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Clara Zetkin, Der Kampf der Kommunistischen Parteien gegen Kriegsgefahr und Krieg, Bericht auf der Konferenz der erweiterten Exekutive der Kommunistischen Internationale, Hamburg 1922.
Nachgedruckt in Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd.II, Dietz Verlang, Berlin 1960, S.496-569.
Mit freundlicher Genehmigung des Karl Dietz Verlags.
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Genossinnen und Genossen! Als jene, die sich mit Stolz die zivilisierte Menschheit nennen, unter dem Eindruck der Schecken, Gräuel und Verbrechen des letzten imperialistischen Krieges schauderten, ertönte überall der Schrei: Dieser Krieg muss der letzte gewesen sein. Jetzt sind drei Jahre seit Kriegsende verflossen, zwei Jahre seit den verschiedenen Friedensschlüssen. Und was sehen wir? Die Welt starrt von neuem in Waffen, die Rüstungen und die Gefahren neuer imperialistischer Kriege sind größer als vor 1914. Die Atmosphäre der kapitalistischen Welt und darüber hinaus der Länder, die mehr oder weniger in den Bannkreis dieser kapitalistischen Welt geraten sind, zeigt sich überladen mit Zündstoff an dem sich jederzeit neue Kriege entflammen können: Kriege gewaltiger an Umfang, furchtbarer an Gräueln und weittragender in ihren Folgen als der Krieg von 1914 bis 1918.
Welches sind die Umstände, die dafür sprechen, dass wir uns in gesteigerter Kriegsgefahr befinden? Die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze zwischen den großen kapitalistischen Staaten Europas, die zu dem letzten imperialistischen Raubkriege geführt haben, sind nicht beseitigt worden. Sie bestehen weiter, allerdings in veränderter Form und unter veränderten Umständen. Dazu sind zwischen diesen Staaten in dem Ringen um Weltgeltung und Weltausbeutung neue und noch schwerere Gegensätze entstanden. Damit nicht genug. Während des Krieges haben sich bereits vorhandene weltwirtschaftlichen Gegensätze zwischen England, den Vereinigten Staaten und Japan weiterentwickelt. Sie sind seit Friedensschluss nicht etwa gemildert, sondern noch gesteigert worden. In der Welt der Kolonialvölker, in den Ländern, wo Völker vorkapitalistischer Kultur fürchten müssen, von dem Kapitalismus verschlungen zu werden, zeigt sich andauernde, immer leidenschaftlichere Erregung. Sie entlädt sich in Fremden- und Europäerhass, in Aufständen und Kriegen. Instinktiv oder bewusst empfinden diese Völker in der kapitalistischen „Kultur“, der sie unterworfen sind oder unterworfen werden sollen, den Feind und nicht ihren „Erzieher“.
Sowjetrussland ist durch die Blockade wie auch durch die vom internationalen Imperialismus bezahlten und unterstützten Kriegszüge weißgardistischer Generale vom Weltmarkt abgeschlossen worden. Ungeachtet des gemeinsamen Hasses aller Staaten gegen die Arbeiter-und-Bauern-Republik treten zwischen den einzelnen europäischen Großmächten und den Vereinigten Staaten gegenüber Sowjetrussland ebenfalls Gegensätze zutage. Der Weltkrieg war der Ausdruck der Tatsache, dass sich die Produktivkräfte zu gewaltig entfaltet haben, um bei kapitalistischer Wirtschaft im Rahmen der bürgerlichen Nationalstaaten genügend Spielraum zu finden. Sie bedurften der „größeren Vaterländer“, des Auswirkens auf dem Weltmarkt. Was aber ist im Widerspruch zu dieser Entwicklung geschehen? Auf dem Boden Europas sind eine Reihe neuer kleiner Staaten entstanden. Wir haben die nationalen Republiken, die sich aus dem Zerfall Österreich-Ungarns gebildet haben, dann die sogenannten Randstaaten zwischen Westeuropa und Sowjetrussland. Neue Zollmauern sind damit aufgerichtet worden, die in das Mittelalter passen würden, aber nicht in die Zeit des Imperialismus. Vergegenwärtigen wir uns die angedeuteten weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze in ihren groben Linien etwas näher.
Welches war die stärkste treibende Kraft des Weltkrieges von 1914 bis 1918? Es war nicht der Gegensatz zwischen Frankreich und Deutschland, sondern zwischen England und Deutschland Es ging für diese beiden gewaltigen Industriestaaten um die Weltmachtstellung, die Herrschaft auf dem Weltmarkt, über große geschlossene Ausbeutungsgebiete. Der deutsche Imperialismus liegt heute zerschmettert am Boden. Aber Englands Stellung zu Deutschland ist damit zwiespältig, widerspruchsvoll geworden. Der englische Imperialismus muss bestrebt sein, Deutschland in so harten Fesseln zu halten, dass es ihm nie wieder als Konkurrent um Weltausbeutung und Weltherrschaft gefährlich werden könnte. Aber gleichzeitig bedarf die englische Industrie für ihre Waren eines kaufkräftigen Deutschlands. Dieses Bedürfnis verträgt sich nicht mit der schrankenlosen Ausplünderung Deutschlands durch den Ententeimperialismus.
Der französische Imperialismus muss danach trachten, alle Kosten des Krieges Deutschland aufzubürden, alle Übel, die der Krieg hinterlassen hat, auf Kosten Deutschlands gutzumachen. Deutschland soll die Mittel liefern, um sowohl die zerrüttete französische Wirtschaft wie auch den am Rande des Bankrotts hin- und herschwankenden französischen Staat wieder zu befestigen und zu erhalten. Das ist nur möglich, wenn Deutschland im buchstäblichen Sinne des Wortes bis zum Weißbluten ausgepresst wird. Nun liegen aber die Dinge so: Deutschland ist tatsächlich durch den Krieg und seine Folgen verarmt. Der Produktionsapparat der deutschen Wirtschaft hat sich infolge der übermäßigen Ausnützung während des Krieges und der ungenügenden Verbesserung seither verschlechtert. Er ist weniger leistungsfähig als vor dem Kriege. Die Produktivität nicht nur der Industrie, sondern auch der Landwirtschaft ist erheblich gesunken. Mit der Verschlechterung des Produktionsapparates hat sich auch die Produktivkraft der Arbeiter vermindert. Diese ist außerdem all diese Jahre über durch unzulängliche Entlohnung und Unterernährung erheblich herabgedrückt worden. Dazu die Geldentwertung, die Inflation, die Ausplünderung durch den französischen Imperialismus. Das hat in Rückwirkung auf England weittragende Folgen. In seiner jetzigen Verarmung ist Deutschland außerstande, einen aufnahmefähigen und kaufkräftigen Markt für englische Waren zu bieten. Die englische Industrie hat sich aber wieder etwas belebt, sie bedarf der Märkte, sucht sie – von Konkurrenz bedrängt – auch in Deutschland und kann sie dort um so weniger finden, je kraftloser die deutsche Wirtschaft am Boden liegt, je tiefer die Mark sinkt.
Noch in anderer Beziehung wirkt Deutschlands Ausbeutung durch den französischen Imperialismus auf Englands Wirtschaft zurück. Deutschland soll die riesigen Reparationsforderungen zahlen. Das kann es nur, wenn es seinen Export außerordentlich steigert. Aber dieser findet unter besonderen Umständen statt: in der Zeit der Inflation, der Valutaschwankungen usw. folgt zumal unter dem Anreiz der ganz entwerteten deutschen Mark, ein Anreiz, der Deutschland bekanntlich in ein großes Ausverkaufslager verwandelt hat. Die deutsche Industrie legt alles auf den ausländischen Markt, was nicht niet- und nagelfest ist, nicht nur Waren, auch Produktionsmittel, Produktionsapparate. An Stelle des Handels ist die wüsteste Spekulation getreten. Sogar der deutsche Boden wird verkauft. Er kann allerdings nicht über die Grenze verschoben werden, aber dafür kommen ausländische Kapitalisten nach Deutschland und erwerben Grundbesitz, Häuser usw. In dieser Situation überschwemmen billige und billigste deutsche Waren alle Auslandsmärkte. Sie sind eine furchtbare Schmutzkonkurrenz. Die Grundlage dafür ist die ungeheure Ausbeutung des deutschen Proletariats, sind dessen Hungerlöhne. Die deutsche Ware schlägt alle anderen Waren auf dem Weltmarkt, nicht etwa, weil sie hochwertigste Ware wäre, sondern weil sie weltwirtschaftlich betrachtet unterwertig ist. Sie enthält über den Durchschnitt gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit. Der deutsche Arbeiter wird miserabel entlohnt ... Gegen die Schmutzkonkurrenz der deutschen Waren sind alle Zölle, alle Antidumping- Gesetze machtlos. Die englische Industrie wird dadurch nicht bloß auf den Auslandsmärkten zurückgedrängt, sondern sie verliert sogar einheimische Absatzgebiete. Nach wie vor herrschen also schärfste weltwirtschaftliche Gegensätze zwischen England und Deutschland. Die Schwächung des deutschen Imperialismus hat keine Stärkung Englands zur Folge gehabt, sondern eine Schwächung und Bedrohung. Obendrein ist Deutschlands Schwächung erfolgt Hand in Hand mit einer sehr großen Machtstärkung des französischen Imperialismus.
Der Krieg ist für die wirtschaftliche Entwicklung Frankreichs von einschneidendster Bedeutung gewesen. Die französische Industrie hat dank seinem Ausgang einen neuen, starken Anstoß erhalten: einen veränderten Charakter. Frankreich ist heute nicht mehr der Rentnerstaat, der aller Welt leiht, es ist nicht mehr vor allem die Werkstatt für die Produktion von feinen Handschuhen, Parfüms, künstlichen Blumen, Luxusartikeln aller Art, usw. Im steigenden Maße wird es mit Erzeugnissen der Schwerindustrie konkurrierend auf den Weltmarkt kommen. An Stelle des Bankkapitals spielt auch in Frankreich mehr und mehr das Finanzkapital die entscheidende Rolle.
