Clara Zetkin

 

Rede zu Ehren Lenins
auf dem Sowjetkongreß der UdSSR
in Moskau

(26. Januar 1924)


Prawda (Moskau), Nr.24 vom 31. Januar 1924.
Clara Zetkin, Für die Sowjetmacht, Artikel, Reden und Briefe, Berlin 1977, S.344-350.
Kopiert mit Dank von der verschwundenen Webseite Marxistische Bubliothek.
Transkription und HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Genossen und Genossinnen! Im Namen der deutschen Genossen habe ich Euch zu sagen: Euer unersetzlicher Verlust ist auch unser unersetzlicher Verlust; Euer unermeßlicher Schmerz ist auch unser unermeßlicher Schmerz. Wir teilen Eure heiße und grenzenlose Dankbarkeit gegenüber dem großen Lenin. Euer heiliges Gelöbnis ist auch unser Gelöbnis : In seinem Geist zu arbeiten und zu kämpfen, das große Werk zu hüten und fortzusetzen, an das er sein Herzblut gegeben hat. Wir deutschen Kommunisten und über die Reihen unserer Partei hinaus alle Proletarier Deutschlands, die einen Funken Haß gegen den Kapitalismus empfinden, sind eins in tiefer Trauer mit Euch allen in diesem Saale, mit den Zehntausenden und aber Zehntausenden in den Fabriken und Straßen Moskaus, mit den ungezählten Millionen Arbeitern und Bauern in Sowjetrußland, im Bund der sozialistischen Sowjetrepubliken, mit den ungezählten Millionen von Unterdrückten und Ausgebeuteten in der ganzen Welt: die Proletarier in den modernen kapitalistischen Betrieben Europas und Amerikas, die Fellachen in Ägypten, die Völkerschaften im Nahen und Fernen Osten.

Lenin ist nicht mehr! Für die Kommunistische Partei Deutschlands wurde er zu einem funkelnden, wegweisenden Stern. Lange Zeit erkannten wir in der Internationale nicht die ganze. Kraft seines Leuchtens. Erst als die Nacht immer tiefer und dunkler wurde, brannte dieses Licht hell für uns alle. Lenin wurde zum Lehrer der Kommunistischen Partei Deutschlands, er lehrte sie, den richtigen Weg zwischen Stürmen und Wogen zu finden.

Als die kapitalistischen Großmächte die Völker gegeneinander in den Krieg hetzten, wurde der schändliche Bankrott der deutschen Sozialdemokratie wie der anderen sozialdemokratischen Parteien offenbar. Die Mehrheit der sozialdemokratischen Führer befand sich im Schlepptau der imperialistischen Bourgeoisie, und nur ein kleines Fähnlein von Sozialisten blieb in Deutschland auf der Höhe des internationalistischen Bewußtseins des Proletariats. Vielen schien es in dieser Zeit, daß zusammen mit den Verwundeten, den auf den Schlachtfeldern Sterbenden auch der Sozialismus sein Leben aushauchte. Das dauerte solange, bis die Stimme der russischen Revolution die Geschütze des imperialistischen Krieges übertönte: „Ich war, ich bin, ich werde sein!“ Die große russische Revolution war die Kristallisation des Willens und des zielgerichteten Handelns der Massen. Aber sie gewannen diesen zielgerichteten Charakter nur, weil sie sich um die bolschewistische Partei zusammenschlossen, deren unerschütterlicher und weitsichtiger Führer Genosse Lenin war.

Er war der stählerne Wille der bolschewistischen Partei und folglich auch der russischen Revolution. Sein Name wurde zum Mittelpunkt, um den sich die bewußten Arbeiter ganz Rußlands und nicht nur Rußlands sammelten. Um ihn sammelten sich insbesondere auch die Kommunisten Deutschlands. Sein Name belebte aufs neue unter den Millionen Kämpfern in Deutschland den Glauben an die Zukunft. Nicht nur der Erfolg der Diktatur des Proletariats in Rußland gab Lenin das Recht auf die Rolle eines Führers des europäischen Proletariats, sondern auch seine Führerpersönlichkeit selbst.

