Dieser Text erschien im Frühjahr 2020 in Chaussee – Zeitschrift für Literatur und Kultur der Pfalz, Herbst 2019.
Kopiert mit Dank aus der Winfried Wolf – Homepage. Transkription & HTML-Markierung: Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.
Alle Welt schreibt in diesen Tagen über „50 Jahre ‚1968‘“. Das mutet oft schrill an (rief auf dem Vietnam-Kongress in Westberlin im Februar 1968 wirklich der italienische Millionär und Verleger Giangiacomo Feltrinelli zum „Kampf für den Sozialismus in ganz Europa“ auf? [1]). Oft sind die Rückblicke demagogisch (fälschlich behauptet wird, es habe eine „logische Verbindung vom SDS zur RAF“ gegeben ...). Peinliche Autoren werden in Stellung gebracht (Alt-68er, die längst im vormals bekämpften System „angekommen“ sind). Äußerst selten wird jedoch berichtet, dass es außer diesen Überläufern nicht wenige Langläufer gibt: solche, die sich treu und den Idealen von 1968 weiter verpflichtet blieben. So gut wie nie wird dieses „Langläufertum“ personalisiert. Dabei wäre dies möglich. Zumal in Mannheim und Ludwigshafen – mit Bernd Köhler alias Schlauch.
Die künstlerische und politische Arbeit des in Ludwigshafen 1951 geborenen und in einer Arbeiterfamilie aufgewachsenen Bernd Köhler bereitet demjenigen, der die gleiche Zeitspanne linker Politik aktiv in Teilen mitgestaltete, viele déjà-vu-Erlebnisse. Vier Themenkreise seien herausgegriffen: (1) der Einschnitt „1968“, der allein in Westdeutschland hunderttausende junge Menschen veranlasste, gegen reaktionäre Strukturen aufzubegehren und sich für eine neue, solidarische Gesellschaft zu engagieren. (2) Die lange Kette von Kämpfen 1968-1980, die große Hoffnungen auf Weltrevolutionäres vermittelten. (3) Die fortwährende Präsenz von Alt- und Neufaschisten und das Engagement gegen rechts. Und schließlich (4) das neue emanzipatorische Engagement, das 1999 mit dem Widerstand gegen den Kosovo-Krieg begann, das über die Globalisierungskritik führte und sich heute einem modernen und mörderischen IT-Kapitalismus gegenüber sieht.
Für Zehntausende junge Menschen in Westdeutschland bedeutete 1968 eine radikale Wende. Bernd Köhler [BK] sagt von sich: „Mit 15 Jahren [= 1966] war ich im Kirchenchor und hab Posaune gespielt. Wollte unbedingt zur Bundeswehr. Ich dachte, warum schmeißen die Amis in Vietnam keine Atombombe rein, dann wär doch Ruh.“ Zwei Jahre später textet und singt Köhler alias Schlauch mit „Immer wenn die Schule brennt“ über Anarchie & Utopie. Ein weiteres Jahr später sieht er seine Arbeit im Kontext des Antifaschismus, der ein wesentlicher Antrieb für die 1968er Revolte war.
Doch es gab mal ne Zeit, da hatte man zu denken vergessen / S’ist dreißig Jahre her, da hat man’s dann auch ausgefressen / Und ich mach mir da keine Illusion / Und sage mir, das kam davon / Vom schöne Lieder singen und vom Träumen / Nur so kann man die Zeit versäumen / Und heut’ ist es wieder mal soweit ...
Köhler bzw. Schlauch war 1968 und 1969 zwei Mal Sieger beim Folksongfestival HARLEKINADE in Ludwigshafen in der Sparte Einzelkünstler.
„1968“ war auch ein Einschnitt für das vorherrschende Kunstverständnis, das nach Ende des Zweiten Weltkriegs – die kollektive Verdrängung von Tätern wie Opfern widerspiegelnd – oft abstrakt und so gut wie immer unpolitisch war. Kunst ist für Köhler von vornherein mit sozialem Engagement verbunden. Er formulierte damals: „Der Maßstab der Überzeugungskraft einer Aktion liegt in der Vielfalt ihres kulturellen Ausdrucks.“ Da ist es dann logisch, wenn Köhler 1970 zum Thema „Warum ist Dali in“ schrieb:
Man müßte dalis bilder im hyde-park an die bäume nageln [...] alle könnten [...] mit wurfpfeilen danach werfen. [...] kunst soll nicht darstellen, sondern versuchen zu verändern. ansonsten ist kunst reaktionär.