Frankreich hat im Weltkriege behalten, was der deutsche Imperialismus holen wollte: die reichen Erzgebiete von Longwy und Briey. Sein Reichtum an Erzlagern ist vermehrt worden durch die Zurückeroberung von Elsaß-Lothringen und damit der so vorzüglichen lothringischen Minette. Dicht vor Frankreich liegt das kleine Luxemburg mit seinen großartigen Hüttenwerken, produktionstechnisch modernste, fortgeschrittenste Typen ihrer Art. In Luxemburgs Hüttenindustrie ist viel französisches Kapital angelegt. Frankreich beherrscht in Wirklichkeit politisch das kleine Land. Frankreich verfügt so über die größten Eisenerzlager von Europa, und vor seinen Toren ist Deutschland mit dem größten Kohlenreichtum des Kontinents. Vereinigung von Eisenerz und Kohle in einer Hand bedeutet ungeheure wirtschaftliche Macht, die Verfügungsgewalt die beiden wichtigsten Urstoffe der Produktion Europas.
Es ist deshalb kein Zufall, kein bloßer militärischer Gloirekitzel, dass Frankreich immer und immer wieder nach dem Besitz des Ruhrgebietes mit seinen reichen Kohlenlagern drängt. Ebenso erklärt es sich, dass England der Gier des französischen Imperialismus danach in den Arm fällt, dass es aber die Gegensätze zwischen Deutschland und Frankreich lebendig und wirksam zu halten sucht. Denn ob die Vereinigung von Erz- und Kohlenlagern erfolgt durch Annexion oder durch Verträge, das ist gehupft wie gesprungen. Die Verfügungsmacht über die beiden Urstoffe der Produktion vereinigt, würde ein tödlicher Schlag für Englands Wirtschaft, für seine Stellung auf dem Weltmarkt sein.
Aber auch ohne diese Zusammenfassung ist ein kraftvoller Aufschwung der französischen Industrie zu erwarten, gefördert durch die Kohle des Saargebietes und die deutschen Reparationskohlen. Diese Kohlenund Koksmengen begünstigen die Entwicklung der französischen Industrie – kennzeichnend dafür sind die großen Kapitalanlagen in der Industrie, die großzügigen Kanalisationspläne – und bedeuten schon jetzt eine schwere Konkurrenz gegen die englische Kohle. Frankreich ist außerdem bestrebt, sich die Ausbeutung noch weiterer Kohlenlager zu sichern. In der Tschechoslowakei und in Polen nimmt französisches Kapital steigenden Anteil an der Kohleproduktion. Gleichzeitig drängt es den englischen Einfluss bei der Gewinnung eines anderen wichtigen Heizmaterials für die Industrie zurück: bei der Gewinnung des Petroleums. In Ostgalizien und Rumänien haben französische Kapitalistengruppen einen großen Teil der Petroleumquellen unter ihren Einfluss gebracht. Frankreichs politische und militärische Beziehungen zu der Kleinen Entente wie zu den baltischen Randstaaten werden immer enger und fester. Es ist geradezu unumschränkter Herr in Polen, das wirtschaftlich und politisch vor allem von seiner Gnade existiert. In allen diesen Ländern wird in der Politik und auf den Märkten Englands Stellung durch Frankreich erschüttert und bedroht. Jedoch das Verhältnis zwischen Frankreich, der Kleinen Entente, Polen und den Randstaaten schließt noch mehr in sich. Den offenen, gesicherten Weg für das französische Kapital zur Ausbeutung der Balkanländer und Sowjetrusslands auf Kosten Englands. Gleichzeitig aber auch die Aufrichtung eines Walls, der Deutschland von Sowjetrussland abschnürt.
Frankreich hat weiter England gegenüber dank seiner Kolonien eine starke Position. Frankreichs Kolonialgebiete – wenigstens die wichtigsten, Marokko und Algerien – liegen sehr günstig, nicht weit vom Mutterland. Sie sind wertvolle Stützpunkte der französischen Herrschaft auf dem Mittelmeer. Durch den Angora-Vertrag mit der Türkei hat Frankreich Englands Macht über das Schwarze Meer und in Kleinasien erheblich geschwächt, seine eigene Machtstellung dort befestigt und namentlich an politischem Einfluss in den mohammedanischen Gebieten gewonnen, für die der Bestand eines türkischen Staates auch von großer religiöser Bedeutung ist. Frankreich hat festen Fuß in Syrien gefasst.
So zeigen sich zwei Gebiete scharfer weltwirtschaftlicher, weltpolitischer Interessenkonflikte zwischen dem französischen und dem englischen Imperialismus. Das eine Gebiet ist Deutschland, das andere der nahe Orient. Die Regierungen Deutschlands, wie sie auch immer seit dem Novemberumsturz zusammengesetzt sind, haben rat- und haltlos jederzeit und immer wieder auf den Interessengegensatz zwischen Frankreich und England gegenüber Deutschland spekuliert. Sie haben gewähnt, dass dieser Gegensatz England dazu führen müsse, die harten Bedingungen des Versailler Vertrages zu mildern. Aber, Genossen, der politische Blick der Regierungen unter Ebert ging nie über ihre Nasenspitze hinaus, nämlich nicht über die deutsche Grenze. Die Herren haben nie in Erwägung gezogen, dass der Interessenkonflikt zwischen dem französischen und englischen Imperialismus in Vorderasien weit größer und in seinen Auswirkungen viel weittragender für die Weltstellung Englands ist als der Gegensatz der beiden Mächte im Verhältnis zu Deutschland.
Jedes Mal hat sich erwiesen, dass Deutschland für England nichts anderes ist als ein Kompensationsobjekt. Man denke nur an die oberschlesische Frage. Als sie akut wurde, war die deutsche Bourgeoisie voll gläubiger Hoffnungsseligkeit. Sie redete sich ein, die oberschlesische Frage müsse zugunsten Deutschlands gelöst werden, dank Englands Interesse an einer gewissen Blüte der Wirtschaft des Reiches. Es ist ganz anders gekommen. England kam Frankreichs Ansprüchen in Oberschlesien entgegen, um dafür wertvolle Konzessionen Frankreichs in Kleinasien zu erschachern. Englands Interessen im Nahen Orient überragen bei weitem seine Interessen in Deutschland.
Wie liegen die Dinge? In Südosteuropa, in Klein- und Vorderasien geht es für den englischen Imperialismus um mehr als nur um die Ausbeutung von Minen und Eisenbahnen und geschlossene Ausbeutungsgebiete. Es geht dort auch um den sichersten kürzesten Weg nach Indien, Großbritanniens wichtigstem Kolonialbesitz, dem Eckstein des englischen Weltmachtbaues. Die Sicherheit dieses Weges im Westen ist durch die Feste Gibraltar gegeben, sie begreift in sich die freie Fahrt englischer Handels- und Kriegsschiffe auf dem Mittelmeere, in dem Malta ein fester militärischer Stützpunkt ist. Nicht minder wichtig, unerlässlich ist Englands Macht am Schwarzen Meer, an den Dardanellen, in Ägypten und damit am Suezkanal. Von da an soll der Weg zu Lande nach Indien gesichert werden durch ein arabisches Reich, das zwar der Form nach selbständig, aber in Wirklichkeit vollständig von England abhängig ist. Ihm hätten sich anzureihen starke Positionen Englands in Mesopotamien, Persien und Afghanistan. Die Sicherung des Weges nach Indien wird für den englischen Imperialismus immer bedeutsamer in dem Maße, als fast ständig revolutionäre Bewegungen Indien erschüttern. England muss damit rechnen, rasch große Truppenmassen, Munition usw. nach dort senden zu können. Das Ringen um Weltmacht und Weltausbeutung häuft zwischen Frankreich und England reichen Konfliktstoff an, der sich in neuen Kriegen entladen kann.
Noch von anderer Seite her ist jedoch heute Englands Weltmachtstellung hart bedrängt. Während des Krieges haben sich die Vereinigten Staaten wirtschaftlich geradezu riesig entwickelt. Wir kannten sie vor dem Kriege vor allem als Lieferanten von Rohstoffen und Lebensmitteln; die Kapitalisten Europas schätzten sie als Abnehmer von Fertigfabrikaten. Was sehen wir jetzt? Die Vereinigten Staaten sind während des Krieges Lieferanten größten Stils von Industrieerzeugnissen geworden. Der produktionstechnische Apparat der amerikanischen Industrie hat einen fabelhaften Umfang erreicht, aber vor allen Dingen auch erheblich an Vervollkommnung gewonnen. Es ist nicht ohne Interesse, dass zum Teil auch gerade deutsche Techniker, deutsche Chemiker, deutsche Ingenieure dazu beigetragen haben, dass die Industrie der Vereinigten Staaten aus grober Quantitätsproduktion zu hochwertiger Qualitätsproduktion geworden ist. Eine Illustration des Patriotismus, der den guten Bürger aller Länder ausrufen lässt: „Wo es mir gut geht, ist mein Vaterland.“ In Deutschland hatten die Prozent- und Bierbankpatrioten aufgerechnet, dass nach dem Kriege die deutsche Industrie so im Handumdrehen die alten Auslandsmärkte wieder erlangen werde, namentlich auch in den Vereinigten Staaten. Man verließ sich darauf, die deutsche Qualitätsware könne auf dem Weltmarkt nicht entbehrt werden. Und jetzt? Nicht nur die deutsche, sondern auch die englische Qualitätsproduktion mancher Industriezweige hat in den amerikanischen Waren gefährliche Konkurrenten gefunden und wurde zum Teil von ihnen verdrängt. Das aber nicht bloß von den Märkten der Vereinigten Staaten selbst, Zentral- und Südamerikas usw., vielmehr auch von den europäischen Märkten.
