Clara Zetkin

Die Arbeiterinnen- und Frauenfrage der Gegenwart

* * *

III. Die Frau und die Erziehung der Kinder

[Auch die Erziehung der Kinder wird heute schon mehr und mehr
der Mutter entzogen und der Gesellschaft anvertraut]

In den vorangegangenen Ausführungen über die veränderte Stellung und Rolle der Frau war der Nachweis geführt, dass die ökonomischen Verhältnisse die Wirksamkeit der ehemaligen „Hausfrau“ zu einem wirtschaftlichen Anachronismus gemacht, dass dieselben die Tätigkeit und Interessen des weiblichen Geschlechts aus der Familie in die Gesellschaft verlegt haben.

Wir hatten dabei die Funktion der „Hausfrau“ nur von der ökonomischen Seite im Auge und ließen der zweiten, vom dichtenden und philosophierenden Spießbürger besungenen „Naturberuf“ der Frau – „als Mutter der Kinder, die lehret den Mädchen und wehret den Knaben“ – außer dem Spiel.

„Die Frau muss ihren Mutterpflichten, sie muss den Kindern erhalten bleiben“, unter diesem Schrei wird vielfach der Kreuzzug gegen die Emanzipationsbestrebungen des weiblichen Geschlechts gepredigt. Mit der keinen Widerspruch duldenden Erklärung, dass der natürliche Beruf der Frau die Mutterschaft, die Erziehung der Kinder ist, glaubt man jeden Anspruch auf Pflichten und Rechte der Frau innerhalb der Gesellschaft von vornherein totzuschlagen, und zwar doppelt totzuschlagen, nämlich mit „moralischen“ Gründen.

Der Philister leibt bekanntlich nichts so sehr, als wie unbequeme Tatsachen und Erscheinungen mit moralischen Gründen abzuwehren. „Moralische Gründe“ sind kleidsam, dazu billig wie Brombeeren und bequem, sie entheben des Nachdenkens und ermöglichen hübsch klingende Gemeinplätze. Die bürgerliche Moral ist der Wüstensand, in welchen der Vogel Strauß den Kopf versteckt, wenn etwas Unliebsames herannaht; sie muss auch in letzter Linie herhalten, wenn es gilt, die Frau ans Haus zu fesseln.

Bei Dekretierung des „Naturberufs“ der Frau, Kinder zu gebären und zu erziehen, kommen natürlich die Tausende und Abertausende Frauen, die nie in die Lage oder Möglichkeit versetzt sind, Mutterpflichten zu üben, gar nicht in Betracht. Und doch ist deren Zahl, dank den gesellschaftlichen Zuständen, im fortwährenden Steigen begriffen und die Frage nach Beruf und Erwerb ist eine Lebensfrage für sie. In Folge der Kriege, welche viele Tausende von jungen Männern hinwegraffen, und noch mehr in Folge der immer größer werdenden Schwierigkeiten, einen Hausstand zu gründen, nimmt die Zahl der Ehen ab, der wirtschaftliche Notstand, die Eigentums- und Erwerbsverhältnisse führen auch innerhalb der Ehe vielfach zur Enthaltung von Kindererzeugung, die schlechte physische Entwicklung – meist auch eine Folge der gesellschaftlichen Zustände – macht es vielen Frauen unmöglich, Kinder oder wenigstens gesunde, lebensfähige Kinder zu gebären. Mit welchem Rechte also für alle diese Frauen eine Regel erklären, welcher die Vorbedingung fehlt?

Andererseits ist denn die Frau, welche als Mutter im Kreise von Kindern steht, wirklich eine ausreichende Erzieherin und kann sie es unter den heutigen Verhältnissen sein?

Werfen wir einen Blick in die Familien der oberen Zehntausend, so finden wir, dass die Ausübung des „Naturberufs“ seitens der Frau gewöhnlich darin besteht, dass dieselbe, dem Entwicklungsgange der Kinder entsprechend, eine Reihe von fremden Kräften, von physischen und geistigen Lohnarbeitern bezahlt, auf welche sie alle „Mutterpflichten“ abwälzt, dabei meist herzlich bedauernd, dass sie nicht auch den unangenehmen Gebärakt auf Mietspersonen übertragen kann. Auf die Amme folgt die Bonne oder Kindergärtnerin, dann kommen Erzieher und Erzieherinnen, Lehrer und Lehrerinnen. Die körperliche, geistige und moralische Entwicklung des Kindes ist in Folge der günstigen materiellen Verhältnisse Fachleuten anvertraut, und die Mutterpflichten beschränken sich darauf, diese Fachleute zu wählen, zu besolden und eventuell auch zu beaufsichtigen. Nur in seltenen Fällen übt in den betreffenden Kreisen die Mutter einen direkten Einfluss auf die Entwicklung ihrer Kinder aus, und noch seltener ist dieser Einfluss ein verständiger und günstig erzieherischer.

