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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 16. März 1908.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 387–395.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Am 14. März jährt sich zum 25. Male der Todestag des Mannes, dessen Genius einer wegweisenden Feuersäule gleich dem Proletariat der ganzen Welt in seinem Befreiungskampf voraus schreitet: der Todestag von Karl Marx.
In unserer raschlebigen Zeit, die Menschen und ihre Schöpfungen im Nu verbraucht, ist ein Vierteljahrhundert reichlich genug, um im Dunkel der Vergessenheit Persönlichkeiten und Werke versinken zu lassen, die der lauteste Tagesruhm umklungen hat. Wie viel gefeierte „wissenschaftliche“ Marx-Tötungen und Marx-Korrekturen der letzten Jahrfünfte allein verstauben schon als bedeutungslose Scharteken in den Bibliotheken; wie viel politische, sozialreformlerische und andere Bemühungen zur „praktischen Überwindung des Marxschen Dogmenfanatismus“ werden heute als Misserfolge bejammert, als Kindereien belächelt, während sie gestern noch als todsichere Mittel gepriesen wurden, die Proletarier aus zielbewussten Klassenkämpfern in Schalmeieinbläser des „sozialen Friedens“, in genügsame Empfänger demokratisch-reformlerischer Bettelbrocken zu verwandeln. Freilich: Die Angst der ausbeutenden Klassen vor dem Ende ihrer Herrschaft gebiert immer wieder neue wissenschaftliche und praktische Marxvernichtungen. Was anders aber haben sie der Marxschen Lehre als Ganzes entgegenzustellen als den Verzicht auf eine einheitliche Theorie, was anders ihrer Fleisch und Blut gewordenen Praxis, der revolutionären Arbeiterbewegung, als Zuckerbrot oder Peitsche, als Versuche, sie zu korrumpieren oder mit Brutalität nieder zu bütteln? Ihr Schlussergebnis ist immer nur, zu beleuchten, wie riesenhaft Marx’ Gedankenbau ist und wie lebendig sein Geist unter den Ausgebeuteten und Unterdrückten wandelt.
Unerschütterter, beherrschender denn je steht sein Werk in der brandenden Strömung des Geschehens, ein hochragender granitner Fels, der dem von täglicher Qual zum Fragen und Forschen nach seiner Bestimmung aufgepeitschten Proletariat, das handeln will und handeln muss, einen sicheren Standpunkt auf der fest gegründeten dauernden Erde gewährt und zugleich einen die Weiten durcheilenden Ausblick auf ein unverrückbares, hehres Ziel.
Die alte, ewig junge Sehnsucht der Menschen nach Erlösung von den Übeln, die mit dem Privateigentum und der von ihm bedingten Klassenscheidung in der Gesellschaft emporsprießen, ist in den verschiedensten ideologischen Verkleidungen durch die Geschichte gegangen. Sie hat immer aufs Neue wieder den Traum von dem tausendjährigen Reich der Vernunft, Gerechtigkeit und Brüderlichkeit gesponnen. Mit der Entfaltung der kapitalistischen Produktion, welche ungeahnte Produktivkräfte entfesselte, Wunderwerke und Riesenreichtümer schuf, wie sie keine frühere Epoche gesehen, blutiges, steigendes Elend unter den ausgebeuteten Massen säte, die feudale Gesellschaft in ihren Tiefen aufwühlte und alle ihr eigentümlichen sozialen Bande löste, verkörperte sich dieser Traum in genialen sozialistischen Utopien. Aber der Traum blieb Traum. Auch die genialste Utopie nahm in Gestalt scharfsinniger Kritik der aufkommenden bürgerlichen Gesellschaft doch nur ihren Anlauf auf dem Boden fester geschichtlicher Tatsächlichkeit, um mit kühnem Sprunge in die luftigen Höhen der Spekulation emporzuschweben, wo glühendes Wünschen seine grenzenlosen Reiche baut. Statt die Gesetze der gesellschaftlichen Entwicklung mittels des Kopfes aus dem vorliegenden geschichtlichen Material zu entdecken, wollte sie im Kopfe diese Entwicklung selbst erzeugen. Sie kannte keine geschichtliche Macht, welche eines Tages mit zwingender Notwendigkeit die Gesellschaft der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit schafft, weil sie sie schaffen muss.
