Clara Zetkin

 

Der deutsch-russische Handelsvertrag

(4. April 1894)


Die Gleichheit, Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen, Stuttgart, 4. April 1894.
Aus: Clara Zetkin, Ausgewählte Reden und Schriften, Bd. I, Berlin 1957, S. 43–52.
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Endlich ist im Reichstage die Entscheidung gefallen über eine Frage, welche wie kaum eine zweite seit langen Monaten das öffentliche Interesse in Spannung und Erregung hielt, über die Frage des deutsch-russischen Handelsvertrags. Mit den verschiedensten Gründen wurde seit vorigem Sommer für und wider diesen Vertrag gestritten, wider ihn mit noch mehr Leidenschaft und Erbitterung als mit Gründen. Weshalb das? Bezweckt der deutsch-russische Handelsvertrag eine so tief einschneidende Änderung unserer wirtschaftspolitischen Verhältnisse, dass diese Erregung und dieses Aufgebot von Leidenschaft gerechtfertigt erscheinen? Mitnichten. Der Vertrag sollte im Wesentlichen zwischen Deutschland und Russland wieder die nämlichen wirtschaftspolitischen Beziehungen herstellen, welche zwischen beiden Mächten bestanden hatten vor Ausbruch des Zollkriegs im vorigen Jahre. Das forderten die Interessen der deutschen Industrie, welcher der russische Markt so gut wie gesperrt war, seitdem Russland hohe Kampfzölle festgesetzt hatte. Der Vertrag sollte außerdem den Roggenzoll von 5 Mark auf 3 Mark 50 Pfennig herabsetzen, das heißt auf den nämlichen Betrag, mit welchem der in Deutschland eingeführte Roggen anderer Länder verzollt wird. Das forderten die Interessen Russlands, das auf die Ausfuhr von Getreide angewiesen ist und welches in Deutschland einen Hauptabnehmer seines Roggens gehabt hatte. Das forderten aber auch die Interessen des deutschen Volkes, für welches der Roggen das wichtigste Brotgetreide ausmacht. Der Handelsvertrag sollte also den deutschen Industrieerzeugnissen die russische, dem russischen Roggen die deutsche Grenze öffnen.

Aber gerade der letztere Umstand verursachte die heftigsten Kämpfe gegen den Handelsvertrag. Er war nämlich nicht nach dem Geschmack der Herren Agrarier, derer von Itzenplitz und Kökeritz, die da wähnen, dass die Gesamtheit des deutschen Volkes ihnen tributpflichtig sei und sein Brotkorn teuer bezahlen müsse, damit sie und ihre blaublütigen Sprösslinge Riesensummen vergeuden können im Hasardspiel, in ekelhaften Orgien mit Mätressen, beim Wettrennen und anderen „noblen Passionen“. Eine Ermäßigung des Zolls auf russischen Roggen – und die Einnahmen der schnauzigen, nimmersatten Großgrundbesitzer werden um ein weniges sinken. Denn wenn der Zollsatz auf Roggen ein niedrigerer ist, so werden bei sonst gleichen Verhältnissen größere Mengen desselben eingeführt werden, und die steigende Einfuhr muss eine gewisse Verbilligung des Brotkorns zur Folge haben. Ob dieses um den ganzen Betrag des Zolls billiger werden wird, ist freilich eine andere Frage. Auf Grund der früher abgeschlossenen Handelsverträge mit Österreich, Rumänien und Serbien kommt bereits Roggen zu einem Zoll von 3 Mark 50 Pfennig ins Land, doch der Preis des Getreides auf dem Markte hängt noch von anderen Umständen ab als vom Zoll. Aber jedenfalls wird die größere Zufuhr russischen Roggens zu niedrigerem Zollsatz als bisher eine gewisse Verbilligung des Roggenpreises bewirken. Die hochmögende Sippe der Krautjunker wollte sich nun mit der durch den Handelsvertrag zu schaffenden Lage nicht abfinden. Und dies aus einem bestimmten Grunde. Die Aussicht auf die mögliche oder tatsächliche Verbilligung der Brotfrucht schreckte die Großgrundbesitzer nicht so sehr als der durch den russischen Handelsvertrag vollzogene entschiedene Bruch mit dem System der Hochschutzzolle, das seit 1879 in Deutschland geherrscht hat, Das Ideal der Agrarier ist der Hochschutzzoll auf landwirtschaftliche Erzeugnisse. Denn er erlaubt ihnen, dem deutschen Volk die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse zu diktieren, ihm Brot, Mehl, Fleisch, Schmalz, Butter, Eier, Käse, kurz, die notwendigsten Bedarfsartikel, zu verteuern, um sich selbst die vollen Taschen noch mehr zu füllen. Der in den letzten Jahren auf dem russischen Getreide lastende hohe Zoll war ihnen gewissermaßen Brief und Siegel für den Fortbestand des Hochschutzzolls.

