, immateriellen Regionen erhält, während die andere – Gott der Sohn – sich in die Materie fallen ließ. Wir werden gleich sehen, wie zwischen diesen beiden voneinander getrennten Gottheiten beständige Beziehungen von oben nach unten und von unten nach oben entstehen und wie diese Beziehungen, als ein einziger ewiger und beständiger Akt gedacht, den heiligen Geist bilden. Dies ist, in seinem wahren theologischen und metaphysischen Sinn, das große, das schreckliche Geheimnis der christlichen Dreieinigkeit.

Aber verlassen wir so schnell als möglich diese Höhen und sehen wir, was auf der Erde vorgeht. Gott der Vater sah von der Höhe seines ewigen Glanzes, daß der arme Sohn Gottes, von seinem Fall flachgequetscht und verwirrt, sich derart in die Materie tauchte und in ihr verlor, daß er, selbst nachdem er den menschlichen Zustand erreicht, sich nicht wiederfand, und er entschloß sich endlich, ihm zu helfen. Aus der ungeheuren Zahl gleichzeitig unsterblicher, göttlicher und unendlich kleiner Teilchen, in die Gott der Sohn sich zerstreute, so daß er sich in ihnen nicht mehr zurechtfand, wählte Gott der Vater die ihm am meisten gefallenden aus und machte daraus seine Erleuchteten, seine Propheten, seine „tugendhaften Genies“, die großen Wohltäter und Gesetzgeber der Menschheit: Zarathustra, Buddha, Moses, Konfuzius, Lykurg, Solon, Sokrates, den göttlichen Plato und vor allem Jesus Christus, die vollständige Verwirklichung des endlich in eine einzige menschliche Person gesammelten und konzentrierten Gottessohnes; alle Apostel, Petrus, Paulus und vor allem Johannes; Konstantin den Großen, Mohammed, dann Karl den Großen, Gregor VII., Dante, nach einigen auch Luther, Voltaire und Rousseau, Robespierre und Danton und viele andere große und heilige geschichtliche Persönlichkeiten, deren Namen ich nicht alle anführen kann, aber unter denen ich als Russe den heiligen Nikolaus nicht zu vergessen bitte.

So sind wir also bei dem Erscheinen Gottes auf der Erde angelangt. Aber sobald Gott erscheint, wird der Mensch zu nichts. Man wird einwenden, daß er durchaus nicht zu nichts wird, da er selbst ein Teil Gottes ist. Verzeihung! Ich gebe zu, daß ein Teilchen, ein Teil eines bestimmten, beschränkten Ganzen, wie klein es auch sei, eine Quantität, eine positive Größe ist. Aber ein Teilchen, ein Teil des unendlich Großen ist, mit demselben verglichen, notwendigerweise unendlich klein. Das Produkt von Milliarden, mit Milliarden von Milliarden multipliziert, wird dem unendlich Großen gegenüber unendlich klein sein, und das unendlich Kleine ist gleich null. Gott ist alles, also sind der Mensch und die ganze wirkliche Welt, das Universum, mit ihm nichts. Da gibt es keinen Ausweg.

Gott erscheint, der Mensch wird zu nichts, und je größer die Gottheit wird, desto elender wird die Menschheit. Das ist die Geschichte aller Religionen, die Wirkung aller Erleuchtungen und göttlichen Gesetzgebungen. In der Geschichte ist der Name Gottes die schreckliche historische Keule, mit der alle göttlich erleuchteten Männer, die großen „tugendhaften Genies“, die Freiheit, Würde, Vernunft und das Wohl der Menschen niederschlagen. Zuerst sahen wir den Fall Gottes. Jetzt sehen wir einen Fall, der uns mehr interessiert, den des Menschen, durch das einfache Erscheinen oder die Offenbarung Gottes auf Erden.

