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Aus Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, IV: Nr. 14, 11. Juli 1906 und Nr. 15, 25. Juli 1906.
Die geschichtliche Entwicklung war im Mittelalter nicht stillgestanden, in ununterbrochenem, unaufhaltsamem Flusse war sie vorwärts geflutet. Langsam, im Augenblick kaum wahrnehmbar, hatte sich in der Gesellschaft eine tief furchende Umwälzung der Arbeit und ihrer Bedingungen vollzogen, damit aber auch der Beziehungen der Menschen zueinander wie ihrer geistig-sittlichen Lebensauffassung, ihrer Denkweise und Ideale.
Die höhere Produktionsweise der Römer hatte befruchtend auf die Völker und Völkermischungen gewirkt, die auf den Trümmern des lateinischen Weltreichs die Ordnung des Feudalismus aufrichteten. Ganz besonders in Italien hatten sich ihre Überlieferungen lebendig erhalten und die Kirche war es vor allem, die ihre Errungenschaften den germanischen „Barbaren“ übermittelte. Im Laufe des Mittelalters nahm die Arbeitsteilung zu, Geschicklichkeit, Kunstfertigkeit und technisches Wissen stiegen, die Arbeitsweisen und Arbeitswerkzeuge wurden vervollkommnet. Der Ackerbau erklomm eine höhere Stufe der Entwicklung, das städtische zünftige Handwerk blühte empor. Neben der Produktion für den Selbstverbrauch gewann die Produktion für den Verkauf eine wachsende Bedeutung und schränkte die erstere allmählich mehr und mehr ein. Warenproduktion und Warenaustausch entfalteten sich, das Geld wurde damit eine wirtschaftliche und soziale Macht. Der Handel zog seine Kreise weit über die bäuerliche und städtische Markung hinaus, ja weit über die Grenzen der einzelnen Länder. Er wurde zum Welthandel, der Abendland und Morgenland verband. Die „königlichen Kaufleute“ herrschten zu Wasser und zu Lande; sie machten sich alle Schichten der Gesellschaft tributpflichtig, soweit diese an der Kultur der Zeit teilhatten; sie borgten den Fürsten bis zum Kaiser des „heiligen römischen Reiches“ hinauf; sie regierten in den freien Städterepubliken; sie wurden Herzöge und gründeten Dynastien. Das Kaufmannskapital, das der Welthandel schuf, war zumal im 14., 15. und 16. Jahrhundert eine revolutionäre Macht. Von der Einführung ausländischer überlegener Produkte ging es zu deren Nachahmung über; es brachte die Hausindustriellen in seine Botmäßigkeit und gründete Manufakturen. Es entwickelte damit die Anfänge der kapitalistischen Produktionsweise und es ward gleichzeitig zum festen Schutzwall des aufstrebenden absolutistischen Staates. Es regte Erfindungen an und öffnete einem Zeitalter der Entdeckungen die Tore, dessen Höhepunkte die Entdeckung Amerikas und die Auffindung des Seeweges nach Ostindien waren.. Es trat als Konkurrent um wirtschaftliche und politische Macht, um sozialen Einfluss in Gegensatz zu dem Papsttum und stellte der Internationalität der Kirche die Interessen der Nationalität entgegen.
Die Entwicklung der Warenproduktion und des Warenhandels schuf neue aufstrebende und herrschende Klassen: die absoluten Fürsten mit ihrem Hofadel, die Kaufleute, die gelehrte Intelligenz. Sie verschärfte die alten sozialen Gegensätze zwischen Land und Stadt, zwischen Grundherren und Hörigen beziehungsweise Hintersassen, zwischen Land- und Hofadel usw. Sie rief neue große Gegensätze hervor, so zwischen Konsumenten und Händlern, zwischen Kapitalisten und Hausindustriellen bzw. Manufakturarbeitern, zwischen Meistern und Gesellen, zwischen der Kirche und der Masse der Bevölkerung usw. In den Städten wuchs auf der Grundlage des zusammenströmenden Reichtums eine Kultur empor, welche diejenige der Kirche und des Rittertums weit überragte und in der Renaissance und dem Humanismus gipfelte. Kurz, die Entfaltung der Arbeit brachte in den Jahrhunderten vor der Reformation die handwerksmäßige Produktionsweise zur höchsten Blüte und entwickelte die Ansätze der modernen kapitalistischen Produktionsweise, welche jene abzulösen berufen war. Von der Umwälzung des ökonomischen Lebens getrieben und ihrerseits au sie zurückwirkend gestalteten sie die sozialen Verhältnisse um. Im Schoße der feudalen Ordnung keimte die bürgerliche Gesellschaft.