Wohl gab es Proletariermassen, die sich unter den Bissen der „Schlange ihrer Qual“ emporbäumten. Aber ihre Versuche, das Joch der kapitalistischen Ausbeutung von den zerfleischten Schultern zu schleudern, blieben die Ausbrüche von Verzweifelnden, die zu Rebellen gegen ihre unmittelbaren Peiniger wurden, sie waren nicht die bewussten Aktionen von Revolutionären, die als Klassenkämpfer die Gesellschaft des peinigenden Kapitalismus stürzen und die sozialistische Ordnung aufrichten wollten. Zwischen der Arbeiterbewegung, wie sie mit elementarer Gewalt aus den proletarischen Daseinsbedingungen in der bürgerlichen Gesellschaft hervorbrach, und dem Sozialismus, wie ihn die Utopisten geschaut, gab es keine unzerstörbare innere Verbindung. Eine solche fehlte sogar dort, wo die Arbeiter begannen, über das rauschende Meer ihrer Leiden hinweg das Land des Sozialismus mit der Seele zu suchen.
Es ist Marxens unvergängliche historische Tat, die feste verbindende Brücke zwischen dem Sozialismus und der Arbeiterbewegung geschlagen zu haben. Er erbrachte den unerschütterten Beweis, dass die am Horizont aufschimmernde sozialistische Ordnung nur das Werk der kämpfenden Arbeiterklasse sein kann, dass sie aber auch einer unabwendbaren Naturnotwendigkeit gleich das Werk dieser kämpfenden Arbeiterklasse sein muss. Marx hob damit den Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft empor und adelte die Arbeiterbewegung als die Trägerin der sozialen Revolution, die mit der Befreiung des Proletariats für die ganze Menschheit den endgültigen Sprung aus dem Tierreich in die menschliche Freiheit bedeutet.
Als Schöpfer der materialistischen Geschichtsauffassung, in welche er die von dem Kopf auf die Füße gestellte Hegelsche Dialektik hinüberrettete, und der Theorie der kapitalistischen Entwicklung enthüllte er mit der sicheren Hand des wissenschaftlichen Forschers die wichtigsten treibenden Kräfte des gesellschaftlichen Werdegangs und die Gesetze, die ihn mit der ehernen Macht des Naturgeschehens beherrschen. Er entdeckte, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften in letzter Linie die Geschichte ihrer Produktions- und Austauschverhältnisse ist und dass die Entwicklung dieser sich unter der Herrschaft des Privateigentums in den politischen und sozialen Einrichtungen als Klassenkampf durchsetzt.
Und er kam hinter das Geheimnis der kapitalistischen Produktion, indem er den Mehrwert entdeckte. Er bewies, „dass die Aneignung unbezahlter Arbeit die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise und der durch sie vollzognen Ausbeutung des Arbeiters ist; dass der Kapitalist, selbst wenn er die Arbeitskraft seines Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, dennoch mehr Wert aus ihr heraus schlägt, als er für sie bezahlt hat; und dass dieser Mehrwert in letzter Instanz die Wertsumme bildet, aus der sich die stets wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen anhäuft“. [1]
Als wirkendes Gesetz der kapitalistischen Entwicklung aber erkannte Marx die Akkumulation (Anhäufung) von ausbeutenden Kapitalien an dem einen Pole der Gesellschaft, von ausgebeuteten Lohnarbeitern am anderen. Sie setzt sich unter Überarbeit und Arbeitslosigkeit des Proletariats im Auf und Ab von Überproduktion und Krise durch und erzeugt einen immer schärferen Gegensatz zwischen den zur Entfaltung gekommenen riesigen Produktivkräften und den sie einengenden bürgerlichen Formen ihrer Ausnutzung unter der kapitalistischen Produktionsweise, einen immer unversöhnlicheren Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der kapitalistischen Aneignung der Produkte. Märchenhafter Reichtum an dem Gipfel der sozialen Pyramide, den nur einige wenige zu erklimmen vermögen, an ihrer breiten Basis der furchtbare Sumpf des materiellen und kulturellen Massenelends, aus dem es für die viel zu vielen unter dem kapitalistischen System kein Entrinnen gibt. Alle Widersprüche aber, welche die kapitalistische Entwicklung auf die Spitze treibt, treten in dem einen großen Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat, von Ausbeutern und Ausgebeuteten, in Erscheinung. Und sie drängen zu ihrer Lösung durch die Überwindung dieses Gegensatzes mittels der Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat: Es schlägt die Stunde der Aufhebung des Privateigentums an den Produktionsmitteln, die Stunde „der Expropriation der Expropriateure“.