In welch tiefem Irrtum befinden sich unsere lieben und ausgezeichneten Idealisten! Wenn sie zu uns von Gott sprechen, glauben sie, uns zu erheben, zu befreien, zu veredeln, und wollen dies, und statt dessen würdigen sie uns herab und erdrücken uns. Sie bilden sich ein, mit dem Namen Gottes unter den Menschen Brüderlichkeit einführen zu können, und schaffen im Gegenteil Stolz und Verachtung; sie sähen Zwietracht, Haß und Krieg und errichten Knechtschaft. Denn mit Gott kommen notwendigerweise die verschiedenen Grade göttlicher Erleuchtung; die Menschheit zerfällt in sehr Erleuchtete, in minder Erleuchtete und in gar nicht Erleuchtete. Zwar sind alle gleich nichtig vor Gott, aber untereinander verglichen sind die einen größer als die anderen, nicht nur in Wirklichkeit, was nichts bedeuten würde, da eine tatsächliche Ungleichheit von selbst in der Menge verloren geht, wenn sie nichts, keine Fiktion oder gesetzliche Einrichtung findet, an die sie sich anklammern kann; nein, die einen sind größer als die anderen durch das göttliche Recht der Erleuchtung, wodurch sofort eine feste, beständige, erstarrende Ungleichheit entsteht. Die mehr Erleuchteten müssen von den weniger Erleuchteten gehört und ihnen muß gehorcht werden, ebenso den weniger Erleuchteten von den gar nicht Erleuchteten. So ist das Prinzip der Autorität fest aufgestellt, und mit ihm die beiden grundlegenden Einrichtungen der Knechtschaft: die Kirche und der Staat.

Von allen Despotismen ist der der Doktrinäre oder religiösen Erleuchteten der ärgste. Sie sind so eifersüchtig auf den Ruhm ihres Gottes und den Triumph ihrer Idee, daß ihnen kein Herz bleibt für die Freiheit, die Würde, nicht einmal für die Leiden der lebenden wirklichen Menschen. Der göttliche Eifer, die ausschließliche Sorge um die Idee trocknen in den zartesten Seelen, den mitfühlendsten Herzen die Quellen der Menschenliebe aus. Sie sehen alles, was ist, was in der Welt geschieht, vom Standpunkt der Ewigkeit oder der abstrakten Idee an; sie behandeln vergängliche Dinge mit Verachtung; aber das ganze Leben wirklicher Menschen, der Menschen von Fleisch und Blut, besteht nur aus vergänglichen Dingen; sie selbst sind vorübergehende Wesen, die nach ihrem Vergehen von anderen, ebenso vergänglichen ersetzt werden, die aber nie selbst wiederkommen. Von Bleibendem oder relativ Ewigem gibt es bei den Menschen die Tatsache der Menschheit selbst, die in beständiger Entwicklung, immer reicher, von einer Generation zur anderen übergeht. Ich sage relativ ewig, weil nach der Zerstörung unseres Planeten – und diese Zerstörung muß früher oder später eintreten, da alles, was einen Anfang hat, notwendigerweise auch ein Ende haben muß –, weil nach Zerstörung unseres Planeten, der ohne Zweifel irgend einer neuen Bildung im Weltsystem, das allein wirklich ewig ist, als Element dienen wird, niemand weiß, was aus unserer ganzen menschlichen Entwicklung wird. Da aber der Zeitpunkt dieser Auflösung unendlich weit von uns entfernt ist, können wir die Menschheit, im Vergleich mit dem so kurzen menschlichen Leben, ganz gut als ewig betrachten. Aber diese Tatsache der fortschreitenden Menschheit selbst ist nur wirklich und lebendig durch ihre Erscheinung und Verwirklichung zu bestimmter Zeit, an bestimmten Orten, in wirklich lebenden Menschen, und nicht in ihrer allgemeinen Idee.