Die Revolutionierung der wirtschaftlichen und sozialen Zustände ging an den Köpfen nicht spurlos vorüber, auch sie wurden revolutioniert. Die sich wandelnden Daseinsbedingungen mit ihren Voraussetzungen ließen neue Gedanken entstehen, gewandelte geistige und sittliche Werte. Die überkommenen Anschauungen, Glaubenssätze und Einrichtungen büßten ihren Heiligenschein ein, im kecken Jugendmut philosophierten die aufsteigenden Klassen mit dem Hammer an ihnen herum. An allen Autoritäten, allen Schranken ward gerüttelt, welche der Lebensbetätigung der Persönlichkeit zügelnd im Weg standen. Es bildete sich eine neue Denkweise, welche in Gegensatz zu der feudalen und kirchlichen Denkweise trat und ein Gemisch revolutionären und reaktionären Geistes war. Renaissance und Humanismus gaben ihr die entsprechende Form.
Auf der Grundlage der dürftig skizzierten Umwälzungen vollzog sich der Umschwung in der Auffassung der Einehe, deren Fazit die Reformation zog.
Wir können hier nur die wichtigsten Umstände hervorheben, welche in dieser Richtung wirkten. Die Einengung bzw. Verdrängung der Naturalwirtschaft durch die Geldwirtschaft übte einen einschneidenden Einfluss auf die Frauenarbeit aus. Der freie Handwerker trat nach und nach an die Stelle der hörigen Arbeiterin; die verschiedensten Gewerbe übernahmen die Arbeiten der Hausfrau und ihrer Mägde; bei den aufsteigenden Klassen erlaubte es der wachsende Reichtum, ja forderte geradezu dazu heraus, die häuslichen Verpflichtungen Mietspersonen zu übertragen. Wie in Griechenland und Rom in den Tagen des Zerfalls, so ward auch jetzt die Frau vom Haushalt emanzipiert. Aber ein wesentlicher Unterschied zu jener Zeit tritt hervor und offenbart über den bereits vollzogenen kulturellen Aufstieg hinaus das revolutionäre Säuseln und Weben neuer geschichtlicher Mächte. Die Frau – und zwar besonders die verheiratete Frau – gewinnt allmählich eine Bewegungsfreiheit, wie die Antike sie nur der Hetäre eingeräumt hatte. Sie nimmt an dem gesellschaftlichen Leben der Männer teil, Kunst und Wissenschaft werden Elemente ihrer persönlichen Entwicklung, werden Felder ihrer Betätigung. Innerhalb der geschichtlich gegebenen Schranken treten Renaissance und Humanismus als Träger der Frauenemanzipation auf. Die Renaissance zumal war ein klassisches Zeitalter geistig bedeutender, hochragender Frauenpersönlichkeiten, in denen die ganze Kultur ihrer Tage lebte. Die größere Bewegungsfreiheit aber wurde nicht mit Einbuße an Achtung erkauft, sie war vielmehr der Ausdruck höherer Würdigung des Weibes als Persönlichkeit.
Mit der angedeuteten Entwicklung sank dagegen das Ansehen, die Wertschätzung der Ehe. Die Produktion veränderte Form und Aufgaben des Haushaltes, der ihre Grundlage bildete. Die große Hausgemeinschaft früherer Zeiten schrumpfte nach und nach zum Familienhaushalt im heutigen Sinne des Wortes zusammen. Dieser verwandelte sich aus einer produzierenden in eine konsumierende Einheit, der nicht mehr der durch die Ehe gefesselten Frau als ihrer wichtigsten Arbeiterin und Leiterin bedurfte. Indem die Entwicklung der Dinge die Naturalwirtschaft aus der Familie vertrieb, zersetzte sie den festen ökonomischen Kitt der vaterrechtlichen Einzelehe. Wie der Haushalt, so hörte auch sie auf, eine ökonomische Notwendigkeit zu sein, sie verlor in der Folge um so mehr an Ansehen, je weniger noch die geschichtliche Entwicklung die Voraussetzungen für sie als eine sittliche Einheit ausgereift hatte.
