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Die Schulfrage. Referat, gehalten auf der Frauenkonferenz in Bremen, Berlin 1904.
Nach Ausgewählte Reden und Schriften, Band I, S. 251–271.
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Wenngleich die Genossinnen die Schulfrage auf die Tagesordnung stellten, so waren sie sich doch wohl bewusst, dass in der kurzen Zeit, welche der Konferenz zur Verfügung steht, es unmöglich ist, die Schulfrage ihrer Bedeutung gemäß eingehend nach allen Seiten hin zu erörtern. Wenn trotzdem ihre Behandlung beschlossen wurde, so war ein Grund dafür bestimmend. Die Genossinnen sind der Überzeugung, dass die Schulfrage, die Bildungsfrage, von höchster Bedeutung für die proletarische Frauenbewegung ist, weil sie eine hervorragende Rolle im Leben der Millionen Proletarierinnen spielt, an die unsere Agitation sich wendet. Das ist in ergreifender Weise auch hier zum Ausdruck gekommen in dem Schrei nach höherer Bildung, der aus dem Munde aller Rednerinnen erklungen ist. Sie alle empfinden es aufs schmerzlichste, dass die unvollkommene Volksschulbildung ihnen nicht erlaubt hat, reichere Schätze des Wissens, eine höhere und tiefere persönliche Entwicklung in den Dienst des proletarischen Befreiungskampfes stellen zu können. Es gibt andererseits kaum eine proletarische Mutter, die nicht damit rechnet, dass sie ihre Kinder der selben mangelhaften und unvollkommenen Volksschule anvertrauen muss, unter deren Gebrechen sie selbst gelitten hat. (Lebhafte Zustimmung.)
Die Frage der Volksschule ist also ein wichtiger Punkt, an dem unsere Agitation unter dem weiblichen Proletariat einsetzen kann. Hier können wir‚ gestützt auf Tatsachen, dem weiblichen Proletariat die Verbrechen der kapitalistischen Ordnung vor Augen führen. Es handelt sich dabei nicht nur um Sünden, die im kapitalistischen System liegen, nein, auch um besondere Tat- und Unterlassungssünden, durch welche die bürgerliche Gesellschaft die Grundübel noch verschärft und verschlimmert. Gerade die Schulfrage eignet sich ausgezeichnet dazu, die ganze kulturelle Überlegenheit der sozialistischen Weltanschauung, der sozialistischen Aktion nachzuweisen, jedem klarzumachen, dass das Weltproletariat die Bühne der Geschichte betreten hat, nicht nur um die Magenfrage, vielmehr um die Kulturfrage in ihrem tiefsten Kern zugunsten der Allgemeinheit zu lösen. (Lebhafter Beifall.)
Wir sind ferner der Ansicht, dass ein künftiger Parteitag, nicht dieser überlastete, nach eingehender Erörterung der Schulfrage in Presse und Versammlungen zu dieser Stellung nehmen muss. Dies aber nicht nur von den entsprechenden Forderungen unseres Minimalprogramms ausgehend, sondern auf Grund unserer gesamten Weltanschauung. Durch unsere heutige Erörterung wollen wir die Genossinnen anregen und ausrüsten, an den vorbereitenden Debatten teilzunehmen.
Die Volksschulfrage ist die nationale Erziehungsfrage. (Lebhafte Zustimmung.) Das ist zunächst schon begründet in der Entwicklung der Pädagogik als Wissenschaft. Je mehr die Pädagogik sich in den ganzen Komplex der Probleme der Schulfrage vertieft hat, um so mehr hat sie erkannt, dass es sich in der Schule nicht nur um Einpauken einer gewissen Summe von Kenntnissen, um Anerziehung bestimmter Fertigkeiten, um bloßen Geistesdrill handelt, sondern um ein Erziehungswerk, welches den ganzen Menschen erfassen und alle Seiten seines Wesens zur Entfaltung, zur Blüte und Reife bringen soll. Andererseits setzt die ganze wirtschaftliche und soziale Entwicklung die Eltern immer mehr außerstande, allein im Heim die Kinder zu erziehen, ja, auch nur einen tiefgehenden Einfluss auf ihre Entwicklung auszuüben. Das gilt nicht nur für die ausgebeuteten Massen, sondern auch für die bürgerlichen Schichten der Bevölkerung. Im Proletariat erscheinen nur auch die betreffenden Verhältnisse auf die Spitze getrieben, weil hier das Notleiden der Erziehung die schärfsten, sichtbarsten Formen annimmt. Aber die geschichtliche Entwicklung hat die Tendenz, den Anteil der Eltern überhaupt an der Erziehung der Kinder einzuschränken und gesellschaftlichen Einrichtungen einen breiteren, steigenden Anteil an derselben zuzuweisen. Gleichviel ob Eltern heute Amboss sein müssen oder Hammer sein können: Ihr Anteil an der Erziehung ihrer Kinder geht zurück, weil auch in den bessersituierten Klassen der Kampf ums Dasein, durch die kapitalistische Ordnung rücksichtslos, schonungslos entfesselt, den größten, den besten Teil der Kräfte des einzelnen aufsaugt. Für die Erziehung der Kinder bleiben davon nur die Brosamen übrig, welche das kapitalistische Getriebe des Lebens mit seinem Um und Auf vom Tische fallen lässt. Damit ist die Schulfrage auch für die Praxis wie für die Wissenschaft immer mehr zur Erziehungsfrage geworden.