Das, was in der Großbourgeoisie der Überfluss bewirkt, das bringt in dem Proletariat die Not zu Stande. Je geringer und unsicherer der Verdienst des Mannes wird, je mehr es ein eisernes Gebot der Notwendigkeit ist, dass die Frau erwerbend auftritt, um die Existenzkosten der Familie decken zu helfen, um so weniger ist es ihr auch möglich, ihren Kindern zu leben, sich mit deren Erziehung zu befassen.

Die materiellen Verhältnisse haben also in den oberen wie in den niederen Schichten die gleiche Tendenz betätigt: sie haben die Erziehung der Kinder der Mutter aus den Händen genommen, die Erziehung ist in der Hauptsache nicht mehr das Werk und die Aufgabe der durch Familienbande verknüpften Personen, sondern von außer der Familie Stehenden, auch oft außer ihr Lebenden. Die neuen Produktionsbedingungen haben die Frau nicht nur der häuslichen Arbeit, sie haben sie auch bereits zu einem guten Teil der Kindererziehung enthoben, und das gezeitigte Resultat ist für die Frau der Bourgeoisie wie für die Proletarierin das gleiche.

In der Folge zeigt sich jedoch der nämliche tief greifende Unterschied wie zwischen dem luxuriösen Müßiggange der ersteren und der erdrückenden Überarbeit der letzteren.

Die Frau des Kapitalisten kann für Erziehung ihrer Nachkommen geeignete Stellvertreter, trefflich ausgebildete Erzieher und Lehrer vom Fach wählen, deren Wirken ihre eigene Leistungsfähigkeit vielleicht weit in den Schatten stellt, die Kinder entwickeln sich unter günstigen Vorbedingungen.

Wie ganz anders liegen die Dinge für die Arbeiterfrau! Der Erzieher ihrer Kinder heißt dort unvermeidlich: der Zufall, die einzig konsequent auf ihre Entwicklung einwirkende Schule: die Not. Die Frau des Reichen, welche dem Kinde ihre Brust vorenthält, um nicht die Schönheit ihrer Formen zu beeinträchtigen, lässt dem Säugling durch die „kräftige Amme vom Lande“ eine gesundere Milch reichen, als ihr eigener, durch die Sünder der Väter verdorbener Organismus erzeugen könnte. Die Personen, welche die weitere Entwicklung des Kindes überwachen und leiten, sind durch besondere Ausbildung für ihren Beruf vorbereitet. Die Arbeiterfrau hingegen kann in der Regel nicht daran denken, ihrem Kinde einen gleichwertigen Ersatz für die eigene Pflege zu bieten. Verhindert nicht Kränklichkeit oder schlechte Ernährung, das Kind an der Mutterbrust aufzuziehen, so erheben die Gewerbsverhältnisse ihren Einspruch dagegen. Vielleicht muss sich die Mutter sogar als Amme an Fremde verdingen, aber noch weit häufiger ruft sie, wenn kaum der Tag graut, der schrille Schrei der Dampfpfeife in die Fabrik. Sie bleibt den langen Arbeitstag über an die Maschine geschmiedet, nur in den knapp bemessenen Mittagspausen die Zeit findend, nach Hause zu hetzen – den günstigen Fall vorausgesetzt, dass sie nahe genug wohnt – um einen flüchtigen Blick auf das Kind zu werden, ihm Nahrung zu reichen. In der Zwischenzeit ist das Kind der Sorge eines etwas älteren Geschwisters, dem guten Willen einer Nachbarin überlassen, vielleicht auch einer anderen bezahlten Person, welche das Aufpäppeln als Geschäft betreibt und „Engel macht“. Damit der kleine Schreihals so lange als möglich ruhig liegen bleibt, erhält er den üblichen schmutzigen Lutschbeutel ins Mündchen gestopft, wenn ihm nicht gar die Nahrung mit narkotischen, Tod oder Blödsinn nach sich ziehenden Mitteln versetzt wird, damit er „recht fest und recht gut schläft“. An Stelle der Muttermilch treten dünne, verfälschte Kuhmilch und allerhand „Kindernährmittel“, von denen günstigsten Falles gilt, dass sie nicht geradezu wie Gift auf den zarten kindlichen Organismus einwirken. Mit der übrigen Pflege des Säuglings, mit der Beobachtung der hygienischen und Reinlichkeitsvorschriften sieht es der Ernährung entsprechend aus. Glücklich noch, wenn der Arbeiterin eine gute Krippe oder Kleinkinderbewahranstalt zur Verfügung steht, in welche das Kind aufgenommen werden kann. – Ist das Säuglingsalter überschritten, so bleibt das Kind der sehr bedenklichen Beaufsichtigung durch Geschwister und Bekannte anvertraut oder auch ohne jede Überwachung mit unbeschränkter Freiheit, sich zu verbrennen, ins Wasser zu fallen, aus dem Fenster zu stürzen. Vielleicht kann es in eine Kinderbewahranstalt, in einen Kindergarten eintreten, aus dem es dann in die Volksschule gelangt. Die Mutter atmet beruhigt auf, sie hat die Überzeugung, dass sich ihr Kind wenigstens für so und soviel Stunden unter Aufsicht befindet, dass die Gefahr, Schaden zu nehmen, in etwas vermindert ist. Volkskinderbewahranstalten und Volksschulen bieten zwar den Kindern keineswegs das, was sie bieten sollten, und sie werden es im Klassenstaate auch nie bieten, allein für die Proletarierin ist schon das eine von Bedeutung: die Aufsicht, behufs Verhütung des gröbsten Schadens.