Eine andere kulturell bedeutsame Macht trat wider die Ehe auf. Das war die sich entwickelnde individuelle Geschlechtsliebe. Die emporsprossende kapitalistische Produktion, die Entdeckung einer neuen Welt, die Geisteskultur der Renaissance gaben dem Werdegang der Persönlichkeit vermehrte, mächtige Impulse und sprengten Fesseln, die ihn bis dahin gehalten hatten. Auf dem Boden der reichen, kraftvollen Entfaltung der Individualität aber wandelte sich der Geschlechtstrieb, eine der stärksten menschlichen Lebensäußerungen; die generelle Geschlechtsliebe entwickelte sich zur individuellen Geschlechtsliebe. Die in früheren Ausführungen gezeichnete Natur der vaterrechtlichen Ehe schloss jedoch aus, dass diese der einzige Boden war, auf dem die moderne Geschlechtsliebe erblühe konnte. Umgekehrt erwies sie sich oft genug als ein Hindernis, als ein tödlicher Fluch dafür. Die individuelle Geschlechtsliebe vermochte daher vielfach nur außerhalb der Ehe, ja im Gegensatz zu ihr zu gedeihen, als Ehebruch. Außer dem Wesen der Einehe selbst waren noch manche anderen Faktoren maßgebend dafür. So zum Beispiel die Kreuzzüge, die Römerfahrten, die zahlreichen großen und kleinen Kriege. Sie zeitigten lange Perioden der Trennung für die Gatten, in denen diese nicht immer die Sinne zügelten, sie schufen Gelegenheiten, ohne die Bande der Ehe die edelsten sittlichen Seiten einer auf individueller Liebe bestehenden Vereinigung von Mann und Weib schätzen zu lernen. Das nämliche Moment, das als natürlich-sittliche Grundlage des sexuellen Lebens eine Voraussetzung der höheren Einehe der Zukunft ist, führte zunächst zur Missachtung der Ehe, zur Rebellion gegen sie. Die Ehe erschien weniger denn je als eine sittliche Notwendigkeit des geschlechtlichen Lebens; Minnelieder, Fabliaus, Novellensammlungen und Chroniken spiegeln dies ebenso deutlich wider, wie das Keimen und Erblühen der modernen Geschlechtsliebe.
Die vollsaftige Entwicklung der Persönlichkeit wirkte jedoch auch noch in anderer Beziehung auflösend auf die Ehe zurück. Sie minderte ihre Bedeutung als eine rechtliche Notwendigkeit für die Legitimität der Nachfolge im Besitz und in der Macht. Das Zeitalter der Renaissance mit seiner Fülle von Individualitäten, die riesig im Bösen wie im Guten waren, ließ an Stelle der Legitimität der Geburt, die Legitimität der Befähigung, der Kraft gelten. Am schärfsten tritt die entsprechende Auffassung dort zutage, wo die Legitimität der Nachfolge dem angehäuften Reichtum [und] der gesteigerten Macht gemäß von der größten Bedeutung war: in den Häusern der regierenden Fürsten. Hier wie in den großen Adelsgeschlechtern wurden die Bastarde offiziös oder offiziell anerkannt, traten sie die Nachfolge an im allgemeinen ja nach dem Maße der Kraft, mit der sie sich durchzusetzen vermochten. In Italien kamen die betreffenden Tendenzen am Unverhülltesten und am konsequentesten zum Durchbruch. Es gab dort „kein fürstliches Haus mehr, welches nicht in der Hauptlinie irgend eine unechte Deszendenz gehabt und ruhig geduldet hätte“, heißt es in Burckhardts Kultur der Renaissance. Dem Geschichtsschreiber Comines fiel besonders auf, dass man in Italien überhaupt keinen Unterschied zwischen einem legitimen und illegitimen Kinde mache. Die Entwicklung gipfelte logisch darin, dass die unechten Abkömmlinge durch die Condottieri abgelöst wurden, Heerführer welche die Macht an sich rissen und Dynastien gründeten, die höchste Verkörperung des triumphierenden Prinzips vom Recht der Persönlichkeit, die sich durch ihre Taten legitimiert. In den anderen Ländern ging die nämliche Entwicklung vor sich, wenn auch weniger kraftvoll als in dem Italien der Renaissance. „Im Norden, im Hause Burgund etwa, wies man den Bastarden eigene, fest abgegrenzte Apanagen, Bistümer und dergleichen zu.“ Das entsprach der Rückständigkeit wie der größeren erheuchelten „Wohlanständigkeit“ der „sittenstrengen Germanen“. Immerhin war auch bei ihnen die Legitimität der Geburt so erschüttert, dass Shakespeare im König Lear den unehelichen Abkömmlingen einen Adelsbrief schrieb:
„Warum Bastard? Warum niedrig? |
Geschichte und schöne Literatur sind reich an Dokumenten, aus denen erhellt, welche Breschen die geschichtliche Entwicklung vor der Reformation in das „heilige, unantastbare Institut der Ehe“ gelegt hatte, wie unvollkommen und zersetzt es unter dem Gesichtswinkel der Sittlichkeit war.
