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Aus Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, V: Nr. 16, 8. August 1906, Nr. 17, 22. August 1906, Nr. 18, 5. September 1906.
Mit der Entfaltung der kapitalistischen Produktion, dem Emporblühen und der Festigung der bürgerlichen Gesellschaft haben die objektiven und subjektiven Triebkräfte, welche an der Umgestaltung der Ehe arbeiten, an Stärke gewonnen, hat sich das Tempo des geschichtlichen Prozesses beschleunigt, in dem sie lebendig sind. Die von ihnen vorwärts getragene Entwicklung treibt aber über den Rahmen der bürgerlichen Ordnung hinaus. Was sie schafft, ist mehr als eine bloße Reform, es ist eine Revolution der Ehe. Indem sie diese in ihrer ökonomischen Grundlage radikal umwälzt, verändert sie auch ihren Charakter und setzt sie ihr neue, höhere Zwecke. Die Ehe verwandelt sich aus einer vermögensrechtlichen in eine sittliche Institution, an Stelle des in ihr geltenden Vaterrechts tritt die Gleichberechtigung von Mann und Weib, die Monogamie wird aus einem Gebot, dessen strenge Praxis nur für die Frau allein gilt, zu frei gewählter sittlicher Erfüllung für beide Geschlechter.
Für eine Ehe mit diesen Wesenszügen ist jedoch innerhalb der kapitalistischen Ordnung weder Boden, noch Nahrung, Luft und Licht vorhanden. Die Revolution der Ehe kann daher nicht aus den lichten, sonnbeglänzten Wolken geistig-sittlicher Spekulation zu den armen Menschenkindern niedersteigen, deren misshandelte Sinne und Seelen in glühender Sehnsucht nach Reinheit des Geschlechtstriebs rufen. Sie bleibt vielmehr an die Revolution der gesamten sozialen Ordnung gebunden, wie das Entstehen und die Entwicklung der monogamischen Ehe von je mit dem allgemeinen sozialen Werden verknüpft gewesen ist. Die Revolution der Ehe kann nur auftreten in Zusammenhang mit einer Revolution der Gesellschaft, welche das Privateigentum an den Produktionsmitteln aufhebt und damit auch die Ehe auf eine andere, auf eine sittlich-natürliche Grundlage stellt. Das Menschenrecht auf Liebe in der Ehe vermag nur zu triumphieren, wenn auf der ganzen sozialen Linie die Macht des Besitzes über das Recht des Menschen gebrochen worden ist. Wie der wissenschaftliche Forschungstrieb und der künstlerische Schöpfungsdrang, so wird auch die Liebe des Mannes zum Weibe und des Weibes zum Manne erst in Freiheit ihre weißen starken Schwingen entfalten, die emportragen, wenn die menschliche Arbeit ihre Befreiung errungen hat; die Arbeit, in deren Bedingungen die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen ihre letzte Wurzel haben.
Es fragt sich nun, ob zusammen mit der allgemeinen geschichtlichen Bewegung auch der Umwälzungsprozess der Ehe in Richtung auf dieses Ziel vor sich geht. Deutlich wahrnehmbare Entwicklungslinien sprechen dafür. Aber nicht in unvermittelten Sprüngen schreitet die Umwälzung der Ehe vorwärts, das ist schon in den vorangegangenen Abschnitten klar hervorgetreten. Sie reift in langsamem, ununterbrochenem organischem Werdegang heran. Die Summe oft unscheinbarer äußerer und innerer Resultate langer Entwicklungsreihen erreichen schließlich einen Höhepunkt, an dem sie allen Augen sichtbar als etwas Neues in Erscheinung tritt, das altüberkommene Formen sozialer Verhältnisse ummodelt und sprengt. Der Gipfelpunkt wird zum Ausgang weiterer Entwicklungen, die geschichtliche Erfüllung trägt wieder neues Treiben und Keimen in ihrem Schoß, gleichwie Blüte, Frucht und junges Pflänzlein sich in ewigem Kreislauf, eins das andere in sich bergend, zur unsterblichen Kette aneinander reihen.
In der feudalen Gesellschaft und unter der handwerksmäßigen Produktion begannen sich bereits die wirtschaftlichen und geistigen Kräfte zu regen, welche in der bürgerlichen Ordnung die Ehe zersetzten und ummodelten und zur bourgeoisen Ehereform führten. In konsequenter Fortentwicklung sind wiederum in der bürgerlichen Gesellschaft unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktion geschichtliche Mächte am Werke, welche die überlieferte bürgerliche Monogamie umbilden und die zukünftige Revolutionierung der Ehe vorbereiten, die sich erst in der sozialistischen Ordnung ganz durchsetzen kann, deren Geburtswehen bereits den kapitalistischen Mutterleib durchzucken.