Dieser Stand der Dinge ist für die englische Industrie höchst bedrohlich. Er wirkt auch auf das Verhältnis der Klassen zueinander zurück. Die englischen Unternehmer verlieren die Neigung und – kapitalistisch gerechnet – auch die Möglichkeit, die Arbeiter durch Konzessionen einzulullen, die Klassengegensätze schärfen sich und werden von den Proletariern bewusster empfunden. Wer in dem Konkurrenzkampf zwischen England und den Vereinigten Staaten auf dem Weltmarkt Sieger bleibt, ist noch nicht entschieden. Bezeichnend ist der Konkurrenzkampf zwischen der englischen und der amerikanischen Kohle. England beherrschte in der Vorkriegszeit mit seiner Kohle den Weltmarkt. Es wurde durch Amerika von dort verdrängt. Erst in letzter Zeit hat die englische Kohle wieder angefangen, sich Märkte in der ganzen Welt und auch in Amerika selbst zurückzuerobern. Die Konkurrenz in den Osthäfen der Vereinigten Staaten ist bereits derart heiß, dass der Präsident Harding die Eisenbahngesellschaften aufgefordert hat, ab 1. Januar dieses Jahres die Transportkosten für amerikanische Kohle um 5 Cent pro Tonne herabzusetzen, damit sie leichter die englische Konkurrenz bestehen könne.
Jedoch noch ein anderes Heizmittel für die Industrie kann, ja wird in steigendem Maße zur schärfsten Konkurrenz zwischen England und Amerika treiben und Konfliktgebiete zwischen beiden schaffen. Das ist das Petroleum. Die Verwendung von Petroleum gewinnt in der Industrie immer größere Bedeutung Das Petroleum ist der Kohle an Heizkraft überlegen, und die Heizwirkung tritt rascher ein als bei der Kohle. Das Petroleum lässt sich leichter handhaben, leichter transportieren und ist reinlicher als Kohle, seine Verwendung bedeutet eine erhebliche Ersparnis an Arbeitszeit und Arbeitskraft. Gegenwärtig findet das Petroleum schon eine starke Verwendung in der Industrie, insbesondere zur Kesselheizung und zum Antrieb bestimmter Motoren. Ganz besonders wichtig ist es für die Maschinenbeheizung der Kriegsschiffe; der rationellste technische Betrieb der Kriegsschiffe ist aber allein schon eine Lebensfrage für den englischen Imperialismus. Sehr wichtig sind auch die Petroleumprodukte, vor allem das Benzin.
Die Vereinigten Staaten verfügen über 62 Prozent des Petroleumreichtums der ganzen Welt; dazu kommen noch 25 Prozent dieses Reichtums in Mexiko, auf die die Vereinigten Staaten die Vorhand haben. England besitzt Petroleumquellen in Indien, auf der Insel Trinidad, auf Borneo. Es trachtet einen steigenden Einfluss zu gewinnen, die Hand zu legen auf die reichen Naphthavorräte in der Gegend von Baku, in Mesopotamien und Persien. Der Kampf um die Herrschaft über die Petroleumquellen zwischen England und den Vereinigten Staaten wird in der Zukunft höchstwahrscheinlich ein sehr heißer sein.
Die Vereinigten Staaten konnten dank der Lage während des Krieges ihre eigenen Schulden in Europa zahlen und den alliierten Mächten Riesensummen leihen. Sie sind heute der große Gläubiger der europäischen Staaten. Deren Kriegsschulden bei ihnen betragen über zehn Milliarden Dollar, zusammen mit den rückständigen Zinsen rund zwölf Milliarden Dollar. Ein Goldstrom ist ihnen zugeflossen. Mehr als die Hälfte des Goldschatzes der Welt befindet sich in den Vereinigten Staaten, und noch jetzt häuft sich dort mit jedem Tage mehr Gold an. Wie bereits erwähnt, sind die Produktionsmittel der nordamerikanischen Industrie außerordentlich vervollkommnet worden. Heute leisten zwei amerikanische Arbeiter ebensoviel wie fünf englische. Riesige Produktionskräfte verlangen Betätigung, das heißt bei kapitalistischer Wirtschaft: Profitmöglichkeit. Der Imperialismus der Vereinigten Staaten strebt danach, dem Kapital die größten Ausbeutungsobjekte zu erschließen und zu sichern. Die Konkurrenzfähigkeit, ja die Herrschaft auf den Märkten Zentral- und Südamerikas genügt dem Ausdehnungs- und Ausbeutungsbedürfnis des Kapitalismus der Vereinigten Staaten nicht mehr. Die Monroe-Doktrin veraltet, überlebt sich. Aber auch Europa erscheint als ein zu winziger Spielraum für die riesenhaften Produktivkräfte der Vereinigten Staaten. Sie fordern das gewaltigste Wirtschaftsgebiet der Welt: China und daneben Ostsibirien, wohin der Bevölkerungsüberschuss des himmlischen Reiches der Mitte abströmen wird.
Es kommt augenscheinlich dem Kapitalismus der Vereinigten Staaten nicht bloß darauf an, dort gute und sichere Absatzmärkte zu gewinnen, die reichen Naturschätze des Landes, wie Kohle, Erze usw., auszubeuten. Er ist vielmehr bestrebt, Ausbeutungsgewalt über die Arbeitskraft des chinesischen Volkes selbst zu erhalten. China umfasst ein Viertel der Gesamtbevölkerung der Erde. Das chinesische Volk ist anspruchslos, durch vieltausendjährige alte Kultur zu höchster Arbeitsdisziplin und Arbeitsleistung erzogen. Es scheint den Kapitalisten der Vereinigten Staaten geradezu prädestiniert dafür, in die Tretmühle der Profitpresserei gesperrt zu werden. Der Imperialismus der Vereinigten Staaten ist bis jetzt nicht darauf ausgegangen, abgeschlossene Ausbeutungsgebiete in China zu erobern, wie dies der Natur des Imperialismus entspricht und wie es die europäischen Staaten dort getan haben. Er hat sich in der Hauptsache begnügt, auf den Märkten Chinas erobernd vorzudringen. Aber die friedliche Eroberung des Landes wird ihm erschwert, ja unmöglich gemacht durch die Positionen und die geschlossenen Ausbeutungsgebiete, die die europäischen Staaten – in erster Linie England – ihren Kapitalisten in China gesichert haben.
Jedoch zu dem englischen Wettbewerb um Ausbeutungsgewalt in China ist ein neuer außereuropäischer getreten. Während des Weltkrieges hat sich auch die Industrie. Japans riesig entwickelt. Und der junge japanische Kapitalismus hat schon jetzt die ausgesprochenen Züge eines eroberungstollen Imperialismus. In Japan ruht die politische Herrschaft trotz der geschaffenen Karikatur eines bürgerlichen Parlamentarismus in den Händen einer feudalen militärischen Adelskaste. Machthunger und Tradition haben zur raschesten Entwicklung eines modernen Militarismus getrieben. Japan wurde – wie es hieß – „das Preußen Ostasiens“. In der Wirtschaft des Landes herrscht die Bourgeoisie. Ihm Drang nach Erweiterung ihres Ausbeutungsgebietes und die Sehnsucht der Militärkaste nach Ruhm und Eroberungen vereinigen sich in der imperialistischen Politik Japans, die das verhältnismäßig kleine Reich zu einem bedeutenden Machtfaktor werden ließ.
Japans Industrie hat die Situation während des Krieges ausgenutzt. Sie hat sich sprunghaft erweitert. Sie eroberte Märkte in Südamerika, an den Küsten des Stillen Ozeans, in China und in Australien. Viele Japaner sind im Westen der Vereinigten Staaten, namentlich in Kalifornien eingewandert. Nicht nur als Industriearbeiter, nicht nur als Händler mit japanischen Industrieerzeugnissen, sondern auch als Bauern. In Kalifornien zum Beispiel gibt es über zehntausend japanische Farmer. Die Wirtschaft der Japaner soll ertragreicher sein als die Farmen der Amerikaner. Dieser Umstand verschärft den Rassenhass gegen die „kleinen gelben Männer“. So kommt die Stimmung ganzer Bevölkerungskreise den Absichten der Imperialisten entgegen, die sich durch Japans steigende wirtschaftliche und weltpolitische Bedeutung beunruhigt fühlen. Japan hat auf den Inseln des Stillen Ozeans wichtige Positionen besetzt und zu militärischen Stützpunkten ausgebaut. Für die Ausbreitung des amerikanischen Handels und den sogenannten „Schutz“ der Interessen der Vereinigten Staaten bedeutet das Hemmnisse, Erschwerungen. Dazu kommt, dass Japan erobernd die Hand auf große und wichtige Teile Chinas gelegt hat. Während des Krieges hat es sich die Provinz Schandung mit der früheren deutschen Pachtung Kiautschou zusprechen lassen. Von Korea hat es sich in den Besitz der Mandschurei gesetzt. Es hat versucht, große Gebiete Ostsibiriens sich anzugliedern, es ist mehrmals in der Mongolei vorgedrungen. Es stößt nicht mehr wie in der Vorkriegszeit auf den mächtigen Gegner, den russischen Imperialismus. Erst seit kurzem begegnet sein Eroberungsdrang einem Hindernis: dem Widerstand der Republik des Fernen Ostens. Die aufgezeigte Entwicklung hat zur Folge, dass dem Ausdehnungsbedürfnis der Vereinigten Staaten Schranken gezogen werden, die sich immer mehr zu verengen drohen. Der Konfliktstoff zwischen der nordamerikanischen Union und Japan wächst mit der Entwicklung beider Staaten.