Am weitesten war der Prozess der inneren Auflösung in Italien fortgeschritten, das die reifste materielle und geistige Kultur der Zeit repräsentierte. Nach Burckhardt charakterisiert es das Italien der Renaissance, „dass hier die Ehe und ihr Recht viel mehr, jedenfalls viel bewusster mit Füßen getreten wird, dass man gerade dem Grundsatz ausspricht, die Ehe sei nur auf bestimmte Zeit zu schließen und so lange die Frau dem Manne gefalle.“ Indessen war auch in en anderen Ländern, wo das neuzeitliche Werden eingesetzt hatte, die Ehe alles, nur kein Rührmichnichtan. Bonsini vermerkt in seiner Beschreibung von Wien im Jahre 1490, „wenige Frauen lassen sich an einem Manne genügen. Häufig kommen Edelleute zu schönen Bürgerfrauen“. Und Scherr schreibt in seiner Kultur- und Sittengeschichte Deutschlands: „Uns ist urkundlich bezeugt, dass um 1476 zu Lübeck vornehme Bürgerinnen, das Antlitz unter dichte Schleier bergend, abends in die Weinkeller gingen, um an diesen Orten der Prostitution unerkannt messalinischen Lastern zu frönen.“ Der Tross der „fahrenden Fräulein“, welcher die Kriegszüge, Konzilien und Kirchentage begleitete; die Orgien in den Freudenhäusern und öffentlichen Badstuben usw. lassen einen beweiskräftigen Rückschluss zu auf die Ohnmacht und die Zersetzung der Ehe, auf den breiten Strom des geschlechtlichen Lebens außerhalb ihrer Grenzen. Jedoch nicht in allen Klassen der Bevölkerung arbeiteten die aufgezeigten Entwicklungstendenzen an der Lockerung der Ehe. Ihre Wirksamkeit beschränkte sich auf die revolutionären oberen Klassen. Nur in ihnen zeitigten die geänderten Produktionsbedingungen in Gestalt von Reichtum und Macht Voraussetzungen für die Emanzipation der Frau vom Haushalt. Nur in ihnen waren die materiellen und kulturellen Vorbedingungen vorhanden für die Entwicklung einer selbstbewussten, kraftstrotzenden, lebensfreudigen Individualität, die sich in leidenschaftlichem Hass gegen jede Bindung, jeden Zwang erhob. Größere Freiheit der Ehe und Liebe war daher ein Ideal der Fürsten und ihrer Höflinge, der Kaufleute, der humanistischen Gelehrten und Künstler. Die Fürstendiener mit und ohne Talar waren die eifrigsten Fürsprecher für leichtere Lösbarkeit der Ehe und freiere Formen des sexuellen Auslebens. Luther erklärte zum Beispiel den außerehelichen Geschlechtsverkehr für verdienstvoller als die Keuschheit.
Die unteren Klassen begehrten im Gegenteil größere Festigung der Ehe. Bauern und Handwerker konnten unmöglich die naturalwirtschaftlich produktive Tätigkeit der Frau missen. Haushalt und Ehe waren für sie nach wie vor ökonomische Notwendigkeiten. Materielle Dürftigkeit, sozialer Druck und geistige Rückständigkeit ließen in ihnen weder die Möglichkeit noch den unbezähmbaren Drang nach schrankenloser Entfaltung der Individualität entstehen. Wollten sie sich im Kampfe der Klassen behaupten, so bedurften sie vor allem der Solidarität. Die Lebensäußerungen der starken Persönlichkeit werteten sie lediglich als Hochmut und Zügellosigkeit, die Geschlechtsliebe sowie jede andere Form von Lust als Teufelswerk und Sünde. Aber das Geschlechtsleben der oberen Klassen warf seine Wellen bis in die Welt der Bauern und Handwerker und des entstehenden Proletariats. Die Lebensgestaltung und Moral der Herrschenden hat stets auf die Beherrschte zurückgewirkt, teils beispielgebend, teils schärfste Opposition herausfordernd. Außerdem fielen die Töchter und Frauen der unteren Klassen nur zu oft der schrankenlos sich austobenden sexuellen Lust in den oberen Klassen zum Opfer.
