Protokoll des Internationalen Arbeiter-Congresses in Paris (1889)

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Samstag, den 20. Juli. Morgen-Sitzung

Vorsitzenden: Bürger Cunninghame Graham, Mitglied des englischen Parlaments. Lafargue kündigt die Ankunft von drei neuen Delegirten an. Die deutschen Socialisten von Buenos-Aires haben dem Bürger Liebknecht Mandat ertheilt, sie zu vertreten and schicken einen Bericht über die Situation in der argentinischen Republik.

Es werden Zustimmungsdepeschen und Briefe mitgetheilt. Liebknecht theilt dem Congre? mit, daß ergestern Abend bei dem Empfang im Hôtel de Ville Hunderte von französischen Arbeitern getroffen habe, welche ihm alle versicherten, daß sie statt Chauvinismus und Haß, wie man ihnen zuschreibe, gegen die Deutschen die brüderlichsten Gefühle hegten, und daß sie nur wünschten, dieselben zu bethätigen. Dieser Mittheilung zollte man wärmsten Beifall. – Viele Delegirte des Possibilistencongresses haben Mitgliedern des Bureaus gegenüber erklärt, da? sie unglücklicherweise aus Versehen in den Possibilistencongre? gerathen seien, und daß sie 86 aufrichtig bedauerten, nicht dem Congreß der vereinigten Socialisten beigetreten zu sein.

Nachdem diese verschiedenen Mittheilungen beendet sind, tritt der Congreß in die Tagesordnung ein.

Cunninghame Graham erklärt, daß es fast unmöglich sei mit englischen Arbeitern von einer socialen Revolution zu sprechen. Das Ueberma? von Arbeit, das Elend und die Trunksucht, haben sie ganz und gar zu Grunde gerichtet. Es ist schon viel, wenn sie Interesse für praktische Fragen zeigen. Wenn man sie für eine Bewegung gewinnen will, so mu? man mittelst praktischer Fragen ihr Interesse erwecken.

Eine solche Frage ist die des achtstündigen Normalarbeitstages, welche die Arbeiter der ganzen Welt zu einem gemeinsamen Handeln vereinigen kann. Die Verminderung der Arbeitszeit ist von absoluter Nothwendigkeit für die Gesundheit und die geistige Entwicklung des Arbeiters. Eine lange Arbeitszeit verurtheilt den Arbeiter zu der Existenz eines Lastthiers. Das ist z. B. der Fall mit den schottischen Bergleuten, die elf und eine halbe bis zwölf und eine halbe Stunde in den Gruben arbeiten, und die, in einer Weise lendenlahm von der Arbeit zurückkommen, daß sie sich kaum die Zeit nehmen zu essen, indem sie einzig von dem Verlangen erfüllt sind, sich schlafen zu legen. Aber ein dumpfer Schlaf hat noch nicht völlig ihre Kräfte wieder hergestellt, wenn sie schon wieder nach der Grube abziehen müssen. Bei einem solchen Leben gibt es keinerlei Möglichkeit, intellectuelle (geistige) Bedürfnisse zu befriedigen. Es ist eine Pflicht für Alle, sich einem solchen Zustande durch eine internationale Arbeitergesetzgebung zu widersetzen. Wenn die Gesetzgebung nicht intervenirt, wird die Lage der Arbeiter sich zunehmend verschlechtern. In Australien existirt ein Gesetz, welches die tägliche Arbeitszeit feststellt und herabsetzt. Nun, die australischen Arbeiter befinden sich in einer materiell besseren Lage als ihre europäischen Brüder; sie sind auch geistig gut entwickelt und fortgeschritten, da sie Zeit und Muße haben, sich mit verschiedenen Fragen zu beschäftigen. Die Kapitalisten strengen sich an, den Glauben zu erhalten, daß eine Verminderung der Arbeitszeit nothwendigerweise auch eine Verminderung der Löhne zur Folge haben müsse. Diese Versicherung ist lügenhaft, denn das Gegentheil tritt ein. Je kürzer der Arbeitstag ist, um so höher werden die Löhne. In Massachussets z. B., wo der achtstündige Normalarbeitstag besteht, verdienen die Arbeiter 3 Schillinge (1 Sh. = 1 Mark) täglich mehr, als die Arbeiter in den Nachbarstaaten, wo die Arbeitszeit länger ist. In Gegensatz hierzu findet man in England einen Distrikt, der sich auszeichnet durch die Entwicklung, die der Kapitalismus daselbst genommen hat und durch seine sogenannte „Civilisation“. Frauen sind hier mit der Fabrikation von eisernen Ketten täglich 14 bis 15 Stunden beschäftigt und verdienen dabei nur 4½ bis 5½ Schillinge wöchentlich. Je länger die Arbeitszeit ist, desto niedriger sind die Löhne. . Die Taxe der Löhne steigt mit der Verminderung der Arbeitsstunden.

Die Frage einer Festsetzung der Arbeitszeit ist von hervorragender Bedeutung für die Entwicklung der Arbeiter. Der Redner fordert daher alle Delegirte auf, für den Augenblick alle persönlichen Eifersüchteleien bei Seite zu legen, sowie auch alle principiellen Abschweifungen, um gemeinsam um die Verminderung der täglichen Arbeitszeit zu kämpfen. Der achtstündige Normalarbeitstag ist ein erster Schritt zur Befreiung der Arbeit vom Kapital. (Beifall.) –

Der Bürger Guesde erinnert den Congreß daran, daß er noch drei Fragen auf seiner Tagesordnung habe. Er empfiehlt daher, alle Vorschläge schriftlich an’s Bureau gelangen zu lassen, welches sie in allgemeine Resolutionen zu vereinigen habe, über welche der Congreß in seiner Nachmittagssitzung beschließen wird. Vaillant schlägt vor, bis 1 Uhr Nachmittags 87 alle auf der Liste eingeschriebenen Redner sprechen zu lassen und in der Nachmittagssitzung zur Abstimmung zu schreiten.

Bürger Molkenbuhr verlangt, daß man die Liste der Redner bei Seite lasse, um unmittelbar zur Discussion der Resolutionen des Congresses überzugehen. Ein Redner solle für, ein andrer gegen die Resolutionen sprechen und man solle so viel wie möglich der alten Rednerliste Rechnung tragen.

Der Schluß der Debatte über die Anträge wird verlangt, und der Congreß nimmt den Schluß an. Bürger Kloß, Delegirter der deutschen Tischler, setzt auseinander, daß man von gewissen Seiten der Meinung ist, daß es mit den socialistischen Grundsätzen unvereinbar sei, eine Gesetzgebung über die Arbeit zu verlangen. Diese Auffassung erscheine ihm irrthümlich. Die Socialisten, die bewußten Arbeiter haben die Pflicht, die Bahn zu ebnen, damit die große Masse aus ihrem Wege nach dem gelobten Lande des Socialismus nicht erliege, damit der Kapitalismus die Masse nicht bis zu einem solchen Grade degeneriren lasse, daß sie geistig und leiblich unfähig werde, sich aufzurichten. Die Arbeiterklasse Deutschlands befindet sich um so mehr in der Nothwendigkeit, sich zur Vorkämpferin solcher praktischer Forderungen zu machen, weil durch die gegenwärtige Lage die politische Aktion sehr behindert werde. Aus demselben Grund darf man die Frage der gewerklichen Organisation nicht aus dem Auge verlieren. Gleichwie die Frage der Arbeiterschutzgesetzgebung ist sie geeignet, die Massen zu gewinnen und zu erziehen.

Der Redner verkennt nicht, daß viele Socialisten gegen die gewerklichen Fachvereine oder Syndikatskammern sind, weil diese für die geistige Erziehung der Arbeiter nicht alles das bieten, was die Socialisten dargeboten sehen wollen. Aber es ist ja gerade Aufgabe der Socialisten, diese Fachvereine auf eine höhere Stufe der Erziehung und der Entwicklung zu heben. Sie müssen so zu sagen im Schoße der Fachvereine eine Art Sauerteig bilden, sie müssen das Klassenbewußtsein wachrufen, mit einem Worte die Mitglieder fähig machen, ihre gegenwärtige Lage zu begreifen und ihre geschichtliche Sendung zu erfüllen. Die französische Resolution ist noch nicht in deutschem Wortlaut verlesen worden, und Redner kennt nur die Resolution Bebel. Aus den Gründen, welche er eben entwickelt hat, fordert er alle deutschen Delegirten auf, mit Einstimmigkeit für die Resolution Bebel zu stimmen und vor Allem für die Forderung des achtstündigen Normalarbeitstages.