Die allgemeine Idee ist immer eine Abstraktion und schon dadurch in gewissem Grade eine Verneinung des wirklichen Lebens. Ich stellte im Anhang als Eigenschaft des menschlichen Gedankens und folglich auch der Wissenschaft fest, daß sie von den wirklichen Tatsachen nur ihren allgemeinen Sinn, ihre allgemeinen Beziehungen, ihre allgemeinen Gesetze erfassen und benennen kann, mit einem Wort das in ihren beständigen Verwandlungen Bleibende wie ihre materielle, individuelle Seite, die sozusagen von Wirklichkeit und Leben vibriert, aber gerade dadurch flüchtig und unfaßbar ist. Die Wissenschaft versteht den Gedanken der Wirklichkeit, nicht die Wirklichkeit selbst, den Gedanken des Lebens, nicht das Leben. Hier liegt ihre Grenze, die einzige für sie wirklich unüberschreitbare Grenze, die eben in der Natur des menschlichen Gedankens selbst, des einzigen Organs der Wissenschaft begründet ist.

Auf diese natürliche Beschaffenheit gründen sich die unbestreitbaren Rechte und die große Aufgabe der Wissenschaft, aber auch ihre tiefe Ohnmacht und selbst ihre schädliche Wirkung, sobald sie durch ihre offiziellen, patentierten Vertreter sich das Recht anmaßt, das Leben zu beherrschen. Die Aufgabe der Wissenschaft ist folgende: Durch Feststellung der allgemeinen Beziehungen der vorübergehenden und wirklichen Dinge, durch Erkennen der der Entwicklung der Erscheinungen der physischen und sozialen Welt eigenen allgemeinen Gesetze stellt sie sozusagen unveränderliche Markzeichen des Vormarsches der Menschheit auf, indem sie den Menschen die allgemeinen Bedingungen zeigt, deren strenge Beobachtung notwendig und deren Unkenntnis oder Vergessen verhängnisvoll sind. Mit einem Wort, die Wissenschaft ist der Kompaß des Lebens, aber sie ist nicht das Leben. Sie ist unabänderlich, unpersönlich, allgemein, abstrakt, gefühllos wie die Gesetze, deren ideale, gedachte, das heißt im Gehirn existierende Wiedergabe sie ist – im Gehirn, um uns zu erinnern, daß die Wissenschaft selbst nur ein materielles Produkt eines materiellen Organs des materiellen Organismus des Menschen, des Gehirns, ist. Das Leben ist ganz flüchtig und vorübergehend, aber auch ganz vibrierend von Wirklichkeit und Individualität, Gefühl, Leiden, Freuden, Streben, Bedürfnissen und Leidenschaften. Das Leben allein schafft freiwillig die Dinge und alle wirklichen Wesen. Die Wissenschaft schafft nichts, sie konstatiert und erkennt nur die Schöpfungen des Lebens. Und jedesmal, wenn die Männer der Wissenschaft, ihre abstrakte Welt verlassend, sich in die lebende Schöpfung in der wirklichen Welt hineinmischen, ist alles, was sie vorschlagen oder schaffen, arm, lächerlich, abstrakt, ohne Blut und Leben, totgeboren, dem von Wagner, dem pedantischen Schüler des unsterblichen Doktor Faust, geschaffenen Homunkulus gleich. Daraus ergibt sich, daß die einzige Aufgabe der Wissenschaft die ist, das Leben zu erhellen, nicht, es zu leiten.

Eine Herrschaft der Wissenschaft und der Männer der Wissenschaft, selbst wenn sie sich Positivisten, Schüler Auguste Comtes, nennen oder selbst Schüler der doktrinären Schule des deutschen Kommunismus, kann nur ohnmächtig, lächerlich, unmenschlich, grausam, unterdrückend, ausbeutend und verheerend sein. Man kann von den Männern der Wissenschaft als solchen sagen, was ich von den Theologen und Metaphysikern sagte: Sie haben weder Gefühl noch Herz für persönliche lebende Wesen. Man kann ihnen nicht einmal einen Vorwurf daraus machen, denn es ist die natürliche Folge ihres Berufes. Als Männer der Wissenschaft haben sie nur mit Allgemeinheiten zu tun und interessieren sich nur für solche.