Die Regel in den einschlägigen Kreisen ist also: dass die Mutter nicht diejenige Art der Pflege und Erziehung wählen kann, welche ihr für die Entwicklung des Kindes am geeignetsten scheint, sondern dass sie diejenige wählen muss, welche sie am billigsten zu stehen kommt, und ihr die meiste Zeit für den Erwerb frei lässt. Sie selbst kann auf die Entwicklung ihres Kindes nur Einfluss üben in den kurzen Pausen der Arbeitszeit, nach dem Feierabend, an Sonn- und Festtagen – wenn es nicht Über- und Sonntagsarbeit gibt. Ihr Körper ist alsdann abgerackert, ihr Geist von Sorgen gequält, in den Feierstunden waltet ihrer gewöhnlich eine doppelte Arbeitslast, es gilt, das während der Brotarbeit an der Hausarbeit versäumte nachzuholen. Wie soll die Frau dann noch in der Lage und Verfassung sein, günstig auf die Entwicklung ihrer Kinder einzuwirken?

Bleibt noch der biedere Mittelstand übrig, dieses Raritätenkabinett für alle längst überlebten Einrichtungen, dieser Hüter von Begriffen und Zuständen, die unseren Großvätern teuer und heilig waren. Aber die Verhältnisse des Mittelstandes sind in keiner Beziehung maßgebend. Das Kleinbürgertum ist unrettbar dem Untergange verfallen und muss, mit Ausnahme weniger seiner Glieder, die sich in die Bourgeoise erheben, ins Proletariat versinken. Die Frauen der besser gestellten Kleinbürger suchen sich, in Nachäffung ihrer Schwestern in der Großbourgeoisie, der Erziehung der Kinder tunlichst zu entledigen. Das Gros der Kleinbürgerinnen dagegen wird durch die Notwendigkeit eines Nebenerwerbs als Näherin, Stickerin, Lehrerin so ziemlich in die gleiche Lage versetzt wie die Arbeiterfrau. Pflege und Erziehung der Kinder entschlüpft also auch in diesem Stande immer mehr den Händen der Mutter.

Indem also die neuen Produktionsbedingungen die Produktion der Gebrauchsartikel innerhalb der Familie vernichten, ward auch der Boden für die Erziehung der Kinder innerhalb der Familie zerstört; die in der Gesellschaft produzierende Frau wurde ihrem „natürlichen“ Berufe entzogen, der überhaupt nur so lange natürlich war, als er sich mit den ökonomischen Verhältnissen deckte.

Pflege und Erziehung der Kinder konnten nur so lange eine ausschließlich mütterliche Funktion bleiben, als die Frau durch die wirtschaftlichen Zustände, durch die Art und Weise ihres Schaffens an das Haus gefesselt war. Das Familienleben musste auch nach dieser Seite hin durch die modernen Produktionsbedingungen gründlich ungewälzt werden, denn die Familie war keine moralische, sie war eine ökonomische Einheit; mit den ökonomischen Grundbedingungen ihres Bestehens mussten auch alle ihre so genannten moralischen Pflichten und Aufgaben einer Wandlung unterworfen werden, die Gesellschaft, die Gemeinschaft musste auch in dieser Beziehung als ihr Erbe auftreten.

Der Umwandlungsprozess ist leider noch nicht zu Ende. Der Kampf zwischen dem Alten und Neuen, die schwierigen Verhältnisse der Übergangszeit machen sich auch der Kindererziehung gegenüber mit all ihren Härten fühlbar. Aber der Umgestaltungsprozess ist bereits weit genug vorgeschritten, dass über seinen Ausgang kein Zweifel aufkommen kann. Die Kindererziehung wird und muss aus der Familie in die Gesellschaft verlegt werden, sie wird und muss aus den Händen der Mutter in die von Pädagogen im weitesten Sinne des Worts übergehen. Die Frau wird nicht nur als Hauswirtin, sie wird auch als Mutter frei zur Ausübung gesellschaftlicher Tätigkeit je nach ihrer individuellen Befähigung und Neigung und nach Maßgabe der gesellschaftlichen Bedürfnisse – ihre Stellung wird auch hierin mehr und mehr der des Mannes ähnlich werden.

Alle sentimentale Heulmeierei kann an dieser notwendigen Tatsache kein Jota ändern.

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Ist die Tatsache überhaupt zu bejammern, ist sie der Tränen wert, welche Klageweiber männlichen und weiblichen Geschlechts über sie vergießen?

Unseres Erachtens nicht, denn die Voraussetzung: die Mutter ist die, von der Natur dazu vorherbestimmte Erzieherin der Kinder, erscheint uns als einer jener seichten, landläufigen Gemeinplätze, die noch so zahlreich durch ein Jahrhundert humpeln, in dem sie nichts mehr zu suchen haben.
 

