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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 20. Januar 1908.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 382–386.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
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Die Ereignisse der letzten Tage haben in wünschenswertester Weise die Situation klar gezeigt, in welcher das Proletariat in Preußen den Kampf für das allgemeine Wahlrecht führen muss. Klar gezeigt wohl auch für jene politischen Kinder und Toren, die als hoffnungsvolle Bettler von der Erfüllung der Illusion träumten, die preußische Regierung werde sich zum Dank für die reaktionären Liebesdienste des Freisinns zu nennenswerten Konzessionen an das Recht der Massen bequemen, oder welche eine Verwirklichung der anderen Illusion erhofften, die Parteien der bürgerlichen Demokratie würden endlich ernsthaft in den Kampf für die Forderung eintreten, die sie in ihrem Programm führen. Die preußische Regierung kennt ihre freisinnigen Pappenheimer und hat sie jederzeit richtig als eine Schutztruppe kapitalistischer Interessen eingeschätzt, die lieber vor der schlimmsten Reaktion die Waffen streckt, sofern sie nicht gar mit Sack und Pack zu ihr überläuft, ehe sie für das Recht der ausgebeuteten Massen auf die Schanzen steigt. Mit einer brutalen Offenheit, für die wir ihm nur Dank wissen können, hat Bülow auch die bescheidenste Reform des preußischen Geldsackwahlrechtes zugunsten des werktätigen Volkes abgelehnt. Und während die Konservativen ebenso brutal offen ihre Todfeindschaft gegen das allgemeine Wahlrecht bekannten, sind diesem die bürgerlichen Liberalen – von dem nationalliberalen Krause an bis zu den freisinnigen Fischheck und Pachnicke hinab – mit jener feigen Tücke in den Rücken gefallen, welche die deutsche Bourgeoisie von je in den Klassenkämpfen ausgezeichnet hat.
In gewaltigen Kundgebungen, wie Deutschland sie lange Jahrzehnte nicht gesehen, hat das klassenbewusste Proletariat darauf geantwortet. Und im ersten Anlauf hat es sich in einer stattlichen Anzahl von Städten das Recht auf die Straße erobert, das ihm der beschränkte Wachstubengeist bisher vorenthielt. In Berlin musste es den Erfolg seines Vorstoßes dem hauenden Polizeisäbel streitig machen. Der Wahlrechtskampf hat damit seine Bluttaufe erhalten, und angesichts der geschichtlichen Situation, welche den Sturm gegen die preußische Dreiklassenschmach zu einem Machtkampf zwischen den ausgebeuteten Massen und der herrschenden Minderheit in ganz Deutschland stempelt, wäre es leichtfertig, sich zu verhehlen, dass seine ersten blutigen Opfer höchstwahrscheinlich nicht gleichzeitig auch seine letzten sein werden. So sehr wir das menschlich bedauern mögen, so unziemlich wäre es, darüber tränenreich zu jammern. Auf dem Schlachtfeld der Industrie fällt alljährlich der kapitalistischen Raffgier unendlich mehr strotzende Gesundheit und blühendes Leben zum Opfer, als die mörderischsten Kriege, die blutigsten Revolutionen vernichtet haben. Solange man es als selbstverständlich hinnimmt, dass sich die proletarischen Männer und Frauen im Dienste irgendeines Protzen für einen erbärmlichen Lohn tagtäglich der Gefahr aussetzen, von Bandsägen zerfleischt, von Maschinen gequetscht, von Giften langsam zersetzt, von schlagenden Wettern getötet zu werden, nur um ein Dasein zu fristen, das oft genug aller Lebenswerte beraubt ist, soll man nicht Narren oder Frevler die schelten, welche ihr Leben in einem Kampfe aufs Spiel setzen, dessen Preis der Existenz der Arbeiterklasse höheren Inhalt verleiht. Nicht um seiner selbst willen ist das Leben wert, gelebt zu werden, nur um deswillen, was wir, unsere eigenen Schöpfer, in heißem Ringen aus ihm machen. Und das Proletariat hat den allerwenigsten Grund, um seiner nackten Existenz halber die Quellen seines geschichtlichen Lebens zu verschütten.
Mit den Massenkundgebungen ist der Kampf um das allgemeine Wahlrecht zum preußischen Parlament in eine neue und in seine entscheidende Phase eingetreten, an deren Abschluss nichts anderes stehen kann und darf als der Triumph des Proletariats über seine offenen und geheimen Feinde. In welchem Tempo das Proletariat vorwärts marschieren, mit welchen Waffen es fechten wird, darüber orakeln zu wollen, wäre müßiges Beginnen. Man erinnere sich, dass der Wahlrechtskampf des österreichischen Proletariats reichlich 10 Jahre gedauert hat, dass er mit starken Wogen einsetzte, die sich mehr als einmal senkten und hoben, bis er schließlich in gewaltiger Sturmflut die reaktionären Widerstände brach.