Die gesellschaftlichen Kräfte, welche die Entwicklung in dieser Richtung vorwärts treiben, sind in der Hauptsache die nämlichen, die uns bereits in den Anfängen der kapitalistischen Produktion in der dialektischen Doppeleigenschaft als Ehezerstörer und Ehereformer entgegengetreten sind. Allein ihr Walten von einst und jetzt verhält sich zu einander wie Kinderspiel zur Leistung der Erwachsenen. Die kapitalistische Produktion, welche die Ehe umbildende Kräfte entfesselt, hat ja längst schon die Kinderschuhe abgelegt, die sie in den Zeiten der Renaissance und Reformation trug; sie hat auch das Entwicklungsstadium hinter sich, in welchem sie in markigem Jugendmut durch bürgerliche Revolutionen die politischen und sozialen Schranken zertrümmerte, die ihre freie Entfaltung hemmten, in welcher sie den bürgerlichen Staat schuf, dessen sie für das freie Spiel ihrer Kräfte bedurfte. Sie ist zur Reife gekommen.
Die tiefstfurchendste revolutionäre Umwandlung der Arbeit und
ihrer Bedingungen hat sich seither vollzogen, welche die Geschichte
kennt. Die früher angestaunte Manufaktur hat der Fabrik weichen
müssen, der fabrikmäßige Klein- und Mittelbetrieb
verschwindet vor den modernen industriellen Riesenunternehmen.
Kraftmaschinen stellen die Stärke bergewälzender Titanen,
maschinelle Werkzeuge und sinnreiche technische Arbeitsverfahren die
Geschicklichkeit und Behändigkeit, die Erfindungsgabe von
Heinzelmännchen in den Dienst der Produktion; Wissenschaft und
Kunst sind ihre Handlangerinnen; der Dampf ist wie der Blitz, die
Elektrizität, ihr Sklave geworden. Die Verkehrsmittel haben eine
ungeahnte Entwicklung erfahren, die aus dem gesellschaftlichen
Wirtschaftsleben bis in den Familienhaushalt hineingreift. Mit
Warenproduktion und Geldwirtschaft dehnte sich der Handel gewaltig
aus, dem „königlichen Kaufmann“ aber entstand in dem
listenreichen Börsenspekulanten ein gefährlicher
Konkurrent: Kredit und Börse entwickelten sich und zogen ihre
Kreise über die Welt. Nachdem es keine neuen Erdteile mehr zu
entdecken und zu plündern gibt, trieb der Kapitalismus zur
„Erschließung“ und Industrialisierung der Länder,
die noch außerhalb seines Bannes standen. Er regte auf
wissenschaftlichem und technischem Gebiet Erfindungen und
Entdeckungen an, welche die geheimnisvollsten und mächtigsten
Naturkräfte enthüllten, bändigten und untertänig
machten. Im erhöhten Maße trifft heute zu, was das
Kommunistische Manifest vor mehr als einem halben Jahrhundert
aussprach. Der Kapitalismus hat „massenhaftere und kolossalere
Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen
zusammen“. Der wirtschaftlichen Revolutionierung entsprechend
hat er die sozialen Verhältnisse tief umgepflügt. Er
degradierte die absoluten Fürsten zu konstitutionellen und
verwandelte die ungekrönten Könige der Industrie, des
Handels und der Hochfinanz in absolute Herren. Er schuf die
Plutokratie, an welche die alteingesessene Aristokratie
Wappenschilder, Söhne und Töchter, der die Nachfahren der
Kreuzfahrer als „blutige Gründer“ Hand- und
Spanndienste leistet. Er hob die Stände auf und setzte an Stelle
der zahllosen verbrieften Freiheiten der alten Feudalordnung die eine
gewissenlose Handelsfreiheit; zwischen Menschen und Menschen ließ
er kein anderes Band übrig als das nackte Interesse, als die
gefühllose bare Zahlung, um mit dem oben zitierten Dokument zu
reden. Er verschärfte alte soziale Gegensätze und schuf
neue soziale Schichten, neue soziale Gegensätze, die er rasch
auf die Spitze trieb. Er bewirkte, dass alle sozialen Gliederungen
hinter der Klassenscheidung zurücktraten, alle sozialen
Gegensätze vor dem einen großen Klassengegensatz zwischen
Proletariat und Bourgeoisie, zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten
verblassten. Im Lichte der allgemeinen riesigen und rapiden Umwälzung
der Produktionsbedingungen und sozialen Verhältnisse wird es
begreiflich, dass die bürgerliche Ehe in großem Umfang und
mit wechselnder Schnelligkeit der Zersetzung anheim fällt,
seitdem die bürgerliche Gesellschaftsordnung die herrschende
geworden ist. Die entfaltete kapitalistische Produktion und die von
ihr getragene kulturelle Entwicklung haben die Gewalt der Faktoren
erhöht, welche den Charakter und die Aufgaben des Haushalts
verändern, das Bedürfnis der Menschen nach Einheit von
Liebe und Ehe steigern; das Bewusstsein für die Gegensätze
schärfen, welches die Ehe in sich birgt; den Antagonismus
zwischen dem eigentumsrechtlichen Zwecke der bürgerlichen
Monogamie und dem natürlich-sittlichen Liebesrecht des modernen
Menschen; den Gegensatz zwischen dem Herrenrecht des Mannes und der
Unfreiheit des Weibes.