[Die zukünftige Erziehung der Kinder wird noch mehr das Werk der Gesellschaft,
nicht der Hausfrau und Mutter sein]

Die Mutter ist die „natürliche“ (d. h. durch die natürliche Beziehungen zwischen sich und dem Kinde bestimmte) Erzieherin und Pflegerin für das Säuglingsalter, die Stillungsperiode, und nicht darüber hinaus. Aufgabe der Gesellschaft muss es sein, für diese Periode dem Kinde die Mutter zu erhalten und zu sichern, wie sie demselben schon vor der Geburt und durch Vermittelung der Mutter die denkbar günstigsten Entwicklungsbedingungen zu schaffen hat. Hat das Kind aber einmal das Säuglingsalter hinter sich, so ist es für seine weitere Entwicklung an sich durchaus gleichgültig, ob dieselbe von der Mutter oder von einer dritten Person geleitet wird. Hier entscheiden nicht mehr „natürliche“ unabänderliche Ursachen, sondern die wechselnden Verhältnisse der Gesellschaft, deren augenblickliche Lage und deren Entwicklungsrichtung nach der Zukunft hin. Hauptsache ist nicht die mütterliche, sondern eine verständige und liebevolle Erziehung, welche sich auf Kenntnis und Beobachtung der Gesetze stützt, welche die Entwicklung des Kindes regeln. Die Mutter war früher, kraft der primitiven Arbeitsteilung zwischen Frau und Mann, die natürliche, d.h. die durch die herrschenden gesellschaftlichen Zustände bezeichnete Erzieherin des Nachwuchses, wie die Produzentin aller Gebrauchsartikel des Familienhaushalts war, wie sie in ihrer Person Schneider, Schuhmacher, Bäcker, Weber, Spinner usw. darstellte. Einfach und roh wie die damals erzeugten Gegenstände war auch die Erziehung der Kinder. Allein die für alle Arbeit eintretende Teilung und Scheidung der Tätigkeiten, welche der Frau einen häuslichen Industriezweig nach dem andern abnahm, musste ihr auch allmählich die Erziehung der Kinder aus den Händen winden, sobald die Verhältnisse an dieselbe höhere Ansprüche stellten, von ihr eine größere Vielseitigkeit forderten, die sich nur selten in einer Person vereint findet. Erste Folge davon war, dass der Frau sehr bald schon die technische, berufsmäßige Ausbildung der Knaben, nach und nach jedoch auch die geistige Erziehung, der Unterricht der Kinder überhaupt, entzogen wurde, um Sache von Fachleuten, Spezialisten zu werden. Es fällt wohl heut zu Tage niemand ein, sich dieser Art der Arbeitsteilung bei Erziehung der Kinder zu widersetzen. Die Vorzüge, ja die Notwendigkeit des Unterrichts durch Lehrer und hier wiederum durch Fachlehrer liegen auf der Hand. Niemand wird behaupten, dass die Mutter die „natürliche alleinige Lehrerin“ ihrer Kinder sein müsse. Die Rolle der Mutter als Erzieherin hat also bereits durch die moderne Organisation des Unterrichts eine beträchtliche Einbuße erlitten. Mit Bezug auf den Unterricht ist die Mutter durch die Gesellschaft ersetzt; es ist letztere, welche diesen Teil der Erziehung organisiert und gewisse, ihr geeignet scheinende, für den Beruf vorbereitende Vertreter mit ihm betraut. Die Verhältnisse zwangen von zwei Selten hierzu: einerseits durch die behufs einer größeren Vollkommenheit des Resultats unumgänglich werdende Arbeitsteilung, andrerseits durch die für die Masse der Frauen entstandene Notwendigkeit, dem Erwerb – außerhalb oder innerhalb des Hauses – nachzugehen.

In geradezu absurdem Widerspruch mit diesen Tatsachen plärrt man es trotzdem als unumstößliches Dogma weiter, dass die Frau die Erzieherin der Kinder sein solle! Sie ist es bereits nicht mehr in diesem Sinne!

Man lässt dabei ganz aus dem Auge, dass die Erziehung der Kinder ein Beruf wie jeder andere ist. Wie jeder andere Beruf hat sie als zur Voraussetzung eines möglichst vollendeten Gelingens, dass der sie Ausübende, der Erzieher, natürliche Begabung für den Beruf, die nötige technische Ausbildung und eine möglichst hohe und vielseitige Entwicklung überhaupt besitze. Will man also der Frau den Beruf der Erzieherin par excellence aufzwingen, so muss man wenigstens voraussetzen, dass dieselbe die genannten drei, für erfolgreiche Ausübung ihrer Tätigkeit unentbehrlichen Bedingungen in sich vereint. Dies ist jedoch bei den wenigsten Frauen und Müttern der Fall. So wenig wie z. B. alle Männer mit den Keimen der Befähigung, Schumacher, Soldat oder Maler zu sein, geboren werden, so wenig sich bei ihnen allen diese vielleicht vorhandenen Keime entwickeln können, ebenso wenig bringt jede Frau die Begabung für den pädagogischen Beruf mit auf die Welt, noch weit weniger aber ist die dem weiblichen Geschlechte zu Teil werdende Entwicklung dazu angetan, etwa vorhandene Keime dieser Befähigung so herauszubilden, dass sich dieselben späterhin günstig entfalten. Die Begabung für den erzieherischen Beruf ist wie jedes andere Talent nach Individuen und nicht nach Geschlechtern verteilt. Leicht möglich, sogar ganz wahrscheinlich, dass infolge der Jahrhunderte lang geübten erzieherischen Tätigkeit und der Vererbung die Befähigung für die Kindererziehung unter dem weiblichen Geschlecht häufiger zu finden ist als unter den Männern. Aber in neunzig von hundert Fällen wird diese angeborene Begabung in Folge der einseitigen weiblichen Entwicklung verkümmern, sie wird ein bloßer dunkler Instinkt bleiben, anstatt sich zu einem klar bewussten und mit Bewusstsein geübten Talent zu entwickeln.