Die Wissenschaft, welche nur mit dem zu tun hat, was auszudrücken und beständig ist, d.h. mit mehr oder weniger entwickelten und bestimmten Allgemeinheiten, muß sich hier besiegt erklären von dem Leben, das allein in Verbindung steht mit der lebendigen und empfindlichen, aber unfaßbaren und unsagbaren Seite der Dinge. Das ist die wirkliche und man kann sagen die einzige Grenze der Wissenschaft, eine wirklich unüberschreitbare Grenze. Ein Naturforscher, der selbst ein wirkliches und lebendes Wesen ist, seziert beispielsweise ein Kaninchen; dieses Kaninchen ist gleichfalls ein wirkliches Wesen und war, wenigstens vor kaum einigen Stunden, eine lebende Individualität. Nachdem der Naturforscher es seziert hat, beschreibt er es: Nun, das Kaninchen, welches aus seiner Beschreibung hervorgeht, ist ein Kaninchen im allgemeinen, das, jeder Individualität beraubt, allen Kaninchen gleicht und deshalb nie die Kraft zu existieren haben wird und ewig ein unbewegliches und nichtseiendes Wesen bleiben wird, nicht einmal körperlich, sondern eine Abstraktion, der festgehaltene Schatten eines lebendigen Wesens. Die Wissenschaft hat nur mit solchen Schatten zu tun. Die lebendige Wirklichkeit entschlüpft ihr und gibt sich nur dem Leben, das, weil es selbst flüchtig und vorübergehend ist, immer alles, was lebt, d.h. alles, was vergeht oder flieht, fassen kann und in der Tat faßt.

Das Beispiel des der Wissenschaft geopferten Kaninchens berührt uns wenig, weil wir uns gewöhnlich für das individuelle Leben der Kaninchen sehr wenig interessieren. Anders ist es mit dem individuellen Leben der Menschen, das die Wissenschaft und die Männer der Wissenschaft, welche gewöhnt sind, unter Abstraktionen zu leben, d.h. flüchtige und lebendige Wirklichkeiten ihren beständigen Schatten zu opfern, gleichfalls fähig wären, zu opfern oder wenigstens dem Nützen ihrer abstrakten Allgemeinheiten unterzuordnen, wenn man sie nur machen ließe.

Die menschliche Individualität, ebenso die der unbeweglichsten Dinge, ist für die Wissenschaft gleichfalls unfaßbar und sozusagen nicht existierend. Deshalb müssen auch die lebenden Individualitäten sich gegen sie verwahren und schützen, um von ihr nicht wie das Kaninchen zum Nutzen irgendeiner Abstraktion geopfert zu werden; wie sie sich gleichzeitig gegen die Theologie, gegen die Politik und gegen die Rechtswissenschaft verwahren müssen, die alle gleichfalls an jenem abstrahierenden Charakter der Wissenschaft teilhaben und das unheilvolle Streben besitzen, die Individuen dem Vorteil derselben Abstraktion zu opfern, die nur mit verschiedenen Namen belegt wird; die Theologie nennt sie die göttliche Wahrheit, die Politik das allgemeine Wohl, die Rechtswissenschaft die Gerechtigkeit.