Die Volksschulfrage ist mithin die Erziehungsfrage der gesamten Nation oder sollte es wenigstens sein. Wir Sozialdemokraten aber müssen erst recht diese Frage so auffassen; denn wir stehen auf dem Boden der gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Entwicklungslehre, auf dem Boden der materialistischen Geschichtsauffassung und der darwinistischen Theorie. Wie wir den gesellschaftlichen Organismus nicht für das Produkt eines Schöpferwillens halten, wie wir die gesellschaftlichen Einrichtungen nicht als etwas Festes, Gegebenes, ewig Unwandelbares betrachten, wie wir sie begreifen in ihrem Keimen, Wachsen, Reifen, Welken und Vergehen, also erfassen wir auch den menschlichen Organismus im Flusse der Entwicklung, unter dem Einflusse der Entwicklung. Nicht der vorbestimmende Wille eines Schöpfers, einer Vorsehung entscheidet darüber, was die einzelne Person werden, welches Ziel ihre Entwicklung erreichen soll. Vererbung und Milieu sind ausschlaggebend dafür. Jeder bringt eine Summe körperlicher, geistiger, sittlicher Anlagen mit zur Welt. Wie sich diese entwickeln, darauf ist das Milieu, die Umwelt von größtem Einfluss, in welcher der Mensch aufwächst und sich betätigt. Das gesamte Milieu schafft für jeden Menschen bestimmte Entwicklungsmöglichkeiten.
Wir fassen das Kind als ein bildsames, entwicklungsfähiges Wesen auf, als einen weichen Ton, der sich kneten, bilden, gestalten lässt. Wir wissen, dass beim Gestalten, beim Erziehen die vererbten Anlagen und Eigenschaften ein entscheidungsschweres Wort mitsprechen und dass die Erziehung nicht bloß beim Neugeborenen beginnen muss, vielmehr schon vor der Geburt des neuen Lebens. Im Rahmen dieses Referats ist es jedoch unmöglich, auf die in diesen Beziehungen vorliegenden Fragen und Verpflichtungen einzugehen. Es behandelt nur Entwicklungsbedingungen, welche die Schule allen Kindern der gesamten Nation bieten soll. Wir fassen dabei die Aufgabe der Schule im Sinne des großen Pädagogen Johann Amos Comenius auf; der von ihr forderte: „die allgemeine Bildung aller, die als Menschen geboren sind, zu allem, was menschlich ist“. Die Schulfrage ist ein Teil des großen Erziehungsproblems, das gesamte materielle und geistig-sittliche Milieu bewusst und planmäßig unter Beobachtung der einschlägigen Entwicklungsgesetze derart zu gestalten, dass es die höchste und harmonische Entwicklung der körperlichen, geistigen und sittlichen Kräfte des Kindes ermöglicht. Zu welchem Ziel? Wir antworten darauf mit Richard Wagner, dass ihr Ziel „der starke Mensch, der schöne Mensch“ sein soll, der Mensch, wie ihn Schiller an der Weltwende der Emanzipation der kontinentalen Bourgeoisie in visionärer Begeisterung geschaut und in seinem unsterblichen Gedicht Die Künstler gefeiert hat:
„Wie schön, o Mensch, mit deinem Palmenzweige |
Wenn wir an unserem Ideal messen, was die bürgerliche Gesellschaft für die Bildung der großen Masse des Volkes tut, dann muss unser Urteil lauten: Gewogen und zu leicht befunden! (Lebhafter Beifall.) Betrachten wir, was die bürgerliche Gesellschaft für die Volksschule leistet, die doch das wichtigste, das hauptsächlichste Bildungs- und Erziehungsmittel für die werktätigen Massen ist.
In unseren Tagen ist die Volksschule Armeleuteschule. Auch auf dem Gebiete des Volksbildungswesens klafft der tiefe Gegensatz der Auffassung, der uns von der bürgerlichen Welt trennt. Wir sind der Auffassung, dass die Bildung, von der niedrigsten bis zur höchsten, Allgemeingut, Kulturgut ist, dass jedes Glied der Gemeinschaft unbeschränkten Anteil an diesem Gute haben muss, dass daher der Gesellschaft die Pflicht obliegt, alle Bildungsmöglichkeiten, die in ihr vorhanden sind und deren Grundlage die Arbeit der ausgebeuteten Millionen ist, unbeschränkt allen Mitgliedern der Gesellschaft zugute kommen zu lassen. Aber die bürgerliche Gesellschaft würdigt die Bildungsmöglichkeit zu Waren herab, die verkauft werden und gekauft werden müssen wie alle anderen Waren auch, Sie hat die Männer der Wissenschaft aus reinen Erforschern und Verkündern der Wahrheit, der Wirklichkeit und ihrer Gesetze in betriebsame Händler mit wissenschaftlichen Werten oder Talmiwerten, die Künstler aus frei Schaffenden zu Sklaven der Mode und der Launen der Reichen herabgewürdigt. Genauso hat sie die Kultur erniedrigt zur Ware, die nur kaufen kann, wer Geld hat. („Sehr gut!“) Wie unter der Herrschaft der indischen und ägyptischen Kasten, so ist heute die Bildung ein Monopol, und nicht Begabung und Neigung verleiht es, sondern nur das Geld, der Besitz. Nicht durch göttliches Gebot hält man die aufstrebenden Massen heute von der höheren Bildung fern, sondern durch etwas Härteres, was schwerer noch zu zertrümmern ist als ein göttliches Gebot: durch die hohen Kosten. Den Kindern wird nicht nach Talent und Neigung die höhere Bildung zuteil, sondern nach der Vorsicht in der Wahl der Eltern. Darum haben wir auch kein einheitliches, organisch zusammenhängendes und gegliedertes Volksbildungswesen im Deutschen Reich. Wir haben Bildungsanstalten der verschiedensten Art und sehen dieselben geteilt in billige und schlechte für die Kinder des werktätigen Volkes und solche, die besser und teurer sind und deshalb den werktätigen Massen verschlossen bleiben.