England hat das wirtschaftliche wie das politische Vordrängen Japans, hat sogar die Besetzung chinesischen Gebiets geschehen lassen. Es hat sich mit Japans imperialistischer Ausdehnung friedlich-schiedlich abgefunden. Es hat in Südchina, dessen Entwicklung fortschrittlicher und schon stark vom europäischen Kapitalismus beeinflusst ist, wertvolle Konzessionen und Monopole errungen. Englische Kapitalisten verfügen über Eisenbahnen, sie können Erz- und Kohlenbergwerke ausbeuten, sie unterhalten größere Industrie- und Handelsunternehmungen, kurz, die Anfänge modernen Wirtschaftslebens in Südchina stehen vorwiegend unter englischem Einfluss. Aber dafür hat England bisher Nordchina so gut wie kampflos dem japanischen Imperialismus überlassen. Japan hat dort ein sehr günstiges und sicheres Hinterland für seine weitere industrielle und politische Ausdehnung; Gebiete, reich an Arbeitskräften, an Lebensmitteln, an Erzen, Kohle usw. Ferner schuf es sich dort starke strategische Stützpunkte. England hat diese Entwicklung mit einem heiteren und mit einem nassen Auge verfolgt. Mit einem nassen Auge, soweit durch Japans Vordringen der eigenen Entwicklung Schranken drohten; mit einem heiteren, soweit dadurch dem Imperialismus der Vereinigten Staaten in China und in Ostsibirien ein Gegner erstand. Englands Stellung kommt in dem Vertrag mit Japan zum Ausdruck, der bis vor kurzem bestanden hat.
Allein, Englands auswärtige Politik ist sowohl den Vereinigten Staaten wie Japan gegenüber keineswegs frei. Infolge des Weltkrieges hat sie bestimmte Bindungen erhalten. Die Geister, die England rief, wird es nicht los. Um die zur Führung des Krieges nötigen finanziellen Mittel wie auch Mannschaften von seinen Dominions zu bekommen, musste es diesen auf der Reichskonferenz das Recht einräumen, die auswärtige Politik mitzubestimmen. Die wichtigsten der Dominions haben jedoch kein Interesse daran, die Stellung Japans den Vereinigten Staaten gegenüber zu stärken. Sie fühlen sich vielmehr mit diesen und ihrer Entwicklung verbunden. Das englische Südafrika ist vorwiegend noch Bauernland. Seine Farmer verspüren nicht die geringste Neigung, Gut und Blut in einem Krieg zwischen den Vereinigten Staaten und England zu opfern. Die australische Föderativrepublik steht in schärfstem wirtschaftlichen und politischen Gegensatz zu Japan und fühlt sich durch dessen wirtschaftliche Konkurrenz bedroht wie auch durch die Festsetzung Japans auf den Inseln in der Nachbarschaft. Kanada ist wirtschaftlich wie kulturell mit den Vereinigten Staaten viel enger als mit England verbunden. Es ist nur eine Frage der Zeit und der Umstände, ob dieses Dominion sich nicht ganz von England loslösen wird.
Der Gegensatz zwischen dem Mutterland und den Dominions kam auf der Konferenz des Empire zum Ausdruck. Es erfolgte dort ein Protest gegen das Bündnis zwischen England und Japan. Englands Stellung den Vereinigten Staaten gegenüber ist also keineswegs die überlegene Stärke. Das wirkt auf das weltpolitische Verhältnis zwischen England und Frankreich zurück. Frankreichs Machtstellung wird dadurch gestärkt. Der französische Imperialismus wird der gesuchte Bundesgenosse der beiden großen angelsächsischen Mächte, die um die Vorherrschaft am Stillen Ozean ringen. Es kann die Rolle der Zunge der Waage spielen. Wie die Dinge liegen, suchen die Vereinigten Staaten, Japan und England einander mit den gewaltigsten Flottenrüstungen zu überbieten.
Die steigende Rebellion in den Kolonialländern rüttelt ebenfalls schwächend an Englands alter Machtstellung. Besonders bedeutsam ist der Kampf um die Unabhängigkeit Irlands. Es ist eine wohlbekannte Tatsache, dass der Freiheitskampf der lrländer finanziell und moralisch in weitgehender Weise von den Vereinigten Staaten her unterstützt worden ist. Nicht etwa nur, weil Irland seit vielen Jahrhunderten einen mächtigen Strom von Auswanderern dorthin gesandt hat, so dass heute ein großer Teil der Bevölkerung der Union irischer Abstammung. Ein selbständiges Irland, in Sympathie oder wohl auch durch Verträge mit den Vereinigten Staaten verbunden, wäre ein starker imperialistischer Vorposten Amerikas in Europa. Und dieser Vorposten würde seine Spitze vor allem gegen England kehren. Der Konflikt zwischen England und Irland ist aber mit der Erklärung der „grünen Insel“ zu einer Republik nicht beendet. Die revolutionären Kämpfe dauern dort fort. Mit ihren nationalen wirken soziale und religiöse Triebkräfte zusammen. Unüberbrückbar scheinen die Interessengegensätze zwischen der bäuerlichen und katholischen Bevölkerung Irlands im Süden und den protestantischen industriellen Schichten im Nordosten, in Ulster. In den fortdauernden Kämpfen kommt zum Ausdruck, dass breite Massen der irischen Werktätigen das Land auch nicht als Republik und Dominion von der englischen Bourgeoisie auspowern lassen wollen. Das Verlangen voller nationaler Unabhängigkeit paart sich mit proletarischer Rebellion gegen kapitalistische Klassenherrschaft. Das Banner der „freien genossenschaftlichen Arbeiterrepublik“ wird gehißt.
In den außereuropäischen Kolonien, die sich zum Teil während des Kriegs industriell stark entwickelt haben, kann sich England der Aufstände kaum noch erwehren. Seit Jahren ist der Boden der englischen Herrschaft in Ägypten erschüttert. Immer häufiger werden die Rebellionen von Fellachen wider ihre Ausplünderung in der Getreidewirtschaft und in den Baumwollplantagen. Die nationalen Unabhängigkeitsbewegungen ziehen Nahrung und Kraft aus dem Klassengegensatz zwischen ausgebeuteten Einheimischen und ausbeutenden Fremden, sie gewinnen an Umfang, an Einheitlichkeit, an Bedeutung. In Ägypten ist aber nicht allein ein ergiebigstes Ausbeutungsgebiet des englischen Kapitals bedroht, sondern auch die Landverbindung mit dem südafrikanischen Kolonialreich; vor allem aber: In Ägypten beherrschen englische Kanonen den Suezkanal, von dort aus können englische Truppen rasch über Vorderasien nach Indien geschickt werden. Ägypten ist ein Hauptstützpunkt zur Sicherung der englischen Herrschaft über Indien.
Indien selbst ist ein Feuerherd nationaler Aufstände. Seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ist dieser Brand kaum je völlig erloschen. Millionen rebellieren in Indien gegen die englische Kolonialmacht, die gleichbedeutend ist mit Ausplünderung und Unterdrückung. Auch hier ist der Klassengegensatz zwischen dem auswuchernden und herrschenden Fremdling und dem ausgesaugten, getretenen und geschundenen Eingeborenen die letzte und stärkste Wurzel des nationalen Gegensatzes des Nationalhasses. Religiöse Motive verschlingen sich damit, zumal auch bei der mohammedanischen Bevölkerung. England hat versucht, abwechselnd mit Zuckerbrot und Peitsche der Rebellionen Herr zu werden, manchmal auch mit beiden zugleich. Was haben Konzessionen an die bevorzugten Kasten des Riesenreichs, an die indische Bourgeoisie gefruchtet? So gut wie nichts. Einige Persönlichkeiten, kleine Gruppen haben ihren Frieden mit England gemacht. Die schwelende, bald hier und bald da in hellen Flammen auflodernde Empörung dauert weiter. Von dem Boykott englischer Waren und englischer Prinzen – man denke an die Potemkinsche Reise des Prinzen von Wales – bis zur Steuerverweigerung, bis zum Streik größten Umfangs und leidenschaftlichen Charakters, bis zum bewaffneten Aufstand, in dem Tausende fallen.
Besondere Beachtung verdient es, dass immer zahlreicher reine Klassenkämpfe zwischen Proletariern und der Bourgeoisie auftreten. In Madras, in Bombay, in all den Städten, wo sich eine umfangreiche moderne Industrie entwickelt hat, kommt es zu Streiks, die breiteste Massen erfassen. Nationale und soziale Gärung wachsen unaufhaltsam. Die Zeiten scheinen für immer vorbei, wo der englische Kapitalismus seinen Lohnsklaven in der Heimat auf Kosten der erhöhten Ausplünderung Indiens Brosamen zuwerfen konnte, und in England gibt es heute ein Heer von über zwei Millionen Arbeitslosen, denen Hunger und Obdachlosigkeit den Glauben an die Vortrefflichkeit und Ewigkeit der bürgerlichen Ordnung ausprügeln.