Bebel erklärt, daß das Bureau die von ihm eingereichte Resolution mit derjenigen von Guesde und von Morris vereinigt habe, und daß diese gemeinsame Resolution dem Congreß in der Nachmittagssitzung werde vorgelegt werden.

Bürger Lefebvre, Vertreter der Weber von Amiens, hebt die Nothwendigkeit der gewerklichen Organisation hervor.

Die Weber von Amiens arbeiten 12 bis 13 Stunden täglich.

Die Fabrikanten beschäftigen immer mehr Frauen, von denen sie die Arbeit zu billigerem Preise bekommen, und die durch ihre Concurrenz dit Löhne der Männer herabdrücken. Bis in die jüngste Zeit existirte keine Organisation der Weber. Aber im vergangenen Jahre gab eine Arbeitseinstellung der Sammtweber zur Erhöhung der Löhne Veranlassung zur Bildung einer Syndikatskammer, welche heute 350 bis 400 Mitglieder zählt. Diese Syndikatskammer marschirt Hand in Hand mit den Socialisten von Amiens und ihr Einfluß beginnt sich fühlbar zu machen nicht allein unter den Webern, sondern auch unter den Arbeitern anderer Berufszweige. So haben die Schuhmacher das gegebene Beispiel befolgt und haben sich gleicherweise zu einer Syndikatskammer constituirt.

Genosse Lucian Weil kann der Auseinandersetzung Cunninghame Graham’s nicht zustimmen. Dieser betont die Nothwendigkeit gewisser Verbesserungen, um das Werk der Agitation und der Organisation unter 88 der Masse der englischen Arbeiter durchführen zu können. Genosse Weil ist entgegengesetzter Meinung.

Wenn die Arbeitermasse Englands noch zurückgeblieben und nicht zum Klassenbewußtsein gelangt ist, so liegt der Grund darin, daß die Proletarier zu lange Zeit mit Versprechungen von illusorischen Reformen zum Besten gehalten worden sind. Um die Erziehung der Masse durchzuführen, muß man unter sie die Idee der Revolte werfen. Solche Forderungen und solche Versprechungen von Verbesserungen täuschen nur die Arbeiter und verdummen sie.

Wenn er (Redner) Anarchist geworden ist, so ist dies gerade deshalb geschehen, weil die Häupter des französischen Marxismus in deutlicher Weise den ökonomischen Mechanismus enthüllt, deutlich gezeigt haben, daß das eiserne Lohngesetz alle Anstrengungen, diesen Mechanismus durch Reformen zu verbessern, hoffnungslos gemacht hat. Man darf daher nichts von kleinen Mitteln erwarten. Redner selbst wünscht von ganzem Herzen eine Verbesserung der Lage des arbeitenden Volkes, aber er ist überzeugt, daß dieselbe unmöglich auf dem Wege der Reformen und der Gesetzgebung zu erreichen ist. Das allgemeine Wahlrecht ködert die Massen, welche nur ein wirksames Mittel zu ihrer Verfügung haben: die dauernde Bewegung. Nur die sociale Revolution kann alle socialen Uebel heilen.

(Beifall Seitens einiger französischer Anarchisten und englischer Delegirten.) –

Bürgerin Ihrer, Delegirte der Arbeiterinnen von Gera-Reuß, zeigt, daß die Organisation der Arbeiterinnen eine unumgängliche Vorbedingung zur Verbesserung der Lage der Arbeiter und der Arbeiterinnen ist, Ebenso wie die Männer sich allerwärts organisiren, um die Arbeitsbedingungen zu regeln, ebenso müssen sich auch die Arbeiterinnen in gewerblichen Vereinigungen gruppiren. So lange den Arbeiterinnen die Organisation fehlen wird, bleiben sie auch in gewissem Sinne und durch die Macht der Thatsachen Concurrentinnen des Mannes, anstatt nur seine Kameradinnen bei der Arbeit und im Kampfe zu sein.

Wenn zu den Organisationen der Männer nicht solche der Arbeiterinnen hinzukommen, wird es sehr schwierig, ja sogar unmöglich sein, daß die Arbeiter in ihren öconomischen Kämpfen gegen das Kapital siegreich sind.

Einzig und allein die Organisation wird es den Arbeiterinnen ermöglichen, den Grundsatz aufzustellen und anzuwenden: gleicher Lohn für gleiche Arbeit – das einzige Mittel, um die Concurrenz zwischen Männern und Frauen auf Nichts zurückzuführen. Unglücklicherweise begreifen die Frauen noch nicht zur Genüge die Nothwendigkeit, sich zu organisiren und an dem öffentlichen Leben Theil zu nehmen. Beweis hiefür ist, daß trotz der beträchtlichen Zahl der in der Industrie beschäftigten Frauen nur sehr wenige Vertreter von Arbeiterinnen bei diesem Congreß zugegen sind. Es ist also Pflicht aller Socialisten, den Frauen bei dem Werk ihrer Organisation zu helfen. Der Einwurf, daß die Frauen noch zu saumselig sind, um die Wichtigkeit eines Zusammengehens zu begreifen, ist nicht stichhaltig. Auch die Arbeiter waren nicht überall auf der Höhe der Entwicklung, die sie heute bekunden; auch für sie hat es vieler Anstrengungen bedurft, damit sie zur politischen Reife und zur Organisation gelangten. Die Arbeiterinnen allerwärts zeigen die besten Anlagen, um in den Lauf der Arbeiterbewegung einzutreten, aber es muß der Boden besät werden. Rednerin hat aus allen Theilen Deutschlands Briefe erhalten von Arbeiterinnen, welche ihre Freude darüber ausdrücken, aus diesem Arbeitercongre? vertreten zu sein. Diese Thatsache zeigt, daß die Arbeiterinnen beginnen, ihre Lage zu begreifen. Pflicht der Kameraden in allen Ländern ist es, an den Bestrebungen der Frauen für ihre Unabhängigkeit mitzuhelfen – Bestrebungen, die beiden Geschlechtern zum Vortheil gereichen.

Die deutsche Polizei unterdrückte 1886 den Anfang einer Bewegung unter den Arbeiterinnen; die Frauen, die an ihrer Spitze standen, wurden 89 bestraft, die Bürgerin Guillaume-Schack selbst wurde wegen ihrer Agitation ausgewiesen. Aber die Einmischung der Polizei zeigte, daß die Arbeiterinnen auf dem richtigen Wege waren. Auch hat sich die Bewegung seitdem in der besten Weise wieder gehoben, und die Vereinigungen, in welche sich ein zahlreiches und sympathisches Arbeiterinnen Publikum drängt, zeigen von entschiedenem Fortschritt. Es ist auch zu hoffen, daß diefer Congreß das Resultat haben wird, zu der Organisation der Proletarier-Frauen mitzuwirken und in allen größeren Städten gewerbliche Gruppen von Arbeiterinnen entstehen zu lassen. Diese Organisationen werden im Verständniß ihrer Interessen mit der großen socialistischen Arbeiterbewegung Hand in Hand marschiren und sie werden das Mittel sein, um die socialen und bürgerlichen Rechte wieder zu erringen, welche man den Frauen jetzt noch verweigert. Die Frauen der Bourgeoisie betteln in Petitionen um diese Rechte, die Frauen des Proletariats dagegen fordern sie auf Grund des socialistischen Programms.