Die herangereifte kapitalistische Produktion räumt ganz anders mit der Naturalwirtschaft auf, als es der junge Kapitalismus getan, der kaum die Tür des handwerksmäßigen Betriebes hinter sich geschlossen hatte. Mit der Naturalwirtschaft aber steht und fällt die alte Form des Haushalts, die ihrerseits nicht bloß die äußere Gestaltung der Familie und Ehe entscheidend beeinflusst, sondern auch für ihren Inhalt von Bedeutung ist. Was die Großfabrik und der moderne Handel mit seinen Warenhäusern und Basaren begann, das vollenden Wasser- und Gasleitung, elektrisches Licht und Telefon. Die Bedarfswirtschaft – die produktive Arbeit für den Familienverbrauch – wird in stetig wachsenden Schichten der Gesellschaft auch den letzten Schlupfwinkeln des Haushalts fortgefegt. Die moderne Produktion ergreift einen Zweig der früheren produktiven hauswirtschaftlichen Arbeit der Frau nach dem anderen und verlegt ihn aus dem Hause in die Fabrik und Werkstatt. Zahlen illustrieren, zeigen aber keineswegs erschöpfend, in welchem Umfange der Wandel erfolgt. Es sind die Ziffern über die Erwerbsarbeit der Frau in allen Kulturländern.
Auf unendlich größerer Stufenleiter geht jetzt eine Erscheinung vor sich, die bereits mit den Anfängen der kapitalistischen Produktion einsetzt: die Emanzipation der Frau vom Haushalte. Sie beschränkt sich heute nicht mehr wie damals auf die oberen Klassen der Gesellschaft, sie vollzieht sich ebenso im Proletariat und im Mittelbürgertum, sie greift unter der bäuerlichen Bevölkerung in dem Maße um sich, als der Kapitalismus und sein Staat durch viel verschlungene direkte und indirekte Einflüsse der bäuerlichen Naturalwirtschaft den Garaus machen und die Agrikultur mehr und mehr in Abhängigkeit von der Industrie gerät.
Wie in früheren Perioden, so ist es auch jetzt wieder der Besitz, der Reichtum, welcher die Frauen der oberen Klassen vom Haushalt emanzipiert. Wie aber die sozialen Verhältnisse sich unter der Herrschaft der kapitalistischen Produktion gestaltet haben, ist diese ihre Emanzipation im Allgemeinen gleichbedeutend mit der Abwälzung von jeder Arbeit überhaupt. Der „grande dame“ unserer Tage genügt es nicht, dass die kapitalistische Produktion ihr jede produktive hauswirtschaftliche Leistung abnimmt, in der Regel überträgt sie auch die Leitung und Ordnung des Hauswesens und die Erziehung der Kinder Mietlingen. Sie arbeitet nicht mehr für das Haus, sie repräsentiert es nur noch.
Die Frau der Renaissance, die am Kulturleben ihrer Tage teilnahm und gesellschaftlich hervortrat, verdankte ihr Ansehen und ihren Einfluss einer überragenden persönlichen Entwicklung, die ohne ernste geistige Arbeit nicht zu erringen war. Die zeitgenössischen Salonköniginnen werden als geistreich gefeiert, begönnern Gelehrte, „kreieren die Künstler der Saison“, wenngleich sie nicht über die oberflächlichste Entfaltung eines herzlich unbedeutenden Ichs hinausgekommen sind. Was sie an geistiger und künstlerischer Kultur nicht im Fluge genießend, in Theatern und Konzerten, in den Warenbasaren der bildenden Künste, Ausstellungen genannt, bei den Plaudereien des five o’clock Tees zu erhaschen vermögen, das vermittelt ihnen in jeder Beziehung „billigst“ der moderne Zeitungs- und Zeitschriftenbetrieb. Er enthebt sie der Notwendigkeit, sich mühsam durch gelehrte Forschungen zurechtzutasten, im ernsten Ringen sich persönlich mit Kunstwerken und sozialen Problemen auseinanderzusetzen. Er liest, sieht, hört, fühlt, denkt und urteilt für sie, und das alles mit der Geschwindigkeit des Hexeneinmaleins und der unfehlbaren Treffsicherheit der letzten geistig-künstlerischen Tagesmode. Die Geisteskultur jener Frauen ist eine Schminke, die ihnen, wie den Römerinnen der Verfallszeit die Gesichtsschminke, von Sklavenhänden aufgelegt wird. Auch ihre geistige Existenz ist in einem hohen Maße zu einer parasitären herabgesunken, sie beruht nicht auf eigener Arbeit, sondern auf der Aneignung und dem Genuss fremder Arbeitsleistungen [B] Für die Hauswirtschaft wie für den inneren Gehalt des Familienlebens verliert so die individuelle Wesenheit der Ehefrau immer mehr an Bedeutung. Die hervorgehobenen Tendenzen wirken in den oberen Klassen in höchstem Maße ehezerrüttend. Sie vernichten wichtige Elemente, welche in der vorkapitalistischen Zeit der monogamen Ehe individuell und sozial eine gewisse Weihe geben konnten.