Jedoch die revolutionäre Stimmung in den Ländern in Übersee beschränkt sich keineswegs auf Indien, nicht auf Gebiete, die englischer Kolonialbesitz sind oder unter englischer Oberhoheit stehen. Gewitterschwül lagert sie über den Völkern vor kapitalistischer Kultur von West- und Südafrika bis Ostasien. Und die Gärung richtet sich gegen alle Kolonialmächte, gegen den Kapitalismus selbst. Sie ist Rebellion der Völker alter, primitiver, bäuerlicher Kultur gegen die kapitalistische „Kultur“ Europas und der Vereinigten Staaten. Es ist etwas an dem, was nationalistische Zeitungen in den verschiedenen Ländern wehmütig oder auch wütend bejammern. Nämlich, dass der imperialistische Krieg mit seinen Gräueln die Autorität der Weißen über die Farbigen schwer erschüttert, ins Wanken gebracht habe. Die Gegensätze, Zettelungen und Intrigen zwischen den europäischen Kolonialstaaten nähren und steigern die Stimmung der Auflehnung. Es sei erinnert an die Auswirkung des Interessengegensatzes zwischen dem französischen und spanischen Imperialismus in Marokko, an die Rolle, die Engländer und Franzosen in den kriegerischen Unternehmungen der einheimischen Prätendenten für die Herrschaft über Arabien spielen.
Wo die kapitalistische Wirtschaft sich einzunisten begann, unter Gruben-, Fabrik- und Plantagenarbeitern brechen immer häufiger Streiks aus. So kam es in diesen Wochen in Südafrika – Johannesburg – zu einem großen Ausstand der Arbeiter, der von beiden Seiten mit der Zähigkeit und Leidenschaftlichkeit eines Krieges geführt wurde. Das religiöse Moment gewinnt in den fremdenfeindlichen Bewegungen an Kraft. Von der Westküste des Atlantischen Ozeans bis nach China ist die Welt des Islams in leidenschaftlicher Erregung, sieht frommer, fanatischer Glaube die Fahne des Propheten im heiligen Kriege den Völkern voranflattern. Und was eine besondere Beachtung verdient: In den Ländern des Nahen und Fernen Ostens sind die Frauen in Bewegung geraten, die Frauen, die durch Traditionen, Sitten und religiöse Satzungen von Jahrtausenden gebunden sind. Ich denke dabei nicht an die kleine Schicht besitzender Frauen des Orients, Bahnbrecherinnen ihres Geschlechts, die sich an den Universitäten Europas und der Vereinigten Staaten Wissen, ja Gelehrsamkeit und moderne Kultur holen. Mir sind vielmehr gegenwärtig die vielen Tausende und aber Tausende von Kleinbäuerinnen und Arbeiterinnen auf den Reisfeldern und Baumwollplantagen, in der Tabak- und Textilindustrie, bei der Petroleumgewinnung etc., die sich in der Türkei, in Turkestan, in Korea, Japan, in der Mongolei, in Indien gegen das Doppeljoch der Mannes- und der Kapitalsherrschaft zu empören beginnen. Kurz, in den Gebieten, die unter kapitalistischer Kolonialherrschaft stehen oder von ihr bedroht sind, ein Rütteln an Ketten, ein Aufbäumen Geknechteter, Unterdrückter, Ausgesogener. Das aber nicht bloß gegen die modernen kapitalistischen Formen der Herrschaft und Ausbeutung, sondern oft genug auch wider die uralten überlieferten Bindungen, die noch bis vor kurzem heilig dünkten. Es ist, als ob eine ganze Welt von rechtlosem, gefesselten, missbrauchtem Menschentum rechts- und freiheitshungrig gegen Unrecht und Sklaverei aufstünde. Perspektiven von gigantischem Ausmaße tun sich auf.
Kein Zweifel: Die Bewegung, ja Rebellion der Kolonialvölker, der Völker vorkapitalistischer Kultur, hat einen gewaltigen Antrieb durch die russische Revolution erhalten. Sie war diesen Völkern der gewaltige Anschauungsunterricht darüber, dass die scheu, furchtsam, gleich einem Wunder angestaunten Riesenmächte der kapitalistischen Ausbeutung und Herrschaft nicht unverletzlich und unüberwindbar sind, dass sie von den Kleinen, den Verachteten und Ausgepowerten zerschmettert werden können. Und diese Mühseligen und Beladenen schlussfolgerten daraus, dass auch andere Knechtschafts- und Ausbeutungsverhältnisse nicht von ewiger Dauer sein müssen. Wie Sowjetrussland sich im Ringen mit den gegenrevolutionären Heeren siegreich behauptet hat, sein kämpfendes Dasein ist eine Quelle moralischer Kraft, ist politische Stärkung der nationalen, religiösen, sozialen Bewegungen und Rebellionen, die in den exotischen Ländern auftreten. Neues, Unerwartetes für die meisten Europäer ist dort in Fluss gekommen. Was will das werden? Die Phantasie des Dichters wird lieber darüber prophezeien als der Politiker.
So viel scheint indessen sicher: Der Kapitalismus Europas und der Vereinigten Staaten verliert die letzte Möglichkeit, sein Ausdehnungs- und Ausbeutungsbedürfnis zu befriedigen, verliert die letzten Reserven seiner Lebenskraft und Lebensdauer, wenn sich der Rest der Welt vor ihm verschließt. Ein Ende der Kolonialherrschaft an Stelle ihrer Befestigung und Ausdehnung, und die Kapitalisten der verschiedenen Staaten sind außerstande, die nationalen Interessengegensätze untereinander durch „Verteilung der Welt“ auf Kosten unterdrückter und ausgeplünderter Völker nichtkapitalistischer Länder auszugleichen. Ein Ende der Kolonialherrschaft an Stelle ihrer Befestigung und Erweiterung, und die Kapitalisten jedes einzelnen Landes sind außerstande, durch Konzessiönchen und Reformen die wirtschaftlichen und sozialen Interessengegensätze zwischen sich und den Proletariern auf Kosten ausgebeuteter und verknechteter Fremdvölker zu verkleistern. Mit der Kolonialherrschaft der kapitalistischen Staaten fällt die Reformfähigkeit der bürgerlichen Welt, erlischt für die Bourgeoisie die Möglichkeit, die Existenz ihrer Lohnsklaven entsprechend dem gewohnten standard of life und mit Aussicht auf kulturelle Hebung zu sichern. Die kapitalistischen Großmächte – allen zur Zeit England voran – rüsten daher, sind bereit, sich im Kampf um Kolonialbesitz zu zerfleischen und im Kampfe um die Aufrechterhaltung ihrer Kolonialherrschaft selbst die Erde mit den größten Blutströmen zu überschwemmen.
Interessengegensätze schärfster Art zwischen den kapitalistischen Großmächten treten auch gegenüber Sowjetrussland in Erscheinung. Die Industrie der Vereinigten Staaten verlangt wie diejenige Englands nach der Erschließung russischer Absatzmärkte. Ein kraftvoller Aufschwung der Landwirtschaft in Sowjetrussland würde sehr vorteilhaft für die Versorgung Englands mit Lebensmitteln und manchen Rohstoffen sein. Für die Vereinigten Staaten dagegen hätte er eine Schwächung der Position zur Folge. Er machte England für Lebensmittel usw. unabhängig von der nordamerikanischer Union und stellte dieser überdies auf dem Weltmarkt einen mächtigen Konkurrenten zur Seite. Die Wirtschaft Englands hat ein großes Interesse an der Annäherung Sowjetrussland, an Handelsbeziehungen und Handelsverträgen mit einem aufblühenden Staat. Beunruhigt, feindselig betrachten dagegen die englischen Imperialisten den starken und wachsenden Einfluss der Arbeiter-und-Bauern-Republik auf die werktätige Bevölkerung in Mittel- und Südasien, in der Mandschurei und Mongolei, in Korea, China, Japan und Indien, ihre angebahnten politischen Beziehungen zu den Regierungen mancher dieser anderer östlicher Länder. Wenn auch Sowjetrussland frei ist von imperialistischen Tendenzen, so fühlt sich England doch nach den Stand der Dinge in seiner kolonialen Machtposition bedroht; ihm muss ungeheuer viel daran gelegen sein, bei Kämpfen in Asien wenigstens Sowjetrusslands „Neutralität“ zu gewinnen. Der Handelsvertrag, der zwischen den beiden Ländern geschlossen wurde, zeigt das deutlich.
Die Vereinigten Staaten dagegen sehen die Möglichkeit einer Bedrohung Englands mit Vergnügen in Hinblick auf ihren eigenen Gegensatz zu dem englischen Imperialismus in China. Das Ringen zwischen England und Frankreich um die Vormacht in Vorderasien und am Schwarzen Meer beeinflusst die Stellung der Mächte zu Sowjetrussland und die Einschätzung seiner Beziehungen zu der Türkei. Deutschland ist wie kein anderer Staat auf die engste wirtschaftliche und politische Verbindung mit Sowjetrussland angewiesen. Allein, die kleinbürgerlichen Illusionen über die Segnungen des „demokratischen“ Ententeimperialismus“ und noch mehr die Furcht vor „Export des Bolschewismus“, die seine verschiedenen Regierungen seit dem November 1918 geleitet haben, verhinderten bisher die entsprechende deutsche Auslandspolitik, die die Interessengegensätze zu Frankreich und England auswerten würde. Das ist symptomatisch.
Wie groß auch immer die weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Gegensätze zwischen den kapitalistischen Staaten untereinander sonst wo auf dem Erdball und auch Sowjetrussland gegenüber sind, in ihrer Stellung zu diesem finden sich doch alle Mächte des Kapitalismus in einer großen Gemeinschaft zusammen, der Gemeinschaft des Kampfes gegen Sowjetrussland, gegen den „Bolschewismus“, das heißt die proletarische Revolution. Die Blockade, die sich wie ein würgender Ring um den Staat der proletarischen Revolution legte, und die gegenrevolutionären Kriegszüge sperrten Sowjetrussland von der Weltwirtschaft ab. Sie steigerten gleichzeitig die ungeheuren Schwierigkeiten der geschichtlich gegebenen Umstände, unter denen das russische Proletariat die politische Macht ergriff und seine Diktatur in der Sowjetordnung aufrichtete, um seine Befreiung durch den Kommunismus zu verwirklichen.