Dali personalisierte glatte, marktgängige und (finanziell) erfolgreiche Kunst. Schlauch wollte in erster Linie engagierte, linke Kunst. Zum Thema Erfolg sollte Köhler 30 Jahre später sagen:
„Erfolg – der Begriff hat mich früher nie interessiert. [...] Natürlich wollte ich Einfluss haben; aber ich habe das vor allem unter sozialen Aspekten gesehen. [...] Rückblickend würde ich sagen, dass es ein Fehler war, Erfolg im klassischen Sinn so zu vernachlässigen.“
Heute wird die Revolte von 1968 meist als isoliertes Ereignis dargestellt. Umso stärker dann der behauptete Kontrast zwischen utopischem Hoffen und radikalen Engagement einerseits und der Realität eines verklärt dargestellten, komfortablem, „rheinischen Kapitalismus“ andererseits. Ein falsches Bild. Zum einen, weil auch in diesem „Rheinischen“ Kapitalismus all das behauptete Sozialstaatliche, also konkret jede Minute mehr Pause bei der Fließbandarbeit, jede Stunde weniger Wochenarbeitszeit und jeder Tag mehr Lohnfortzahlung im Krankheitsfall erkämpft werden musste. Zum anderen, weil die revolutionären Hoffnungen eben nicht aus der Luft gegriffen waren. Bernd kann davon mehr als hundert Lieder singen. Songs gegen den Vietnamkrieg und für die FNL, den Vietcong: immerhin ein Kampf, an dessen Ende ein kleines Volk die eigentlich allmächtigen USA – auch dank einer weltweiten Solidaritätsbewegung – bezwungen hatte. Lieder in Solidarität mit den sozialen Aufständen auf der iberischen Halbinsel – wo in den Jahren 1974 und 1975 immerhin in Spanien eine faschistische Diktatur und in Portugal eine faschistoide Diktatur gestürzt wurden. Mehr noch: Die „Nelkenrevolution“ in Portugal war mit vorrevolutionären Situationen verbunden.
Und staunend hör‘n wir von der großen Farm / wo das Volk die Führung übernahm. Wo hundertfünfzig Bauern, Kinder und Frau‘n, / Zusammen leben, das Land bebau‘n, / Wo das Volk jede Sache gemeinsam beschließt, berät, / Wo alles gemeinsam besser geht. / Estrela Vermelha – Rote Farm / Rote Farm im Süden von Portugal.
Einer der letzten Erfolge in dieser roten Perlenkette war der Kampf der Sandinisten gegen die Somoza-Diktatur (Song: „Der Film reißt ab – gewidmet dem US-Reporter William Steward und seinem Übersetzer Juan Espinosa, ermordet von der Nationalgarde Nicaraguas am 20. Juni 1979“). Er mündete am 19. Juli 1979 in den Sieg dieser Revolution, mit der im Übrigen das sozialistische – durch eine US-Blockade existenziell bedrohte – Kuba eine regionale Unterstützung fand.
Vor allem gab es in diesem Zeitabschnitt hunderte begeisternde Arbeitskämpfe. International beginnend mit dem Mai 1968 in Paris, als, beeinflusst von der Studentenrevolte mit Barrikaden im Pariser Quartier Latin, bis zu zehn Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen in den Streik traten. Fortgesetzt mit dem „heißen Herbst“ in Italien 1969. Verallgemeinert in den frühen 1970er Jahren mit dutzenden besetzten Fabriken in Frankreich (exemplarisch dabei die Uhrenfabrik Lip in Besançon 1973/74) und die Kämpfe der Stahlarbeiter in Lothringen (Song Chiffon rouge von Michel Fugain, von Köhler und später Köhler mit ewo2 jeweils neu vertont).
Solche für die arbeitenden Menschen oft durchaus erfolgreichen Auseinandersetzungen zwischen Lohnarbeit und Kapital gab es auch in Westdeutschland – mit den zwei Wellen „wilder“ – nicht gewerkschaftsoffizieller – Streiks in den Jahren 1969 und 1973. Mit den Kämpfen der Stahlarbeiter und der Bergbaukumpels Anfang der 1980er Jahre (Stahlwerkersong, 1983). Mit dem Widerstand gegen die geplanten Massenentlassungen bei BBC Mannheim – Bernd Köhler ist 1988 beteiligt an dem Kulturspektakel „Ohne Arbeit stirbt die Stadt“ in Solidarität mit diesem Widerstand. Mit den langandauernden Kämpfen für die 35-Stunden-Woche, zunächst im Stahlbereich, dann in der Druckbranche und vor allem in der Metallindustrie. Bernd Köhler engagiert sich gemeinsam mit Freundinnen und Freunden 1984 und 1986 in zwei Revue-Programmen (Es gibt ein Leben vor der Rente und 35 und kein bisschen leiser) in dieser großen gewerkschaftlichen Auseinandersetzung.
