Michail Bakunin

 

Brief an George Sand

(10. Dezember 1848)


Auszug aus: IWK, Heft 3/2001, S. 281-369 (ohne Anmerkungen), Bakunin, Marx und George Sand. Die Affäre Neue Rheinische Zeitung (1848) / Von Wolfgang Eckhardt
Deutsche Erstübersetzung aus dem Französischen von Michael Halfbrodt (Edition des Originals (mit Faksimile): Bakounine CD-ROM)
Originaltext: http://www.hth-berlin.de/iwk/2001-3_eckhardt.html
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Am 6. Juli 1848 erschien in der von Karl Marx als „Redakteur en chef“ geleiteten Neuen Rheinischen Zeitung (NRhZ) eine Falschmeldung, in der Michail Aleksandrovic Bakunin – unter Berufung auf die französische Schriftstellerin George Sand – zu einem „in jüngster Zeit gewonnenen Agenten Rußlands“ erklärt wurde. Wie unter anderem die zeitgenössischen Reaktionen erkennen lassen, die im Anhang zu vorliegendem Artikel teilweise erstmals seit jener Zeit wiederveröffentlicht werden, zog die Affäre weite Kreise und verfolgte Marx bis ins Jahr 1872. Sie markierte in der Auseinandersetzung zwischen Marx und Bakunin einen ersten Höhepunkt, der ihren späteren Konflikt in der Ersten Internationale erheblich vorbelasten sollte. Neben dem Verhältnis zu Marx verweist die Affäre zugleich auf die Geschichte der Beziehungen Bakunins zu George Sand, denen ein besonderer Stellenwert in der Entwicklung des russischen Revolutionärs zukommt. [...]