Oder rechtfertigt vielleicht das Vorhandensein der zweiten, oben genannten Voraussetzung: die bessere technische Ausbildung, dass man der Frau so apodiktisch die Rolle als Erzieherin zuspricht?

Ziel und Zweck der Erziehung ist, die Kinder zu Menschen in der vollen Bedeutung des Wortes zu formen. Der moderne Mensch ist aber ein sehr kompliziertes Geschöpf, das sich in Gemäßheit bestimmter Gesetze entwickelt, die in ihm und außer ihm liegen, und die sich unter einander fördern, bekämpfen, aufheben. Das Ziel der Erziehung kann nicht erreicht werden, ohne Kenntnis der physischen (körperlichen) und psychischen (geistigen) Gesetze, welche die Entwicklung des Kindes beherrschen, ohne Verständnis für die natürliche und gesellschaftliche Umgebung, in welcher dieselbe vor sich geht. Es kann auch nicht vollkommen erreicht werden ohne Kenntnis und Beobachtung der pädagogischen Methoden, welche sich auf die obigen Gesetze gründen. Jeder Handwerker oder Künstler muss das Material kennen, das er bearbeitet, er muss Meister gewisser technischer, berufsmäßiger Handgriffe sein, die für die Gestaltung des Materials notwendig sind. Das Gleiche muss von der Person gelten, welche Menschen formen soll. Sie muss den Ton kennen, den sie zu kneten hat, die Methode, welche zur Behandlung am geeignetsten scheint, sie muss für den erzieherischen Beruf vorbereitet sein.

Damit die einfachsten Gegenstände so vollendet als möglich erzeugt werden, überlässt man ihre Herstellung Spezialisten, berufsmäßig geschulten Leuten. Einen alten Schuh lässt man nicht von dem ersten Besten flicken, man übergibt ihn einem Fachmann, dem Schuhmacher, damit ihn dieser nach allen Regeln seiner Kunst in die Kur nehme. Auf die Erziehung der Kinder nimmt man nicht so viel Rücksicht, für die wichtigste aller gesellschaftlichen Funktionen sieht man von der Notwendigkeit einer beruflichen Ausbildung ab!

Mehr noch: ihre Ausübung durch Kräfte, die nicht für den Beruf ausgerüstet und vorbereitet sind, wird zum Dogma erhoben, denn „die Mutter ist die natürliche Erzieherin der Kinder.“ Also die erste beste Gans – man verzeihe den Ausdruck – welche Mutter wird, erhält durch die bloße Geburt die magische Gabe, alle Aufgaben dieses schweren und folgenreichen Berufs zu erledigen!

Diese Auffassung ist ihren Ergebnissen nach geradezu verbrecherisch!

„Aber,“ sagt der wohlgesinnte Spießbürger mit einem sentimentalen Augenaufschlag gen Himmel, „aber die Natur hat der Frau den Instinkt der Mutterliebe gegeben, und dieser Instinkt tritt da helfend und ergänzend ein, wo das Wissen fehlt.“

Eie schlechte Beweisführung, die sich auf solche Gründe stützt! Unsere Zeit ist nicht so mystisch, um noch an die wirksame Kraft gleichsam überweltlicher Offenbarungen zu glauben. Der Instinkt der Mutterliebe ist blind, er tappt im Finstern. Er kann nun und nimmer ersetzen, was das Wissen und können zu leisten vermöchte. Er kann im besten Falle bei der Erziehung des Kindes das Schlimmste verhüten, aber er ist unfähig, das Vollendete zu leisten. Die Frau, welche die Grundbedingungen der körperlichen Entwicklung des Kindes nicht kennt, der ein Schlüssel für das Verständnis von dessen geistiger Herausgestaltung fehlt. Die nicht weiß, wo sie mit zartem Takt und ohne schulmeisterliche Pedanterie fördernd oder hemmend einzugreifen hat, die Frau, welche über keinen der technischen Kunstgriffe verfügt, welche dem Kinde die Entwicklung zur Menschwerdung erleichtern – die kann auch nicht zur Rolle der Erzieherin berufen sein, und wäre sie zehnmal des Kindes leibliche Mutter. Täglich hat man Beispiele vor Augen, welche zeigen, was für Ungeheuerlichkeiten, um nicht zu sagen Verbrechen gegen die Entwicklung der kindlichen Natur die zärtlichsten Mütter im Namen des „Instinkts der Mutterliebe“ begehen. Ein gut Teil der körperlichen und geistigen Verkrüppelung der Jugend ist darauf zurückzuführen, dass die Erziehung dem „mütterlichen Instinkt“ überlassen bleibt, anstatt dieselbe zur Sache eines zielbewussten Wissens und Könnens zu machen. All die „populären Abhandlungen“ über Kinderpflege und Jugenderziehung können hieran nichts ändern, um so weniger, da sie für die Mehrzahl der Mütter verloren gehen. Die Frau, welche täglich zehn, zwölf und noch mehr Stunden in der Fabrik oder von früh bis Abends im Hause gewerblich arbeitet, hat nicht die Möglichkeit, sich Forschungen über ihren Beruf als Erzieherin hinzugeben. Ihre Eingriffe in die Erziehung müssen sich meist darauf beschränken, Hosenböden einzusetzen und Strümpfe zu stopfen, wenn sie vorher das dem Kinde nötige Brot verdient hat.