Der auf der Naturalwirtschaft beruhende Haushalt stempelte die Ehe zu einer notwendigen Vereinigung zweier in ihrer Trennung unvollkommener Wirtschaftskreise“ (Lippert, „Kulturgeschichte“) Den gesellschaftlichen Produktionsbedingungen entsprechend gliederte er der produktiven Tätigkeit des Mannes als notwendige Ergänzung und Vervollständigung ein Gebiet produktiver Arbeit für das Weib an. In seiner vielseitigen Bedeutung schuf er außerdem einen Boden, auf dem die verschiedensten Talente und Kräfte der Frau sich wirkend ausleben konnten. Der alte Haushalt stellt mithin die Frau dem Manne in der Ehe als Genossin der Arbeit zur Seite und lehrte in ihre Leistungen ihre persönlichen Werte schätzen. So spann er zahlreiche und feste Fäden persönlicher Beziehungen zwischen den Ehegatten. Wenn die Liebe „in der guten alten Zeit“ auch nicht Voraussetzung der Ehe war, so konnte sie doch in der Folge mit der Ehe kommen und kam oft mit ihr. Indem die kapitalistische Produktion den Hauhalt als produktive Bedarfswirtschaft aufhebt, setzt sie Faktoren außer Wirksamkeit, aus denen die Ehe sittliche Kräfte zu saugen vermochten und deren Spiel ihre natürlich-unsittliche Grundlage verhüllte. Nun erst traten daher auch charakteristische Wesenszüge der vaterrechtlichen Monogamie voll in Erscheinung, die wir als unsittlich empfinden: der vermögensrechtliche Zweck und die Herrschaftsstellung des Mannes mit ihrer doppelten sexuellen Moral.
Wir werden später aufzeigen, dass unter dem Hauch der kapitalistischen Produktion und der von ihr getragenen Kultur auch in dieser Beziehung neues Leben emporblüht, wo altes welkt und verdorrt. Aber da seine letzte Wurzel die Arbeit ist, vermag es nicht sich in den oberen Schichten der Gesellschaft zu entfalten, wo dank der Klassenspaltung die Ausbeutung von der Arbeit enthebt. Indem der ausbeutende Besitz hier in logischer Reihenfolge die Frau schließlich auch geistig in eine Drohne verwandelt, vernichtete er die letzte Möglichkeit, die Bourgeoisehe aus dem Schmutz der Unsittlichkeit emporzuheben, in welchem sie durchschnittliche geschlossen wird und fortvegetiert.
Er lässt damit das Weib der schimpflichsten Niedrigkeit anheim fallen, aus der keine noch so devot geflüsterten Höflichkeitsphrasen erretten. Es wird lediglich eine Brutanstalt für legitime Erben. Ihm „bleibt nur der Reiz des Geschlechts, und wenn sich die Frau an diesem allein genügt oder genügen muss, ist sie gesunken, denn was sie in ihrer früheren Stellung gehoben hatte, war ihre Arbeit und deren Wert.“ (Lippert) Wenn die Ehe – ihre sonstigen Wesenszüge vorausgesetzt – sich in den besitzenden Klassen aus einer Arbeitsgemeinschaft von Mann und Weib zu einer bloßen Genussgemeinschaft umgestaltet, so sinkt die Frau in ihr zur Prostituierten herab, ja vielfach noch unter sie, weil die Bourgeoisdame sich nur selten auf die mildernden Umstände berufen kann, die jene meist für ihr trauriges Handwerk geltend zu machen vermag. Der Trauschein ist dann um nichts besser als der Kontrollschein der Dirke, von der sie sich nur dadurch unterscheidet, wie Engels sagt, dass sie ihren Leib in lebenslängliche Sklaverei statt zur Akkordarbeit verkauft.
Des Weibes Schmach wird aber unvermeidlich auch zur Schmach des Mannes. Davon abgesehen, dass in der bürgerlichen Gesellschaft der Mann ebenfalls zur Ware geworden ist, die auf dem Ehemarkt gekauft und verkauft wird, kann er kein Weib prostituieren, ohne sich selbst zu prostituieren. Die Prostitution von Mann und Weib in der Ehe, vom Staat sanktioniert, von der Kirche gesegnet, das ist die letzte Stufe der Entwicklung, welche die vaterrechtliche Monogamie bei den oberen Zehntausend erklimmt. Diesen Gang der Dinge bezwingt keine dogmatische oder ethische Beschwörung, auch keine Ehereform, solange die kapitalistische Ordnung besteht und seine Ursachen lebendig erhält. Ihm steuert nur die soziale Revolution, welche Klassengegensätze und Ausbeutung abschafft, und dadurch die Angehörigen der oberen Klassen von parasitären zu schaffenden Gliedern der Gesellschaft erhöht.