Der nächste Congreß wird die Probe des Werkes der vollendeten Organisation in den Personen vieler Arbeiterinnen-Repräsentanten bringen. Es ist Zeit, daß die bewußten Träger der Arbeiterbewegung auch den Arbeiterfrauen das Wort lehren, mit welchem Karl Marx die Vereinigung aller Proletarier hervorrief. Das Wort: „Proletarier aller Länder vereinigt Euch!“ heißt auch: Arbeiterfrauen aller Länder vereinigt Euch!, und dies muß unsere Devise werden. (Warmer Beifall.) –

Der Präsident fragt die Versammlung, ob sie John Burns das Wort geben will, obwohl derselbe nicht zu diesem Congreß delegirt worden ist, Burns hat ein Mandat erhalten, dem Possibilistencongreß beizuwohnen, aber da er selbst innigst mit diesem Socialistencongreß sympathisirt, sei es ihm Bedürfniß, dies der Versammlung zu versichern und die Repräsentanten des allgemeinen Proletariats zu begrüßen.

Mit Einstimmigkeit gibt der Congreß das Wort an John Burns, welcher erklärt, wie es nur aus reinem Zufall gekommen ist, daß er dem collektivistischen Congreß beiwohnt. Die Trades-Union, deren Mitglied er ist, hat die Einladung der Possibilisten zuerst erhalten, und die Einladung zum Congreß der vereinigten Socialisten ist erst eingetroffen, nachdem die erstere Einladung schon formell angenommen war. Er bedauerte, daß die Bestrebungen einer Vereinigung der zwei Congresse nicht Erfolg gehabt haben, aber er hofft, daß das Proletariat davon trotzdem profitiren werde, weil beide Congresse dieselben Fragen behandelt haben. Redner vertritt 57.000 in Trades-Unions organisirte Mechaniker-Arbeiter. Auf dem Continent glaubt man allgemein, daß die englischen Trades-Unions von Grund aus reaktionär und conservativ seien, und zum Theil ist dies wahr. Die Mehrheit der Trades-Unions hat noch nicht die Nothwendigkeit des Internationalismus für jede Arbeiterbewegung begriffen, sie bilden sich ein, ihre Lage verbessern zu können durch rein gewerbliche Organisationen, durch ein ausschließlich nationales Vorgehen. Sie beweisen daher wenig Verständniß und Sympathie für die Kämpfe des nicht englischen Proletariats. Uebrigens ist Gleichgültigkeit für die Brüder der andern Länder, ebenso wie das rückläuferische Streben der Trades-Unions nicht der Fehler der organisirten Arbeiter, sondern einiger Chefs, welche rapide bergab gehen, und welche schon unter ihren eigenen Anhängern discreditirt sind. Die Masse der Tradesunionisten beginnt den gemachten Irrthum zu begreifen, und, unterstützt durch die mit einer schwindelnden Schnelligkeit sich in England entwickelnden ökonomischen Bedingungen, werden sie mehr und mehr klar und bewußt. Von jetzt ab in 5 Jahren wird das Gros der Tradesunionisten in das socialistische Lager übergegangen sein und durch ihren Eintritt die Macht des internationalen Parlaments bedeutend verstärken. Der Anfang dieser Entwicklung ist gemacht. „In meinem Namen und in dem der Arbeiter, welche ich vertrete, begrüße ich den Congreß und wünsche für seine Arbeiten den besten Erfolg. (Beifallssalven.) –

90 Der Bürger Cesar de Paepe, belgischer Delegirter, nimmt das Wort zu Gunsten einer internationalen Arbeitergesetzgebung, weil er von seiner Partei das Mandat erhalten hat, zu dieser Frage Stellung zu nehmen. Außerdem sei es wahrscheinlich das letzte Mal daß er vor einem internationalen Congreß sprechen könne, da seine Gesundheit sehr mißlich sei.

Der Redner will einige Einwendungen zurückweisen, die gegen eine internationale Arbeitergesetzgebung gemacht zu werden pflegen. Von verschiedenen Seiten behaupte man, daß man zu keinem materiellen Erfolge kommen werde, da die Regierungen die in Frage stehenden Forderungen nicht bewilligen; man müßte sich also zufrieden geben mit den agitatorischen Resultaten dieser Forderungen, und es sei in Folge dessen besser, radicalere Formeln aufzustellen. Der Redner findet indeß diese Einwendungen nicht begründet. Er ist der Meinung, daß Forderungen, deren Verwirklichung unmittelbar möglich ist, langsam und allmählich zur Anwendung und Durchführung kommen müssen. Wir verlangen viel von den Regierungen und wir erhalten ohne Zweifel nur wenig und langsam aber wir gelangen Schritt für Schritt zu dem, was wir gewollt haben. Unsere Forderungen bemächtigen sich mehr und mehr der öffentlichen Meinung, und diese übt ihrerseits einen Druck auf die Regierungen aus. Ebenso wenig gerechtfertigt ist der von den Bourgeoisökonomen und den Anarchisten erhobene Einwand, daß eine Arbeitergesetzgebung die Freiheit der Arbeiter bedrohe.

Die Freiheit des Arbeitercontractes bezeichnet heute die absolute Freiheit der Ausbeutung. Erst nach der Socialisirung der Arbeitsmittel kann von einer Freiheit der Arbeit die Rede sein. Die Anarchisten erklären mit Unrecht eine Regelung der Arbeit für eine Beschränkung der persönlichen Freiheit. Der persönliche Wille allein genügt nicht, um den Gesellschaftlichen Mechanismus zu erhalten und vorwärts zu bringen. Eine Regelung der Produktionsbedingungen, der Arbeitsbedingungen macht sich ebenso gut in der Gegenwart wie in der Zukunft nöthig. Wenn der gesellschaftliches Körper leben und thätig sein soll, muß er organisirt sein! – Von einer dritten Seite wendet man noch ein, daß eine internationale Regelung der Arbeit unmöglich sei wegen der verschiedenen Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Ländern. Aber ungeachtet der nationalen und lokalen Verschiedenheiten hat die Macht der Thatsachen uns schon dahin geführt, viele Dinge international zu behandeln und in Gemeinschaft zu haben. So beklagen sich die Arbeiter aller Länder über die nämlichen Uebelstände und formuliren überall dieselben Forderungen. Uebrigens ist es ganz leicht, die internationalen Forderungen unter besonderen und speciellen Bedingungen anzunehmen. So z. B. die Forderung eines Minimallohnes. Wir sind weit entfernt davon, unter dieser Formel zu verstehen, daß der Lohn derselbe in allen Theilen des Erdballs sein solle; aber wir sind der Meinung, daß überall und unter Rechnungtragung an die speciellen Verhältnisse man einen Minimallohn festsetze, unter welchen das Einkommen des Arbeiters nicht gedrückt werden darf. Ueberdies sind bereits viele andere Erfordernisse international formulirt und als international ausführbar anerkannt worden, z. B. die Erfordernisse betreffs der Gesundheitspflege, betreffs der Verwendung giftiger Stoffe, betreffs des Normalarbeitstags etc. Die Schaffung einer internationalen Arbeitergesetzgebung ist ebenso gut ausführbar, als der internationale Post- und Telegraphendienst“.

Der Redner kommt so zu dem Schlusse der Nothwendigkeit einer internationalen Arbeitergesetzgebung und zollt dem Aufruf des schweizerischen Bundesrathes Beifall, wenn er auch viel weitergehende Forderungen aufstellt, und ein vollständiges Programm dessen formulirt, was die Arbeiter an Reformen schon innerhalb der heutigen Gesellschaft erreichen können· (Beifall.) –

91 Vaillant bringt Namens der Syndikatskammern der Provinz folgende bedeutungsvolle Erklärung zur Verlesung: „Die Vertreter der in Syndikatskammern (Gewerkschaften und Fachvereinen) organisirten Arbeiter der Provinz benachrichtigen die fremden Delegationen, daß ihre sämmtlichen Organisationen keine anarchistische Tendenz haben, und daß der Zufall allein es gefügt hat, daß die Delegirten einiger Pariser anarchistischen Gruppen zuerst das Wort in der Generaldiscussion genommen haben, und daß es einen Augenblick den Anschein hatte, als ob sie die Dolmetscher des französischen Proletariats wären. (Es folgen die Unterzeichnungen der Vertreter von mehr als 200 Provinzial-Syndikatskammern.) (Beifall.)