Cöthen, 10. Dezember 1848

Madame,

ich muß mich entschuldigen, daß ich Ihnen nicht schon früher für den lieben Brief, den Sie mir im Juli geschrieben haben, von Herzen gedankt habe. Ich kann Ihnen mein Schweigen nicht anders erklären als durch den Zustand der Niedergeschlagenheit und Apathie, in den mich die beklagenswerte Wendung der Ereignisse in Europa versetzt hat, sowie die niederträchtigen Verleumdungen, die über mich verbreitet wurden und gegen die ich noch nicht abgehärtet genug war. Wenn eine solche Stimmung sich meiner bemächtigt, bin ich außerstande, auch nur zwei Worte am Stück zu schreiben. Das ist eine Schwäche, Madame, die ich Ihnen jedoch lieber eingestehe, als daß ich Sie einen Augenblick länger in dem Glauben lasse, ich sei undankbar oder hätte nicht zutiefst all das Edle, Liebevolle, Großherzige Ihres Briefes empfunden. – Was mich seinerzeit bedrückte, war, mit ansehen zu müssen, wie alles noch hätte gerettet werden können und man nichts, absolut nichts unternahm, um den Triumph der Reaktion zu verhindern. In ihrer törichten Verblendung waren sich die deutschen Demokraten der Gefahr nicht einmal bewußt. Wenn man sie warnte, lachten sie einen aus, und während die Reaktion lautlos und entschlossen voranschritt und jeden Tag an Boden gewann, schwätzte die Demokratie, räsonnierte, krakeelte in den Clubs und tat gar nichts. – Heute hat die Konterrevolution in Deutschland einen entscheidenden Sieg errungen, und ich bin wieder voller Mut und Zuversicht, denn ich liebe klare Positionen. Ich bin deshalb voller Mut und Zuversicht, weil ich weiß, weil ich spüre und sehe, daß nicht die Revolution besiegt ist, sondern nur die Dummheit und Unerfahrenheit derer, die sich eingebildet hatten, zu ihren Führern berufen zu sein. Dieser vorübergehende Triumph der Reaktion ist uns allen eine heilsame Lehre, ein Fortschritt der Revolution selbst. – Die deutschen Demokraten, die einsichtigen wohlgemerkt, sind schon ernsthafter geworden, die Gewalttaten der siegreichen Partei sind eine wirkungsvollere Propaganda als alle Verlautbarungen der Clubs, die rosaroten Träume sind für immer zerstoben, die Frage ist jetzt klar gestellt, keine Halbherzigkeit, keine Unsicherheit, keine Gefühlsseligkeit mehr, Krieg auf Leben und Tod und erbarmungslose Zerstörung ... Unsere Feinde haben uns selbst ein Beispiel dafür gegeben. Bisher, so muß man wohl sagen, haben unsere Feinde mehr für die Sache der Revolution in Deutschland getan als die demokratische Partei. Doch richtiger noch ist, daß sich die Revolution ganz von selbst vollzieht, fast ohne menschliches Zutun. Sie bewirkt, daß die größten Dummheiten der Demokraten und die geschicktesten Intrigen der Reaktionäre stets zu ihrem Vorteil ausschlagen. Die Revolution liegt in der Luft, sie ist in den Dingen, nur die Menschen zögern noch, sich ihr mit Leib und Seele zu verschreiben. Darin liegt das Elend und zugleich die Größe unserer Zeit. – Niemals hat die Geschichte uns vor die Lösung einer gewaltigeren Aufgabe gestellt: vollständige, reale Emanzipation aller Individuen und aller Nationen, sowohl nach innen als auch nach außen; Erhebung aller Individuen in den Rang von Menschen, nicht nur von Rechts wegen, sondern de facto, und ohne irgend jemanden davon auszunehmen, und sei es der körperlich gebrechlichste oder der schlichteste im Geiste; schließlich Verwirklichung der absolutesten, vollständigsten Freiheit für alle; nicht der Freiheit Jean Jacques Rousseaus, die ihre Grenze und Negation in der Freiheit des anderen findet und die als notwendige Folge in einen Vertrag mündet, – sondern jener Freiheit, die im Gegenteil ihre Bestätigung in der Freiheit eines anderen findet, so daß die Sklaverei eines einzigen Menschen die Sklaverei aller ist. Die neue Welt ist das Gegenteil der bestehenden, und dies nicht nur im Bereich der Politik, sondern zugleich in sozialer und religiöser Hinsicht. Die Politik ist stets die notwendige Folge der religiösen und sozialen Ideen gewesen. – Die Revolution muß folglich mit der Zerstörung beginnen. – Die Revolution ist nicht nur notwendig, um die Ideen und einige Institutionen zu verändern. Sie hat noch eine weitere Aufgabe zu erfüllen; sie muß uns sozusagen physiologisch und psychologisch erneuern. Sie muß frisches Blut, heißes Blut in unsere Adern gießen, sie muß uns aufrütteln, uns aus der Erstarrung lösen, uns ein wenig Mut einflößen, – denn die Menschen sind derzeit besonders kleinmütig und erbärmlich. Man glaubt nicht mehr an große Taten, große Hingabe, große Umwälzungen, große Unternehmungen, kurzum an die Wunder der Geschichte, oder nur in der Vergangenheit oder der Zukunft, man hat nicht die Kraft, sie heute für möglich zu halten. Das ist ein Anzeichen dafür, daß man sich selbst verachtet, und wenn man sich verachtet, ist man verachtenswert, und da man verachtenswert ist, muß man sich erneuern, und unsere Erbärmlichkeit ist so groß, daß wir zu unserer Erneuerung einer großen, schrecklichen Erschütterung bedürfen. Nur ein reinigendes Gewitter kann die drückende Atmosphäre beseitigen, die uns erstickt und uns hindert zu sehen, zu begreifen, zu leben und zu handeln. Das soll unsere Revolution bewirken, und genau das wollen die Menschen nicht, vor dieser Erkenntnis haben sie Angst. Madame, wenn man bedenkt, was im Frühjahr hätte geschehen können, wenn man gesehen hat, wie niedergeschlagen die Bourgeoisie und die Intriganten in Frankreich, die Königreiche in Europa waren, kann man nicht umhin, die heuchlerischen Phrasendrescher zu verfluchen, die schönen Seelen mit ihrer selbstgefälligen, verblendeten Friedfertigkeit wie Lamartine und andere, die das Volk getäuscht, die Revolution überall verraten und gelähmt haben. Jede ihrer philanthropischen Phrasen kostete Ströme von Blut. Lamartine steht für die Plünderung Neapels, die Versklavung der Lombardei, das Massaker im Großherzogtum Posen, die Bombardierung Krakaus, den Sieg der Bourgeoisie über das Volk von Paris, den Sieg der Konterrevolution in Deutschland. Im Frühjahr hätten 20.000 Franzosen ganz Deutschland retten können. Sie hätten dazu nicht einmal den Rhein überschreiten müssen. Ein einziges energisches Wort gegen den Einmarsch preußischer und bayrischer Truppen ins Großherzogtum Baden hätte genügt. Denn jene, die behaupten, das deutsche Volk wollte kein Eingreifen Frankreichs und hätte sich ihm widersetzt, sind schamlose Lügner. – Ich war genau zu jener Zeit in Frankfurt, und ich kann Ihnen versichern, Madame, daß damals wie heute größte Sympathie für Frankreich in Deutschland herrschte und daß alle Bemühungen der Reaktion, die alten Haßgefühle, die alten Gegensätze, die alte Gallophobie wiederzubeleben, vergebens waren. – Heute bekommen Sie überall in Deutschland die Worte zu hören: „Wir wollen, daß die Russen kommen, denn dann werden auch die Franzosen kommen.