Allein während der Umschwung der Zeiten in der Bourgeoisehe alle persönlichen, menschlichen Beziehungen zwischen den Gatten tötet, beschmutzt und entarten lässt, weil er sie in Sachbeziehungen zwischen zwei Vermögen oder sonstigen Marktwerten verwandelt, wirkt noch ein anderer Prozess auf die Ehe zurück. Die kapitalistische Gesellschaft löst ihre Aufgabe, den Begriff des bürgerlichen Eigentums herauszuarbeiten, das bürgerliche Eigentum gesetzlich zu verankern. Als Trägerin und Hüterin vermögensrechtlicher Interessen wohnt der Ehe für die besitzenden Klassen eine hohe, eine steigende Bedeutung inne. Es wächst daher nicht bloß die Tendenz, die geltende Form der Ehe als sakrosankt und über den geschichtlichen Wandel erhaben zu erklären, sondern auch die andere, den Bestand dieser Form durch äußere Mittel möglichst zu schützen. Diese Tendenzen vor allem haben bei Schaffung des neuen deutschen Bürgerlichen Gesetzbuchs triumphiert. Sie diktieren die Bestimmung, dass das uneheliche Kind mit seinem Vater nicht verwandt sei, eine Bestimmung, welche dem gesunden Menschenverstand unfassbar dünkt, und die nur im Lichte des bürgerlichen Eigentumsbegriffs und des vermögensrechtlichen Charakters der Ehe verständlich wird. Sie schufen die Erschwerung der Ehescheidung, die im schroffen Gegensatz steht sowohl zu der inneren Zerrüttung der Ehe gerade in den bürgerlichen Kreisen wie zu dem modernen Sittlichkeitsempfinden. In der Theorie: die höchste Wertung der Form; in der Praxis: die schlimmste Entwertung des Inhaltes, das hat der Zeitenschoß der Bourgeoisie gebracht.
Im Proletariat ist das Resultat der geschichtlichen Entwicklung
das Umgekehrte: die Entwertung der Form, dafür aber die
Vertiefung und Versittlichung des Inhaltes der Ehe.
Im Kommunistische Manifest heißt es: „Die Lebensbedingungen der alten Gesellschaft sind schon vernichtet in den Lebensbedingungen des Proletariats.“ [b] Das trifft für die bürgerliche Monogamie durchaus zu.
Die proletarische Klassenlage schließt die Tendenz in sich, ihr die feste Basis zu entziehen: das Privateigentum, das Mann und Weib der besitzenden Klassen geschlechtlich zusammenschmiedet, ohne Rücksicht auf die individuell- und sozialethischen Momente, welche der zeitgenössischen Kultur entsprechend Voraussetzungen der Ehe sein sollen. Die kapitalistische Produktionsweise bedarf eigentumsloser Arbeitskräfte und erzeugt sie in steigender Zahl. Die Proletarier besitzen in der Regel nichts oder doch wenig mehr als ihre Arbeitskraft, und was sie zu vererben haben, das ist außer der Anwartschaft auf die Ausbeutung und Knechtschaft, die sie selbst erfahren, allzu oft nur ein Organismus, der durch chronische Anstrengung und Unterernährung brüchig geworden und mit den Keimen zu Siechtum und Gebresten behaftet ist. Die proletarischen Männer und Frauen werden daher im Allgemeinen nicht durch die lockende Aussicht auf die Erwerbung und Erhaltung von Eigentum einander in die Arme geführt. Gar wenig Macht übt naturgemäß der Wunsch über sie aus, legitime Erben ihres armseligen bisschen Hab und gut zu zeugen.
Und wie der Zweck der bürgerlichen Monogamie seinen Sinn für sie verliert, also auch im Zusammenhang damit die Herrscherstellung des Mannes in ihr, Nicht als Persönlichkeit, als Träger und Besitzer von Privateigentum ist der Mann das Haupt und der Herr in der Familie geworden. Sein Herrenrecht ist mit dem Privateigentum entstanden, wurzelt in ihm und wird im letzten Grunde seinetwegen aufrecht erhalten. Es schwindet ihm der sichere Boden unter den Füßen, wenn – wie im Proletariat – Mann und Weib gleich Eigentumslose sind, die als gleichwertig Schaffende und Ringende im Kampf ums Dasein nicht dank ihres Besitzes und der Ausbeutung fremder Arbeit bestehen, sondern durch ihre eigenen persönlichen Leistungen. Das rechtliche Dogma aber ist außerstande zu halten, was die reißende Welle des Lebens unterspült. Die Bedeutung des juristischen Herrenrechts des Mannes in der Ehe bricht kraftlos vor der Tatsache zusammen, dass die Proletarierin als erwerbstätige Arbeiterin auf dem gesellschaftlichen Wirtschaftsmarkte ihren Unterhalt zu finden vermag, ja immer häufiger zu suchen gezwungen ist. Davon zu schweigen, dass im Proletariat das bürgerliche Recht meist von vornherein als Mittel ausscheidet, die vaterrechtliche Monogamie zu schützen. Als Recht der bürgerlichen Klassen ist es ein gar teures Ding. Die Besitzlosen müssen vor seiner Anrufung im Hinblick auf die Kosten zurückschrecken, die obendrein in der weitaus größten Zahl der Fälle nicht im Verhältnis stehen zu den Vorteilen, welche die zwangsweise Festigung des starren vermögens- und vaterrechtlichen Charakters der Ehe bringt.