Im Deutschen Reich gab es 1899 nach der Schulstatistik 59.300 Volksschulen für 8.660.000 Schüler und Schülerinnen. Für diese wurden im ganzen 341.700.000 Mark aufgewendet, davon 243 Millionen von den Gemeinden und den Unterhaltspflichtigen der Kinder. Die Bundesstaaten steuerten nicht ganz 99 Millionen bei. Vergleichen Sie das mit den 1018 Millionen, die wir im letzten Jahre für Heer und Marine ausgaben, so haben wir die Barbarei und Schmach unseres heutigen Volksschulwesens vor Augen. Ja, wir sind sehr arm, wenn es sich um Ausgaben für die Ausbildung der Fähigkeiten der Menschen handelt. Aber wir sind sehr reich, wir können jährlich über eine Milliarde verpulvern und ins Wasser werfen, wenn es sich darum handelt, die Kunst der Menschenvernichtung im großen zu lehren. Einige Vergleiche machen den Armeleutecharakter der Volksschule noch deutlicher. Für Bildungszwecke im Allgemeinen wurden 1899 im Deutschen Reich durchschnittlich aufgewendet je Volksschüler knapp 40 Mark, dagegen je Schüler höherer Schulen 243 Mark. Im letzten Jahre gab es 8.924.779 Volksschüler, die von 124.027 Lehrern und Lehrerinnen unterrichtet wurden. Auf eine Lehrkraft kamen durchschnittlich 72 Schüler. Vergleichen wir das mit den „Lehrern“ in der Armee. Einem Offizierskorps von 24.374 und einem Unteroffizierspersonal von 81.958 Mann, insgesamt 106.332 Personen, stehen 495.500 Gemeine gegenüber. Schon auf 4,6 Gemeine kommt einer dieser militärischen „Lehrer“. (Heiterkeit, Zuruf: „Wenn es wenigstens Lehrer wären!“ Erneute Heiterkeit.) Das hervorgehobene Verhältnis betreffs der Aufwendungen für die Armeleuteschule und die bessere Schule finden wir in den einzelnen Bundesstaaten, in den Gemeinden [1] ...
Preußen ist dank der Junkerherrschaft, des Dreiklassenparlaments der reinste Typus bürgerlicher Unkultur, das zeigt sich auch in seinen Volksschulverhältnissen. 1901 wurden verausgabt für Volksschulunterhaltungskosten insgesamt 269.942.375 Mark. Die östlichen Provinzen trugen dazu je Kopf der Bevölkerung durchschnittlich 6 Mark bei, die westlichen 9 Mark, Berlin mehr als 10 Mark, Koblenz über 12 Mark. Aber die Zuschüsse des Staates wandern nicht dorthin, wo die Aufwendungen am größten sind, sie gehen dorthin, wo die Großgrundbesitzer einen kleinen Teil der Schullasten tragen oder wenigstens tragen sollten. So entziehen sich die „Besten und Edelsten“ ihrer Verpflichtung, zu den Schullasten beizutragen, so gut wie vollständig. Im Osten trägt der Staat fast die Hälfte der Schullasten, 46,71 Prozent, im Westen viel weniger, 19,38 Prozent. Das Minimum des staatlichen Zuschusses im Westen entfällt auf Berlin mit 3 Prozent; das Minimum beträgt dagegen in den östlichen Provinzen über 29 Prozent, es steigt hier bis auf ein Maximum von über 58 Prozent. Das aber nicht zur Förderung des Volksschulwesens, sondern zur Entlastung der Grundbesitzer. Selbst ein harmloses bürgerliches Organ, die Soziale Praxis, hat diese Zustände an den Pranger geschlagen. Es schrieb, dass in den östlichen Provinzen auf dem platten Lande die staatlichen Zuschüsse schon heute viel größer als die Aufwendungen für die Lehrerbesoldungen seien, und die Patrone bezögen für die meist gar nicht zu leistenden subsidiarischen Verpflichtungen aus der Staatskasse Entschädigungen von beträchtlicher Höhe. Wenn der Staat in den eigentlichen Großgrundbesitzerdistrikten die Schule auf eigene Rechnung Übernähme, so dürfte er noch Ersparnisse machen. (Vielfaches „Hört! Hört!“) Aber nicht nur betreffs der Dotierung ist die Volksschule das Aschenbrödel unter den Schulen, die herrschenden und regierenden Klassen brauchen und missbrauchen sie auch, um durch engherzigen religiösen Dogmenunterricht, durch gefälschten Unterricht in der Geschichte und den Naturwissenschaften den Geist der Kinder des Volkes zu vergiften.