Gerade mit Rücksicht auf den Zweck und das Gelingen des Erziehungswerkes ist es durchaus notwendig, das, was bereits zum größten Teil und mit Erfolg für den Unterricht geschehen, für die gesamte Erziehung des Kindes durchzuführen. Dieselbe muss aus den Händen der für den Beruf gar nicht oder nur ungenügend ausgerüsteten Frau in dieselben von berufsmäßig ausgebildeten Erziehern und Erzieherinnen übergehen. Die Gesellschaft muss auch nach dieser Seite hin in ihr Recht eintreten und ihre Pflichten übernehmen. Die Macht der Gewohnheit und Phrase will zwar noch an dem Grundsatz festhalten, dass die Erziehung des Kindes Aufgabe der Mutter sei, allein die Verhältnisse machen diese Aufgabe mit jedem Tag tatsächlich immer illusorischer, immer hinfälliger. Die Entwicklung des Kindes fährt bei dem Wechsel nicht schlecht, sie wird aus einem Werk des blinden Instinkts zur Sache einer zielklaren Wissenschaft.

* * *

Aber noch ein weiterer, schwerwiegender Grund spricht dagegen, dass die Erziehung der Kinder die vornehmste Aufgabe der Frau sein kann. Wer erziehen will, der muss selbst erst erzogen sein. Es ist überflüssig, dabei zu verweilen, wie wenig die Frau von heute dieser Forderung, in ihrem weitesten Sinne gefasst, entspricht. Seit Jahrhunderten geknechtet und versklavt, systematisch in einem Zustande der Untergeordnetheit gehalten, von Geburt an die Zielscheibe einer systematisch durchgeführten körperlichen und geistigen Verkümmerung, ist die Frau notwendiger Weise ein unvollkommenes und einseitig entwickeltes Geschöpf. Die Männer unter sich halten die Frau im Grunde für eine niedere Abart der Gattung Mensch. Und wunderbar, dieses unentwickelte Geschöpf, das durch seinen Herrn und Meister bei jeder wichtigen Gelegenheit, bei jedem Versuch, sich eine menschenwürdige Stellung zu erkämpfen, an seine Unterlegenheit erinnert wird, das soll von der Natur „auserwählt“ sein, die heranwachsende Generation zu erziehen! Wer wird hierbei nicht mit dem alten Wort fragen: „Kann auch ein Blinder einen Blinden leiten?“ Die Gegner der Frauenemanzipation füllen Bände an, um die Inferiorität des weiblichen Geschlechts zu beweisen, und auf der anderen Seite tragen sie kein Bedenken, diesem niedrig stehenden Geschöpf die wichtigste aller gesellschaftlichen Aufgaben zuzuerteilen, ja sogar als dessen eigentlichen „Beruf“ zu erklären. Diese Logik macht dem männlichen Geist alle Ehre!

Wir wollen nicht erst darauf eingehen, wie die im Allgemeinen tatsächlich bestehende Unterlegenheit der Frau durch die engen Verhältnisse, in welchen sie seit Jahrhunderten steht, erzeugt wird, und wie dieselbe in Folge neuer, günstiger Entwicklungsbedingungen verschwinden muss. Für den Augenblick müssen wir die geringere Entwicklung der Frau einfach feststellen, damit aber auch deren Ungeeignetheit für die Rolle der Kindererzieherin. Goethes Ausspruch:

Die Eltern könnten erzogene Kinder gebären,
Wenn die Eltern selbst erzogen wären –

gilt in erster Linie von dem Verhältnis zwischen Mutter und Kind.

Wertlos ist auch die viel gehörte Rede von dem reichen und tiefen Gefühlsleben der Frau, von dem moralisch veredelnden Einflusse des „ewig Weiblichen“, das hinan zieht.