“ Es ist ein allgemein verbreitetes Gefühl hier, daß es eines allgemeinen Krieges bedarf, um die Revolution in Gang zu bringen, und jeder spürt, daß dies kein Krieg zwischen Armeen, sondern ein Volkskrieg sein wird. Was die Polen, was das Großherzogtum Posen betrifft, ist der Verrat Lamartines offenkundig. – Er verachtet sie, hat immer gegen sie geschrieben und ist ein Anhänger und Bewunderer von Zar Nikolaus. – Im März schickte er die gesamte polnische Emigration nach Deutschland, mit der Zusicherung, daß nach den offiziellen Nachrichten, die er erhalten habe, er ihnen versprechen könne, daß die Tore des Großherzogtums Posen und Galiziens ihnen weit offen stehen würden. Die Polen glaubten ihm aufs Wort, was sie nur zu bald bereuen sollten. Madame, die Leiden der polnischen Emigranten sind Ihnen bekannt, doch sind sie nichts im Vergleich zu dem, was sie in Deutschland zu erdulden hatten. Man hat sie gehetzt wie wilde Tiere, sie gejagt, was sage ich, man hat sie nicht einmal in die polnischen Provinzen hineingelassen und sie zwischen Elbe und Oder festgehalten, unter den tyrannischsten und schändlichsten Bedingungen. – Ich bin nicht rührselig, Madame, aber ich versichere Ihnen, daß mir oft die Tränen in den Augen standen beim Anblick dieser alten Polen, die auf so niederträchtige Weise mißhandelt wurden, sie traurig zu sehen, aber gefaßt und immer noch ihrem Land ergeben. Und während man sie derart behandelte, wen, glauben Sie, schickte Lamartine als Botschafter nach Berlin, um die Polenfrage zu regeln? Monsieur de Circourt, seinen Freund und Gatten einer St. Petersburger Dame, die Nikolaus ihre Seele verschrieben hat und in deren Pariser Salons die Offiziere und hohen Herren von St. Petersburg ein und aus gingen. Gleich nach seiner Ankunft in Preußen setzte er sich mit Herrn von Meyendorf, dem russischen Botschafter, in Verbindung und tat fortan keinen Schritt mehr, ohne ihn zu konsultieren. – Und das erste, was er unternahm, der nach Preußen entsandt worden war, um zu Gunsten Polens zu intervenieren, war, öffentlich zu erklären, daß Frankreich um jeden Preis ein Bündnis mit Deutschland wolle. Dagegen wäre nichts einzuwenden gewesen, wenn er darunter das deutsche Volk verstanden hätte, denn die Befreiung Polens ist auch im Interesse des deutschen Volkes eine Notwendigkeit; aber für ihn, wie für Lamartine, ist Deutschland gleichbedeutend mit den deutschen Fürsten, und deren Interesse ist dem polnischen diametral entgegengesetzt und absolut identisch mit dem von Zar Nikolaus. Das ist leicht zu beweisen: Seit 1815 übt Rußland einen verhängnisvollen Einfluß auf Deutschland aus und stützt den Despotismus dort. Die russische Regierung wußte ganz genau, was sie tat, sie war sich sehr wohl bewußt, daß eine Revolution in Deutschland zwangsläufig zu einer Revolution in Polen und schließlich zu einer Revolution in Rußland führen würde. Im Großherzogtum Posen sollte sich die revolutionäre Frage ganz Europas entscheiden. Wäre der Aufstand gelungen, der Einfluß Rußlands wäre für immer gebrochen gewesen, Polen befreit, und wir hätten heute einen revolutionären Krieg, auch im Interesse Rußlands, eine ungeheure Erhebung der russischen Bauern, und wir hätten die Fahne der Revolution in Moskau aufgepflanzt. – Die russische Regierung, die Potsdamer Kamarilla und Monsieur de Circourt haben anders entschieden. – Sie haben die Revolution im Norden Europas verraten und vernichtet, aber die Revolution ist unsterblich. Sie wissen es, Madame, sie wird mit dem Frühling zurückkehren. – Monsieur de Circourt hat für alle Maßnahmen der preußischen Regierung Partei ergriffen. Er hat Zar Nikolaus gerettet, denn im Frühjahr wäre nichts leichter gewesen, als Polen zu besetzen. Viele russische Offiziere standen auf Seiten Polens, – die russischen Soldaten hatten nichts anderes als Fahnenflucht im Sinn, es standen nur 20.000 Mann im Königreich Polen und die Panik von Nikolaus’ Handlangern in Warschau war so groß, daß sie von Haus zu Haus gingen und die Polen fragten, ob sie ihnen nicht zum Abzug raten würden. Einige Wochen lang konnte man in den Straßen Warschaus offen reden. – Die Befreiung Polens wäre auch das Signal für den Sturz Preußens als Staat und Königreich und für die Emanzipation Deutschlands gewesen. Nichts ist natürlicher, als daß die preußischen Politiker und die deutschen Fürsten ihre Kräfte vereinten, um dies zu verhindern. Aber daß ein Botschafter der französischen Revolution mit ihnen gemeinsame Sache macht, um die polnische Revolution zu hintertreiben, das ist ungeheuerlich! – Die Niederlage der Polen war der Anfang der Reaktion, was dann folgte, war die Bombardierung Krakaus, die von Prag, die Massaker von Neapel, die Eroberung der Lombardei durch Radetzky, die Bombardierung Messinas, die von Wien, der Sieg der Reaktion in Berlin, und schon war die Heilige Allianz wiederhergestellt und überall siegreich, zum höheren Ruhme des Herrn. – Madame, zählen Sie die Opfer, fügen Sie dieser Zahl diejenigen hinzu, die noch fallen werden und, Hand aufs Herz, hätten Sie dann noch den gleichen Mut wie im vergangenen Frühjahr, dem Volk Großmut und Vergebung zu predigen? Nein, nein, Madame, keine Rede mehr davon. Predigen wir Rache, predigen wir Haß, denn ohne Haß ist selbst die Liebe lau, predigen wir Leidenschaft, gute wie schlechte, denn die guten Leidenschaften kommen nur mit den schlechten, predigen wir Zerstörung, predigen wir Brand und rote Flut und denken wir an Großmut und Vergebung erst, wenn wir des Sieges sicher sind, wenn unsere Feinde im Staub liegen.