An die Spitze unserer Reformforderungen zugunsten der Volksschule stellen wir die Forderung nach Einheitlichkeit und Unentgeltlichkeit des Schulwesens vom Kindergarten bis zur Hochschule. Grundlage muss die obligatorische einheitliche Elementarschule sein, die alle Kinder ohne Unterschied der Klasse und des Geldbeutels der Eltern besuchen müssen. Dort sollen die Kinder eine so tüchtige geistige Entwicklung nehmen, so reich mit Wissen, mit allgemeiner Bildung ausgestattet werden, dass sie zur Zeit der Berufswahl wohlausgerüstet ins Leben treten und zu ihrer Weiterbildung nur noch die allgemeine Fortbildungsschule zu besuchen brauchen, die obligatorisch für alle ist– ohne Unterschied des Geschlechts –‚ welche nicht zu ihrer Ausbildung in die Mittelschulen übertreten. An die einheitliche Elementarschule gliedert sich die Mittelschule an, welche für den Besuch der höheren und höchsten Schulanstalten vorbereitet, in welche die Schüler und Schülerinnen nach Begabung und Neigung eintreten können. In pädagogische Streitfragen über die Altersgrenze für Elementar- und Mittelschule usw. will ich nicht eintreten. Je nach der Natur der Berufsbildung, welche die Mittelschulen vorbereiten sollen, wird die Art und Verteilung des Unterrichtsstoffes mitbestimmt, liegt das Schwergewicht auf technischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Fächern. Natürlich müssen alle diese Bildungsanstalten unentgeltlich sein. Wenn jedes Kind sich nur in der Volksschule elementare Bildung holen kann, gewinnen auch die herrschenden Klassen Interesse an der allseitigen Hebung der Volksschule; sie gewinnen ein Interesse daran, einzutreten für höhere Aufwendungen zu ihrer Ausgestaltung, für Einführung besserer Unterrichtsmethoden, gegen die Verfälschung des Wissensstoffes usw. Erst wenn das Kind des arbeitenden Mannes neben dem des reichen Fabrikanten in der Einheitsschule sitzt, wenn die Bourgeoisie ihr Fleisch und Blut in diese schicken muss, wird sie für Reform der mangelhaften, zum Teil grob verfälschten Volksbildung zu haben sein. Allzu viel verspreche ich mir übrigens auch von der Einheitsschule nicht. Solange die jetzige Wirtschaftsordnung bestehen bleibt, können die Reichen für ihre Kinder den Elementarunterricht durch Privatunterricht ergänzen lassen. Damit will ich nur vor der Überschätzung der Einheitsschule warnen, wie sie bei bürgerlichen Sozialreformern und Pädagogen vielfach gang und gäbe ist.
Die Unentgeltlichkeit des Unterrichts soll, wie die Gegner sagen, ein Eingriff in die heiligsten Elternrechte sein, die sittlichen Grundlagen des Familienlebens zerstören. Nichts davon; sie ist eine materielle Notwendigkeit, sie ist eine kulturelle Notwendigkeit, sie ist eine primitive sittliche Pflicht der Gesellschaft, die auf dem robusten Unterbau der Leistungen der werktätigen Bevölkerung ruht. Damit erst wird den Kindern des Volkes die Möglichkeit zur Aneignung, zum Genuss, zur Vermehrung der höheren Kulturgüter gegeben. Der begabte Sohn des Volkes, den glühender Bildungsdrang vorwärts treibt auf dem steilen Pfad zum Bildungsparadies, vor das die besitzenden Klassen den Cherub mit flammendem Schwert gestellt haben, soll nicht auf dem so dornigen und steinigen Weg der Gnade, des Stipendienwesens aufsteigen müssen. Denn die Stipendien werden nur einer kleinen Zahl und nicht immer den Begabtesten und Würdigsten zuteil. Denn das Almosennehmen tötet Fähigkeiten, begünstigt äußeren Drill, verdirbt den Charakter, schafft feile Knechte, Sklavengeister statt freier Denker. In letztem Grunde dient es dem Zweck, gehorsame geistige Schildknappen der bürgerlichen Gesellschaft heranzubilden. („Sehr wahr!“) In Frankreich, Nordamerika, der Schweiz, in Preußen und vielen süddeutschen Städten ist wenigstens der Volksschulunterricht bereits unentgeltlich.
Ebenso unentgeltlich wie der Unterricht müssen die Lehr- und Lernmittel sein. Nicht auf dem Gnadenwege, auf besonderes Nachsuchen, aus spärlichen Fonds sollen die Mittel gewährt werden, sondern jeder Schüler soll sie von Rechts wegen erhalten wie der Soldat das Gewehr und die Uniform erhält. Zur Unentgeltlichkeit der Lehrmittel muss die Schulspeisung treten, die Pflicht der Gesellschaft, aus öffentlichen Mitteln für den Unterhalt der Zöglinge ihrer Schul- und Bildungsanstalten zu sorgen. Sonst ist es den Kindern des Volkes unmöglich, die erschlossenen Bildungsmittel völlig auszunützen. Die proletarische Familie ist in der Mehrzahl der Fälle außerstande, die Kinder bis zum 20. oder 24. Lebensjahre zu unterhalten. Hinaus zur Erwerbsarbeit, heißt es für viele kleine Proletarier noch vor dem Ende des heutigen Volksschulunterrichts. In Großstädten des Auslandes, wie London, Stockholm, Amsterdam, und sodann auch in Frankreich und den Vereinigten Staaten, in vielen Gemeinden des Kantons Zürich und selbst in Deutschland, in Braunschweig und Fürth, erhalten die Volksschüler unentgeltlich die Lernmittel. Seltener gibt man den Kindern zum Brot des Geistes auch das Brot des Leibes. Ansätze dazu sind die Schulkantinen, die nicht mit den Mitteln des Klingelbeutels, nicht aus mildtätigen Stiftungen oder von Wohltätigkeitsvereinen erhalten werden, sondern aus öffentlichen Mitteln.