Ich bin weit davon entfernt, die nützlichen Abstraktionen der Wissenschaft mit den verderblichen Abstraktionen der Theologie, der Politik und der Rechtswissenschaft vergleichen zu wollen. Diese letzteren müssen aufhören zu herrschen, müssen von Grund auf aus der menschlichen Gesellschaft ausgetilgt werden – ihr Wert, ihre Befreiung, ihre endgültige Humanisierung sind nur um diesen Preis möglich –, während die wissenschaftlichen Abstraktionen im Gegenteil ihren Platz einnehmen müssen, nicht um die menschliche Gesellschaft nach dem freiheitsmörderischen Traum der positivistischen Philosophen zu regieren, sondern um ihre natürliche und lebendige Entwicklung zu beleuchten. Die Wissenschaft kann wohl Anwendung auf das Leben finden, aber nie sich im Leben verkörpern, weil das Leben die unmittelbare und lebendige Wirkung, die gleichzeitig natürliche und schicksalsbestimmte Bewegung der lebendigen Individualitäten ist. Die Wissenschaft ist nur die immer unvollständige und unvollkommene Abstraktion dieser Bewegung. Wenn sie sich ihm als unbedingte Lehre, als herrschende Autorität aufzwingen würde, würde sie es arm machen, verdrehen und lahmen. Die Wissenschaft kann nicht aus ihren Abstraktionen hinaus, sie sind ihr Reich. Aber die Abstraktionen und ihre unmittelbaren Vertreter: Priester, Politiker, Juristen, Ökonomisten und Gelehrte müssen aufhören, die Volksmassen zu beherrschen. Der ganze Fortschritt der Zukunft liegt darin. Er ist das Leben und die Bewegung des Lebens, die individuelle und soziale Wirkung der Menschen, die ihrer vollständigen Freiheit zurückgegeben sind. Er ist die vollständige Vernichtung des Autoritätsprinzips. Und wie? Durch die weiteste Verbreitung der freien Wissenschaft im Volk. Auf diese Weise wird die soziale Masse außerhalb sich selbst keine sogenannte absolute Wahrheit mehr haben, die sie lenkt und beherrscht, die vertreten ist von Persönlichkeiten, welche ein großes Interesse daran haben, sie ausschließlich in ihren Händen zu halten, weil sie ihnen die Macht, und mit der Macht den Reichtum, die Möglichkeit gibt, durch die Arbeit der Volksmassen zu leben. Diese Masse wird aber in sich selbst eine immer relative, aber wirkliche Wahrheit, ein Licht haben, welches ihre natürlichen Bewegungen erhellt und jede Autorität und jede äußere Leitung unnötig machen wird.

 

 

Anmerkungen

4. Vor sechs oder sieben Jahren hörte ich Herrn Louis Blanc in London beinahe dieselbe Idee ausdrücken: „Die beste Regierungsform“, sagte er zu mir, „wäre die, welche immer tugendhafte Männer von Genie an die Spitze der Regierung brächte.“