Die russischen Arbeiter und Bauern vollbrachten das Wunder, mit der zerrütteten Wirtschaft des Landes die Millionen der Roten Armee auszurüsten und drei Jahre lang im Kampfe gegen Heere zu unterhalten und siegen zu machen, deren Bedarf von den fortgeschrittensten Industrien der Welt gedeckt wurde. Allein, dieses Wunder erschöpfte vollends die schwachen Kräfte. Von Feinden an allen Grenzen umringt, den Bürgerkrieg im Innern, ohne Verbindung mit der Weltwirtschaft konnte die Sowjetmacht nicht das noch größere Wunder vollbringen, die verelendende und zerfallende Wirtschaft neu aufzubauen und kommunistisch umzuwälzen. In der kurzen Spanne weniger Jahre konnte unmöglich mit der bösen Hinterlassenschaft des Zarismus und Kapitalismus aufgeräumt und die um Jahrhunderte rückständige Entwicklung des Produktionsapparates und der Arbeitsdisziplin, Leistungsfähigkeit usw. der Menschen nachgeholt werden.
Man vergesse dabei nicht die Wirkung der langen chronischen Unterernährung und Überanstrengung, der Nervenaufpeitschung und Nervenzerrüttung durch außergewöhnliche Verhältnisse auf den Rückgang der Arbeitsleistung, der Produktivität. Von einem hochfahrenden Nasenrümpfen über die geringe Leistungsfähigkeit der russischen Proletarier müsste schon allein die erheblich gesunkene Produktivität der deutschen und englischen Arbeiter abhalten, die Generation nach Generation durch die grausame Zuchtschule des Kapitalismus gegangen sind. Doch zurück zur Hauptfrage: In Sowjetrussland, wo 80 Prozent der Bevölkerung Bauern sind, von denen die meisten noch mit Urväterbetriebsmitteln nach Urväterbetriebsweise den Boden bestellen und Viehzucht treiben, hätte der wirtschaftliche Aufbau nur unter einer Bedingung in gerader Linie und konsequent in der Richtung zum Kommunismus durchgeführt werden können, wenn die proletarische Weltrevolution rasch fortgeschritten wäre und Sowjetstaaten auf höchster Stufe der Produktion die wirtschaftliche Entwicklung Sowjetrusslands solidarisch unterstützt und gefördert hätten.
Das heldenmütige russische Proletariat blieb in seinem Kampfe gegen den Kapitalismus allein. Die Sowjetmacht musste mit der sogenannten Neuen Ökonomischen Politik dem Kapitalismus des russischen Mittelbauern und Kleinbürgers sowie dem Kapitalismus des Auslandes Zugeständnisse machen. Aber die gesicherten Konzessionen zu profitreicher Beteiligung ausländischer Kapitalisten an der Wirtschaft in Sowjetrussland genügen nicht der Bourgeoisie verschiedenster Nationalitäten. Sie will bei der Ausplünderung von Naturschätzen und Menschen nicht durch die Gesetze eines Proletarierstaates eingeschränkt sein, sie begehrt die „goldene Freiheit“, die ihr Profitinteresse meint. Sie kann sie in dem russischen Riesenreich nicht erhalten, solange dort die proletarische Diktatur besteht, und sie fühlt sich in ihren außerrussischen Herrschaftsgebieten bedroht, solange Sowjetrussland existiert. Sowjetrusslands bloße Existenz ist für alle kapitalistischen Staaten der größte Stein des Anstoßes und Ärgernisses. Sie ist der große lebendige Beweis, dass die Macht der ausbeutenden Bourgeoisie, dass die bürgerliche Ordnung nicht ewig ist, dass sie durch wissende, wollende, kämpfende proletarische Massen gestürzt werden kann. Sowjetrussland ist für den Kapitalismus der stets erklingende Gruß der Trappisten: „memento mori“, „gedenke des Todes“. Sie ist für das Proletariat der ganzen Welt die dauernde Mahnung zur Revolution und der starke Hort ihres Ringens zur Überwindung des Kapitalismus.
Genossinnen und Genossen, Das Schwert der internationalen Gegenrevolution wider Sowjetrussland war bisher der französische Imperialismus. Er hat das Land Milliarden über Milliarden vergeuden machen, um die Verwüstungszüge der Tschechoslowaken, der Denikin, Judenitsch, Koltschak, Wrangel und des weißgardistischen Polens zu unterhalten, die Einfälle der Petljura und anderer Bandenführer. Er war mit Gold, diplomatischer und politischer Hilfe an den Verschwörungen der Gegenrevolutionäre innerhalb und außerhalb Sowjetrusslands beteiligt, an sehr vielen, wenn nicht an den meisten Verschwörungen und Attentaten der Sozialrevolutionäre. Er hat den Militarismus Polens und der Kleinen Entente gerüstet und unterhält ihn als Landsknecht gegen den Proletarier- und Bauernstaat. Für die Unterstützung Polens allein sind zwei Milliarden Franc offiziell gebucht, aber dieser Betrag erschöpft bei weitem nicht die Summen, die der „polnische Wall gegen den Bolschewismus“ und die kriegerischen Unternehmungen Polens gegen Sowjetrussland Frankreich gekostet haben. Der französische Imperialismus hoffte, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen. Sowjetrussland die Milliarden abzupressen, die in der Vorkriegszeit aus Frankreich nach Russland als Darlehen geflossen sind, um den bluttriefenden Zarismus zu erhalten. Die französischen Banken haben dabei glänzende Geschäfte gemacht. Man schätzt, dass Frankreich vor dem Kriege rund 50 Milliarden Franc im Ausland verliehen hatte, davon etwa ein Drittel an Russland. Des weiteren wähnten die französischen Imperialisten, mit Hilfe ihrer weißgardistischen Söldnerscharen aus Polen usw. als internationaler Retter der bürgerlichen Geschäft die Sowjetmacht zu vernichten.
Die Siege der Roten Armee und insbesondere die zerschmetternde Niederlage Wrangels auf der Krim haben die französischen Imperialisten darüber belehrt, was sie aus der Geschichte Frankreichs wissen müssten. Nämlich, dass ein Volk unbezwinglich ist, wenn es mit fester Entschlossenheit und grenzenlosem Opfermut die Revolution verteidigt. In Frankreich beginnt man, die Aussichtslosigkeit des Beginnens einzusehen Sowjetrussland militärisch niederzuwerfen. Eine anders orientierte Politik hat eingesetzt. Jedoch ihr Ziel ist augenscheinlich das alte, nur dass es auf „friedlichem Wege“ zu erreichen versucht wird. Deshalb wird der französische Imperialismus auch weiterhin das Gut und Blut des Volkes verschwenden, um gegen Sowjetrussland zu rüsten und den Militarismus der Tschechoslowakei, Rumäniens, Polens, der baltischen Randstaaten kriegsbereit gegen den Rätestaat zu halten. Der Vertrag zwischen Frankreich und der Tschechoslowakei, den Transport von Heeresbedarf usw. durch diesen jungen Nationalstaat betreffend, waren Beneš’ Reise nach Paris und seine Reden, der vorbereitete Vertrag zwischen Polen und Finnland und anderes sind deutliche Anzeichen dafür.
Sind aber gegen Sowjetrussland erst die von französischen Offizieren gedrillten Soldknechte des französischen Imperialismus vorgestoßen, so wird dieser seine „Bundespflicht“ erfüllen. Waffen, Munition, Heeresbedarf jeder Art und auch Truppen werden aus Frankreich an die Front gehen. Deutschlands „Neutralität“ wird kein Hindernis dagegen sein. Das haben die Ereignisse im Sommer 1920 bewiesen, als der räuberische Überfall Polens Sowjetrussland zum Kriege zwang. Solange in Deutschland die Bourgeoisie herrscht – ganz gleich unter welcher Firma -, wird Auslandspolitik im Schlepptau des Ententeimperialismus laufen, wird sie vom Hass gegen die Sowjetrepublik und von der Furcht vor der proletarischen Revolution im eigenen Lande beseelt und bestimmt sein. So wird sich die formale Neutralität sehr leicht in tatsächliche Kriegsbegünstigung, Kriegsbereitschaft und Kriegsbeteiligung verwandeln. Ludendorff und Compagnie möchten ihren stark zerbeulten und verblassten Ruhm in einem Krieg gegen den „Bolschewismus“ auffrischen. Sie hetzen in Deutschland zum Krieg wider Sowjetrussland, sie hetzen den Ententeimperialismus dazu und haben ihm, waschechte Patrioten wie sie sind, ihre treudeutschen Säbel dafür angeboten. Einzig und allein der revolutionäre Kampf der deutschen Proletarier kann verhindern, dass Deutschland in den blutigen Wirbel eines ententeimperialistischen Krieges gegen Sowjetrussland gerissen wird.
Der russische Arbeiter-und-Bauern-Staat, dessen Ziel die Überwindung des Kapitalismus ist und der das Selbstbestimmungsrecht der Völker aus einer bürgerlichen Phrase zur Wirklichkeit gemacht hat, verwirft und bekämpft grundsätzlich den Imperialismus. Er bedürfte aller Kräfte des Landes für den Aufbau der Wirtschaft, einer neuen, höheren Kultur. Wie die Dinge liegen, kann er trotz alledem nicht abrüsten, darf er nicht abrüsten. Er muss verteidigungsfähig, kampfstark bleiben. Nicht bloß im Hinblick auf Sowjetrusslands Freiheit und Selbständigkeit, auf den Schutz der russischen Revolution, nicht minder auch um der proletarischen Weltrevolution willen.