Die Anarchisten antworten Folgendes auf diese Erklärung:

„Wir protestiren gegen die Ausdrücke der Mittheilung, durch welche eine gewisse Anzahl von Provinzialdelegirten erklären, daß die Organisationen, welche sie vertreten, die anarchistischen Lehren zurückweisen. Wir haben nicht weniger das Recht, im Namen der Provinz zu sprechen, als diese Delegirten.

„Wir sprechen in unsern persönlichen Namen und in Kraft der Mandate, die uns anvertraut sind.

„Die Wahrheit ist, daß, wenn die Syndikatskammern, korporativen Gruppen und socialistischen Studienzirkel, die durch die Unterzeichner dieser Mittheilung vertreten sind, keine Anarchisten sind, dagegen die Organisationen, Gruppen und Korporationen, deren Vertreter wir sind, es vollständig sind.

„In Folge dessen protestiren wir alle gegen diese unqualifizirbaren Unterstellungen, die den Zweck haben, glauben zu machen, daß die französische Provinz vollständig anti-anarchistisch sei, und daß die Genossen, welche seit Eröffnung der Generaldiskussion gesprochen haben, nur ganz unbedeutende Mengen (Kräfte) vertreten. Wir geben es unsern Brüdern aller Länder anheim, diese Handlungsweise zu würdigen.“

Diese Gegenprotestation trägt die Namen von 9 Unterzeichnern, von denen einer erklärt, fünfzig Sektionen der Syndikatkammer der Handarbeiter zu vertreten. –

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Bürger Beck, russischer Delegirter, beginnt damit, auseinander zu setzen, daß die Arbeiter- und socialistischen Forderungen, die auf diesem Congreß, betreffend die gesetzliche Regelung der Arbeit, votirt werden, sicherlich den lebhaftesten Widerspruch der Bourgeoisklasse mit ihren Regierungen an der Spitze finden werden. Die Reaktion hat bis in unsere Tage unbekannte Ausdehnungen angenommen, und sie ist universell gegeworden. Nun, es ist bekannt, daß diese Reaktion immer eine beträchtliche Unterstützung seitens des Absolutismus der russischen Regierung gefunden hat. Es liegt also im Interesse der Arbeiterparteien und der Socialisten aller Länder, daß in kürzester Frist der Fall des russischen Absolutismus erfolge, und das umso mehr, als selbst diejenigen europäischen Regierungen die sich bis jetzt durch ihre demokratischen Tendenzen ausgezeichnet haben, anfangen sich zur Verfügung des Despoten von St. Petersburg zu stellen.

Die Frage über die Mittel und die Wege, welche nothwendig sind, damit die Forderungen der Arbeiter triumphiren, ist daher eng verbunden mit der Frage: welches ist die sociale Macht in Rußland, die dieses Reich der Ungesetzlichkeit, des Mißbrauches und der Willkür stürzen wird?

In Rücksicht auf die bemessene Zeit, die dem Redner zur Verfügung steht, muß er darauf verzichten, statistische Angaben zu citiren. Aber bevor er die gestellte Frage selbst erörtert, muß er ein Wort über die Art und Weise sagen, mit der man sie von Zeit zu Zeit in Europa und selbst in Russland zu lösen glaubt.

Rußland, sagt man uns, befindet sich in der Periode des Ueberganges von den alten wirthschaftlichen Formen zu den neuen Formen. Die Naturalwirthschaft stirbt ab, um der Marktproduktion Platz zu machen; die ländliche Genossenschaft zerfällt, während die kapitalistische Produktion von Tag zu Tag sich rapider entwickelt; in gleicher Zeit beginnt 92 die Bourgeoisie, deren Klassenbewußtsein mehr und mehr lebendig wird, zu finden, daß die gegenwärtigen politischen Formen Rußlands ihre Entwicklung hemmen; die Collision zwischen ihr und dem absolutistischen Regiment ist daher unvermeidlich und wird als erstes Resultat den Fall des Absolutismus haben u. s. w. Das politische und revolutionäre Programm, welches die Folge dieser Auffassung ist, ist ganz klar und einfach; aber der Idealismus dieser Auffassung springt sofort in die Augen, wenn man einen Blick in die russische Geschichte der letzten 25 Jahre wirft. Es ist dem Redner wichtig, diesen Punkt wohl zu erwägen, denn er betrachtet die auf die revolutionären Tendenzen der russischen Bourgeoisie gestützten Hoffnungen als vollständig illusorisch und geeignet, unglückliche Folgen für die gemeinsame Sache der russischen Socialisten und der Socialisten der westlichen Europas zu haben. So bedeutend als die durch diese Einbildung versprochenen Vortheile seien, bekämpft sie der Redner dennoch, da jede Einbildung bekämpft werden muß.

Bei Beginn der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts war das Rußland des Nikolaus des Ersten, des Araktscheieff, das Rußland der Leibeigenschaft und der unbegrenzten Willkür des Adels in dem tiefsten Sumpfe der Zersplitterung und der inneren Fäulniß versunken. Die produktiven Kräfte des Volkes, welche gefesselt waren durch eine polizeiliche Organisation der Justiz und der lokalen Verwaltung, die ihr Zubehör bildete, strengten sich an, die Hindernisse zu überwinden, welche sich ihrer Entwicklung entgegenstellten. Die Interessen Europas, wo die Industrie sich mächtig entwickelt hatte, befanden sich im Widerspruch mit einer Einrichtung, welche einen so großen Markt wie Russland in den ausschließlichen Besitz einer Band voll Adeliger und Bezirkssatrapen gab, der Art, daß in dem Krimkrieg von 1851–56 ein furchtbarer Zusammenstoß erfolgte zwischen dem alten Rußland und dem bürgerlichen Europa, aus dem ersteres vollständig geschlagen hervorging. Diese Niederlage, welche auf andere Weise ihren Ausdruck fand in den Worten, die Alexander II. 1860 an den Adel Moskau’s richtete, – „befreien wir“, sagt er, „die Leibeigenen von oben, damit sie sich nicht von unten befreien“ – machte den bestehenden Zustand unmöglich. Die Empörungen der Landleute trieben die russische Gesellschaft und Regierung dazu, mit mehr Entschiedenheit zu handeln. Das Manifest vom 19. Februar 1861 eröffnete eine neue Aera in der Geschichte Rußlands: es hob die Leibeigenschaft auf, es schaffte für breite Reformen die Grundzüge, nach denen auf dem Gebiete der Justiz, der Bezirksselbstregierung, der Verwaltung, der Censur etc. zu verfahren war. Die Mehrzahl dieser Reformen vollzogen sich in der That in bestimmter Zeit. Von 1862 bis 1870 ging die Trennung der Gewalt von der Verwaltung und der Gewalt vom Unterricht, die Einrichtung der „Zemstwo“ (Landesversammlungen), die Oeffentlichkeit des Gerichtsverfahrens, die Wählbarkeit der Friedensrichter und die Gemeinde-Einrichtungen vor sich. Der Grundsatz der Walh berechtigung nach dem Dreiklassenwahlsystem, weit entfernt die ideale Form der Theilnahme der Bevölkerung an der örtlichen Verwaltung zu sein, bezeichnete trotzdem einen großen Schritt vorwärts Alle diese Reformen, ebenso wie das Reglement der allgemeinen Militärdienstpflicht, des Loskaufs der Bodentheile der Landleute etc. gaben dem Selfgovernement, um die Wahrheit zu sagen, keine genügend weite Ausdehnung, aber sie änderten immerhin den Charakter der socialen Beziehungen des folgenden Zeitraumes. Die Zemstwo und die Munizipalitäten, denen die Gesellschaft direkt und indirekt ihre besten Kräfte opferte, begannen mit Energie in Thätigkeit zu treten und erzielten augenscheinlich Erfolge. Die Fragen, die einen direkten Bezug zu den Bedürfnissen des Volkes hatten, wurden auf die Tagesordnung gebracht und theilweise gelöst; der öffentliche Unterricht, die öffentliche Unterstützung, die öffentliche Versorgung, die Versicherung der Arbeitsprodukte des Volkes machten, befreit von der Vormundschaft der Regierung, in kurzer Zeit einen ansehnlichen Fortschritt, der alles das weit hinter 93 sich ließ, was auf diesem Gebiet durch eine allmächtige Regierung erreicht worden war. Die erzielten Fortschritte illustriren den glänzenden Sieg, welchen der Grundsatz der Wahlbeamten (besser Beamtenwahlen) über denjenigen der bureaukratischen Einrichtungen davon getragen hatte.