5. Ich fragte eines Tages Mazzini, welche Maßregeln man zur Befreiung des Volkes treffen würde, wenn seine siegende unitäre Republik endgültig errichtet wäre? „Die erste Maßregel“, sagte er mir, „wird die Gründung von Schulen für das Volk sein.“ – Und was wird man das Volk in diesen Schulen lehren? – „Die Pflichten der Menschen, Aufopferung und Hingabe’.“ – Aber woher werden Sie eine hinreichende Zahl Lehrer nehmen, um diese Dinge zu lehren, die keiner zu lehren das Recht und die Fähigkeit hat, wenn er nicht selbst das Beispiel davon gibt? Ist die Zahl der Menschen, die im Opfer und der Hingabe den höchsten Genuß finden, nicht ungemein gering? Diejenigen, die sich im Dienst einer großen Idee opfern, einer hohen Leidenschaft gehorchend und diese persönliche Leidenschaft befriedigend, außerhalb welcher das Leben selbst jeden Wert in ihren Augen verliert, diese denken gewöhnlich an ganz etwas anderes, als aus ihrer Handlung eine Lehre zu machen; diejenigen aber, die eine Lehre daraus machen, vergessen meist, sie in die Tat umzusetzen, aus dem einfachen Grunde, weil die Lehre das Leben, die lebendige Freiwilligkeit der Aktion tötet. Männer wie Mazzini, bei denen Lehre und Handlung eine bewunderungswürdige Einheit bilden, sind sehr seltene Ausnahmen. Im Christentum gab es auch große heilige Männer, die alles, was sie sagten, wirklich taten oder sich wenigstens leidenschaftlich bemühten, es zu tun, deren von Liebe überschäumende Herzen voll Verachtung für die Genüsse und Güter dieser Welt waren. Aber die ungeheure Mehrheit der katholischen, protestantischen Geistlichen, die berufsmäßig die Lehre der Keuschheit, Enthaltsamkeit und Entsagung predigten und predigen, widerrief allgemein ihre Lehre durch ihr Beispiel. Nicht grundlos, sondern nach mehrhundertjähriger Erfahrung bildeten sich bei den Völkern aller Länder Redensarten wie: ausschweifend wie ein Pfaffe, ein Feinschmecker wie ein Pfaffe, ehrgeizig wie ein Pfaffe, habgierig, selbstsüchtig und lüstern wie ein Pfaffe. Es steht also fest, daß die von der Kirche geweihten Lehrer der christlichen Tugenden, die Geistlichen, in ihrer ungeheuren Mehrheit das Gegenteil von dem taten, was sie predigten. Dieses Zahlenverhältnis schon, die Allgemeinheit der Tatsache, zeigt, daß die Schuld nicht den einzelnen zuzuschreiben ist, sondern der unmöglichen und in sich selbst widerspruchsvollen sozialen Lage zufällt, in der sich die einzelnen befinden. Die Lage der christlichen Geistlichen enthält einen doppelten Widerspruch. Zuerst den zwischen der Lehre der Abstinenz und Entsagung und den positiven Neigungen und Bedürfnissen der menschlichen Natur – Neigungen und Bedürfnisse, die in einigen, stets sehr seltenen individuellen Fällen beständig zurückgehalten, unterdrückt und selbst völlig vernichtet werden können durch den stetigen Einfluß einer mächtigen geistigen und moralischen Macht; die in gewissen Augenblicken kollektiver Überspannung gleichzeitig von sehr vielen Menschen vergessen oder vernachlässigt werden können; die aber so tief in der Menschennatur stecken, daß sie schließlich immer in ihre Rechte treten, so daß sie, wenn sie gehindert werden, sich auf regelmäßige und normale Weise zu äußern, zuletzt stets schädliche und ungeheuerliche Befriedigung suchen. Dies ist ein Naturgesetz, das also unausweichlich, unwiderstehlich ist und unter seinen verhängnisvollen Einfluß fallen unvermeidlich alle christlichen Geistlichen und besonders die der römisch-katholischen Kirche. Dieses Gesetz kann die Lehrer der Schule, das heißt die Priester der modernen Kirche, nicht treffen, es sei denn, daß man auch sie zwinge, christliche Abstinenz und Entsagung zu predigen. Aber ein anderer Widerspruch ist beiden gemeinsam. Dieser liegt im Titel und der Stellung des Lehrers. Ein Lehrer als Herr, der befiehlt, unterdrückt und ausbeutet, ist eine sehr logische und ganz natürliche Persönlichkeit. Aber ein Lehrer, der sich den ihm nach seinem göttlichen oder menschlichen Vorrecht Untergebenen opfert, ist ein widerspruchsvolles und ganz unmögliches Wesen. Das ist die Heuchelei selbst, die der Papst so gut verkörpert, der sich den letzten Diener der Diener Gottes nennt – und nach Christi Beispiel, zum Zeichen dessen, einmal jährlich die Füße von zwölf römischen Bettlern wäscht – und gleichzeitig sich als Stellvertreter Gottes zum absoluten und unfehlbaren Herrn der Welt aufwirft. Brauche ich daran zu erinnern, daß die Priester aller Kirchen, weit entfernt, sich den ihnen anvertrauten Herden zu opfern, dieselben stets opferten ausbeuteten und im Herdenzustand erhielten, teils, um ihre eigenen persönlichen Leidenschaften zu befriedigen, teils, um der Allmacht der Kirche zu dienen? Dieselben Voraussetzungen und Ursachen bringen stets dieselben Wirkungen hervor. Ebenso wird es aber den göttlich erleuchteten und vom Staat bevorrechteten Lehrern der modernen Schule ergehen. Sie werden notwendigerweise, die einen unbewußt, die anderen mit voller Kenntnis der Sache, die Lehre vom Opfer des Volkes für die Macht des