Genossinnen und Genossen! Nur drei Jahre sind verflossen, seit die Kanonen nicht mehr auf den großen imperialistischen Schlachtfeldern in Mitteleuropa brüllen; zwei Jahre sind es her, dass der Friede in Verträgen feierlich beschworen wurde. Und schon wieder drohen Kriege, die an Umfang, an Furchtbarkeit, an entsetzlichen Auswirkungen den imperialistischen Krieg von 1914 bis 1918 übertreffen werden, obgleich dieser schon jedem Fühlenden und Denkenden ein Inferno dünkte. Die Rüstungen haben nicht ab- sondern zugenommen. 1914 standen rund 7 Millionen Männer in Waffen, Anfang 1921 dagegen 11 Millionen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Deutschland und Österreich „entwaffnet“ sind, dass Deutschland statt seines früheren Heeres 800.000 die Reichswehr mit „nur“ 100.000 Mann hat. Dafür hatte 1921 das französische Heer über eine Million Mann; die Jahresbestände betrugen für Italien 300.000, für die Tschechoslowakei 200.000, für Rumänien mehr als 223.000 und für das bettelarme, wirtschaftlich durch und durch verlotterte Polen über 400.000 Mann. Das nennt sich der „bewaffnete Friede“. Bewaffnet: ja; Friede: nein!
Der französische Staat weiß kaum noch, wie er durch festeres Anziehen der Steuerschraube sein Defizit decken soll. Er verausgabt jedoch 5 Milliarden Franc für das Heer; für die soziale Gesetzgebung hat er nur eine lumpige halbe Milliarde. Von den Einnahmen werden über die Hälfte von der Zinszahlung der Kriegsschulden verschlungen, und 42 Prozent der übrigen Ausgaben entfallen auf Heereszwecke. Im verflossenen Jahre hat die Mobilisierung der Jahresklasse 1919 für den Einmarsch in das Ruhrrevier 1½ Milliarden Franc verpulvert. Diese Zahlen erscheinen erst in ihrer vollen Ungeheuerlichkeit, wenn man sich vergegenwärtigt, dass auch der Siegerstaat Frankreich hart Rande des Bankrotts steht, dass die Bilanzierung seines Budgets eine rein fiktive ist, in der Hauptsache beruhend auf der Einsetzung und Einstellung von Steuererträgen, die unmöglich eingehen können. Wie Militarismus und Imperialismus Frankreich ausplündern, sei durch einige Zahlen beleuchtet. Es wurde geschätzt, dass Frankreich in der Vorkriegszeit 50 Milliarden alleine im Auslande verliehen hatte; jetzt hat es dort 35 Milliarden Franc Staatsschulden, nach dem Stand der Valuta Anfang 1922 macht das 80 Milliarden, dazu 20 bis 30 Milliarden Bons und Renten, die von Ausländern gezeichnet sind. Seine gesamte Schuldenlast beträgt 329 Milliarden Franc.
Auch in den anderen kapitalistischen Ländern ist der Militarismus ein Nimmersatt. Nach dem Votum des Senats der Vereinigten Staaten sind die Ausgaben für die Kriegsflotte von 396 Millionen Dollar auf 494 Millionen im laufenden Jahr erhöht worden. Englands Budget für Heeres- und Marinezwecke betrug im Vorjahre 106.315.000 Pfund Sterling. Für den Unterhalt der englischen Kriegsflotte waren heuer 82½ Millionen Pfund Sterling vorgesehen, 6,7 Prozent der Staatseinnahme. Diese Summe mutet bescheiden an neben den rund 75 Millionen Pfund Sterling, gleich 32 Prozent der gesamten Staatseinnahme die Japan für seine Seestreitmacht ins Jahresbudget eingestellt hatte. Immerhin wird in England die Rüstungslast so schwer empfunden, dass die Kommission des englischen Parlaments, die auf Sparsamkeit im Staatshaushalt hinwirken soll, Rüstungseinschränkungen vorschlug, die zu einem Konflikt in der Regierung führten. Die Kommission forderte nämlich, dass die drei Ministerien für den See-, Land- und Luftkrieg zu einem einzigen Landesverteidigungsministerium zusammengefasst werden sollten, ferner, dass die Heeresstärke um 55.000 Mann, die Marinetruppen um 50.000 und der Betrag für die neuen Flottenrüstungen um 20 Millionen Pfund Sterling herabgemindert würden. Das kleine Belgien verausgabt für seinen Militarismus die Riesensumme von 1,217 Milliarden Franc. Das hungernde, von Frankreich ausgehaltene Polen hat 1921 nicht weniger als 65 Milliarden polnischer Mark für das Heer vergeudet.
In allen kapitalistischen Staaten verschlingen die Rüstungen die Mittel, die wenigstens einen Teil der himmelschreienden sozialen Übel heilen könnten, die der Krieg geschaffen oder maßlos gesteigert hat. Die bürgerliche Ordnung ist zu arm, um der entsetzlichen Wohnungsnot, dem schauerlichen Arbeitslosenelend zu steuern, um für die Opfer des Krieges, die Invaliden der Arbeit zu sorgen, um Müttern und Kindern Fürsorge zu sichern, um die Volksbildung zu heben, um aufzubauen, wo der Krieg verwüstete. Sie hat Mittel die Hülle und Fülle, verschwendet Riesenreichtümer, um die vollkommensten Mordwerkzeuge anzuschaffen, um Massenmord und Massenverwüstung vorzubereiten. Als wären die blut- und schmutztriefenden Jahre von 1914 bis 1918 nicht gewesen!
Wie ist das möglich? Sollen Widersinn und Wahnsinn weiter herrschen? Genossinnen und Genossen! Die Antwort ist für uns klar. Der Widersinn und Wahnsinn hat Methode! Die Methode der kapitalistischen Wirtschaft, der bürgerlichen Ordnung. Rüstungen, Kriegsgefahr, Kriegswüten, all das ist geblieben, weil seine Ursache geblieben ist: der Kapitalismus, die Klassenherrschaft der Bourgeoisie. Die Weltrevolution hat noch nicht als das geschichtliche Weltgericht über den Kapitalismus, den großen Kriegsschuldigen von 1914, ihres Amtes zu Ende gewaltet. In der russischen Revolution nahm sie einen ersten kühnen, glänzenden, verheißungsvollen Anlauf. Seither ist ihr Gang schleppend, stockend geworden. Trotz der großen Reife der objektiven Verhältnisse für die proletarische Revolution hat in keinem Lande alter, fortgeschrittener kapitalistischer Entwicklung die Arbeiterklasse gewagt, dem russischen Beispiel zu folgen, die politische Macht zu erobern. In den besiegten Ländern wie in den siegreichen Staaten hat sie es geschehen lassen, ja, wie in Deutschland, dazu geholfen, dass die Bourgeoisie ihre wankende Macht wieder befestigte und drauf und dran ist, Wirtschaft und Staat auf der alten, kapitalistischen Grundlage herzustellen. Was aber besagt das?
Nichts anderes, als dass all die Widersprüche weiterbestehen und wirksam sind, die unter der bürgerlichen Ordnung unaufhaltsam zu Rüstungen und Kriegen treiben:
der Widerspruch, der in der Wirtschaft den Krieg aller wider alle bedeutet: nämlich der Widerspruch zwischen den Profitinteressen der einzelnen Kapitalisten untereinander – national wie international;
der Widerspruch zwischen dem planmäßig organisierten Einzelbetrieb und der wilden Planlosigkeit, der Anarchie der gesellschaftlichen Wirtschaft – national und international;
der Widerspruch zwischen dem gesellschaftlichen Charakter der großen Produktionsmittel und ihrem Verbleib in Privateigentum und damit der individuellen Aneignung des Produktionsertrags;
der Widerspruch zwischen der märchenhaften Ergiebigkeit der modernen Produktionsmittel und Produktivkräfte und der geringen Konsumfähigkeit, das heißt der schwachen Kaufkraft der breitesten schaffenden Massen;
der Widerspruch zwischen dem Verlangen der riesenhaften Produktivkräfte – deren Entfaltung die große historische Leistung der Bourgeoisie ist – nach weltenweitem und schrankenlosem Spielraum und dem Begehren der führenden Kapitalistengruppen der einzelnen Länder nach Zollmauern, nach Absperrung neuer, größerer Ausbeutungs- und Herrschaftsgebiete;
von anderen Widersprüchen und Übeln zu schweigen – und sie alle übergipfelnd, sie alle zusammenfassend der Widerspruch der Widersprüche, ihr klassischer historischer Ausdruck: der Klassengegensatz zwischen ausgebeutetem Proletariat und ausbeutender Bourgeoisie.
Der Krieg und seine Auswirkungen haben die Widersprüche und Gegensätze der bürgerlichen Ordnung ungeheuerlich verschärft. Die Anarchie der kapitalistischen Wirtschaft hat sich national und international in ein heilloses Chaos verwandelt. Wohin wir blicken, ist das notdürftig aufrechterhaltene wirtschaftliche, soziale, politische Gleichgewicht der kapitalistischen Welt zerstört. Steigerung der Widersprüche und Gegensätze des Kapitalismus auch als unabwendbare Folge des Bestrebens der Bourgeoisie, die Unsummen der Kriegskosten, die zermalmenden Lasten der Wiedergutmachung der Kriegsverwüstung und des Wiederaufbaus der Wirtschaft den Hand- und Kopfarbeitern, dem werktätigen Volk allein aufzubürden. Dieses Bestreben bedeutet höchste Ausbeutung und Verknechtung des Proletariats, schließt in sich Steuerraubzüge gegen die Armen und Kleinen, Wucherpreise des Lebensbedarfs, Verlängerung der Arbeitszeit, Herabsetzung des Lohnes und Gehaltes, Verschlechterung der Arbeitsschutzgesetze, Knebelung des Streikrechtes und als Krönung die blutige Klassendiktatur der Bourgeoisie unter der Maske der Demokratie.