Im rasenden Wirbel der kapitalistischen Entwicklung sah Marx nicht bloß das unbewusste Walten dinglicher Kräfte, das unaufhaltsam zum Sozialismus treibt. Er erfasste auch mit genialem Scharfblick die bewusste geschichtliche Macht, welche die Konsequenzen der Entwicklung der Dinge ziehen muss: den Willen des Proletariats – des Proletariats, dem seine Daseinsbedingungen eine große historische Aufgabe setzen, die nur durch seine Vereinigung und seinen Kampf als Klasse gelöst werden kann.
Im kapitalistischen Produktionsprozess entdeckte er hinter den Waren die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Menschen: den ausbeutenden, auch arbeitslos genießenden Kapitalisten und den ausgebeuteten, sogar bei Überarbeit noch darbenden Proletarier. Er trug sein Herz nicht jederzeit auf den Lippen wie jene „Menschenfreunde“, die wähnen, mit ihrer ewigen billigen Rührseligkeit die Ausbeutenden zur Gnade, die Ausgebeuteten zur Selbstbescheidung bewegen und dadurch das Reich des „sozialen Friedens“ begründen zu können. Aber in seinem Denken erlebte er tausendfältig das Leben des Proletariers mit seinen Tiefen und Höhen. Er erlebte es mit dem heiligen Zorn einer großen, starken, brüderlichen Seele, die sich durch die Entwürdigung, die Vernichtung jedes Menschentums beleidigt fühlt, und mit der glühenden Leidenschaft eines revolutionären Kämpfers, der die schöpferischen historischen Kräfte am Werk sieht, die seine Sache zum Sieg führen. Denn Marx erfasste den Proletarier in der furchtbaren Pein seiner vom Kapitalismus geschaffenen Klassenlage: losgelöst von allen sozialen Gemeinschaften früherer Zeiten, vom Menschen zur „Hand“, zum lebendigen Anhängsel der toten Maschine, degradiert, als einzelner ein machtloses Blatt, mit dem die Wolken und Winde der kapitalistischen Produktion spielen. Allein, er fand ihn auch in der Glorie seiner Erhebung und Erhöhung, als Kämpfenden: die einzelnen, von der Gleichartigkeit der gesellschaftlichen Daseinsbedingungen solidarisch geeint, zu einer neuen, größeren Gemeinschaft verbunden, welche das vom Kapitalismus missachtete, zertretene Menschentum auf ihren Schild hebt und die Macht der Vielheit schützend über den einzelnen, breitet. Und Marx’ Erkenntnis ging darüber hinaus. Indem er die besonderen geschichtlichen Lebensbedingungen und Bewegungsgesetze des Proletariats erforschte, sah er die Zusammenschweißung der Ausgebeuteten über die Grenzen des Berufs, des Geschlechts, der Nationalität, der Rasse hinaus zur Klasse mit einer geschichtlichen Aufgabe: Klassenkampf um die Eroberung der politischen Macht zur Durchführung der sozialen Revolution.
Zielsetzend und wegweisend ist Marx in das historische Leben des Proletariats getreten. Seine stolze Lehre ist die Widerspiegelung der wissenschaftlichen Durchforschung geschichtlicher Tatsachen, und daher setzt sie sich immer triumphierender als Gedankeninhalt und bewusste Willenstat des kämpfenden Proletariats durch: „Allein auch die Theorie wird zur materiellen Gewalt, sobald sie die Massen ergreift“. [2] Sie rüstet das Proletariat mit der klaren Einsicht in dieunerschütterliche Gesetzmäßigkeit der geschichtlichen Entwicklung, die mit Naturnotwendigkeit die Verneinung des Kapitalismus erzeugt den Sozialismus. Sie verleiht ihm damit die feste Überzeugung seiner Sieghaftigkeit, den Mut zu kühnem Wagen wie die Klugheit zu kühlem Wägen, das vorwärt sdrängende Ungestüm wie die zähe Ausdauer im Kampfe. Und sie gibt ihm den festen, untrüglichen Maßstab fürdie Wertung seiner Klassenpolitik sowohl des Alltags bei der Kleinarbeit wie im großen weltgeschichtlichen Kampfe: die Übereinstimmung mit den revolutionären geschichtlichen Entwicklungstendenzen.