Die unglückseligen Ereignisse von Wien und Berlin hatten immerhin das Gute, daß die deutschen Demokraten, natürlich nur jene, die über Herz und Verstand verfügen, und das deutsche Volk, nicht der Bourgeois, denn der ist unbelehrbar und kann nur durch Angst und Bankrott geläutert werden, sondern die Proletarier in Stadt und Land heute den wirklichen Ernst der Lage begreifen. – Es sind keine abstrakten Prinzipien mehr, die hier wirken, sondern Natur und Leidenschaft. Man hört kein Lachen und Schwatzen mehr, keine schönen Reden, man ist ernst und zornig. Das ist ein gutes Zeichen. Überall organisiert man sich im Geheimen, sät den Aufruhr, entzündet allmählich das Herz der Massen, macht sich bereit für einen schrecklichen Krieg. – Diese Revolution wird siegen, daran besteht kein Zweifel, und es wird eine echte Revolution sein. Die Phrasendrescher, die Heuchler und Versöhnler werden alle weggefegt, und die Völker werden Rache nehmen. –

Madame, ich schicke Ihnen ein Manifest, daß ich kürzlich an die Slawen gerichtet habe. Leider kann ich Ihnen derzeit nur die deutsche Übersetzung schicken, das französische Original ist noch nicht gedruckt. – Da ich aus den preußischen Staaten ausgewiesen wurde, habe ich mich in das kleine Fürstentum Anhalt, nach Cöthen, geflüchtet. Ich habe vor, hier noch einen Monat zu bleiben, und wenn mich dann nichts zurückhält, werde ich für zwei Monate nach Paris kommen. – Es wird mir eine wahre Freude sein, Sie wiederzusehen und mit Ihnen plaudern zu können, Madame. – Bis dahin wünsche ich Ihnen beste Gesundheit, viel Mut, und
möge die Revolution mit Ihnen sein.

 

Ihr ergebener
M. Bakounine

Wenn Sie die Güte haben, mir antworten zu wollen, Madame, schreiben Sie mir an folgende Adresse:
Monsieur Charles
Cöthen. Principauté d’Anhalt
Und auf einen einliegenden Umschlag: pour Mr Jules.

 


Zuletzt aktualisiert am 12.9.2004