In derselben Zeit hatten wesentliche Aenderungen auf dem ökonomischen Gebiete stattgefunden. Die Arbeit, vom Joch der Leibeigenschaft befreit, wurde rechtlich Herrin ihrer selbst und organisirte sich auf anderen Grundlagen, vertheilte sich auf eine andere Art unter den verschiedenen Zweigen der nationalen Produktion. Ein Theil, dabei immer noch fortfahrend sich mit der Landwirthschaft zu beschäftigen, fing an, am Handel und an der Industrie des Landes Theil zu nehmen. Die Kapitalisten, die sich bis dahin fast ausschließlich auf den Ackerbau concentrirt hatten, begaben sich auf das Gebiet des Wuchers und der Manufaktur. Die ungünstigen Bedingungen der Ländervertheilung zwangen die Landleute in vielen Fällen die ihnen zugetheilten Grundstücke zu verlassen. Zu dem Proletariat, welches in der vorhergehenden Zeit in den der Krone und dem Adel gehörigen Fabriken, Hütten und Minen beschäftigt worden war, – und zu dem Proletariat, das von den häuslichen Leibeigenen herstammte, die nach der Aufhebung der Leibeigenschaft keine Bodenantheile erhielten, kam auch das Bauernproletariat, und die auf dem Markte angebotenen Arbeitskräfte vermehrten sich beständig; und das Angebot von Händen bis zum Ueberfluß sicherte dem Kapital einen baldigen Triumph. Der Triumph war um so sicherer, als der Machtantritt des Kapitalismus in Rußland zu einer Zeit statt fand, wo die Entwicklung des Maschinenwesens und der Technik schon einen hohen Grad erreicht hatte. Das fremde Kapital hat in diesem Fall vielleicht eine wichtigere Rolle gespielt als das russische Kapital selbst, da es von dem billigen Arbeitsmarkt und der Ausdehnung des Absatzgebietes angelockt ward. Aber vor Allem war es die Regierung, die in Rußland zu dem Triumphe des Kapitalismus beitrug. Da sie vollständig freie Hand hatte, so erschöpfte sie während langer Jahre beinahe den Staatsschatz durch Milliarden, vertheilt unter der Form von Subventionen, Prämien, Zinsgarantien zum Schaden des Volkes. In der Periode, welche auf die Befreiung der Leibeigenen folgte, war das Staatsbudget von der allmächtigen Regierung preisgegeben einer Hand voll räuberischer Fabrikanten, Wucherer und Großgrundbesitzer.

In Folge dieser Thatsachen zeigte sich ein enormer Aufschwung der nationalen Produktion, des commerciellen Umsatzes, der Entwicklung des Creditwesens und der Verkehrsmittel. In 20 Jahren hat Rußland an der Seite der Mächte Westeuropa’s Platz genommen, wenn auch nicht durch die verhältnißmäßigen Mengen seiner Produktion, so doch durch den Charakter seiner wirthschaftlichen Entwicklung. Die Staatsschuld, welche 5 Milliarden übersteigt, ist der beste Beweis für die Anstrengungen der Regierung, auf dem Wege des Kapitalismus zu marschiren, aber auch der Beweis des Elendes, welches dadurch für das Volk entstand. Der Kapitalismus hat also in Rußland triumphirt, wie er überall triumphirt hat. Aber erfüllt in Rußland das Kapital dieselbe Rolle wie überall da, wo sein Reich gesichert war? Hat es in Rußland die produktiven Kräfte wie anderwärts in einer beschränkten Zahl von Fabriken, Hütten und Bergwerken concentrirt? Hat es die Produktionsmittel in den Händen einer kleinen Anzahl Eigenthühmer angehäuft? Wie haben sich bis jetzt Formen des wirthschaftlichen Volkslebens conserviren können, wie die Ackerbaugemeinschaft, die Produktivgemeinschaft (arteli)? Warum wurde in Rußland nicht die absolute Gewalt mit der Abschaffung der Leibeigenschaft abgeschafft, wie sich das anderwärts machte? Um auf diese Fragen zu antworten, muß man die geschichtlichen Bedingungen der Formen des gesellschaftlichen und politischen Lebens in Rußland in Betracht ziehen – Bedingungen, welche einen Einfluß auf die Entstehung der neuen Formen ausgeübt haben, und welche nach der Einführung der Leibeigenschaft eintraten. Die Land-Gemeinde, 94 die geschichtliche Grundlage des Eigenthums und der wirthschaftlichen Verhältnisse hat in der ländlichen Bevölkerung einen gewissen Geist der Solidarität geschaffen, welcher den zerstörenden Bestrebungen des Großkapitals zu widerstehen wußte. Die Erziehung der intelligenten Klassen, die seit Jahrhunderten in sklavischem Gehorsam gegen die Regierungsorgane groß geworden waren, die Unterdrückung ihrer mäßigsten politischen Bestrebungen, die Herrschaft der Romanoff – alles dies hat Wirkungen gehabt, die nicht in wenigen Jahrzehnten eines neuen Lebens verschwinden konnten. Der Mangel an Einigkeit und das beschauliche, duldsame Temperament dieser Klassen haben als Grundlage gedient, auf welche der Absolutismus sich stützte. Aber neben diesen Umständen war noch ein anderer sowohl vor als nach der Aufhebung der Leibeigenschaft thätig – das ist der Einfluß des internationalen Kapitals und die Entwicklung, zu welcher es in dem Augenblick gelangt war, als es sich in Rußland einführte. Wenn es ein Land gibt, von dem man behaupten kann, daß das Reich des Kapitalismus zu spät in demselben gekommen sei, um seine ganze historische Rolle zu erfüllen, so ist es sicher Rußland. Die Aufhebung der Leibeigenschaft ist daselbst in einer Zeit erfolgt, wo der Kapitalismus in Europa schon alle die inneren von ihm untrennbaren Widersprüche erregt hat. Einer dieser Widersprüche, derjenige, welcher zwischen der wachsenden Nothwendigkeit, den Umfang der Produktion zu erweiterte und der sich vermindernden Fähigkeit des Marktes besteht, diese Waarenmengen aufzunehmen, mit denen er überschwemmt wird, hat schon in Europa sporadische Empörungen des Marktes gegen diese Art der Produktion, des Austausches und der Vertheilung hervorgerufen. Die russische Bourgeoisie, die sich unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft mit der Concurrenz in dem Angebot der Hände beschenkt hatte, beklagte sich in der Person der Großgrundbesitzer über den hohen Preis der Arbeitskräfte, obwohl dieser so niedrig war und noch ist, daß viele Kapitalisten es vorziehen, mit den unvollkommensten Werkzeugen arbeiten zu lassen. Aber diese Klagen hatten ihren Grund in dem wenig gesicherten Binnenmarkte. Je mehr sich der Kapitalismus ausdehnt, je mehr diese Unsicherheit des Marktes sich vermehrt, um so mehr vermindert sich die Kaufkraft des Volkes im Maße und Verhältnisse, als die Maschine den Arbeiter ersetzt. Bei einem gewissen Punkte der kapitalistischen Entwicklung sieht sich die Bourgeoisie gezwungen, einen Theil ihres Vortheils zu opfern, um sich den innern Markt zu erhalten. Alsdann zerstört das Großkapital nicht die Formen des Kleinbetriebes und des Kleinbesitzes, wie die Hausindustrie, die Kleinindustrie, die ländliche Gemeinde, es nimmt sie für seine Zwecke an, ohne sie zu vernichten, indem es sie für den innern Markt gebraucht.