Was verschlägt es, dass bange Zweifler ihre Fragezeichen an einzelne schimmernde Quader des fest gefügten, gewaltigen Baus der Marxschen Lehre malen? Die geschichtliche Entwicklung verwischt sie, wie sie die Schmutzanwürfe abwäscht, die Bubenhändegegen ihn schleudern, wie sie der Kinderfinger spottet, die sich erfolglos mühen, durch Bröckeln am Verputz einzelne tragende Steine zu lockern. Der Bankrott des Ministerialismus, die Unfähigkeit des Liberalismus, auch nur die bürgerliche Demokratie konsequent durchzuführen, die Ohnmacht der demokratischen Republik, die Verschärfung der Klassenkämpfe zu verhindern, der Verfall des Parlamentarismus, die verbrechentriefende Kolonialpolitik, die durch die kapitalistische Welt schreitende Krise, vor allem das bedeutendste weltgeschichtliche Ereignis unserer Zeit, die russische Revolution: das sind klassische Bestätigungen der Marxschen revolutionären Lehre von der Tendenz zur fortschreitenden Zuspitzung der Klassengegensätzeund der Klassenkämpfe. Schwächer und schwächer klingt vor der eindringlichen Predigt der Tatsachen der freundliche Singsang von der „ununterbrochenen friedlichen Entwicklung“, die durch jene Art „Realpolitik“ gesichert werden sollte, die, klug auf den Tageserfolg bedacht, nicht bloß die revolutionären Allüren vermied, sondern die revolutionären Ziele selbst zurückstellte.
Es ist nur selbstverständlich, dass Marx sich mit seinem Lebenswerk – mit dem das seines Freundes Engels unlöslich verbunden ist – die bürgerliche Gesellschaft zur grimmen, unversöhnlichen Feindin gemacht hat. Er begnügtesich nicht damit, ihr als Gelehrter in der stillen Werkstube der Wissenschaft den sicheren Tod anzukünden. Er schritt hinaus unter die Massen, sie zu ihrer geschichtlichen Aufgabe als Totengräber der bürgerlichen Ordnung herbeizurufen und zu sammeln. In seiner Person und seinem Wirken hob er jene verhängnisvolle Arbeitsteilung zwischen Wissenschaft und Arbeitauf, in welcher die Entwürdigung des Menschen zum bloßen Werkzeug der kapitalistischen Plusmacherei ihren Ausdruck findet. Er war nicht bloß der Gelehrte und Pfadfinder, er war der Agitator und Organisator der Revolution. Seine Tätigkeit an der Neuen Rheinischen Zeitung und im Bunde der Kommunisten, die Gründung und Leitung der Internationale, all das und anderes praktische Tun noch mit seinem arbeits- und kämpfereichen Um und Auf ist ebenso integrierender Bestandteil seines Lebenswerkes wie seine unsterblichen wissenschaftlichen Leistungen. Das stolze Ziel seiner Lebensarbeit ist in der 11. These über Feuerbach ausgesprochen: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kommt aber darauf an, sie zu verändern.“
Die Welt zu verändern, darauf kam es Marx an. Sein Wesen war ganz auf den Willen zur Tat gestellt, und zwar auf die Auslösung des gewaltigsten Willens, der je die Geschichte bewegte: des Massenwillens des proletarisierten Volkes in allen Kulturländern, und der größten, weitesttragenden Tat, welche die Zeiten kennen: der sozialen Revolution zur Aufhebung der Klassengegensätze und Aufrichtung der sozialistischen Ordnung.
1. Friedrich Engels, Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, Karl Marx/Friedrich Engels – Werke. Band 19, S. 177–228, hier S. 209.
2. Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, Einleitung, Karl Marx/ Friedrich Engels – Werke, Band 1, S. 378–391, hier S. 385.
Zuletzt aktualisiert am 17. Januar 2025