Die Frau kann für die künftigen Generationen nicht eine Hohepriesterin des Schönen, Wahren und Guten sein, weil sie mit ihrer Auffassung der künstlerischen, wissenschaftlichen und sittlichen Begriffe größtenteils noch in einer vergangenen Zeit wurzelt. Die betreffenden Begriffe sind ja nicht der Ausdruck ewig gültiger Ideen, sie sind lediglich Abstraktionen und Spiegelbilder der jeweilig bestehenden, in fortwährendem Fluss begriffenen Gesellschaftsverhältnisse, wechseln und verändern sich auch mit diesen. Jedes Zeitalter und jedes Volk hat seine eigene Sittlichkeit, Kunst und Wissenschaft.

In der gegenwärtigen Epoche tobt ein heftiger Kampf zwischen den Ideen der alten und neuen Zeit. Gerade was die Auffassung und Entwicklung auf dem Gebiete der Moral anbetrifft, so steht die Frau der Regel nach im Lager des Alten, des Überlebten, wie es noch der Gesellschaftsordnung entspricht, in welcher die patriarchalische Familie ihre Berechtigung hatte. Dadurch, dass man die gesamte geistige Entwicklung der Frau auf dem Standpunkt vergangener Jahrhunderte festhielt, dass man ihre Entwicklung in ein Prokrustesbett zwängte, dass man ihr noch nicht den ihr gebührenden Platz in der Gesellschaft eingeräumt hat und sie an das Haus fesselte, dadurch ist auch die Frau in ihren sittlichen Anschauungen außer den rechten Zusammenhang mit der vollständig umgewandelten Gesellschaft geraten. Die neuen Gesellschaftszustände haben neue Beziehungen der Menschen untereinander, damit auch neue sittliche Anschauungen geschaffen, die sich von den alten genau so unterscheiden, wie die neuen Produktionsbedingungen von den alten. Dieser Entwicklungsprozess hat aber bei dem weiblichen Geschlechte kaum erst begonnen. Die Frau hat ihre sittlichen Anschauungen noch nicht mit den neuen Gesellschaftsverhältnissen in Einklang gebracht, sie klebt mit ihrer Auffassung dessen, was hochzuhalten und erstrebenswert ist, noch an den Reflexen der sozialen Zustände von gestern.

Wie soll sie da „hervorragend befähigt“ sein, die Entwicklung des Kindes zu leiten, das der Bürger von morgen ist, das auf die Pflichten und Rechte des Werdenden und nicht des Vergangenen vorbereitet werden muss?

Dass sich die geistige Entwicklung der Menschheit nicht schneller vollzieht, hat wohl zum Teil seinen Grund darin, dass deren größre Hälfte in ihrer Entwicklung noch so weit zurückgehalten worden ist. Im Allgemeinen reicht das Denken der Frau nicht über ihre Nase, d. h. ihre Familie hinaus, sie übt eine engherzige Familienmoral, die im Gegensatz zu der gesellschaftlichen Moral steht, welche die neuen Verhältnisse bedingen. Alle ihre viel gerühmten Tugenden, ihre Selbstlosigkeit, Aufopferungsfähigkeit, ihr tiefes Empfinden bekunden sich nur zu Gunsten des engen Familienkreises, sie kommen nur denen zu Gute, welche die Frau leibt. Das Weib, welches für die Ihren der größten Aufopferung fähig ist, erweist sich der Gesellschaft gegenüber von oft geradezu brutalem Egoismus. Natürlich! Außerhalb des allgemeinen Lebens stehend, ohne Interesse und Beteiligung an den gesellschaftlichen Vorgängen, sind ihr die neuen sozialen Tugenden fremd geblieben. So stark entwickelt bei der Frau die Familienliebe ist, so ärmlich verkümmert erweist sich bei ihr die gesellschaftliche Solidarität. Die wenigsten Frauen haben auch nur eine Ahnung davon, was das Wort Solidarität eigentlich bedeutet, daher ihre Engherzigkeit, Härte, ja Grausamkeit gegen Alles, was sich außerhalb der Sphäre ihrer persönlichen Zuneigung bewegt. Das reiche moralische Gemütsleben der Frau findet im Grunde in einem Fingerhut oder in einem Kochtopf Platz, ohne dabei Gefahr zu laufen, sich den Kopf an den engen Wänden einzurennen.

Von allen Frauenkreisen zeigen gerade die so genannten unteren Schichten die relativ höchste moralische Entwicklung im modernen Sinne, sie sind am nächsten daran, den Begriff der Solidarität zu fassen und zu üben, sowie alle neuen sozialen Tugenden überhaupt. Am reaktionärsten und am weitesten nach rückwärts stehend erweisen sich dagegen die Kleinbürgerinnen, sie sind in ihren vormärzlichen Begriffen von Tugend und Moral versteinert und halten an denselben fest, obgleich sich dieselben im Verhältnis zu den neuen Sozialzuständen oft geradezu in schreiende Unmoralität verwandeln.