Ihrer dialektischen Natur entsprechend beschränkt sich jedoch die geschichtliche Entwicklung nicht darauf, und den Lebensbedingungen des Proletariats die wichtigsten Wesenszüge der vaterrechtlichen bürgerlichen Monogamie zu vernichten. Sie bildet vielmehr in ihnen gleichzeitig die bedeutenden Charaktermerkmale eines höheren Bundes von Mann und Weib vor. Selbstverständlich tritt die positive Seite ihres Waltens, wie die negative auch, weniger in fertigen und reinen Entwicklungsresultaten in Erscheinung, als in Entwicklungstendenzen, deren freiem Spiel andere Tendenzen entgegenwirken, welche von der Herrschaft des Privateigentums in der kapitalistischen Ordnung erzeugt werden, und deren Ergebnisse die Muttermale dieser Ordnung tragen. Immerhin setzten sich die umbildenden Tendenzen kräftig genug durch, um im allgemeinen den Charakter der proletarischen Ehen zu prägen, ihn in Gegensatz zu der bourgeoisen Schacherehe zu bringen und die Richtung deutlich wahrnehmbar anzuzeigen, in der das soziale Werden vorwärts schreitet.
Als treibende Kraft des Entwicklungsprozesses tritt uns – wie in der Geschichte der Ehe überhaupt – an erster Stelle die Revolutionierung der Arbeit entgegen. Sie wird für die Umbildung der Ehe insbesondere durch die Umbildung des Haushalts und die Tätigkeit der Frau bedeutsam. Das haben wir bereits an dem Zusammenhang dargelegt, der zwischen der Aufhebung des Haushalts als Bedarfswirtschaft durch die kapitalistische Produktion und der inneren Zersetzung besteht, der die Ehe der bürgerlichen Klassen anheim fällt. Unter dem Einfluss der Klassenlage zeitigt aber auch der nämliche Vorgang – die Verdrängung der Naturalwirtschaft aus dem Hause – für die proletarische Ehe durchaus gegensätzliche Resultate.
Die kapitalistische Produktionsweise sorgt durch die Ausbeutung des Proletariers dafür, dass die Enthebung der Arbeitergattin aus produktiver Tätigkeit für den bedarf der ihrigen keineswegs zur Emanzipation von der Arbeit für die Familie und darüber hinaus für die Gesellschaft wird. Umgekehrt: sie vertieft und erweitert das Tätigkeitsgebiet der Proletarierin und passt es den gewandelten sozialen Verhältnissen an.
Dank der neuen gesellschaftlichen Produktionsbedingungen kann die Arbeiterfrau nicht länger Bedarfswirtschafterin für die Familie sein, dank der proletarischen Klassenlage, muss sie jedoch Leiterin und Verwalterin des Haushalts, Pflegerin und Erzieherin der Kinder bleiben. Ihr häusliches Walten gewinnt in dem Maße an Bedeutung, als der Gegensatz zwischen dem Einkommen der Familie und der vorhandenen gesellschaftlichen Kulturmöglichkeiten beziehungsweise den steigenden Kulturbedürfnissen des Proletariats wächst, in dem Maße, als dieses in der Familie Höheres erblickt als eine Tisch- und Schlafgemeinschaft. Was sie als umsichtige Haushälterin und verständnisvolle Gattin und Mutter leistet, das wirkt oft genug dem drohenden Absturz der Angehörigen entgegen, das trägt stets zu deren körperlichen, geistigen und sittlichen Tüchtigkeit bei, und damit zum kulturellen aufstieg der Klasse.
Ein neues Moment von höchster Bedeutung tritt auf. Die kapitalistische Produktion schafft in Gestalt der proletarischen Not den Zwang, in Gestalt der technischen Vervollkommnung der Produktionsmittel die Möglichkeit dafür, dass die Proletarierin als Berufstätige an der gesellschaftlichen Gütererzeugung teilnimmt. Sie löst damit das Weib wirtschaftlich vom Haushalt, vom Manne los, und verleiht ihm eine selbständige wirtschaftliche Existenz. Sie stellt es dem Manne auf seinem Tätigkeitsfeld als vollwertige Arbeitskraft zur Seite. Sie treibt es als Ausgebeutete in den Klassenkampf, dessen Anforderungen geistige und sittliche Kräfte wecken und entwickeln. Kurz die Arbeit bleibt das große Leitmotiv, dass in volleren Akkorden als je im Leben der Proletarierin erklingt, die Arbeit, die auch als kettenbehaftete Sklavin des Kapitals die Persönlichkeit emporhebt und adelt.