Alle kommunistischen Bewegungen, in denen Bauern, Handwerker und
Proletarier revolutionär auftraten, proklamierten daher neben
der Eigentumsreform die Reform der Ehe. Aber die wenigsten von ihnen
forderten die beiden Extreme einer solchen: Enthaltung von der Ehe
und absolute Keuschheit; Weibergemeinschaft beziehungsweise
Vielweiberei. Diese Extreme standen im Widerspruch zu den
Bedürfnissen und Anschauungen der unteren Klassen. Der weiter
oben enthaltene Hinweis auf die ökonomische Bedeutung der Ehe
für sie und der Zwang zur „Monogamie der Armut“
machen das erklärlich – von anderen Umständen
abgesehen. Auch die viel geschmähte Weibergemeinschaft und
Vielweiberei der Wiedertäufer war durchaus nicht eine
einheitlich vertretene Forderung. Sie wurde von den angesehensten
Wortführern der Bewegung bekämpft und gewann keine
praktische Bedeutung. Die einschlägigen Zustände in Münster
sind kein ausreichender Gegenbeweis. Die Vielweiberei, welche dort
eingeführt wurde, war eine ökonomische und selten eine
geschlechtliche. Kautsky hat das nach unserer Meinung auf Grund
gewissenhaft geprüften Quellenmaterials überzeugend
nachgewiesen. [A] Die Männer waren
gehalten, mehrere Frauen als Hausgenossinnen zu sich zu nehmen, nicht
um Orgien der Sinnenlust Tür und Tor zu öffnen, wohl aber
um den allein stehenden Frauen in einer Familie Sicherung des
Unterhalts und persönlichen Schutz in den Stürmen der
Belagerung und gegen die Exzesse der zusammengepferchten Krieger zu
gewähren. Zwei Momente diktierten im Hinblick auf dieses Ziel
die Umwälzung der ehelichen Verhältnisse: Das abnorme
Zahlenverhältnis der Geschlechter – etwa 8.000 bis 9.000
Frauen standen 1.500 Männern gegenüber –, und das
Streben, trotz der außerordentlichen Lage die größtmögliche
Sittenstrenge herbeizuführen. Im Allgemeinen forderten die
revolutionären Bewegungen der unteren Klassen größere
Festigkeit der Ehe und erhöhte Reinheit und Sittenstrenge des
Geschlechtslebens überhaupt.
In den vorausgegangene Ausführungen haben wir in knappen Umrissen skizziert, wie es mit der Ehe in dem Zeitalter bestellt war, in welchem die jung aufstrebende kapitalistische Produktionsweise sich gegen den Feudalismus durchzusetzen begann. Wir legten die wichtigsten treibenden Kräfte bloß, welche in den verschiedenen Klassen der Gesellschaft auf eine Reform der Ehe hindrängten. Der Protestantismus führte dieselbe durch.
Damit ist bereits gesagt, dass die Reform der Ehe zunächst auf die germanischen Länder beschränkt blieb. Die romanischen Länder verschlossen ihr die Tore, obgleich damals allen voran in Italien die Verhältnisse unstreitig am reifsten für eine Ehereform waren. Den Ausschlag für diesen widerspruchsvollen Gang der Entwicklung ganz die innige Verquickung der Ehereform mit der kirchlichen Reform. Wie wenig religiöse, kirchlichen Ursprungs und Wesens auch die Kräfte waren, welche an der Zersetzung und Umwandlung der Ehe arbeiteten: der herrschenden theologischen Denkform der Menschen entsprechend wurde die Frage der Ehereform wie alle sozialen Forderungen der Zeit, zu einem religiösen Problem gestempelt. Je geringer die Einsicht in die ökonomische Grundlage des geschichtlichen Entwicklungsprozesses, welcher die Ehe langsam umgestaltete, um so mehr erschien das kirchliche Dogma als die schöpferische historische Macht, die vernichten und beleben konnte. Das von der Kirche „lauter und rein gelehrte Wort Gottes“ sollte auch für die Ehe entscheidend sein. Der Kampf für die Reform der Ehe wurde zu einem integrierenden Bestandteil des Kampfes für die Reform der Kirche. Er gliederte sich diesem um so fester ein, als er naturgemäß Hand in Hand ging mit dem Kampfe gegen das Zölibat der Geistlichen, gegen Mönchs- und Nonnentum, und damit nicht bloß die dogmatische und religiös-moralische Autorität der Kirche antastete, vielmehr sehr reale Stützen ihrer Herrschaft. Der Kampf gegen die Kirche, gegen das Papsttum war aber dank viel verschlungener geschichtlicher Zusammenhänge in seinen Konsequenzen gleichbedeutend mit einem Kampfe gegen die wirtschaftliche, die kulturelle Hegemonie Italiens. Zusammen mit der Herrschaft des Papsttums über die Christenheit erhielt auch die Ausbeutung der Christenheit durch Italien einen tödlichen Stoß. Das reich emporblühende ökonomische Leben des Landes ließ daher die päpstliche Gesinnung immer fester Wurzel schlagen, immer üppiger ins Kraut schießen. Es kehrte sich schließlich gegen sein eigenes Geschöpf: gegen die revolutionäre weltliche Anschauungsweise, die sich im Gegensatz zu der feudalen und kirchlichen Gedankenwelt am frühesten und am kräftigsten in Italien entwickelt hatte. Nicht die Rückständigkeit, die höhere ökonomische Entwicklung wurde zum Damm, an denen sich die Wellen der Reformation vor Italien und den Ländern brachen, die am innigsten mit seiner Kultur verbunden waren. Das von ihnen getragene Schifflein der Ehereform kam nicht vorwärts. Die Ehe blieb ein Sakrament und unlösbar gerade dort, wo das historische Vergehen und Werden ihrer Reform zuerst am weitesten vorgearbeitet hatte.