Eine andere grundlegende Forderung unsererseits ist die der vollen Weltlichkeit der Schule. Hinaus mit der Religion aus der Schule! („Bravo!“) Sie hat in der Schule nichts zu suchen, nichts aus ethischen, nichts aus pädagogischen Gründen. Der Religionsunterricht trägt vor allem das Brandmal der Aufgabe, den Interessen der herrschenden Klassen zu dienen. Er soll nicht das religiöse Empfinden fördern, er soll die wirtschaftliche und soziale Sklaverei der arbeitenden Klassen aufrechterhalten. („Sehr richtig!“) Er dient nicht der Pflege religiösen Empfindens, sondern dem mechanischen Einbläuen von Dogmenformein, die im schreiendsten Widerspruch zu den Ergebnissen der Wissenschaft und zur Wirklichkeit stehen. Damit ist er unsittlich. Der Religionsunterricht in der Volksschule ist nicht in erster Linie ethisch, sondern dogmatisch, er vergiftet die Volksschule. („Sehr richtig!“) Ein Unterricht, der, statt den Kindern die Wahrheit zu zeigen und sie auf den Weg wissenschaftlicher Erkenntnis und Forschung zu weisen, ihnen toten Formelkram einbläut, der in längst vergangenen Zeiten geschmiedet worden ist als Kette für den Geist, ist als unsittlich gebrandmarkt. Zudem steht der Religionsunterricht in der Volksschule im Banne der engherzigsten Konfessionalität und erzieht nicht zur Achtung, zur Duldsamkeit gegenüber anderen Überzeugungen, sondern reizt dazu an, in jedem Andersgläubigen den Ketzer, sei er ein Gescheitelter oder Geschorener, zu sehen und zu verachten. Auch vom pädagogischen Standpunkt aus verlangen wir Beseitigung des Religionsunterrichts aus der Volksschule. Kein anderer Gegenstand wird so sehr im Widerspruch mit den elementarsten Forderungen der Pädagogik unterrichtet. Der Religionsunterricht fördert das Denken nicht und regt es nicht an, sondern er tötet es, weil an Stelle des Suchens und Forschens der Glaube an das Wort gesetzt wird, weil das Gedächtnis mit totem Ballast beschwert und die Lust am Lernen dadurch verkümmert, das Gedächtnis auf Kosten des Denkens entwickelt wird. Die Regulative für die preußische Volksschule verlangten 180 Bibelsprüche. Man hat sich jetzt dahin geeinigt, „nur“ 110 Sprüche aus dem Neuen, 20 bis 40 Sprüche aus dem Alten Testament und 20 Gesangbuchlieder lernen zu lassen. In Sachsen ist man selbstverständlich frömmer. (Große Heiterkeit.) Da verlangt man das Auswendiglernen der Hauptstücke nach Luthers kleinem Katechismus, ferner 168 Gesangbuchverse, 150 Bibelsprüche, 35 Choralmelodien und den wesentlichen Inhalt von 140 biblischen Geschichten. Schon vom pädagogischen Standpunkt aus rechtfertigt sich die Forderung: Hinaus mit der Religion aus der Volksschule! Diese Forderung ist in Frankreich und den Niederlanden bereits verwirklicht, in den Vereinigten Staaten und der Schweiz, im bibelfesten England, im frommen Italien und im klerikalen Belgien dürfen die Kinder wenigstens nicht zwangsweise in der Religion unterrichtet werden.
Ethischer Unterricht ist auch ohne Verquickung mit dem Religionsunterricht möglich. Geschichte und Erfahrung beweisen, dass Religion und Ethik verbunden sein können, aber nicht untrennbar miteinander verbunden sind. Wir haben viel Religion zusammen mit wenig Ethik gehabt und haben das auch heute herzlich oft. Der Moralunterricht muss durch den Unterricht in Gesetzeskunde und Bürgerkunde ergänzt werden. Der Religionsunterricht soll Privatangelegenheit jedes Elternpaares bleiben. Die Gesellschaft ist nur verpflichtet, die Kinder tüchtig zu machen in dem, was sie für das diesseitige Leben gebrauchen. Für das Jenseits zu sorgen, soll Privatsache der Eltern sein. Charakteristisch ist die Haltung der bürgerlichen Liberalen gegenüber den reaktionären Vorstößen zur Verpfaffung der Volksschule. Die Tinte des Kompromisses ist kaum trocken, mit der sich die Liberalen und Konservativen zum Jubel der Klerikalen über die weitere Verpfaffung der Volksschule geeinigt haben. Dazu eine Tatsache, die mir fast noch schimpflicher erscheint. Die Jungliberalen haben auf ihrer Tagung in Leipzig in den Richtlinien zur Volksschulfrage beschlossen, dass dem Religionsunterricht im Lehrplan der gebührende Raum gewährt werden muss. (Heiterkeit.) Schon daraus sehen Sie, dass die Jungliberalen die geborenen Mummelgreise sind. (Große Heiterkeit und Beifall.) Die Liberalen erheben nicht mehr die Forderung, von deren Durchführung auch sie einst in Jugendfrische geträumt: Hinweg mit der Religion aus der Volksschule. Aus Furcht vor dem Sozialismus suchen sie das Proletariat mit Vertröstungen auf das Jenseits von Befreiungskämpfen im Diesseits abzuhalten. Dazu kommt noch ein anderes. Die Bourgeoisie ist in Weltuntergangsstimmung, und aus ihrem Katzenjammer flüchtet sie in den religiösen Mystizismus. Daher der überragende Einfluss, den dieser auch in der modernsten Literatur und Kunst gewinnt.
Neben der Weltlichkeit der Schule fordern wir eine vollständige gründliche Reform des Unterrichts in allen Fächern, vor allem in der Geschichte, im Deutschen, in der Naturwissenschaft. Diese Fächer müssen die gebührende Bedeutung im Unterrichtsplan gewinnen, sie müssen nach den besten Methoden unterrichtet werden, sie müssen in Übereinstimmung mit der wissenschaftlichen Forschung Kenntnisse vermitteln, die geistige Entwicklung fördern. Der Geschichtsunterricht muss vom Bann des Mordspatriotismus erlöst werden, der naturwissenschaftliche Unterricht vom Joche der biblischen Legenden, des kirchlichen Dogmas. Der erstere soll in das soziale, der letztere in das natürliche Leben einführen, auch in das des Menschen.