Staates und zum Nutzen der bevorzugten Klassen lehren.Muß man also allen Unterricht aus der Gesellschaft beseitigen und alle Schulen abschaffen? Nein, durchaus nicht, man muß mit vollen Händen Bildung in den Massen verbreiten und alle Kirchen, all diese dem Ruhm Gottes und der Versklavung der Menschen gewidmeten Tempel in ebensoviel Schulen menschlicher Befreiung verwandeln. Aber verständigen wir uns zuerst: Schulen im eigentlichen Sinn dürfen in einer normalen, auf die Gleichheit und die Achtung der menschlichen Freiheit gegründeten Gesellschaft nur für Kinder und nicht für Erwachsene da sein; damit sie Schulen der Befreiung und nicht der Knechtung werden, muß in ihnen vor allem die Fiktion von Gott, dem ewigen und absoluten Verknechter, beseitigt werden; Erziehung und Unterricht der Kinder müßten ganz auf die wissenschaftliche Entwicklung der Vernunft und nicht des Glaubens gegründet werden, auf die Entwicklung der persönlichen Würde und Unabhängigkeit, nicht auf die der Frömmigkeit und des Gehorsams, auf den Kult der Wahrheit und Gerechtigkeit um jeden Preis und vor allem auf die Achtung vor der Menschheit, welche in allem und jedem an Stelle der Verehrung Gottes treten muß. Das Autoritätsprinzip bildet bei der Kindererziehung den natürlichen Ausgangspunkt; es ist rechtmäßig, notwendig, wenn es auf Kinder in niedrigem Alter angewendet wird, deren Intelligenz noch in keiner Weise entwickelt ist. Da aber die Entwicklung jeder Sache, folglich auch die der Erziehung, die allmähliche Verneinung des Ausgangspunktes bildet, muß sich das Autoritätsprinzip gradweise mit dem Fortschritt der Erziehung und des Unterrichts der Kinder vermindern und ihrer wachsenden Freiheit Platz machen. Jede vernünftige Erziehung ist im Grunde nichts anderes als diese fortschreitende Opferung der Autorität zum Nutzen der Freiheit, da der Endzweck der Erziehung kein anderer sein soll als der, Menschen zu bilden, die frei sind und die Freiheit anderer achten und lieben. So muß der erste Schultag, wenn die Schule Kinder niedrigen Alters aufnimmt, die kaum einige Worte zu stammeln vermögen, der Tag der größten Autorität und beinahe vollständiger Abwesenheit der Freiheit sein, der letzte Schultag aber der der größten Freiheit und der absoluten Beseitigung jeder Spur des tierischen oder göttlichen Prinzips der Autorität. Das Autoritätsprinzip wird, auf Erwachsene oder Ältere angewendet, eine Ungeheuerlichkeit, eine s charfe Verneinung der Menschlichkeit, eine Quelle geistiger und moralischer Sklaverei und Verderbtheit. Unglücklicherweise ließen die väterlichen Regierungen die Volksmassen in so tiefer Unwissenheit dahin brüten, daß es notwendig werden wird, nicht nur für die Kinder des Volkes, sondern auch für das Volk selbst Schulen zu gründen. Aber aus diesen Schulen müssen die geringsten Anwendungen oder Äußerungen des Autoritätsprinzips unbedingt entfernt werden. Es werden nicht mehr Schulen sein, sondern Volksakademien, in denen nicht mehr von Schülern und Lehrern die Rede sein kann, in welche das Volk, wie es dies für nötig hält, frei kommt, freien Unterricht zu nehmen, und in denen es nach seiner eigenen Erfahrung seinerseits die Lehrer, die ihm unbekannte Kenntnisse bringen, in vielem unterweisen kann. Das wird also ein gegenseitiger Unterricht sein, ein Akt geistiger Brüderlichkeit zwischen der gebildeten Jugend und dem Volk. Die wahre Schule für das Volk und alle erwachsenen Leute ist das Leben. Die einzige große und allmächtige, gleichzeitig natürliche und vernünftige Autorität, die einzige, die wir achten können, wird die des kollektiven und öffentlichen Geistes einer auf die Gleichheit und Solidarität und die Freiheit und die gegenseitige menschliche Achtung all ihrer Mitglieder gegründeten Gesellschaft sein. Ja, das ist eine nicht göttliche, sondern eine ganz menschliche Autorität, vor der wir uns gern beugen, da wir sicher sind, daß sie die Menschen, statt sie zu knechten, befreien wird. Man kann sicher sein, daß sie tausendmal mächtiger sein wird als all die göttlichen, theologischen, metaphysischen, politischen und juristischen Autoritäten, die Kirche und Staat einsetzten, mächtiger als Strafgesetze, Kerkermeister und Henker. Die Macht des Kollektivgefühls oder der öffentlichen Meinung ist schon heute eine sehr ernste. Die zu Verbrechen Geneigten wagen selten, ihr zu trotzen, sie offen herauszufordern. Sie werden versuchen, sie zu täuschen, aber sich wohl hüten, sie anzutasten, außer wenn sie sich wenigstens von irgendeiner Minderheit gestützt fühlen. Kein Mensch, für wie mächtig er sich auch halten mag, wird je die Kraft haben, die einstimmige Verachtung der Gesellschaft auszuhalten; keiner kann leben, ohne sich nicht wenigstens von der Zustimmung und Achtung irgendeines Teils dieser Gesellschaft gehalten zu fühlen. Es muß jemand von einer ungeheuren und sehr aufrichtigen Überzeugung getrieben werden, um den Mut zu finden, gegen alle zu reden und zu handeln, und nie wird ein egoistischer, verdorbener und feiger Mann diesen Mut haben.