Die Verbindung von Kampf und Kultur kommt tatsächlich immer wieder exemplarisch zustande. So schrieb die Heidenheimer Neue Presse am 11. November 1985 anlässlich des Streiks bei dem Unternehmen Programma in Gerstetten:
„Letzten Montag herrschte auf der Gerstetter Gartenstraße großer Auftrieb. 1300 Gewerkschafter aus dem ganzen Land waren gekommen, um sich mit den 35 Streikenden aus dem Autoradiowerk Programma zu solidarisieren. Mit dabei der Liedermacher Schlauch alias Bernd Köhler“. Damals erschien – mit getragen von der IG Metall – eine Single mit dem Titel „Weit droben im Land – Das Lied zum Programma-Streik.“ Dazu die zitierte Zeitung: „Die Aufnahme einer solchen Platte ist ein Novum in der Bundesrepublik. Bei der Gewerkschaft will man künftig ‚wieder mehr Wert auf die kulturelle Arbeit legen‘“.
1978 fand in Mannheim der Parteitag der NPD statt. Die offen neonazistische Partei war Ende der 1960er Jahre stark geworden und hatte in Baden-Württemberg eine starke Basis (bei den Landtagswahlen 1969 erhielt die NPD 9,8 %). Köhler verfasste 1976 den Song Gute Tradition: Nazis raus aus unserer Stadt!, in dem er den Kampf der Mannheimer Arbeiter in den 1930er Jahren gegen einen Nazi-Aufmarsch in der Neckarstadt und das Engagement Mannheimer Antifaschisten im Spanischen Bürgerkrieg mit den aktuellen Erfordernissen des Kampfs gegen die Rechtsextremen verband.
Nazis raus aus unserer Stadt / Weil es hier keinen Platz für Faschisten hat, / Nieder mit der Reaktion, / Das hat schon eine gute Tradition.
Das Thema blieb seither aktuell – und ist gerade auch seit dem jüngeren AfD-Aufstieg brandaktuell. Entsprechend wurde der Song seit seinem Entstehen von Bernd mehr als hundert Mal in der Region vorgetragen – so auch am 23. März 2018 im Rahmen einer antifaschistischen Mobilisierung gegen die völkisch-nationale Junge Alternative und die AfD in Heidelberg.
Wenn am 3. Mai 2018 in Ellwangen mehr als hundert bewaffnete Polizisten eine Flüchtlingsunterkunft stürmen, um einen Geflüchteten aus Afrika aufzufinden und der Abschiebung „zuzuführen“ und wenn in dem Zusammenhang alle diejenigen im Flüchtlingsheim, die sich solidarisch mit dem Geflüchteten zeigen, des „Verbrechens gegen den Rechtsstaat“ eschuldigt werden, dann erinnert dies an die lange Tradition des neuen – und alten – Rassismus in Deutschland. Und an ein frühes Lied von Bernd Köhler aus dem Jahr 1983, mit dem er ein Denkmal für Kemal Altun setzte, dem Abschiebung drohte und der sich aus einem Fenster in den Tod stürzte.
Ein Tag, der 30. August / fällt schwärzer noch als schwarz – / auf unser Land – / reiht sich in diese große Schuld. / Sie töten mit Gewehren nicht – / mit Gas nicht oder Strick / ein Federstrich genügt, / auf sauberes Papier gesetzt. / Sie werden in den Tod gehetzt – / die ausgewiesen sind ...