Kaum hatten sich die revolutionären Kämpfer der deutschen Arbeiterbewegung im Spartakusbund, in der Kommunistischen Partei Deutschlands, zusammengeschlossen, als fürchterliche Schläge auf die junge Partei herniederprasselten. Ihre Reihen wurden gelichtet, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg fielen. Ein Trost in diesen schweren Stunden war das Bewußtsein, daß Lenin nahe und bereit war, bei der Überwindung aller Schwierigkeiten zu helfen. Seine tiefe, klare, grundsätzliche Überzeugung, sein reiches historisches und soziales Wissen, seine große revolutionäre Erfahrung – all das erweckte dieses Vertrauen zu ihm. Die Kommunistische Partei Deutschlands war noch nicht über den Berg; sie hatte den Verlust von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg noch nicht verwunden; noch dauerten die revolutionären Kämpfe an, in denen die Arbeiterklasse ihren Rückzug verteidigte; noch ging der Kampf um die Existenz der Kommunistischen Partei selbst, als sie von tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten erschüttert wurde. Diskussionen um Fragen des Parlamentarismus, die Form der Parteiorganisation, das Verhältnis zu den Gewerkschaften – all das drohte, die Partei zu zerreißen. Worum ging es? Es ging darum, ob sie sich in eine große revolutionäre Massenpartei verwandelte oder zu einer reinen Propaganda-Sekte erstarrte. Die Märzereignisse [1921] führten aufs neue zu leidenschaftlichen Diskussionen, und wieder stand das Gespenst der Spaltung vor der Kommunistischen Partei. Wächst die Möglichkeit der Weltrevolution oder schwindet sie? Kommunistische Offensive oder Verzicht auf sie? Auf diese Fragen mußten die Kommunistische Partei und die III. Internationale antworten. Und Lenin gab auf all diese Fragen eine richtige Antwort. Er wies darauf hin, daß in erster Linie die Arbeiterpartei, die Parteiorganisation, behütet werden muß. Aber die Tätigkeit der Partei muß aktiviert, verstärkt und ausgedehnt werden, sie muß sich mit den Massen verschmelzen. Die Partei muß ihre Reihen zusammenschließen und als Führerin der Massen handeln. Lenin vermochte es, der deutschen Partei den richtigen, den rettenden Weg zu weisen.

Lenin, unser hervorragender, aufrichtigster Freund, unser großer Führer, ist von uns gegangen. Wir empfinden tiefen Schmerz. Jede Faser, jeder Nerv ist jetzt angespannt, um den erlittenen Verlust wettzumachen.

Wir sind fest überzeugt, daß das vertiefte Selbstbewußtsein der Partei, die Erkenntnis ihrer Fehler und Schwächen es ihr ermöglichen werden, neue Kräfte zu sammeln. Wie unschätzbar wäre auch heute für uns der scharfe und klare Blick Lenins! Wir dürfen den Schatz der Theorie, den Schatz der Erfahrungen, die er uns als Erbe hinterließ, nicht verlieren. Wir müssen uns von dem ehrgeizigen Willen leiten lassen, im Geiste Lenins vorwärtszuschreiten, seine Sache weiter zu verfechten. Die deutsche Partei ist bereit, ihre revolutionäre Aktivität- sowohl in den Parteizellen selbst als auch unter den Arbeitern – bis zur höchsten Anspannung zu steigern, um die Massen zur Eroberung der Macht zu führen. Sie wird sich dabei immer aufs neue die Kunst des unübertroffenen Meisters der Revolution aneignen. Sie wird – wie er – mit kühlem Verstand alle Umstände abwägen. Sie wird die Taktik und die Methoden Lenins auf deutschem Boden anwenden. Die Kommunisten Deutschlands neigen sich vor Lenin als dem großen Meister im Reiche der Gedanken, der revolutionären Theorie, wo im Glanz des Ideals so leicht die Grenzen sich verwischen, der Blick ins Wesenlose schweift und die wohlgegründete Erde unter den unsicheren Sohlen schwindet. Sie neigen sich vor ihm als dem großen Meister der revolutionären Tat auf dem harten Boden des geschichtlich Gegebenen, wo die Fülle der widerspruchsvollen Erscheinungen so leicht den Blick verwirrt und über dem Nebensächlichen, Kleinen, das hehre Ziel vergessen; den Fuß straucheln macht.