Jedenfalls kann es auf dem besetzten Schlachtfeld für das Proletariat kein Zurück mehr geben, und alle Kampfmittel müssen ihm recht sein, die seine Klassenlage ihm unter den jeweiligen Verhältnissen als erfolgverheißend in die Hand gibt, wie es auch ohne Pakt als Mitkämpfer alle achtet, welche durch die Tat beweisen, dass sie ehrlich für das Recht der Enterbten eintreten.
Dass es sich bei der Wahl seiner Kampfwaffen nicht durch das Gelispel der bürgerlich-demokratischen Anstandsonkel und -tanten beirren lässt, welche ihm aus der Empfindung der eigenen Impotenz heraus einreden möchten, es könne nur als sittig frisierter und parfümierter Bittsteller mittels zierlicher Bücklinge in Preußen parlamentsfähig werden, hat es durch die Sonntagsdemonstrationen bekundet. Es weiß, dass sein Erfolg lediglich in seiner Macht und keineswegs in seinem „Wohlverhalten“, gemessen an bürgerlichen Maßstäben, beruht. Diese Macht aber ist es gerade, welche die politischen Geschäftsführer der Bourgeoisie nicht minder fürchten als die der Junker. Die so genannte freisinnige Presse, von der wackelköpfigen Frau Base „Voß“ bis zum koketten, modernen Salonweib Frankfurter Zeitung, kann durch ihr hämisch grämliches Zetern über die Demonstration das Grauen schlecht verhehlen, das das „honette Bürgertum“ bei dem dröhnenden Massenschritt der Arbeiterbataillone durchzittert hat. Und es ist nichts als eine Übersetzung dieses Grauens in das Komische, wenn das ebenfalls freisinnige und sogar wahlrechtsfreundliche Berliner Tageblatt die Sozialdemokratie feierlich bei dem Ruhm ihrer Disziplin beschwört, künftighin die Proletariermassen vom Demonstrieren abzuhalten. Nach der Weisheit dieses Thebaners darf also die Parteidisziplin nur dem erhabenen Zweck dienen, eine Faust in der Tasche zu ballen und sich ins Gesicht schlagen zu lassen, aber nie dem anderen, die volle Kraft aufzubieten, um einen frechen Gegner zu Paaren zu treiben. Das ist die Logik einer Opposition, die stets nur – mit der Hinterseite gekämpft hat.
Die Lage heischt gebieterisch, dass das klassenbewusste Proletariat seine ganze Macht für die Eroberung des allgemeinen Wahlrechts in Preußen entfaltet. Noch ist es die Arbeiterklasse dieses Landes allein, die im Feuer steht. Wenn jedoch nicht alle Anzeichen trügen, so wird der Wahlrechtskampf in Preußen je länger, je mehr zu einem Ringen werden, in dem sich die reaktionären und die revolutionären Kräfte in ganz Deutschland messen. Vielleicht allmählich und später, vielleicht wie der Dieb in der Nacht kann eine Zuspitzung der Verhältnisse eintreten, welche die aufgeklärten Proletarier und Proletarierinnen des ganzen Reiches in Solidarität mit ihren preußischen Brüdern und Schwestern zu einem Kampfe ruft, der ebenso kühles Wägen wie kühnes Wagen will. Stärkung der Macht des klassenbewussten Proletariats muss daher überall mehr denn je die Parole sein. Peitschen wir durch den Sturm unserer Agitation die trägen Fluten der Indifferenten zu hohen Wogen zielklarer Empörung auf. Entziehen wir diese Massen zum klaren Klassenbewusstsein und zur Erkenntnis der geschichtlichen Mission des Proletariats. Festigen wir die Organisationen, die berufen sind, im Kampfe die Rolle der revolutionären Kader zu übernehmen. Erfüllen wir die proletarischen Massen mit unerschütterlichem Selbstvertrauen in ihre eigene Kraft. Beseelen wir sie mit dem opferfreudigen Idealismus, der für ein hohes Ziel alles einsetzt. Rüsten wir in dem festen Willen, dass der nahende große Moment kein kleines Geschlecht findet. Es wird brechen, was sich nicht biegt. Vorwärts!
Zuletzt aktualisiert am 17. Januar 2025