Allein die Interessen der deutschen Industrie und die Interessen der werktätigen Masse im Deutschen Reich stehen im Widerspruch zu der Aufrechterhaltung eines starren Systems von Hochschutzzöllen. Die deutsche Industrie braucht möglichst freien Zutritt zu den ausländischen Märkten; die werktätige Masse kann sich nicht durch einen Zollkrieg mit einem auswärtigen Staat ihre Arbeitsgelegenheiten verschlechtern lassen, sie braucht billiges Brotgetreide. Deshalb ist unter dem Drängen der Verhältnisse in den letzten Jahren von der chinesischen Mauer der deutschen Hochschutzzölle Stück um Stück abgebröckelt. Die Handelsverträge mit Österreich, Rumänien, Serbien und Spanien legten Breschen in sie. Der Handelsvertrag mit Russland bedeutet einen weiteren, und zwar einen entscheidenden Schritt vorwärts auf der Bahn der Abschaffung der Hochschutzzölle. Er musste deshalb die Galle der Agrarier so gewaltig erregen, ihr nächstliegender Zweck musste es sein, ihn mit allen Mitteln zu bekämpfen. Und das haben auch die Herren mit großem Fleiß und heißem Bemühen getan. Unter dem Motto des Bismarckschen Ausspruchs „Artige Kinder verlangen nichts, artige Kinder bekommen auch nichts“, entfalteten sie eine Agitation, die es an wüster Demagogie mit dem Antisemitismus aufnehmen kann. In allen Tonarten erklang das Klagelied Jeremiä von der Notlage der Landwirtschaft, das heißt von den kleinen Profiten der die Konsumenten, landwirtschaftlichen Arbeiter und Kleinbauern auspowernden Großgrundbesitzer. Die patentierten Verteidiger des Throns und des Monarchen von Gottes Gnaden sagten der Regierung die Bundesgenossenschaft auf, bekämpften ihre Politik in heftigster Weise, drohten mit offener Rebellion und zogen die Person des Kaisers in den Streit.

Die agrarische Agitation zerstörte gründlich den Mythos von der unerschütterlichen Vasallentreue des Krautjunkertums der Monarchie und dem Monarchen gegenüber. Sie zerstörte auch das Märchen von der Solidarität der Interessen zwischen Großindustriellen und Großgrundbesitzern. Wohl vereinigen sich die beiden zur Bekämpfung und Ausplünderung des Proletariats zu einer reaktionären Masse. Aber eine jede der beiden Schichten hat ihre Sonderinteressen, die miteinander in Widerstreit geraten, zu tief fressenden Familienzwistigkeiten innerhalb der Kapitalistenklasse führen und zu ihrer Schwächung dem Proletariat gegenüber beitragen.

Dies erwies sich auch in Betreff der Frage des Hochschutzzolls beziehungsweise der Frage des Handelsvertrags mit Russland. Das 1879 inaugurierte System der Hochschutzzölle liegt im Interesse der Großgrundbesitzer, aber nicht in dem der Großindustriellen, die mit Ausnahme etlicher Eisenkönige keinen Nutzen aus ihm gezogen haben, sondern vielfach geschädigt worden sind.