Die Moral der Frau wurzelt noch in der alten Zeit, ihre gesellschaftlichen Tugenden sind durchaus negative, sie hält sich für höchst moralisch, wenn sie den Nächsten nicht bestiehlt, belügt, hintergeht, ermordet, ihm nicht das Haus über dem Kopf anzündet. Aber sie ist zu Nutz und Frommen der Allgemeinheit nur schwer und selten zu positiv moralischen Handlungen bereit, selbst dann, wenn sie dieselben nicht in Konflikt mit den Interessen der Familie bringen. Im Allgemeinen ist sie stets bereit, die Interessen der Gesellschaft den Interessen der Familie aufzuopfern, die Gesamtheit hat ihrer Auffassung nach keinen oder geringen Anspruch auf ihre Hingabe und Selbstlosigkeit. Im Zentrum der weiblichen Moral steht die Familie, je ausschließlicher sich der Mann deren Interessen widmet – mag er auch das Allgemeinwohl dabei vernachlässigen – für um so vollkommener wird er meist seitens der Frau gehalten.

Daher die Gleichgültigkeit, ja oft genug der geradezu feindliche Widerstand, den die Frau der Beteiligung des Mannes am öffentlichen Leben entgegensetzt.

Familie und Gesellschaft bilden im Kopfe der Frau feindliche Gegensätze und der Mann, welcher das Familieninteresse dem Allgemeinwohl aufopfert, erscheint ihr nur zu oft als eine Art Verbrecher oder Tor. Diese Auffassung und der daraus hervorgehende Widerstand sind erklärlich und vom Standpunkte der Frau aus gerechtfertigt, sie entsprechen nicht nur ihrer Kirchturmsmoral, sondern überhaupt einem gesellschaftlichen Zustande, der auf Sonderinteressen und nicht auf dem Allgemeinwohl basiert. Sie sind die notwendige Folge davon, dass die Frau im Widerspruch zu den ökonomischen Verhältnissen an das Haus gebannt blieb. Die nämlichen Vorzüge, welche sie innerhalb der Familie für selbstverständlich hält, wird sie auch in der Gesellschaft betätigen, sobald sie durch die Tatsachen gelernt hat, dass auch ihr Wirkungskreis die Welt ist. Die neue soziale Stellung der Frau wird einen vollständigen Umschwung in ihrer Auffassung über ihre Pflichten und Rechte nach sich ziehen. Die Gesellschaft wird dann im Leben der Frau den Platz einnehmen, den das Haus heute usurpiert, die Allgemeinheit wird die Familie verdrängen.

Solange jedoch die Frau auf ihrem alten Standpunkt verharrt, solange sie nicht mit ihrem Denken und Empfunden in den neuen Verhältnissen aufgeht, solange sie innerhalb der Familie und Gesellschaft ein reaktionäres Element bildet, kann man die Mutter nicht a priori als beste Erzieherin der Kinder rühmen. Die Kinder müssen für das Morgen, nicht für das Gestern herangebildet werden.

Die Erzieher der Kinder müssen deshalb selbst voll und ganz auf dem Standpunkt der neuen Zeit stehen.

* * *

Erkennt man die Richtigkeit dieser Grundsätze an, so ergibt sich von selbst der Schluss, dass die Frau, wie sie ist, nicht die auserwählte Erzieherin der Jugend sein kann. Es bleibt also kein Bedauern zurück, dass die modernen Verhältnisse die Frau aus ihrer erzieherischen Rolle verdrängen, und dass die Gesellschaft dieselbe übernimmt. Es ist folglich auch nicht gerechtfertigt, unter dem Geschrei von dem erzieherischen Mutterberuf die Frau von dem gesellschaftlichen Leben auszuschließen.

Pflicht der Gesellschaft ist, die Mutter dem Kinde für die Zeit zu erhalten, wo sie tatsächlich die natürliche Erzieherin und Pflegerin derselben ist: für die Periode der Schwangerschaft und das Säuglingsalter. Für die folgende Entwicklungszeit hat sie dem Kinde alle Einrichtungen und Anstalten zu bieten, welche die Mutter – hier als Zusammenfassung aller erzieherischen Einflüsse gedacht – in der besten Weise ersetzen.

Damit soll nicht gesagt werden, dass die Frau in der Zukunft von dem Erziehungswerke ausgeschlossen sein soll. Im Gegenteil, es ist bereits angedeutet worden, dass wahrscheinlich gerade das weibliche Geschlecht befähigt ist, bei der künftigen Erziehung der Jugend eine hervorragende Rolle zu spielen. Jedoch nicht jede Frau, bloß weil sie „Mutter“ ist, sondern nur diejenige, welche Begabung und Neigung für den pädagogischen Beruf mit einer möglichst hohen und vielseitigen allgemeinen Entwicklung vereint und die nötige berufliche Sonderausbildung erhalten hat. Wenn die Frau durch eine freie Entwicklung in einem freien Gesellschaftswesen voll und ganz zum Menschen geworden, wenn sie zum Bewusstsein ihrer neuen Rechte und Pflichten erwacht ist, wenn sie auf einer Höhe der Anschauung steht, dass sie mit Goethes Prometheus allen Götzen der Vergangenheit das wunderbar stolze Wort entgegenschleudern kann: „Hier sitze ich und forme Menschen nach meinem Bilde“ – erst dann haben wir das Recht, von der Frau als berufenen Erzieherin der Jugend zu sprechen.

 


Zulatzt aktualisiert am 2 August 2024