Die proletarische Ehe ist in der Folge der aufgezeigten Verhältnisse nach wie vor, ja auf höherer Stufe als früher, eine Arbeits- und Kampfgemeinschaft von Mann und Weib. Der Wandel der Zeiten weist ihr erweiterte und vertiefte Aufgaben gegenüber der Gesellschaft und den Familienangehörigen zu, er lässt neben den alten persönlichen Beziehungen zwischen den Gatten neue, feinerer und komplizierterer Art emporkeimen. Die Frau gewinnt damit als Persönlichkeit Bedeutung und Würdigung, denn von steigender Wichtigkeit ist, was sie an persönlichen Werten in die Aufgaben und Beziehungen der Ehe einsetzt. So wird ein breiter und fruchtbarer Boden bereitet, auf dem die individuelle Geschlechtsliebe zu wurzeln und zu wachsen vermag, aus welchen sie die sittlichen Kräfte saugt, welche das erdschwere sinnliche Treiben sublimieren. Diese selbst aber kann sich als subjektive Vorbedingung für Eheschluss und Ehedauer um so siegreicher durchsetzen, je größer die wirtschaftliche Selbständigkeit des Weibes ist, seine persönliche Bewegungsfreiheit und seine Gleichwertigkeit als Genossin des Mannes; mit anderen Worten: je weniger das Weib durch die Ungunst der sozialen Verhältnisse gezwungen ist, sich in die gesellschaftlich beweihräucherte oder die gesellschaftliche Prostitution zu verkaufen.
Wir haben bereits in anderem Zusammenhange darauf hingewiesen, dass die Einführung der Frau in die gesellschaftliche Produktion dem Herrenrecht des Mannes in der proletarischen Ehe den letzten realen Stützpunkt raubt. Sie begnügt sich jedoch nicht damit, die Gatten als gleichwertige produktive Arbeiter nebeneinander zu stellen und mit dem Flammenschein zerstörten Familienglücks, mit dem Schrei der Plage leiblich und geistig geopferter Kinder die gesellschaftliche Bedeutung des hausmütterlichen Wirkens zu predigen. Im Bunde mit der Vermögenslosigkeit ist sie die wichtigste treibende Kraft, welche mit dem Sein und Bewusstsein der Proletarier auch ihre Geschlechtsmoral revolutioniert.
Im Proletariat bleibt für die zweierlei Sittlichkeit in geschlechtlichen Dingen und das Monopol des Mannes auf zügelloses sexuelles Ausleben gar wenig Spielraum. Die jungfräuliche Unberührtheit und die eheliche Treue des Weibes verlieren ihren Marktpreis als anatomische Garantien für legitime Erben des Ehemannes. Keuschheit und Treue verwandeln sich aus vermögensrechtlichen in sittliche Werte, deren Bedeutung für beide Geschlechter die gleiche ist. Die wirtschaftliche Selbständigkeit ermöglicht der Proletarierin, frei über ihre Liebe zu verfügen. Ohne Beobachtung der gesetzlichen Formalitäten kann sie den Mann ihrer Wahl in Leidenschaft umarmen und eine besudelte Ehe auflösen. Dass sie unter der Herrschaft der bürgerlichen Ordnung und ihrer Moral in beiden Fällen die Freiheit und Reinheit ihrer persönlichen Wesensäußerung um hohen Preis erkaufen muss, kommt für die prinzipielle Wertung der Entwicklungstendenzen nicht in Betracht. Diese laufen aber unzweideutig in der Richtung einer Gleichstellung der Geschlechter, indem sie dem Liebesleben des Weibes vor der Ehe größere Bewegungsfreiheit sichern, dem des Mannes aber um der Ehe größere Gebundenheit auferlegen. Das Geschlechtsleben des Proletariats sinkt damit nicht unter dasjenige der Bourgeoisie herab, sondern es steigt über sie empor, denn trotz aller Makel und Gebrechen, die ihm als Erbteil der kulturell rückständigen proletarischen Klassenlage eigentümlich sind, hat es vor der bourgeoisen Sittlichkeit die größere Wahrhaftigkeit, Reinheit und Gerechtigkeit voraus.