Allein die geschichtliche Entwicklung lässt ihrer nicht spotten, lässt auf die Dauer ihrem Walten nicht wehren. Die katholische Kirche konnte äußerlich über die Forderung der Ehereform triumphieren, in Wirklichkeit unterlag sie ihr. Was sie rettete, das war nur die äußere dogmatische Weiterherrschaft ihrer Satzung von der Ehe. Sie vermochte aber nicht, dieser Satzung lebendigen geschichtlichen Odem einzuhauchen und sie zu einer Macht zu erheben, die im Ringen gegen die gesellschaftlichen Kräfte bestehen konnte, welche die Ehe umbildeten. Trotz des feierlich proklamierten sakramentalen und unlösbaren Charakters der Ehe konnte das Dogma nicht heiligen, was das gewandelte Bewusstsein als unsittlich empfand, konnte es nicht halten, was ökonomische und geistig-sittliche Entwicklungskräfte im Bunde brachen. Die Macht des Lebens schritt siegreich über den Zwang des Buchstabens hinweg. Sie sprengte Bande, die nicht gelöst wurden, sie fügte Ehen zusammen, denen die kirchliche, die gesetzliche Sanktion mangelte. Die katholische Kirche hatte aus ihrem Herrschaftsbereich die Ehereform, die Lösbarkeit der Ehe verbannt, sie öffnete jedoch damit dem Ehebruch, dem Konkubinat Tür und Tor. Die historische Notwendigkeit der Ehereform setzte sich in der Form illegitimer Vereinigungen von Mann und Weib durch. Zumal bei den Romanen, wo die Leidenschaft das Blut stürmischer durch die Adern treibt als bei den kühleren Germanen, sind Ehebruch und Konkubinat quasi zu „offiziösen“ sozialen Institutionen geworden. Die Gesellschaft ignoriert sie und duldet sie, so lange sie möglichst unauffällig, in bürgerlich unanstößigen Formen auftreten. Die Literatur hat getreulich diese sozialen Entwicklungsergebnisse verzeichnet, sie gelangen besonders scharf umrissen in Roman und Dramen der Franzosen zum Ausdruck. Die katholische Kirche musste sich mit ihnen abfinden.
Ihrer Macht, für die Ehe eine ewig gültige Form zu schmieden, hat die Geschichte jedoch ein weiteres Armutszeugnis ausgestellt.
Der äußerliche Sieg des Katholizismus über die Ehereform im Reformationszeitalter war später durch eine lang andauernde, fast vollständige Stagnation des wirtschaftlichen Lebens in den wichtigsten Ländern seiner Herrschaft gesichert worden. Aus Gründen, die mit dem Scheitern der Reformation nichts zu tun haben, entfaltete sich zumal in Italien und Spanien die kapitalistische Produktionsweise ungemein langsam und schwach. Die Entwicklungstendenzen, welche die Ehereform trugen, verloren in der Folge an Stoßkraft und verlangsamten ihr Tempo. Sie begnügten sich damit, dem Sakrament der unlösbaren Ehe den Ehebruch und die wilde Ehe zur Seite zu stellen.