In dem noch halbabsolutistischen Deutschland übt nun zwar das Krautjunkertum einen sehr großen Einfluss auf den Gang des politischen Lebens aus, allein es ist nicht mehr allmächtig. Es vermochte Liebesgaben und Vergünstigungen aller Art auf Kosten der steuerzahlenden Masse zu erringen, es vermochte aber nicht, den Interessen der Industrie und der werktätigen Masse gegenüber das System des Hochschutzzolls auf die Dauer aufrechtzuerhalten. Allerdings war es nicht die das industrielle Kapital vertretende Bourgeoisie, welche im Vordertreffen des Kampfes stand und seine Entscheidung herbeiführte. In schwächlicher, zaghafter Weise trat das deutsche Bürgertum für die Beseitigung des Hochschutzzolls ein, die ihre ureigensten Interessen forderten. Wie ganz anders energisch und kraftvoll führte da seinerzeit die englische Bourgeoisie den Kampf für die Beseitigung des Kornzolls. Der Kampf um den russischen Handelsvertrag hat einen Beweis mehr dafür erbracht, wie schwächlich und kurzsichtig das deutsche Großbürgertum ist. Statt seiner hielten Kleinbürgertum und Arbeiterklasse den Kampf und gaben den Ausschlag. Charakteristisch ist, dass man in dem einen wie dem anderen Lager mit der Sozialdemokratie rechnen musste, das heißt mit dem politisch organisierten Teil des klassenbewussten Proletariats. Die Agrarier hätten ihren Widerstand gegen den Handelsvertrag gern bis zum äußersten fortgesetzt, aber sie fürchteten eine Reichstagsauflösung, weil diese nur der Sozialdemokratie zugute gekommen wäre. Die Regierung hätte ihrerseits die widerspenstigen Junker zu Paaren getrieben, aber auch sie fürchtete aus dem nämlichen Grunde eine Reichstagsauflösung.

Der eigentliche Kampf um den russischen Handelsvertrag wurde nicht im Reichstage ausgefochten. Schon lange vor der Beratung der diesbezüglichen Regierungsvorlage waren in der Öffentlichkeit alle Gründe für und wider dieselbe geltend gemacht worden. Die Verhandlungen des Reichstags über den Vertrag entbehrten deshalb auch des tieferen Interesses. Weder seine Freunde noch seine Gegner konnten neue Erwägungen ins Feld führen. Die bekanntesten agrarischen Parlamentarier erschöpften sich vergeblich in dem Bemühen, die Notwendigkeit und den Nutzen des Ausnahmezolls auf russischem Roggen nachzuweisen. Neu und überraschend war nur die Behauptung des Grafen Mirbach, Deutschland brauche nichts von Russland außer Kaviar. Dass die Herren, anstatt sich mit der Ermäßigung des Zolls abzufinden, am liebsten noch eine Erhöhung desselben auf 6 Mark erbettelt hätten, entspricht nur der junkerlichen Begehrlichkeit, welche bis dato durch die Willfährigkeit der Regierung nur immer anspruchsvoller geworden ist. Übrigens erklärten konservative Redner, dass sie eventuell den höheren Kornzoll fahren lassen wollten, wenn ihnen Entschädigungen dafür geboten würden. Als solche wollten sie vor allem die Einführung der Silberwährung. Diese würde ihnen nämlich ermöglichen, ihre Schulden in dem minderwertigen, aber künstlich zu hohem Kurs emporgeschraubten Silber zu zahlen und dabei fette Profite zu machen. Die Geschenke, welche die Regierung den zürnenden Ochsengrafen bot und die der Reichstag bewilligte – die Aufhebung der Staffeltarife und des Identitätsnachweises –‚ schienen den Herren geringwertig. Doch war die Zurückweisung derselben nur leere Spiegelfechterei, um größere Liebesgaben erschachern zu können. Die Agrarier wissen ja ganz gut, dass zumal die Aufhebung des Identitätsnachweises recht hübsche Sümmchen in ihre Taschen fließen machen wird. Diese Aufhebung kommt einer sehr guten Ausfuhrprämie für Roggen usw. gleich. Bis jetzt wurde für ausländische Erzeugnisse, die nicht in Deutschland verbraucht, sondern die von hier aus weitertransportiert wurden, der Betrag des erhobenen Zolls zurückvergütet, falls nachgewiesen werden konnte, dass die betreffenden Waren tatsächlich vom Ausland her eingeführt worden waren.