Aug in Auge mit Teuerungspreisen, bei sinkender Kaufkraft des Lohnes haben 1921 in England 6½ Millionen Arbeiter eine Herabsetzung ihres Lohnes erfahren, nur 130.000 konnten Lohnsenkungen durchsetzen. Reden diese trockenen Zahlen nicht Bände von der gestiegenen Ausbeutung, dem vermehrten Elend des Proletariats! Und das in England, dessen Wirtschaft und Staat von allen Ländern Europas am wenigsten unter dem Krieg gelitten haben, am wenigsten von ihm erschüttert worden sind. Wie erst in Deutschland, in der Tschechoslowakei, in Italien, in Frankreich und den übrigen kapitalistischen Staaten, wo das Jahr 1921 ebenfalls im Zeichen der Teuerung und der Lohn- und Gehaltssenkungen gestanden hat, weil das Unternehmertum die Generaloffensive zur stärkeren Ausplünderung der Arbeiter und Angestellten ergriffen hat. Das alles, während eine kleine kapitalistische Schicht aus dem Blut und der Verwüstung des Weltkrieges und aus dem wilden Chaos der Nachkriegszeit, des angeblichen Wiederaufbaus der Wirtschaft, fabelhafte Reichtümer gewonnen, ergaunert hat.
Die Zuspitzung des Klassengegensatzes zwischen einer ausbeutenden Minderheit und der ausgebeuteten ungeheuren Mehrzahl muss zu vermehrten Rüstungen führen. Sie diktiert der Bourgeoisie die Losung: größte Kriegsbereitschaft gegen den inneren Feind. Es ist eine Binsenwahrheit, dass im kapitalistischen Staat der Militarismus nicht nur die Interessen der Besitzenden und Herrschenden dem Ausland gegenüber verfechten soll dass seine Aufgabe vielmehr auch ist, den „inneren Feind“ der Bourgeoisie niederzuhalten und niederzuwerfen: das Proletariat. Die Arbeiter würden aber wahrhaftig die über ihnen geschwungene Hungerpeitsche, würden die ihnen zugedachten schweren Ketten verdienen, wollten sie sich nicht mit äußerster Energie gegen das Beginnen der Kapitalisten wehren, ihnen die Kosten des imperialistischen Raubkrieges und die Lasten des Wiederaufbaus der kapitalistischen Raubordnung aufzuerlegen. Unwiderstehlich, elementar ziehen große leidenschaftliche Klassenkämpfe der Ausgebeuteten wider ihre Ausbeuter und Peiniger herauf. Die bewaffnete Gewalt wird in ihnen häufiger und skrupelloser die ultima ratio der Bourgeoisweisheit, die Gerechtigkeit und Vernunft der Kapitalisten und ihres Staates sein.
Doch die Verschärfung des Klassengegensatzes zwischen den beiden Nationen, die nach Disraeli innerhalb jedes Staates vorhanden sind, wird auch vermehrte Rüstungen und Kriegsgefahr nach außen zur Folge haben. Sie stachelt das Drängen der Bourgeoisie der einzelnen Länder nach imperialistischer Ausdehnung an. National herausgeputzte kapitalistische Ausbeutungs- und Herrschaftsgewalt über fremde Gebiete und fremde Völker soll – wie bereits dargelegt –, den proletarischen Klassenkampf in der Heimat abstumpfen, soll bewirken, dass dieser mächtige Strom der geschichtlichen Entwicklung in den Niederungen bürgerlicher Sozialreform und chauvinistischer Einstellung versumpft, versandet, statt dem Ozean der sozialen Revolution entgegenzubrausen. Sie wird zwangsläufig umschlagen in die Befestigung der Bourgeoismacht über das Proletariat des eigenen Landes und in eine verschärfte Auspressung der Armen und Kleinen.
Gewiss: Es gibt in der bürgerlichen Gesellschaft auch Tendenzen gegen Rüstungen und Kriegsgefahren. Die Kreise des Handelskapitals und der Fertigwarenproduktion schwärmen im allgemeinen nicht für den Militarismus und Imperialismus. Es scheint ihnen sicherer und einträglicher, ihre Profite im Auslande zu holen auf Grund der Politik „der offenen Tore“, unter der Flagge des Friedens und Freihandels. Kleinbauernschaft, Klein- und Mittelbürgertum sind wenigstens in großen Teilen Rüstungen und Kriegen abgeneigt wegen der Gut- und Blutopfer, die sie fordern. Heute schaudern wohl in allen sogenannten Kulturstaaten die weitaus meisten Menschen beim Ausblick auf neues Völkermorden. Sicherlich fürchtet auch die große Mehrheit der Regierenden die drohenden imperialistischen Kriege und möchte sie vermeiden. Aber ebenso sicher ist, dass alle Regierenden für diese Kriege rüsten und sie vorbereiten.
Rasch verstummt im Rausch der nationalen Phrase das Gepolter der Bauern und anderen „kleinen Leute“ gegen die Geld- und Menschenverwüstung der Rüstungen und Kriege. Hat doch die Janitscharenmusik der „Landesverteidigung“ sogar im sozialdemokratischen Proletariat den Sang der „Internationale“ zum Schweigen gebracht. Handelskapital und Fertigwarenindustrie sind heute in Wirtschaft und Staat der fortgeschrittenen kapitalistischen Länder nicht führend. Kraftlos sind die friedenheischenden Tendenzen, die sich auf dem Boden der bürgerlichen Welt halten, die schönen moralischen Erwägungen über Recht und Unrecht, über Kultur und Barbarei. Führend und entscheidend sind Schwerindustrie und Finanzkapital, beide oft eng miteinander verbunden. Heeres- und Marinelieferungen, Monopole für Kohle- und Erzgewinnung, für Anlage und Betrieb von Eisenbahnen, Gewalt über geschlossene Ausbeutungsgebiete sind Lebens-, Entwicklungsnotwendigkeiten für sie. Schwerindustrie und Finanzkapital sind rüstungs- und eroberungsgierig, sind Träger des kapitalistischen Imperialismus. Sie rüsten nicht bloß für Kriege, sie treiben zu Kriegen.
Vergessen wir außerdem nicht, dass Rüstungen und Kriege noch in anderer Weise, als bereits aufgezeigt, dem Weiterbestehen des Kapitalismus dienen. Sie sind Sicherheitsventile, die für die kapitalistische Wirtschaft die nämliche Rolle spielen wie die Krisen. Gleich diesen wirken sie der Gefahr entgegen, die für die kapitalistische Wirtschaft dadurch entsteht, dass das Privateigentum an den Produktionsmitteln weder eine planmäßige Leitung und Ausnutzung der neuzeitlichen gigantischen Produktivkräfte erlaubt, noch eine Verteilung des Produktionsertrags im Interesse des Wohls und der Kultur aller Schaffenden. Es ist die Gefahr, dass der Kapitalismus, eingeengt durch die Schranken seines Wesens, in dem von ihm erzeugten Reichtum erstickt. Wie die Krisen so lähmen auch zeitweilig Rüstungen und Kriege in großem Umfange Produktivkräfte, schalten sie aus, lenken ihr Auswirken auf unproduktive Zwecke und vermindern und verwüsten dadurch den gesellschaftlichen Reichtum. Die Rüstungen verwandeln gegenwärtig elf Millionen leistungsfähiger junger Männer aus Mehrern in Verzehrer sozialer Werte. Gewaltigste sachliche Produktivkräfte, vollkommenste Produktionsmittel, Millionen Menschenhände dienen nicht der Lebenserhaltung und Lebenserhöhung, sondern bereiten Tod und Zerstörung im Riesenmaßstab vor. Mit unendlich verstärkter Wucht wirken so die imperialistischen Kriege. Vor 1914 triumphierten die Theoretiker und Praktiker der bürgerlichen Ordnung – und ihr Echo im Lager des Proletariats: die Revisionisten –, die „Anpassungsfähigkeit“ des Kapitalismus werde die Krisen beseitigen oder wenigstens ungefährlich machen. Der Weltkrieg widerlegte sie. Er kam als Generalkrise, als Weltkrise des Kapitalismus.
Die Grenzen des bürgerlichen Nationalstaats sind zu eng geworden für das Weben und Walten der modernen Produktivkräfte. Diese verlangen als Tätigkeitsfeld die ganze Welt. Solange ihr Drängen sich durchsetzt auf dem Boden der bürgerlichen Ordnung, müssen sie wider Schranken stoßen. Solche sind gegeben durch das Privateigentum an den Produktionsmitteln, das das Profitinteresse der einzelnen Kapitalisten und der einzelnen Kapitalistengruppen zu der letzten treibenden Kraft der Produktion macht und deren Anarchie erzeugt. Der Imperialismus kann zwar Staatsgrenzen erweitern, aber nicht Schranken der bürgerlichen Ordnung aufheben. Sie müssen niedergebrochen werden durch das revolutionäre Proletariat, das die Staatsmacht erobert und die Produktionsmittel in Gesellschaftseigentum überführt. Bis sich nicht diese Umwälzung vollzogen, werden Rüstungen, Kriegsgefahren und Kriege typische Wesensäußerungen der bürgerlichen Ordnung bleiben. Und das um so unvermeidlicher, je stärker die bürgerliche Ordnung von dem Zusammenprall der Widersprüche erschüttert wird, die sich in ihr auswirken, je verzweifelter die Bourgeoisie sich an die Hoffnung klammert, durch den Imperialismus die proletarische Revolution abzuwenden.
Zuletzt aktualisiert am 19.7.2008