Diese Thatsachen, von denen es in der Geschichte jedes anderen Landes analoge Beispiele gibt, hat seine Bedeutung für das wirthschaftliche Leben Rußlands. Alle statistischen Untersuchungen haben gezeigt, daß die Zahl der großen Fabriken und Hütten in den letzten zehn Jahren fast vollständig die gleiche geblieben ist; ebenso daß die Zahl der in der Großindustrie, in der Kleinindustrie und in der Landwirthschaft beschäftigten Arbeiter im Allgemeinen sich kaum vermehrt hat. Weiter ist das Grundeigenthum weit entfernt davon, sich in den Händen einer kleinen Anzahl Eigenthümer anzuhäufen; die Verhältnisse zwischen der Großindustrie und der nationalen Produktion im Allgemeinen haben sich fast gar nicht verändert, obwohl die erstere einen großen Aufschwung von 1881 bis 1882 genommen hatte – ein durch die schnelle Einführung der Maschinen in der Industrie bezeugter Aufschwung. Außerdem beschäftigt neben den großen Fabriken die Kleinindustrie eine viel größere Anzahl Arbeiter als das die Großindustrie, und diese Zahl vermindert sich nicht. Diese Thatsachen erklären sich durch die innere Ohnmacht, eine Charakter-Eigenschaft des Kapitalismus in seiner letzten Epoche, und bezeichnend für die Unordnung der universellen Industrie.

Russland war so ziemlich der industriellen Krise von 1873 entgangen, 95 wurde aber vollständig von der allgemeinen Krisis von 1879 bis 1882 ergriffen, welche Krise noch heute andauert. Seit dieser Zeit unterliegt die russische Industrie allen Consequenzen des inneren Verfalles des internationalen Kapitalismus. Die Produktion in vielen industriellen Zweigen beginnt, ebenso wie die Ausdehnung des auswärtigen Handels, sich zu vermindern. Die sichersten großen Unternehmungen werden zweifelhaft und scheitern oft. Das einzige Mittel, den Markt zu garantiren, d. h. die Ländereroberung und ihre Beschützung durch Steuergrenzen und Kosaken, ist unwirksam geworden, da England im Orient und Oesterreich im Südwesten sich in der Nothwendigkeit sehen, zu demselben Mittel zu greifen. Die Eroberung neuer Märkte ist sehr schwierig, und das kapitalistische Europa erwartet mit Schrecken den Augenblick der wirthschaftlichen Emanzipation der Kolonien. Gleichzeitig sind die Arbeiter zu Tausenden auf das Pflaster geworfen und bilden große Armeen von „Barfüßlern“ (Vagabunden); Tausende von Landleuten, die ihren Acker verlassen haben, suchen vergeblich Arbeit oder einen Ort, um einen neuen Heerd zu gründen. Die Regierung sucht Mittel, um den Wirkungen dieser Lage vorzubeugen. Graf Ignatieff denkt an eine antisemitische Bewegung; die Arbeiter werden in Masse aus den industriellen Centren in ihre Heimathsorte transportirt. Empörungen der Landleute, welche die Regierung mit militärischer Gewalt unterdrückt, indem sie die Führer zum Tode verurtheilt, fortwährende Arbeitseinstellungen, das sind die charakteristischen Thatsachen der letzten Jahre in Rußland. Der Kapitalismus, der sich in Rußland zu einer Zeit eingeführt hatte, wo er eine universelle und internationale Produktionsweise geworden war, ist also auf dem Wege seine historische Rolle zu beenden, dort wie anderwärts.

Zusammen mit allen andern Ländern Europas nähert sich Rußland heute dem Ende dieser Aera, indem es mit ihnen den Wirkungen des internationalen Kapitalismus unterliegt. Es ist also zu spät, von der Zerstörung der volksthümlichen Produktions- und Eigenthumsformen in einer Zeit zu sprechen, wo das Kapital seit dem Beginn seiner Aera in Russland gezwungen ist, dieselben aufrecht zu erhalten. Es ist zu spät, von der Entwicklung des Kapitalismus in einer nahen Zukunft zu sprechen, in einer Zeit, wo derselbe beginnt, unter seinem eigenen Gewicht zusammen zu stürzen; es ist endlich zu spät, liberale und verbessernde Bestrebungen der russischen Bourgeoisie zu berücksichtigen, nachdem diese unmittelbar nach der Aufhebung der Leibeigenschaft nicht die nöthige Kraft gehabt hat, um organische Verbindungen mit den Interessen des Volkes zu schaffen und es in derselben Weise wie die europäische Bourgeoisie zu täuschen. Seit seinem Auftreten in Rußland hat der Kapitalismus das Bedürfniß einer unbeschränkten Macht, um seine Parasitenexistenz zu garantiren, um alle Stimmen zum Schweigen zu bringen, welche die Gefahren seiner Herrschaft verkündeten, um allen kritischen Geist zu ersticken, und um sich gegen den kämpfenden Socialismus zu vertheidigen. Die absolutistische Herrschaft war daher bis jetzt und wird in Zukunft das politische Programm der russischen Bourgeoisie rein. Die Interessen der Dynastie der Romanoff und der Bourgeoisie sind die nämlichen.

Bezeichnend für die Geschichte Russlands in den letzten Jahrzehnten ist die Thatsache, daß die verschiedenen socialistischen Parteien sich an der Spitze der revolutionären Bewegung gegen den Absolutismus befinden, daß sie es sind, die ihn im Namen des Volkes bekämpfen. Diese Thatsache erklärt sich daraus, daß die Arbeiterforderungen sich auf der Tagesordnung erhalten, und daß sie eine Aenderung der jetzigen politischen Ordnung verlangen. Die Bourgeoisie, welche ihre geschichtlichen Ueberlieferungen verleugnet, wird reaktionär und conservativ; an den arbeitenden Klassen ist es, die Zukunft zu bringen. Russland hat noch keine organisirte und ihrer geschichtlichen Aufgabe bewußten Arbeiterklasse, aber die socialistische Partei wird das politische Terrain behaupten, und die politischen Rechte sind zu 96 ihrer Entwicklung unbedingt nothwendig. In Europa vertheidigen die revolutionären Socialisten diese Rechte gegen die Bourgeoisie, welche sie schon erworben hat. In Rußland sind sie gezwungen, zugleich den Absolutismus und die Bourgeoisie zu bekämpfen, um die politische Freiheit zu erlangen. Der Socialismus ist die einzige Macht, die es verstehen wird, die politischen Rechte zu erlangen und zu bewahren; sie allein wird den russischen Absolutismus überwinden. Die russische Bourgeoisie ist gezwungen, selbst die verschiedenen volksthümlichen Produktions- und Eigenthumsformen aufrecht zu erhalten. Aber sie hält sie heute aufrecht, um sie morgen zu untergraben, und das Elend des Volkes kann nicht durch die Landgemeinschaft geheilt werden. Einzig die vollständige Umwandlung der politischen, socialen und wirthschaftlichen Ordnung kann hier helfen.

Indeß ebenso wie die Socialisten Europas ihre Gründe haben, eine Arbeitergesetzgebung zu fordern, ebenso verlangen die russischen Socialisten, wenigstens diejenigen, welche dem Programm der Narodnaja wolja (Volkswille) zustimmen, die Beschützung der Landgemeinschaft und der Erwerbsgenossenschaften (arteli) durch den Staat. Das russische Volk hat in den gegenwärtigen Bedingungen von diesen Ueberbleibseln seiner geschichtlichen Vergangenheit Vortheil gezogen. In den Jahren 1880 bis 1883 – Jahre der Krise für Rußland – konnten sich die Fabrikarbeiter in Ermangelung jeder Organisation nicht gegen die Fabrikanten und Wucherer vertheidigen; die ländlichen Arbeiter fanden Mittel des Widerstands in ihren Sitten und Gewohnheiten, die eine Folge der Einrichtungen der Landgemeinschaft sind. In einer großen Zahl Distrikte hat der „Mir“, das administrative Organ der Landleute, bewirkt, daß ein fester Lohn für die ländlichen Arbeiter durchgeführt ward, und dies Beispiel wurde von den Regierungen ganzer Gouvernements befolgt. Die hier dargelegten Thatsachen, wollen wir hoffen, genügen, um die Forderungen der dem Programm der „Narodnaja wolja“ anhängenden russischen Socialisten, betreffend die Unterstützung der Landgemeinschaft, welche als Form des Volkslebens eine große Wichtigkeit für den gegenwärtigen Moment, wie für die nächste Zukunft hat, zu rechtfertigen.