Nach Aufhebung des Identitätsnachweises soll für Getreide und Mehl, die man von Deutschland aus verfrachtet, der Zollbetrag ausgezahlt werden, ohne dass es des Nachweises über die ausländische Herkunft bedarf. Für jeden Doppelzentner Roggen zum Beispiel, der in Deutschland zur Versendung nach dem Ausland gelangt, wird also vom Staat der angeblich entrichtete Zollbetrag von 3 Mark 50 Pfennig ausgezahlt. Die ostpreußischen Großgrundbesitzer werden natürlich die Gelegenheit benutzen, möglichst viel Getreide als „russisches“ und verzolltes nach dem Ausland zu senden. Sie säckeln dann die Vergütung des nicht gezahlten Zolls ein und bewirken außerdem durch starke Ausfuhr des Roggens einen Abfluss desselben von dem deutschen Markt und eine entsprechende Erhöhung des Roggenpreises. Die Zeche dafür zahlt die breite Masse, die durch ihre Steuern für die neue Liebesgabe aufkommen muss und der das Brot verteuert wird. Von den bürgerlichen Politikern traten besonders Richter und Hartmann im Namen der Freisinnigen und der süddeutschen Volkspartei energisch für den Handelsvertrag ein. Ersterer bekämpfte auch nachdrücklich die Aufhebung des Identitätsnachweises. Der Führer des Zentrums und der Führer der „Drehscheibe“, der nationalliberalen Fraktion, erklärten sich zwar für den Vertrag, brachten es aber in einem politischen Eiertanz nicht fertig, demselben gegenüber „einerseits oder andererseits“ zu sein. Im Zentrum und bei den Nationalliberalen herrschte eben in der Frage keine Einmütigkeit, es wurde für und gegen den Handelsvertrag gestimmt. Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion stimmte natürlich geschlossen für den Vertrag und gegen die Liebesgaben an die Agrarier. Die Abgeordneten Schulze und Schippel vertraten nachdrücklich und überzeugend den Standpunkt der Partei. Der Handelsvertrag wurde in zweiter Lesung mit einer Majorität von 200 gegen 146 Stimmen angenommen. Der Antrag der Konservativen auf Beibehaltung des Roggenzolls von 5 Mark wurde mit 205 gegen 150 Stimmen abgelehnt. In der dritten Lesung erklärte sich die bisherige Majorität für den Handelsvertrag, der am 20. März unterzeichnet worden ist. Auf manchen Seiten hat man an sein Zustandekommen überschwängliche Hoffnungen geknüpft. Man erwartet Wunder von seiner Wirkung, man preist ihn als den Ausgangspunkt einer neuen Ära des Aufschwungs der deutschen Industrie. Der Handelsvertrag, so jubelt man, wird Deutschland in Russland einen so vorzüglichen Markt erschließen, dass flottester Geschäftsgang an Stelle des schleppenden tritt, dass die Arbeitslosigkeit mit einem Schlage verschwindet, dass in der deutschen Industrie ein großer Bedarf nach Arbeitskräften entsteht. Kurz, man erwartet, dass der Handelsvertrag Zustände beseitigt, welche nicht in den wirtschaftspolitischen Beziehungen Deutschlands zu anderen Ländern begründet sind, sondern im Wesen der kapitalistischen Produktionsweise selbst. Das heißt denn doch die Verhältnisse verkennen und die Bedeutung des russischen Handelsvertrages beträchtlich überschätzen. Die Krise, unter welcher jetzt die deutsche Industrie leidet, ist eine Folge der mit der kapitalistischen Produktionsweise untrennbar verbundenen Überproduktion. Der Zollkrieg mit Russland hat sie verschärft, aber nicht verursacht. Gute wirtschaftspolitische Beziehungen mit Russland können deshalb diese Krise nicht beseitigen, nur mildern. Dass auch dies für die Industrie und die in ihr fronenden Arbeiter und Arbeiterinnen wertvoll ist, soll nicht bestritten werden, aber es liegt keinesfalls ein Grund vor, vor lauter Glückseligkeit den Kopf zu verlieren. Abgesehen davon, schafft der Handelsvertrag der deutschen Industrie nicht so ausnahmsweise glänzende Bedingungen, dass der russische Markt für sie zum Eldorado wird. Der Vertrag ermäßigt die Zölle auf gewisse deutsche Industrieerzeugnisse, für andere hat er sie gebunden, er erleichtert die Einfuhren mancher Waren in Russland, alles in allem schafft er für die deutsche Industrie die nämlichen Verhältnisse, wie sie vor dem Ausbruch des Zollkriegs mit Russland bestanden haben. Im günstigsten Falle wird die deutsche Industrie infolge des Handelsvertrages das gleiche Absatzgebiet für ihre Erzeugnisse wieder finden, das sie vor der Absperrung des russischen Marktes durch Kampfzölle hatte – im günstigsten Fall. Denn während des Zollkriegs ist die Industrie anderer europäischer Länder auf dem russischen Markt erschienen, und die deutsche Industrie muss mit ihr in Wettbewerb treten, ihr die eingenommenen Positionen streitig machen. Weiter hat die Kaufkraft des russischen Volkes durch mehrere Jahre des Misswachses und der Hungersnot gelitten. Last not least entwickelt sich in Russland eine von der Regierung in jeder Weise begünstigte Industrie, welche das Moskowiterreich mehr und mehr von der Einfuhr des Auslands unabhängig macht, ja zum Teil – wie die Baumwollindustrie – schon mit dem Ausland konkurriert. Möglich ist allerdings, dass die deutsche Industrie im Anschluss an das Zustandekommen des Handelsvertrags eine jähe Belebung zeigt. Aber nicht infolge einer gesunden, natürlichen Entwicklung des Wirtschaftslebens, vielmehr infolge der kapitalistischen Spekulation. Einem eventuell schnellen und glänzenden Aufschwung der deutschen Industrie wird ebenso schnell der Rückschlag folgen.