Aus tiefgründigem, weitfassendem Studium erwuchs Lenin die unerschütterliche Glaubenskraft an die Befreiung des Proletariats durch die Revolution als das Werk des Proletariats selbst. Mit stärkstem Wirklichkeitssinn und durchdringendem Scharfblick erfaßte er die gegebenen Umstände, unter denen dieses Werk vor sich geht. So verband er organisch Ideal und Wirklichkeit, war zielsicher und wegekundig wie keiner. Ein Riese, ragte er über die Knirpse jener bürgerlichen wie reformistischen „Realpolitiker“ empor, für die der kleine Tageserfolg der angebetete Götze ist und der Verrat von Grundsätzen der Anfang, das A und O aller Politik. Lenin hat in vorbildlicher Weise gezeigt, wie man Politik macht, ohne aufzuhören, Kommunist zu sein, wie man sich dadurch täglich mit den Massen verbindet und mehr macht als Politik, nämlich Geschichte. Lenin war bei all seinem Glauben an das Endziel der größte, der genialste revolutionäre Realpolitiker aller Zeiten und Länder. Er konnte nur der große Revolutionär und Führer sein, weil er ein hochstehender, großer Mensch war von grundgütigem, reinem Herzen. Lenin hat die Feuerprobe der härtesten Verfolgungen bestanden. Verfolgungen raubten ihm nicht den Mut, sondern stählten ihn. Er hat sich in der bei weitem schwereren Feuerprobe des Erfolges, des überwältigenden Erfolges bewährt. Erfolge machten ihn nicht hochmütig, sondern vergrößerten sein Verantwortungsgefühl vor der Arbeiterklasse. Lenin blieb unter allen Umständen – guten und schlechten – der Gleiche. Groß in seiner Überzeugung von den Bedingungen und dem Sieg der Revolution, in der ehernen Konsequenz seines Denkens und Handelns; in seiner grenzenlosen Hingabe an die Sache des Proletariats, der Ausgebeuteten und Unterdrückten. Groß in der Schlichtheit, der Echtheit seines Wesens, der Anspruchslosigkeit und Bescheidenheit seiner Lebenshaltung. Groß in der Liebe für alle Kleinen, in seinem tiefen, hilfsbereiten Mitgefühl für jedes fremde Leid, in seinem innigen Verbundensein mit der Natur, dem Weltganzen. Lenins edle Menschlichkeit war die letzte, starke Wurzel seiner bewunderungswürdigen, unvergleichlichen revolutionären Kraft. So ist er für uns deutsche Kommunisten der geniale große Führer und der vorbildliche große Mensch. Lenin ist tot, aber er bleibt für uns lebendig in seinem unsterblichen Lebenswerk – in der Kommunistischen Partei Rußlands, im Sowjetrußland der Arbeiter und Bauern, in der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und in der III. Internationale. In der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken fügt sich harmonisch der jugendliche, in voller Kraft stehende, zukunftsreiche Osten mit der reifen, verfeinerten westlichen Kultur zusammen, die in ihrer Einheit ein unerhörtes Aufblühen der Menschheitskultur erreichen werden. Wirklichkeit wird werden, was Lenin mit genialem, prophetischem Blick vorausgeschaut und woran er seinen titanenhaften Willen bis zum letzten bewußten Hauch gesetzt hat. Diese Wirklichkeit wird das einzige Denkmal sein, das seiner würdig ist. Für diese Wirklichkeit werden wir unseren Kampf und unsere Arbeit fortsetzen. Fest an die Sache der Revolution glaubend und alle Kräfte anspannend, werden wir beweisen, daß wir seiner würdig sind – eines so edlen, so kühnen, so kraftvollen Führers. Mit diesem Gelöbnis senken wir heute die Fahne vor Lenins Bahre. So ehren wir den Unsterblichen.


Zuletzt aktualisiert am 19.7.2008