Bürger Dulucq erklärt sich für eine internationale Arbeitergesetzgebung, aber ser verlangt von dem Congreß, daß derselbe formelle Resolutionen fasse über die Art und Weise, wie die Parteien und die Organisationen, die ihnen zugestimmt haben, für die Verwirklichung der aufgestellten Forderungen kämpfen müssen.

Bürger Combemoreil bemerkt, daß der Munizipalrath von Paris viel thut, um den 9stündigen Arbeitstag für die städtischen Arbeiter einzuführen. Die politischen Machthaber annullirten die Resolution des Munizipalrathes; doch führte dieser, indem er seinen Beschluß aufrecht erhielt den neunstündigen Arbeitstag auch für die von Privatunternehmern bei städtischen Arbeiten beschäftigten Arbeiter ein. Er ist in seiner Majorität einig in dem Verlangen nach Schutzmaßregeln, als nothwendigen Mitteln, um die Arbeiter für ihre vollständige Befreiung vorzubereiten.

Bürger Chauvière, Munizipalrath von Paris, empfiehlt als bestes Mittel, um die Resolutionen des Congresses zu verwirklichen, die von Blanqui verlangte Entwaffnung der Bourgeoisie durch die Abschaffung der stehenden Heere und die Volksbewaffnung.

Dupré, Delegirter der Möbeltischler der Vorstadt St. Antoine, bekämpft die Meinung, daß die Arbeiter gute Erfolge von einer Arbeitergesetzgebung zu erhoffen haben. Bis in unsere Tage ist noch nie die Gesetzgebung für das Beste und zum Nutzen des Volkes thätig gewesen. Alle Gesetzgebung von gestern ist wurmstichig, und die von morgen wird faulig sein. Man hat lange genug von wirthschaftlichen Fragen gesprochen, aber bei aller Behandlung dieser Fragen ist die Sache des Volkes nicht vorwärts geschritten. Man muß das Kapital vernichten, die Kapitalisten und 97 alle Monopole. (Ironische Zurufe von den Deutschen: „Es muß Alles verungenirt werden!“)

Bürger Domela Nieuwenhuis, holländischer Delegirter, beginnt damit, zu constatiren, daß, wie es ihm scheint, der Congreß ein großer Erfolg in so weit ist, als er die Einigkeit der Socialisten der ganzen Welt zum Ausdruck brachte, aber daß er ein schlechter Erfolg in Bezug auf die Tagesordnung ist, mit welcher man den letzten Tag begonnen hat, wo mit Ausnahme einiger Privilegirter, Niemand länger als fünf minuten sprechen darf! Nun gut! Ich erkläre, sagt er, daß ich kein Zauberkünstler bin, welcher eine so große und so schwer wiegende Frage in so wenig Zeit erörtern kann. Deshalb verzichte ich auf das Wort für die Frage selbst. Aber ich verlange Ihre Aufmerksamkeit, um einige Bemerkungen zu der Rede meines Freundes de Paepe zuzufügen.

Ich verlange nichts vom Parlamentarismus, gerade weil ich Mitglied eines Parlaments bin, weil ich die ganze Comödie gesehen habe. Alle die, welche Mitglieder eines Parlamentes sind, frage ich durch unsern Vorsitzenden Cunninghame Graham, Mitglied des englischen Parlamentes ob sie, ja oder nein, etwas vom Parlamentarismus erwarten? Das Wort „Parlament“ ist aus zwei Worten zusammengesetzt, die nach einem geistreichen Schriftsteller vollständig den Charakter des Gegenstandes bezeichnen, d. h. aus „parle“ (spricht) und „ment“ (lügt [1]). Die Parlamente sind daher Versammlungen, in denen man spricht und lügt. Wer kann die Parlamente auf einen kürzere und eine bestimmtere Manier bezeichnen? Die Parlamente sind sprechende Versammlungen, und das ist nicht allein der Fehler der Personen, nein des Systems selbst. Wir haben es hier gesehen.

Unser Congreß ist zusammengesetzt aus Auserlesenen; kein Parlament der ganzen Welt kann sich mit diesem Parlament hier vergleichen, und doch, frage ich Sie, ob es nicht genau dieselben Fehler gemacht hat? Man hat viel gesprochen, selbst zu viel, und am Ende ist man gezwungen abzustimmen und Resolutionen anzunehmen, die man vorher präparirt hat, ohne die Zeit oder Gelegenheit zu haben, sie ernsthaft zu diskutiren. Der Fehler ist also in dem System. Aber nehmen wir einmal einen Augenblick an, daß wir auf der ganzen Linie triumphirt hätten, nehmen wir an, daß wir eine Arbeitergesetzgebung, wie wir sie wünschen, haben: sagen Sie mir, glauben Sie, daß die allgemeine Lage sich viel zu Gunsten der Arbeiter ändern würde? Wenn man mich um meine Meinung fragt, werde ich ganz freimüthig sagen, daß der schlechteste Streich, den uns die Regierungen spielen könnten, der wäre, Ihre Vorschläge anzunehmen, denn auf 20 bis 25 Jahre hätten sie jede revolutionäre socialistische Bewegung unter den Arbeitern ertödtet. Glücklicherweise sind die Regierungen blind und begreifen nicht die Lage. Aber für mich besteht die größte Gefahr des achtstündigen Arbeitstags darin: für die Arbeiter wird die Einführung desselben in jedem Fall eine ungeheure Enttäuschung sein; denn die Arbeiter können thun, was sie wollen, sie können den achtstündigen Arbeitstag einführen, sie können auswandern, sie können sich der Ehe enthalten und den Neu-Malthusianismus praktiziren, überhaupt gar keine Kinder erzeugen – das Kapital wird immer Mittel finden, sich vor einer Lohnerhöhung zu schützen, die es zu tragen hätte, und es wird sich seine Beute nicht entwischen lassen; nur mit Gewalt wird man sie ihm entreißen können. So lange die kapitalistische Produktion bestehen bleibt, erhebt sich der Lohn nicht über das, was zur Erhaltung der produktiven Kraft nöthig ist. Die Kapitalisten, welche Herren der Regierungen sind, werden den achtstündigen Arbeitstag geben, wenn sie sehen werden, daß dies das einzige Mittel ist, sieh zu erhalten; und so lange sie die Herren bleiben, werden die Arbeiter die Sklaven bleiben. Das Höchste, was die Arbeiter erreichen werden, wird sein, daß die Sklavenketten in Sammt oder Seide eingewickelt werden; die Ketten 98 werden dennoch Ketten bleiben. Dann werden die Arbeiter sehen, daß das Uebel nicht in der Arbeitszeit besteht, und nicht im Lohne, andernfalls wären die Wirkungen mit den Ursachen verschwunden, sondern daß die Ursache des Uebels die unvollkommene und völlig ungerechte Vertheilung der Arbeitsprodukte ist. Nun gut, ohne diese Ursache zu unterdrücken, wird man niemals das Elend und die Sklaverei unterdrücken.