Was die Wirkung des Handelsvertrages anbelangt bezüglich der Verbilligung der Lebenshaltung der Masse, so ist nicht zu vergessen, dass eben immer noch der beträchtliche Zoll von 3 Mark 50 Pfennig die Brotfrucht des armen Mannes belastet und dass dieser Betrag noch um 50 Pfennig höher ist als der Schutzzoll von 1887.

Hatte so etwa das werktätige Volk keinen Grund, sein Wort zugunsten des Handelsvertrages in die Waagschale zu werfen? Im Gegenteil. Wenn der Handelsvertrag auch nicht Deutschland für die Arbeiter und Arbeiterinnen in ein Kanaan verwandelt, wo Milch und Honig fließt, so mildern seine Wirkungen doch in etwas den herrschenden Notstand, so sind sie doch geeignet, einer Verschlechterung des Gangs der Industrie vorzubeugen, welche infolge eines andauernden Zollkriegs mit Russland eingetreten wäre. Das bewirkt aber, dass die eine oder andere Gruppe von Arbeitslosen wieder Beschäftigung findet, dass Tausende von Proletariern und Proletarierinnen in Brot und Lohn bleiben, welche andernfalls aufs Pflaster geworfen worden wären. Der Handelsvertrag schafft außerdem dadurch, dass er die Zölle für zehn Jahre festlegt, eine größere Sicherheit der industriellen Verhältnisse, mithin auch der Erwerbsverhältnisse der Arbeiter und Arbeiterinnen. Arbeitsgelegenheit und größere Sicherheit des Erwerbs bedeuten aber für die Angehörigen des Proletariats nicht nur bessere Lebensbedingungen, sondern auch die Möglichkeit, sich aufzuklären, sich zu organisieren, für ernste soziale Reformen zu kämpfen. Und angesichts des elenden Einkommens und der schweren Belastung der arbeitenden Masse durch Zölle und Steuern empfindet der kleine Mann die Verbilligung des Brotes angenehm, welche infolge der Ermäßigung des Roggenzolls eintreten wird. Zufriedengeben kann er sich allerdings nicht eher, als bis jeder Zoll auf Brotgetreide, bis das ganze System der indirekten Besteuerung beseitigt worden ist.

Die werktätige Masse nimmt deshalb den Handelsvertrag mit seinen Vorteilen kühl entgegen als eine selbstverständliche und sehr kleine Abschlagszahlung auf die durchgreifenden sozialpolitischen Maßregeln, die sie fordert und erringen muss, Maßregeln, die ihre Erwerbsverhältnisse verbessern und ihre Lasten erleichtern. „Der Appetit kommt beim Essen“, sagt ein französisches Sprichwort. Je mehr Reformen in der einen oder anderen Richtung das Proletariat der kapitalistischen Gesellschaft entreißt, umso energischer und erfolgreicher wird es für neue und größere Abschlagszahlungen kämpfen.

 


Zuletzt aktualisiert am 6 August 2024