Nichts beweist besser die natürliche und unvermeidliche Solidarität, dieses alle Menschen verbindende Geselligkeitsgesetz, als dieser Umstand, den jeder von uns täglich an sich selbst und all seinen Bekannten beobachten kann. Wenn aber diese soziale Macht existiert, warum hat sie bis jetzt nicht genügt, die Menschen zu moralisieren, zu humanisieren? Die Antwort ist sehr einfach: weil diese Macht bis heute selbst nicht humanisiert wurde, und dies geschah nicht, weil das soziale Leben, dessen treuer Ausdruck sie immer ist, bekanntlich auf die Gottesverehrung und nicht auf die Achtung des Menschen gegründet ist, auf die Autorität und nicht auf die Freiheit, auf das Vorrecht und nicht auf die Gleichheit, auf die Ausbeutung und nicht auf die Brüderlichkeit der Menschen, auf Unrecht und Lüge und nicht auf Gerechtigkeit und Wahrheit. Ihr tatsächliches Wirken, das immer mit den humanitären Theorien, die sie bekennt, im Widerspruch steht, übte folglich beständig einen bösen und verderbenden, keinen moralischen Einfluß aus. Sie unterdrückt nicht Laster und Verbrechen, sie schafft sie. Ihre Autorität ist folglich eine göttliche, unmenschliche Autorität, ihr Einfluß ist schlecht und verhängnisvoll. Sollen beide wohltätig und menschlich gemacht werden? Entfesselt die soziale Revolution! Macht, daß alle Bedürfnisse wirklich solidarisch werden, daß die materiellen und sozialen Interessen eines jeden seinen menschlichen Pflichten gleich werden! Hierzu gibt es nur ein einziges Mittel: Zerstört alle Einrichtungen der Ungleichheit, gründet die wirtschaftliche und soziale Gleichheit aller, und auf dieser Grundlage wird sich die Freiheit, die Sittlichkeit und die solidarische Menschlichkeit aller erheben. Ich werde noch einmal auf diese Frage, die wichtigste des Sozialismus, zurückkommen.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.9.2004