Caroll Wright, Sekretär des amerikanischen Statistischen Bureaus, hat dies vollkommen begriffen, wenn er sagt:

Eine der wichtigsten Fragen, die eine Lösung erheischen, ist die Frage, die sich immer mehrenden Arbeitsprodukte unter die Producenten aus eine verhältnißmäßige und gerechtere Weise zu vertheilen, denn die unvollkommene Vertheilung und nicht die Ueberproduktion ist das große Uebel, an dem der sociale Körper leidet. Das Kapital trägt jetzt den Löwenantheil davon, und deshalb waren die Arbeiter gezwungen, sich zu organisiren und drohen sie, gegen den Kapitalismus zu agitiren. Der Conflikt zwischen Kapital und Arbeit kann nur gelöst werden durch Abschaffung des Lohnsystems und seine Ersetzung durch die genossenschaftliche Arbeit.“

Hier ist das Uebel und hier ist das Heilmittel. Wenn wir, die wir hartköpfige Socialisten sind, wenn wir uns zu den Vorkämpfern einer Arbeitergesetzgebung machen, so mu? man einsehen, daß dies ein Zugeständniß unsererseits ist; deshalb sind wir der Meinung des englischen Inspektors Saunders, daß Schritte, um die Gesellschaft zu reformiren, mit einigem Erfolg nicht gemacht werden können, wenn der Arbeitstag nicht von vornherein begrenzt ist, und wenn die gesetzlichen Grenzen nicht mit Strenge innegehalten werden. Wir werden uns dieser Verkürzung des Arbeitstages als eines Hebebaumes bedienen, damit der proletarische Riese, der zu Boden geworfen ist und sich gegen die Fußtritte seiner Tyrannen nicht schützen kann, sich aus die Füße erhebe und Gebrauch von seiner Kraft mache. Das ist der einzige Grund, warum ich mir denken kann, daß ein überzeugter Socialist sich anstrengt, um eine solche These durchzusetzen – es scheint mir, daß das Ultimatum der Arbeiterklasse an die herrschende Klasse nicht kürzer und bestimmter ausgedrückt werden kann, als in den vier Forderungen der Engländer;

Eight hours to work, eight hours to play,
Eight hours to sleep and eight shillings a day.

(8 Stunden Arbeit, 8 Stunden Erholung, 8 Stunden Schlaf und 8 Schilling den Tag) –, von welchen Forderungen er im Voraus weiß, daß sie keine gründliche Besserung geben. Im Evangelium befindet sich ein Gleichniß, das mir immer in den Sinn kommt, wenn man die Arbeitergesetzgebung erörtert: „Niemand setzt einen neuen Lappen auf ein altes Kleid, denn er zerreißt es und das Loch wird größer“. Nun, trifft dies nicht auch bei der Frage zu, die wir erörtern? Der Kapitalismus, d. h. das System, durch welches der Arbeiter an dem Eigenbesitz des Arbeitsproduktes und Arbeitsmittels gehindert wird, – der Kapitalismus ist unser Feind, und wie Cato stets betonte, „Carthaginem esse delendam“ (Carthago muß zerstört werden), so müßten auch wir immer und überall sagen: Der Kapitalismus muß zerstört werden!

Wenn wir einen Arbeitstag von 8 Stunden wollen, so ist dies nur ein Mittel, niemals ein Zweck. Ein Eisenbahnzug kann nicht immer fahren, er muß manchmal anhalten, um Wasser einzunehmen; je weniger er sich unterwegs aufhält, um so besser, und wir suchen das Mittel, um ihn möglichst wenig anhalten zu lassen. Für uns ist der achtstündige Arbeitstag eine Station, auf der man sich ein wenig aufhält, um sich zu erfrischen und um dann den Kampf mit größerer Kraft und besser bewaffnet wieder beginnen zu können. Der achtstündige Arbeitstag ist nichts als eine Kriegswaffe und er ist nur eine provisorische Maßregel. Die Arbeiter müssen wissen, daß sie nicht am Ende des Kampfes sind, wenn sie den Normalarbeitstag-Gesetzerlaß erlangt haben, ja daß dann der eigentliche Kampf erst anfängt.

99 Es ist nicht nothwendig, Socialist zu sein, um mit uns nach diesem Ziele zu marschiren, und unser Socialisten-Congreß ist sehr bescheiden, selbst zu bescheiden, wenn er nur diese Forderung erhebt. Das ist der Grund, warum es, wenn wir eine solche Gesetzgebung fordern, nöthig ist, hinzuzufügen: eine solche Gesetzgebung auf socialistischen Boden ist wie eine Pflanze in einem Sumpfboden. Wir müssen sagen: das persönliche Eigenthum ist das größte Uebel; ohne seine Zerstörung erlangen wir nicht die ersehnte Heilung. – Wenn man wir einen Platz in einem Ministerium anböte – ich hoffe nicht, und ich fürchte nicht, daß man es thun wird –, so stelle ich eine einzige Bedingung aus, nämlich die: will man das persönliche Eigenthum angreifen? Wenn man mir antwortste: ja, so würde ich zögernd annehmen, aber pflichtgemäß; wenn man mir antwortete: nein, so würde ich sagen: hebe Dich weg von mir, Satanas, Du willst mich verführen!

Man verlangte von Plato, er solle Musterinstitutionen vorschlagen, Gesetze für eine grichische Stadt. Der Philosoph antwortete: „Gern, aber wird es unter uns Eigenthümer geben?“ „Ohne Zweifel“, antwortete man ihm, „jeder von uns wird sein Feld besitzen und wird es mit Mauern umgeben können“. – „Dann habe ich Euch nichts mehr zu sagen; baut Eure Stadt, Andre werden sie dem Erdboden gleich machen und Ihr werdet Euch nicht verstheidigen können“. – Diese Antwort des Philosophen sagt Alles. Wenn das persönliche Eigenthum die Grundlage unserer Gesellschaft bleibt, so bleiben Armut, Sklaverei, Elend mit allen ihren Folgen den Arbeitern, und der vierte Stand, der nichts ist und alles werden muß, kann seine Rechte und seinen Platz nicht anders an sich nehmen, als dadurch, daß er die private Form des Eigenthums zerstört die sich überlebt hat. Jeder Vorschlag für eine internationale Arbeitergesetzgebung wird mit Sympathie empfangen, aber wir antworten immer, sie ist nicht genügend, sie ist nur ein erster Schritt; ceterum censeo – im übrigen meine ich: das Privat-Eigenthum muß zerstort werden.

Wir nehmen die Resolution Bebel’s an, aber nur unter diesen beiden Bedingungen: daß zu dem höchstfestgesetzten Arbeitstag ein niedrigstfestgesetzter (Minimal-) Lohn hinzugefügt; und daß in der Begründung erklärt wird, daß die Arbeitergesetzgebung nur eine vorübergehende Maßregel ist, und daß das Loos der Arbeiter sich niemals verbessern kann, wenn man nicht aus dem Rahmen des persönlichen Eigenthums als Grundlage des Gesellschaft heraustritt; und daß unser Ziel ist und bleibt: die Umwandlung des Privat-Eigenthums in gesellschaftliches Eigenthum. (Beifall.)

Bürger Liebknecht erklärt in vollem Einverständniß mit den deutschen Delegirten, daß er nicht in eine Diskussion über die Nützlichkeit des Parlamentarismus eintreten wolle. Wir wissen, sagt er, was wir von dem Parlamentarismus zu halten haben, aber aus unserem Schweigen darf nicht geschlossen werden, daß wir uns in Einklang mit der absoluten Verwerfung desselben befinden, welche Domela Nieuwenhuis soeben ausgesprochen hat. Unsere Stellung zum Parliamentarismus ist auf unseren Congressen scharf definirt worden, und ich verweise einfach auf die bezüglichen Verhandlungen.

Was die Folgen einer Arbeitergesetzgebung betrifft, so ist Redner überzeugt, daß die Verwirklichung der Schutzgesetze, weit entfernt, die Arbeiterbewegung aufzuhaltet, sie begünstigen und viel dazu beitragen werde, ihr einen mächtigen Aufschwung zu geben.

(Beifall und Zeichen der Zustimmung seitens der deutschen Delegirten.)

Das Bureau macht dann Mittheilung der für die Verunglückten von St. Etienne und für einen an der „Mauer der Föderirten“ (Communarden) niederzulegenden Kranz gesammelten Summen. Es ersucht dann die Delegirten der Weber der verschiedenen Länder, sich nach der Sitzung zum Zweck einer internationalen Verständigung zu versammeln.

Die Sitzung wird um 1 Uhr geschlossen, und soll 1½ Uhr wieder ausgenommen werden. Gemäß dem Beschluß des Congresses wird die Versammlung dann zur Abstimmung über die Resolutionen schreiten.

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Anmerkung des Herausgebers

1. Das Wortspiel ist französisch – Parlament heißt auf französisch: parlement.

 

 


Zuletzt aktualisiert am 26. Dezember 2022