Unter dem Drängen der geschichtlichen Entwicklungskräfte, welche die kapitalistische Produktion auslöst, weitet sich so stetig die Kluft, welche die proletarische Ehe ihrem Wesen nach von der vaterrechtlichen Monogamie scheidet. Das Verhältnis des Proletariers zu seinem Weibe hat nichts gemein mit dem bürgerlichen Familienverhältnis, erklärte schon das Kommunistische Manifest. Scharf präzisiert fasst Engels die Entwicklungsergebnisse in dem Satze zusammen, dass die „Proletarierehe monogamisch ist im etymologischen Sinn des Wortes, aber durchaus nicht in seinem historischen Sinn.“ Sie hat mit der streng vaterrechtlichen Monogamie in der Hauptsache nur noch die äußere Form gemein. Das historische Werden gießt neuen Wein in alte Schläuche. Naturgemäß beginnt nun eine Rebellion des neuen, höheren Inhalts gegen die alte unvollkommene, knechtende Form, eine Rebellion, die zur Entwertung und schließlich zur Sprengung der Form führt, denn das lebendige geschichtliche Leben ist auf die Dauer immer stärker als sein Geschöpf, die soziale Institution. Tatsächlich stehen heute schon zahlreiche Proletarier der bürgerlichen Eheform mit vollständiger Gleichgültigkeit gegenüber, die bei den einen der unbewusste Reflex des sozialen Milieus ist, bei den anderen der bewusste Ausdruck von geschichtlicher Einsicht und der Emanzipation von der bürgerlichen Anschauung. Wohl hält man meist noch an der Form fest, allein die alte Achtung vor ihr ist verloren gegangen. Man unterwirft sich ihr aus allerhand Rücksichten, von denen die Mehrzahl dem Wesen des Ehebundes vollständig fremd ist, man glaubt jedoch nicht länger an den inneren wert der Form, an ihre Kraft, das Geschlechtsleben zu veredeln. Auch das sozialethische Moment der Ehe – die gemeinsame Fürsorge von Mann und Weib für die Nachkommen – hängt im Proletariat im letzten Grunde weniger von der Beobachtung der gesetzlich konzessionierten Ehe ab als von materiellen Umständen und vor allem von der Stärke des individuellen Pflichtbewusstseins. Das tritt besonders klar zutage, wenn man als Kriterium erfüllter ehelicher Pflichten nicht bloß den Unterhalt der Kinder ins Auge fasst, vielmehr ihre Erziehung. Von der Nichtachtung der Form bis zu ihrer Nichtbeachtung ist aber ein kleiner Schritt und er wird leicht getan, wenn die Umstände auf ihn hindrängen. Dafür zeugen die zahlreichen Proletarierehen, welche geschlossen und gelöst werden, ohne dass die Gatten sich um die gesetzlichen Formalitäten kümmern.
Die geschichtliche Tendenz zur Umbildung der Ehe, welcher wir in der Bourgeoisie und im Proletariat nachgegangen sind, schlummern auch in den übrigen Klassen der Bevölkerung nicht. Ihre treibende Kraft wächst hie in dem Maße als hier die einzelnen Klassen in den Bannkreis der kapitalistischen Produktion geraten. Welche die Lebensbedingungen und die Köpfe revolutioniert. Am schwächsten treten sie daher unter den Bauern auf, am stärksten machen sie sich in der bürgerlichen Intelligenz geltend, weil bei ihr ein Faktor überragende Bedeutung gewinnt: die Differenzierung der Persönlichkeit, welche die sittlichen Anforderungen der individuellen Geschlechtsliebe in immer schärferen Gegensatz zu der Eheform bringt. Die Statistik der Ehescheidungen gibt wertvolle Anhaltspunkte dafür.
Wir haben bereits früher betont, dass die moderne individuelle Geschlechtsliebe als leidenschaftliche Rebellion gegen die vaterrechtliche Monogamie auf den Plan tritt. Das Zeitalter der kapitalistischen Produktion hat auch ihre eheumbildende Kraft gewaltig gesteigert. Es hat eine Fülle materieller und kultureller Quellen erschlossen, welche die Entwicklung und Differenzierung der Persönlichkeit speisen, die Voraussetzung für das Emporblühen der modernen individuellen Geschlechtsliebe ist. Die reif und stark entfaltete Persönlichkeit muss am tiefsten das Unrecht empfinden, welche das tote Eigentumsrecht der bürgerlichen Monogamie dem lebendigen Liebesrecht des Menschen antut. Sie empört sich und nimmt den Kampf auf gegen die Formen und Formeln, welche die Liebe versklaven und beschmutzen. Den objektiven geschichtlichen Kräften, welche an der Ehe unserer Tage rütteln, gesellen sich starke subjektive Mächte zu.
Der Raummangel zwingt uns, erst in nächster Nummer die Frage zu beantworten, warm in der kapitalistischen Ordnung die Ehereform außerstande ist, die Liebe zu befreien.
B. Wir verkennen durchaus nicht, dass es in den herrschenden Klassen eine große Anzahl Frauen gibt, welche sich in arbeits- und schmerzensreichem Ringen eine ernste, gründliche Geisteskultur aneignen. Allein sie repräsentieren nicht den „normalen“, gesellschaftlich führenden Frauentypus jener Kreise und werden von diesen als „Ausnahmen“ weniger anerkannt und ermutigt als toleriert. Unter dem Drucke der Frauenbewegung bahnt sich ein Wandel der Würdigung an. An im hat aber vorläufig die Achtung vor dem Rechte des Weibes als Persönlichkeit und der Bedeutung geistiger Arbeit und Kultur sicherlich kaum größeren Anteil als die Macht der Mode. Man findet, dass die Doktortitel irgend einer Fakultät einer Dame unter Umständen ebenso „chic“ kleiden kann, wie die Frisur a la Cléo de Mérode oder ein Kostüm, das Vandervelde entworfen hat.
b. K.Marx u. F. Engels, Manifest der Kommunistische Partei.
Zuletzt aktualisiert am 11. November 2024