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Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 8. März 1905.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 294–296.
Kopiert mit Dank von der Webseite Sozialistische Klassiker 2.0.
HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Die revolutionären Bewegungen, welche Russland seit dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts erschüttern, gehören zu den glänzendsten Ruhmesblättern in der Geschichte des weiblichen Geschlechts. Sie zeichnen sich vor den Freiheitskämpfen aller Länder durch die hervorragende Beteiligung der Frauen aus. In ihren verschiedenen Phasen haben Frauen in den vordersten Reihen der Kämpfer für eine bessere Zeit gestanden. Und die russischen Revolutionärinnen haben im Dienste ihrer Ideale eine Kühnheit des Geistes, eine Kraft des Willens, eine Reinheit der Gesinnung und Größe der Opferfreudigkeit bewiesen, die sie als Ebenbürtige neben die mutvollsten Heiden des Altertums, die selbstverleugnenden Märtyrer der christlichen Religion stellen. So war es in den Zeiten der utopistisch träumerischen Propaganda, als Hunderte von Frauen und Männern Verwandte und Freunde verließen, Beruf und Glück hinter sich warfen und als Verkündiger der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit „unter das Volk“ gingen. So war es in der furchtbaren, heroischen Periode des Terrors, als ein kleines Häuflein Todeskühner auf Leben und Tod mit den Stützen und Trägern des absolutistischen Regimes kämpfte. So ist es heute, wo das von der Sozialdemokratie zum Klassenbewusstsein berufene Proletariat als entscheidende Hauptmacht im Kampfe gegen den Absolutismus steht. Was die russische Sozialdemokratie geworden ist und geleistet hat, das ist seit dem ersten Tage ihrer Existenz auch mit Frauenwerk.
Nur etwas Selbstverständliches ist es da, dass sich unter den Märtyrern des unvergesslichen 22. Januar auch eine angesehene, unermüdliche Genossin befindet: Maria Lwowna Berditschewskaja. Nicht als Zufallsopfer des mordgierigen Despotismus ist sie, 26 Jahre alt, gefallen, sondern als bewusste Kämpferin, die aus klarer Erkenntnis und in freiem Wollen ihr Leben für die Freiheit des Volkes in die Schanze schlug. Sie befand sich mitten unter den tapferen Petersburger Arbeitern, welche die ruchlose Niedermetzelung der friedlichen, vertrauensseligen Manifestanten mit dem Bau von Barrikaden beantworteten, welche der Gewalt des bluttriefenden Absolutismus die Gewalt des revolutionären Proletariats entgegenstellten.
Maria Lwowna Berditschewskaja hat schon als Kind die starke, befreiende Luft revolutionärer Ideen eingeatmet. Ihr um vieles älterer Bruder war ein bekanntes Mitglied der alten terroristischen Narodnaja Wolja. Er war 1885 an dem misslungenen Überfall auf die Charkower Post beteiligt und erschoss sich dabei, um den zarischen Henkern zu entgehen. Der Tod des Bruders hat ohne Zweifel mächtig auf die Seele Maria Lwownas gewirkt, hat sie mit glühender Sympathie für die revolutionären Kämpfe und mit der Überzeugung erfüllt, dass das Leben der Güter höchstes nicht ist. Schon als ganz junges Mädchen wurde sie eine eifrige Bekennerin sozialistischer Ideen. Nachdem sie den Feldscher- und Hebammenkursus beendet hatte, widmete sie sich mehr und mehr dem Dienste der Sozialdemokratie, und in den letzten Jahren gab sie sich ihm vollständig hin. Rastlos wirkte sie unter den hunderterlei Schwierigkeiten und Gefahren, mit denen die sozialistische Aufklärungsarbeit in einem Lande verknüpft ist, wo keine Versammlungs-, Rede- und Pressefreiheit, keine noch so armselige Volksvertretung existiert, wo selbst der Gedanke gehetzt und gemordet wird. Mehr als einmal hefteten sich die Häscher an ihre Fersen, in Kasan und später in Saratow war sie verhaftet. Nach jedem Ungewitter stand sie unverzagt wieder in den vordersten Reihen der Kämpfenden. Ihre leidenschaftliche Hingabe an die Sache der Freiheit und ihre außergewöhnliche Energie machten tiefen Eindruck auf alle, die sie kannten. Nicht allein im Kreise der Freunde, auch bei den Gegnern genoss sie hohe Achtung.
Als am 22. Januar die Flamme der Revolution hoch emporlohte, war sie auf ihrem Posten unter den Barrikadenkämpfern. Aus vier Wunden blutend, brach sie zusammen. Die im Krankenhaus versuchte Operation blieb erfolglos. Auf ihrem Schmerzenslager wiederholte die Sterbende mehrmals: „Keinen Augenblick bereue ich, auf die Barrikaden gegangen zu sein.“ Diese Worte flüsterten noch ihre Lippen, als sie kurz vor dem Tode aus schwerer Bewusstlosigkeit zu voller Besinnung erwachte.
Das Blut Maria Lwowna Berditschewskajas ist für die Freiheit geflossen, die für das russische Volk unter Stürmen und Gewittern zu dämmern beginnt, von denen ein frischer, kräftigender Hauch über das Proletariat der ganzen Welt weht. Das internationale Proletariat senkt bewundernd und dankbar grüßend seine Fahnen vor dieser Märtyrerin wie vor allen heldenmütigen Blutzeugen der revolutionären Kämpfe in Russland.
Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024