Eine andere grundlegende Forderung ist die Einführung des Arbeitsunterrichts in den Schulplan. Das ist bedeutsam, weil wir uns mit äußerster Energie gegen die ausgebeutete Kinderarbeit auflehnen. Wir sind überzeugt, dass die freie Arbeit von hohem sittlichem und pädagogischem Wert ist. Wir wollen die verhängnisvolle Spaltung zwischen Ausbeutern und Ausgebeuteten aufheben; wir wollen die Gesellschaft umwandeln in eine Ordnung von freien Arbeitern bei materiellem und geistigem Schaffen; wir wollen den Kindern alle Bildungsmöglichkeiten der Gesellschaft erschließen. Darum aber muss auch der Arbeitsunterricht im reformierten Schulplan den ihm zukommenden Platz erhalten. Er knüpft an den Anschauungsunterricht an, vollendet, verinnerlicht ihn, führt in die innere Natur der Gegenstände und Vorgänge ein, entwickelt und schärft die Sinne, erhöht die Handfertigkeit, stählt die Muskeln, macht körperlich gewandt, regt das selbständige Denken an, konzentriert den Willen auf eine Leistung und beflügelt den schöpferischen Trieb, der in jedem Kinde schlummert. Der Arbeitsunterricht wird dadurch spätere technische Erfindungen und Verbesserungen anregen und vorbereiten, die Kinder auf irgendeinem Gebiet zu denkenden, schöpferisch tätigen Menschen heranziehen. Von großem Einfluss wird er auch darauf sein, das künstlerische Empfinden und Gestaltungsvermögen zu heben, so dass auch die fabrikmäßige Produktion in dieser Beziehung eine höhere Stufe erreicht. So gibt der Arbeitsunterricht Freude an schöpferischer Arbeit, lehrt Ehre und Würde der Arbeit. Durch ihn wird ferner verhindert, dass die Kinder in die Stimmung von Staatspensionären hineinwachsen. Er erzieht sie zum Bewusstsein ihrer Verpflichtung gegenüber der Gesellschaft, das, was sie an Bildung und Kultur empfangen haben, als frei schaffende Menschen mit Zins und Zinseszins zurückzuerstatten.
Wir fordern ferner den gemeinsamen Unterricht und die gemeinsame Erziehung der Geschlechter. Am Unterricht selbst wie an der Schulverwaltung sollen Frauen und Männer gleichberechtigt beteiligt sein – auch in puncto des Gehalts –‚ nach ihren persönlichen Fähigkeiten und Leistungen. Dieser Forderung entsprechend sollen auch Frauen mit den höchsten Lehrämtern und den höchsten Posten der Verwaltung betraut werden. Der gemeinsame Unterricht und die Gleichberechtigung von Frau und Mann auf dem Gebiete des Unterrichts, der Erziehung ist eine bedeutsame Notwendigkeit und trägt dazu bei, das Ungesunde, Gekünstelte, Überreizte in den Beziehungen der Geschlechter zueinander zu beseitigen, das sich besonders in der Zeit der Pubertät bemerkbar macht.
Die Absperrung der Geschlechter voneinander, die lügenvolle Geheimnistuerei und Unwissenheit in sexuellen Fragen, in der die Jugend aufwächst, ist mit schuld an dem ungesunden Stand der Dinge heute und seinen bösen Folgen. Die Verwirklichung unserer Forderungen schafft vorzügliche Schutzwälle gegen leibliche und geistige Verirrungen und krankhafte Zustände der jungen Mädchen, gegen die mancherlei Gefahren und Laster, die an den jungen Mann infolge der überlieferten zweifachen Moral herantreten. Es gibt keine besseren Schutzwehren gegen diese Gefahren, als wenn der Knabe sich an das Mädchen als an den guten Kameraden gewöhnt, als wenn der junge Mann in der heranwachsenden Jungfrau die Mitstrebende schätzt und achtet und er sich neben einer klugen, treuen Mutter einer verehrten Lehrerin erinnert, die ihm auf manchem Pfade des Wissens als Führerin vorangeschritten ist. Ein anderer Grund kommt noch für unsere Forderung in Betracht. Je mehr die Frau als gleichberechtigt hinaus ins Leben tritt und Gelegenheit hat, ihre Persönlichkeit zu entfalten, um so mehr wird sich ihre weibliche Eigenart entwickeln. Die Emanzipation der Frau führt nicht zu dem Resultat, das schreckhafte Philister vorausgesagt haben: zum Verwischen des weiblichen psychischen Wesens. Nicht zu einer grotesken Kopie, nicht zu einem Affen des Mannes wird sich die von sozialen Schranken befreite Frau entwickeln, sondern gerade ihre weibliche Eigenart wird frei erblühen. Je weiter aber die Entwicklungslinien der Geschlechter auseinander laufen, um so wichtiger wird der gemeinsame Unterricht für das Verständnis, das harmonische Zusammenwirken der Geschlechter.