Mit verstärkter Wucht machten sie sich jedoch aufs Neue in dem Maße geltend, als die moderne Großindustrie ihren Einzug hielt und die moderne kapitalistische , die bürgerliche Entwicklung der Gesellschaft wieder in kräftigeren Fluss brachte. Naturgemäß errangen sie ihre ersten und größten Erfolge in dem katholischen Lande, in welchem der Kapitalismus die Verhältnisse am tiefsten umgepflügt hatte: in Frankreich. Der kapitalistische Staat war hier robust genug geworden, die Ehereform ohne den Segen der Kirche, ja im zähen Kampfe gegen sie zu verwirklichen. Er zog das Fazit der fortschreitenden Revolutionierung der Zustände und Kämpfe, indem er Zivilehe, Ehetrennung und Ehescheidung einführte. Die Entwicklung übersprang dabei die Stufe, auf welcher die Ehe im protestantischen Deutschland so lange verharrt ist. Der Staat schaltete die Legitimierung der Ehe durch die Kirche aus. Die Zivilehe kam als konsequenter Ausdruck der bürgerlichen Anschauungsweise, dass die Ehe ein weltlicher Vertrag sei. Die Kirche selbst aber half ihr die Wege bereiten. Die Hartnäckigkeit, mit welcher sie auf ihrem dogmatischen Schein bestand, ließ den rein bürgerlichen Eheschluss zu einer unerlässlichen Voraussetzung werden für die weltlich Ehetrennung und vor allem die Ehescheidung. Die Kirche unterliegt in ihm nach und nach der stärkeren Macht der kapitalistischen Produktion und der von ihr erzeugten modernen Denkweise.
Wir haben bereits auf die Gründe hingewiesen, welche in den Anfängen der bürgerlichen Gesellschaft die Sache der Ehereform und der kirchlichen Reformation verknüpften. Die Reformation fand eine Formel, welche gleichzeitig dem Bedürfnis der revolutionären oberen Klassen nach größerer Freiheit des Liebeslebens, nach Lockerung und Lösbarkeit der Ehe gerecht wurde, wie dem Bedürfnis der revolutionären unteren Klassen nach geschlechtlicher Sittenstrenge und Festigung der Ehe. Sie formulierte das Recht auf Ehescheidung, welches die Anerkennung des Rechts der freien Gattenwahl in sich schloss und die Umwandlung der Ehe aus einem Sakrament in ein „weltliches Geschäft“ – um mit Luther zu reden – zur Voraussetzung hatte. Indem sie Fesseln löste, die je länger je mehr als unerträglich empfunden wurden, eröffnete sie die Aussicht auf eine Veredelung der Ehe, des Geschlechtslebens dank der Freiheit der Entscheidung bei Eheschluss und Ehelösung.
Die geheischte Ehereform entsprach durchaus tragenden Grundprinzipien der Reformation. Diese verkündete gegenüber dem kirchlichen Dogma die Willensfreiheit der Persönlichkeit, ihr Recht zur Prüfung aller Institutionen und Autoritäten und zur Auflösung wider allen Zwang; sie erklärte den Menschen der Verantwortung für Taten ledig, die nicht die Frucht seiner freien Entscheidung waren. Sie führte die freie Prüfung und Entscheidung als sittliche Pflicht bis in die Domäne des religiösen Lebens ein. Das Verhältnis zu Gott verwandelte sie im letzten Grunde in einen freien Vertrag, den der einzelne jederzeit auf Grund seiner Forschung und Überzeugung revidieren kann, ja revidieren muss. Sie handelte folglich nur konsequent gegen sich selber, als sie der Ehe den Charakter eines Vertrages gab, welchen der freie Wille von Mann und Weib schließen und lösen kann.
In der Theorie bedeutete das einen gewaltigen Fortschritt. Die Liebe war bis dahin als objektive Pflicht der Ehegatten gewertet worden, nicht als subjektive Voraussetzung für die Ehe selbst. Die Liebe konnte mit der Ehe kommen oder auch nicht. Die Reformation brachte die theoretische Anerkennung der Liebe als der natürlich-sittlichen Grundlage der Ehe. Sie hob das Recht der Liebe auf den Schild, und zwar als gleiches Recht für Mann und Weib. Das von ihr proklamierte Recht war Menschenrecht, nicht bloß Männerrecht.
Der Geist der Zeit begehrte die Rechtfertigung alles sozialen Geschehens durch eine theologische Ideologie. Die Reformation berief sich daher für ihren „Umsturz“ der Ehe auf die Bibel. Sie deutete als Gottes Stimme, was das unwiderstehliche Ergebnis der aufkommenden kapitalistischen Produktion und bürgerlichen Gesellschaft war. Unsere Ausführungen in letzter Nummer haben helles Licht darauf geworfen. Indem die kapitalistische Produktion alle Dinge in Waren verwandelte, löste sie alle überkommenen festen Verhältnisse zwischen den Menschen auf, schlug sie die altehrwürdigen Gebote der Tradition, der Sitte und Sittlichkeit, der Religion zu Boden. So schuf sie die „freien und gleichen“ Kontrahenten für den „freien“ Vertrag, dessen sie für ihre Entfaltung und Herrschaft bedurfte und der zu ihren charakteristischen Wesenszügen gehört. Als Willensvollstreckerin der kapitalistischen Entwicklungstendenzen hat die Reformation des Prinzip des „freien Vertrages“ für die Ehe durchgesetzt.