In der 2007 erschienenen CD des elektronischen weltorchesters – ewo2 (mit Bernd Köhler, Hans Reffert, Christiane Schmied und Laurent Leroi) heißt es als Erklärung für den letzten Song auf der CD – und damit indirekt auch als Erklärung für eine längere Pause in Bernd Köhlers Songwerkstatt bzw. für eine Neuorientierung und einen Neuanfang:
„Blauer Planet beschreibt die Vision einer ökologischen und solidarischen Welt und war als Lied zur Jahrtausendwende gedacht, wurde aber wegen der miesen Weltlage erst einmal in die Schublade verbannt. [...] Die aktuelle Klimadebatte wie die weltweiten Bewegungen gegen die Globalisierung sind für uns Signale, die das Lied wieder spielbar machen ...“
Die Wende heißt nicht umsonst Wende. In deutschen Landen gab es ab 1990 ein massives Rückfluten von Kämpfen, gepaart mit einem Siegeszug der neoliberalen Ideologie. Und wie das im ungebremsten Kapitalismus so ist – 1999 dann der Paukenschlag. Ausgerechnet unter Rot-Grün beteiligt sich Deutschland am Nato-Überfall auf Jugoslawien, verharmlosend als „Kosovo-Krieg“ bezeichnet. Bernd Köhler ist aktiv beteiligt am Künstlerprojekt „STOP WAR-MASHINE NOW!“. Köhler 2015 [CHECK Jahreszahl!]: „Es war ein politischer Paradigmenwechsel, der das Tor zu einer Entwicklung aufgestoßen hat, die mit den zweistelligen Wahlergebnissen der AfD noch nicht abgeschlossen ist.“
Im Zeitraum 2003 bis 2015 entstehen zehn neue CDs. Die künstlerische Bandbreite im Schaffen von Bernd Köhler ist so groß wie nie zuvor: Arbeiterlieder (eine CD mit dem Alstom-Chor und zwei ewo2-CDs Avanti populo 1 + 2), französische Chansons (drei CDs Köhler mit Blandine Bonjour) und vor allem die zwei neuen Alben die neue welt (2007) und in dieser straße – das waterboarding-syndrom (2015).
Für mich sind vor allem diese letzten zwei CDs ein kreativ-kraftvoller Sprung nach vorn. Die Sprache – gelegentlich an Franz-Josef Degenhardt erinnernd – ist klar, aber auch kunstvoll, oft subtil. Die Themen der Songs treffen den Zeitgeist in der Periode von Globalisierungs- und IT-Kriegen; ab und an auch an Brecht, beispielsweise an „Dickicht der Städte“, erinnernd (Kennst du die neuen Städte / Draußen vor der alten Stadt / Kennst du die neuen Städte / Wo man keine Augen hat ...). Wunderbar, dass es auch – wie in den 1970er Jahren mit dem Wartezimmer-Blues – Blödelsongs zum Abhängen gibt (Dicker Hund; Das ganz normale Ekel). Begeisternd und mich bewegend der Song Komm Marie, in dem die Kälte der Computergehirne-Welt auf Romantik und Liebe stößt – und die Hoffnung auch am Schluss nicht stirbt:
über dem schutt der großen städte / wehen stille bunte fahnen / für das prinzip des überlebens – die vernunft. / komm marie, lass uns grad heut / den roten stern zum tanzen bringen / lass uns über maulwurfhügel / purzelbäume schlagen, springen. / wir brechen das eis der computergehirne, / wir bieten die stirne – wir bieten die stirn.
Ach ja: Die Reaktivierung und Dynamisierung der musikalischen und künstlerischen Arbeit von Bernd Köhler vor rund 15 Jahren wurde im Übrigen erheblich beeinflusst – durch was wohl?
„Zurück in die Arbeiterbewegung transferierte mich dann 2003 die Mannheimer Belegschaft des Turbinenbauers Alstom mit ihrem unbedingten Kampfeswillen. Die konsequente Gegenwehr, aus der dann auch der bekannte Alstom-Chor hervorging, war erfolgreich und sicherte die Arbeitsplätze für die folgenden zehn Jahre.“
Quellen: UZ vom 30.1982 [Kirchenchor + A-Bombe auf Vietnam] / Protokoll Arbeitskreis Aktionslieder (ohne Datum) / Interview in Stadtzeitung Meier, März 2008 [gemeinsam mit Debusy D’eeper; Interview geführt von David Fischer-Kerlin / Song Estrela Vermelha vom August 1975 / An den beiden Revue-Programmen Mitte der 1980er Jahre waren neben Bernd K. noch beteiligt: Renate Fresow, Margit Heer, Uli Rügner, Erich Schaffner, Vera Sebastian, Einhardt Klucke / Zitate zum Kosovo-Krieg und zum Alstom-Chor aus: Melody & Rhythmus (Interview mit B.K.) /
1. So tatsächlich am 17. Februar 1968 auf dem Vietnam-Kongress in Westberlin vorgetragen. Feltrinelli gehörte einer der reichsten Familien Italiens an. Er war engagierter Sozialist, Kommunist und Aktionist. 1972 wurde er tot bei einem Hochspannungsmast in der Nähe von Mailand gefunden. Nach offizieller Lesart wollte er den Mast sprengen und verletzte sich dabei tödlich. Einiges spricht jedoch dafür, dass er in einer Geheimdienstaktion ermordet wurde. Zitat nach: Internationaler Vietnam-Kongress Westberlin, herausgegeben vom SDS Westberlin, Redaktion Sibylle Plogstedt, S. 13.
Zuletzt aktualisiert am 28. Juni 2023