Ich will nun noch kurz auf die Notwendigkeit einiger weiterer Reformen hinweisen. Wir bedürfen ganz anderer Schulgebäude als jetzt. Das Elend der einschlägigen Verhältnisse auf dem Lande wurde gekennzeichnet durch den Prozess Trakehnen. 120.000 Mark wurden für den Gestütsstall ausgegeben, die edlen Pferde fraßen aus Marmorkrippen, die 62 Schulkinder fanden dagegen im Schulzimmer keinen Raum und mussten zur Hälfte mit ihren Büchern am Fenster stehen. Über eine Million Kinder werden in Preußen in überfüllten Klassen unterrichtet. („Hört! Hört!“) Auch in Sachsen, Württemberg und Baden sind die Volksschulen überfüllt. Diese Überfüllung aber steht im Gegensatz zu der Forderung, dass die körperliche Gesundheit der Kinder in der Schule geschützt sein und gefördert werden soll. Die Schulhäuser sollen schöne, gesunde Gebäude sein. In den großen Städten liegen die Verhältnisse ja besser als auf dem Lande, aber auch hier bleibt genug zu wünschen übrig. In den großen Klassenzimmern herrscht häufig infolge der Überfüllung eine verpestete Luft, und unter der zusammengepferchten Schülerzahl ist die Verbreitung ansteckender Krankheiten leicht möglich. Beleuchtung, Ventilation, Bänke usw. müssen den Anforderungen der Hygiene entsprechen. Auch die Forderung wird nur äußerst selten berücksichtigt, dass die Schulen inmitten großer Gärten liegen sollen. Turnplatz, Schulspielplatz und Schulgarten sind nötig im Interesse der gesunden körperlichen Entwicklung der Kinder, sollen aber auch im Dienste des Anschauungs- und Arbeitsunterrichts, der künstlerischen Erziehung, der Pflege des Gemütslebens stehen. Der aufgestellten Forderung schließt sich die auf Errichtung von Brausebädern und auf Anstellung von Schulärzten an. Erst 239 deutsche Schulverwaltungen haben im Ganzen noch nicht 700 Schulärzte angestellt. Im kleinen Norwegen hat jede Schule ihren Schularzt, jede Mädchenschule ihre Schulärztin. Wir verlangen weiter, dass Lehr- und Lernmittel den Anforderungen der Hygiene entsprechen. So müssten zum Beispiel die schlecht gedruckten Schulbücher, eine Ursache der Kurzsichtigkeit, verboten werden. Warum geschieht das nicht? Weil kapitalistische Interessen daran hängen, die mehr Schutz erfahren als die Augen unserer Kinder.
Eine Hauptforderung auch im Interesse einer gründlichen Schulreform ist, dass die Stellung der Lehrer in jeder Hinsicht eine durchgreifende Verbesserung erfährt. Die Schulfrage ist zum großen Teil eine Lehrerfrage. Für die Volksschullehrer muss an Stelle der vielfach unzulänglichen, wissenschaftlich und sozial verfälschten Bildung in den Seminaren, auf denen die harte Hand der Orthodoxie lastet, die Möglichkeit geschaffen werden, sich zu harmonisch gereiften, starken Persönlichkeiten zu entwickeln, mild nach unten, steifnackig nach oben! (Lebhafter Beifall.)
Wir fordern weiter, dass eine größere Zahl von Lehrern angestellt wird. In Deutschland kommen im Durchschnitt 61 Schüler auf einen Lehrer. In Preußen beträgt die zulässige Maximalzahl der Schüler 70, in Sachsen 60. Diese Maximalzahl wird aber in einer sehr großen Zahl von Fällen ganz bedeutend überschritten. Das ist grober Unfug. In Schlesien waren 1899 für 14.507 katholische Klassen nur 10.828 Lehrer vorhanden; in 599 von 1116 katholischen Schulen Schlesiens kamen mehr als 80 Schüler auf einen Lehrer, in 252 mehr als 100, in 7 Klassen sogar 170 bis 200 Schüler. („Hört! Hört!“) In Sachsen unterrichtet ein Volksschullehrer im Durchschnitt 62,7 Schüler; im Bezirk Auerbach 80, im Bezirk Chemnitz-Land 83,5. Diese große Überfüllung der Klassen aber bedeutet für den Lehrer die totale Unmöglichkeit, der körperlichen, geistigen und sittlichen Entwicklung des einzelnen Schülers die nötige Aufmerksamkeit zu schenken. Trotz des besten Willens kann er die individuelle Eigenart des Schülers nicht beachten. Für den Lehrer selbst bedeutet die Überfüllung der Klassen einen Raubbau an seiner Kraft, eine Überlastung – man bedenke, dass der Unterricht Vorbereitungs- und Nacharbeit nötig macht –‚ der auf die Dauer kein Mensch gewachsen ist, am allerwenigsten der Volksschullehrer mit seinem kärglichen Gehalt. 1894 teilte Minister Bosse im Preußischen Abgeordnetenhause mit, dass von 3259 Lehrern in Westpreußen 200 nur 451 bis 500 Mark Jahresgehalt bezögen („Pfui!“), 1897 trat eine Gehaltsaufbesserung von 22 Prozent ein. Aber für die ständigen Lehrer Preußens beträgt das Grundgehalt trotzdem nur 900 Mark, für die nichtständigen Lehrer und Lehrerinnen sogar nur 720 Mark. In Ostpreußen aber beziehen 98 Prozent der Lehrer nur das Minimalgehalt. In Bayern, Württemberg, Sachsen und Braunschweig erhalten die Lehrer 1.200 Mark Grundgehalt, immer noch wenig genug. Das niedrige Gehalt der Lehrer bedingt eine niedrige Lebenshaltung, die nicht im Entferntesten imstande ist, ein Äquivalent für verausgabte und zu verausgabende Kraft zu liefern. Die Folge ist für den Lehrer eine Minderung seiner geistigen und sittlichen Kraft, seiner Frische und Leistungsfähigkeit, eine Behinderung der Weiterbildung. Dieses niedrige Gehalt peitscht aber auch den Lehrer auf, sich Nebenverdienst zu suchen. In den großen Städten übernehmen die Lehrer Kontor- und Schreibarbeiten, sie lesen Korrekturen, oder sie quälen sich mit Privatunterricht die Seele aus dem Leibe heraus. Das Gesagte gilt erst recht für die Lehrerinnen, die oft noch schlechter daran sind als die Lehrer. So haben wir sorgengepeinigte, abgehetzte Lehrer und Lehrerinnen, die nicht die nötige Kraft und Freudigkeit für den hohen Beruf haben können, die Kinder des Volkes zu harmonisch entwickelten Persönlichkeiten zu erziehen. Wollen wir eine bessere Volksschule, so müssen wir also auch die Besserstellung der Lehrer und Lehrerinnen fordern. Wie gering wertet doch die bürgerliche Gesellschaft die höchste, die wichtigste aller Tätigkeiten, die Veredelung und Erziehung des Menschengeschlechts! Vergleichen Sie nur einmal den Kurswert eines Volksschullehrers und eines Hauptmanns auf der bürgerlichen Heiratsbörse.