Eine Tatsache lässt sinnenfällig den inneren Zusammenhang zwischen Wirtschaft und Ehe, zwischen Kapitalismus und Ehereform hervortreten. Die nämliche Periode der kapitalistischen Großindustrie, welcher wir in Deutschland die „nationale Einheit“ unter preußischer Pickelhaube verdanken, zeugte als legitime Drillingsschwester Gewerbeordnung, Freizügigkeit und Zivilehe. Die gescheitelte Orthodoxie vergaß, wessen Geschöpf und Werkzeug die protestantische Kirche war, sie verhöhnte die großen ideologische Prinzipien ihrer Vergangenheit, als sie den „Satansspuk“ der Zivilehe bekämpfte. Die „liberale“ deutsche Bourgeoisie handelte übrigens bald darauf gleich einsichts- und charakterlos. Von der Furcht vor dem „roten Gespenst“ nach rückwärts gepeitscht ging sie bei der Schaffung des neuen bürgerlichen Gesetzbuchs in punkto des Ehe- und Familienrechts auch den reifsten Konsequenzen der kapitalistischen Entwicklung aus dem Wege. Und schlimmeres noch! Sie fand sich mit den Reaktionären jeder religiösen und politischen Couleur zur Erschwerung der Ehescheidung zusammen – ein schimpflicher Bankrott ohnegleichen.
Die Ehereform, welche die bürgerliche Gesellschaft in allen Ländern mehr oder minder konsequent durchgeführt hat oder noch durchführen muss, findet geschichtlich bedingt ihre Schranken in dem Wesen der kapitalistischen Ordnung selbst, deren Ergebnis sie ist. Sie steht unter der Herrschaft der in ihr geltenden Eigentumsordnung und der in dieser wurzelnden Klassengegensätze. So bedeutsam die grundsätzliche Anerkennung des Rechts der Persönlichkeit, des Rechts der Liebe in der Ehe ist, so unvollkommen setzt sie sich in der Praxis durch. Im Allgemeinen sichert sie günstigstenfalls den einzelnen die Freiheit der Liebeswahl nur innerhalb der Klasse, welcher sie angehören. Die bürgerliche Ehe bleibt außerdem bei den Besitzenden ihrem Wesen nach, was sie früher gewesen: Kauf- und Konvenienzehe. Die Reform hat einen verhüllenden Mantel über die sittlichen Makel geworfen, welche aus dem Widerspruch zwischen dem eigentumsrechtlichen Charakter der Ehe und ihren natürlich-moralischen Voraussetzungen resultieren, sie hat aber diese Makel nicht zu tilgen vermocht. Das Recht der Liebe gewinnt noch am meisten in der Ehe der besitzlosen und wenig besitzenden Klassen Leben und Gehalt, weil bei ihnen die Macht des Eigentums schwindet. Jedoch inmitten der vielgestaltigen Einflüsse der kapitalistischen Eigentumsordnung tritt es nicht einmal hier immer wesensrein in Erscheinung. Wie die Prinzipien der bürgerlichen Freiheit und Gleichheit, so triumphieren auch die Prinzipien der bürgerlichen Ehereform nur vollkommen im luftleeren Raum der philosophischen Abstraktion; wie jene, so haben sie die juristischen Formeln und nicht die wichtigsten sozialen Verhältnisse revolutioniert, an welche ihre Durchsetzung geknüpft ist. Die Reform der Ehe hat in der Folge nicht den glänzende Traum von einer durchgreifenden Versittlichung des Geschlechtslebens zu verwirklichen vermocht, den ihre idealsten Vorkämpfer geträumt. Die Befreiung der Liebe von Zwang und Schmutz, die nicht das Werk der bürgerlichen Reform sein kann, muss die Tat der sozialen Revolution sein. Das wird der letzte Abschnitt dieser Abhandlung nachweisen.
A. Siehe: Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, Stuttgart, Verlag J. H. W. Dietz. Sie sei den Genossinnen dringend zum Studium empfohlen.
Zuletzt aktualisiert am 11. November 2024