Wegen der vorgeschrittenen Zeit kann ich leider auf die sehr wichtige Seite nicht eingehen, wie die Volksschule durch Gestaltung des Schulgebäudes, Ausschmückung der Klassenzimmer, Beschaffenheit der Lehr- und Lernmittel und anschauliche Einführung in die Schönheiten der Natur und Kunst die künstlerischen Anlagen und Kräfte des Kindes entwickeln muss.
Die Volksschule muss vorbereitet werden durch die Kindergärten, sie wird ergänzt durch Einrichtungen aller Art, welche den Kindern vor und nach dem Unterricht liebevolle und verständige Aufsicht, Pflege, Erziehung gewähren, durch Einrichtungen, welche in der schulfreien Zeit, die Ferien inbegriffen, in methodischer, verständiger Weise für die Erziehung in weitestem Sinne sorgen. Die Errichtung der einschlägigen Anstalten würde ein hervorragendes Gebiet der Betätigung bisher missbrauchter oder auch zur Untätigkeit verurteilter weiblicher Arbeitskraft schaffen, ein Gebiet, das sich eng an den häuslichen, mütterlichen Pflichtkreis der Frau anschließt, eine Erweiterung und Vertiefung desselben bedeutet. Alle die vielen Frauen, denen die Ehe oder Kindersegen versagt ist, alle, die durch Begabung und Neigung auf mütterliches Walten verwiesen werden, können sich hier zum Nutzen der Allgemeinheit, zur eigenen Befriedigung betätigen. All ihre mütterliche Liebe, Wärme, Einsicht können sie da den Kindern anderer geben. Es ist eine sittliche Pflicht der Gesellschaft, für die Betätigung aller im Weibe ruhenden Kräfte Raum zu schaffen.
Wir Frauen haben die Pflicht, im Kampfe um die Reform der Schule voranzugehen, um eine Reform, durch welche die Erziehung in der Familie nicht überflüssig gemacht, sondern ergänzt werden soll. Wir brauchen für das heranwachsende Geschlecht die volle Wahrung, ja, die Vertiefung des elterlichen Einflusses. Elterliche Erziehung und öffentliche Erziehung lösen einander nicht ab, sondern vervollständigen sich. Wir können der elterlichen Erziehung im Heim nicht entraten, auf dass die Kinder zu starken Persönlichkeiten von ungebrochener Eigenart erwachsen. Wir bedürfen der gemeinsamen Erziehung in öffentlichen Anstalten, damit die Persönlichkeit nicht zum Individualitätsprotzen entarte, damit sie in brüderlicher Empfindung und Gesinnung mit allen, mit der Allgemeinheit, verbunden bleibt und alles begreift, was sie ihr verdankt und was sie ihr schuldet. Wir Frauen sind vor allem berufen, im Kampfe für eine grundlegende Reform des Schul- und Erziehungswesens voranzugehen, weil wir Mütter sind und Mütter werden sollen. Wenn das Ziel der Erziehung sein soll, jeden Menschen zum Lebenskünstler im edelsten Sinne des Wortes zu bilden, zu einer Persönlichkeit, welche das Leben in seinem reichen Inhalt, seinem gewaltigen Umfange zu erfassen vermag ... dann müssen wir unsere Kraft für diese hohe Aufgabe einsetzen. Wir, die wir das heranwachsende Geschlecht in unserem Schoße tragen und es mit unseren Säften nähren; wir, die wir auf das heranwachsende Geschlecht die Entwicklung unseres Hirns, den stolzen, freien Schlag unseres Herzens übertragen – wir müssen in der ersten Reihe stehen, wenn es sich darum handelt, den Kindern die Möglichkeit zu erringen, zu Lebenskünstlern zu werden.
1. Die im Referat von Clara Zetkin außerdem angeführte Schulstatistik für das Großherzogtum Baden weist folgende Zahlen aus:
Lehranstalt |
Anzahl der |
Anzahl der |
Schüler je |
Gymnasien |
4.959 |
354 |
14 |
Mittelschulen |
9.765 |
652 |
15 |
höhere Mädchenschulen |
2.897 |
178 |
16 |
Mädchen- und Mittelschulen |
6.462 |
206 |
31 |
Volksschulen mit erweitertem |
35.113 |
696 |
50 |
Volksschulen in Gemeinden |
238.845 |
3.250 |
73 |
Zuletzt aktualisiert am 2. September 2024