Winfried Wolf

Verkehrspolitik

Bahnprivatisierungen europaweit

Hintergründe. Ziele. Alternativen

(29. Mai 2017)


Vortrag in Florenz vor Lokführern, 29. Mai 2017 [1]
Kopiert mit Dank aus der Winfried Wolf – Homepage.
Transkription & HTML-Markierung:
Einde O’Callaghan für das Marxists’ Internet Archive.


Das folgende Referat, das Winfried Wolf im Mai 2017 in Florenz vor Lokführern hielt, stellt die Bahnprivatisierungen in Europa in den größeren Zusammenhang der neoliberalen Konterreformen. Die Veranstaltung wurde von dem Freund Tiziano Cardosi organisiert. Der Beitrag ist auch in der ursprünglichen italienischen Fassung, in italienischer Sprache, auf der Website zu finden.

Aktuell erleben wir eine historische Situation. Europa ist der letzte Kontinent mit einem flächendeckenden Schienennetz und mit einem weitgehend flächendeckenden Eisenbahnverkehr. Dieses Schienennetz – hier auf dem heutigen Gebiet von 28 EU-Mitgliedsländern (also u. a. ohne Russland, ohne die Ukraine und ohne Weißrussland) hat noch einen Umfang von 220.000 km Länge. Obwohl seit 1970 bereits rund 30.000 km abgebaut wurden, ist es immer noch einigermaßen flächendeckend. Und dies ist, angesichts der Herausforderungen durch die Klimaerwärmung, zugleich eine historische Chance.

Ein Überblick über die weltweite Situation bei den Eisenbahnen ergibt das folgende Bild:

Somit bleibt Europa, wie genannt, als entscheidende Ausnahme.

Doch ausgerechnet in einer Situation, in der die Umwelt- und die Klimaproblematik allen bewusst wird und die offizielle Politik formal darauf reagiert und für eine klimaverträgliche Verkehrspolitik plädiert, gibt es in den westlichen Industriestaaten und insbesondere in Europa einen umfassenden Angriff auf die Existenz der noch bestehenden Eisenbahnsysteme.

Es gibt keine einheitliche Politik bei diesem zerstörerischen Prozess; keinen „master plan“. Auch seitens der EU existieren eher grobe Vorgaben. Die konkrete Politik der Zerschlagung der Eisenbahnen ist von Land zu Land unterschiedlich. Das macht die Sache einerseits intransparent und scheinbar zufällig. Andererseits aber auch gefährlich, da der Angriff auf die Schiene mit Flexibilität und Cleverness durchgeführt wird.
 

Zehn Grundelemente der europaweiten Bahnprivatisierung

Tatsächlich lassen sich jedoch zehn Grundelemente identifizieren, die diese Anti-Eisenbahn-Politik charakterisieren – und zwar in ganz Europa kennzeichnen, also auch in den Nicht-EU-Ländern Schweiz, Norwegen, Ukraine und teilweise auch Russland. In diesem Sinn gibt es dann doch eine Art heimlichen masterplan.

Das erste Grundelement: In der allgemeinen Verkehrspolitik werden die Straße und der Flugverkehr begünstigt, also ausgerechnet die Verkehrsarten, die Umwelt und Klima und Gesundheit am stärksten belasten.

Gleichzeitig wird die Schiene strukturell und substantiell benachteiligt. Drei Beispiele: Erstens hinsichtlich der Steuerpolitik: Kerosin und Diesel sind steuerfrei; die Eisenbahn muss jedoch in den meisten Ländern für ihren Energieverbrauch Steuern bezahlen (in Deutschland Mineralölsteuer und Energisteuer). Zweitens hinsichtlich der Infrastrukturpolitik: Das Straßennetz wird seit mehr als einem Jahrhundert systematisch ausgebaut, während das Schienennetz seit rund 25 Jahren abgebaut wird. Vor allem wird die Schiene nicht modernisiert und nicht effizienter gemacht. Mehr als ein Drittel des europäischen Schienennetzes haben nur einen eingleisigen Standard. [3] Nur knapp 50 Prozent des europäischen Schienennetzes sind nicht elektrifiziert. Damit haben wir überall zwei Formen der Traktion (Diesel und Elektro-Antrieb); es wird auf erhebliche Synergieeffekte, die es bei 100  % Elektrifizierung geben würde, verzichtet. Vor allem aber verhindert dieser Zustand die Option einer Eisenbahn, die mit 100 Prozent „grüner Energie“ betrieben wird (Strom aus Wasser-, Wind- und Solarenergie). Dass „100 Prozent elektrisch“ Sinn macht, zeigt die Schweiz, wo seit mehr als 15 Jahres der gesamte Schienenverkehr mit elektrischer Energie stattfindet.

Und schließlich drittens hinsichtlich der Liberalisierung des Fernbusses. Mit dem Fernbus erwächst der Schiene auch im regionalen Verkehr und im Fernverkehr zwischen großen Städten ein gefährlicher Rivale. Es waren in den USA auch die Greyhound-Buses, die den Intercity-Eisenbahn-Verkehr am Ende zerstörten.

Die Folgen dieser extremen Ungleichbehandlung der Schiene in der allgemeinen Verkehrspolitik sind hohe und steigende Fahrpreise im Eisenbahnverkehr, stagnierende und sinkende Preise im Straßenverkehr (Pkw und Lkw); Preise im Fernbus-Verkehr, die oft nur ein Drittel der Eisenbahn-Tickets ausmachen. Und massiv sinkende Preise bei den Billigairlines.

Es ist absolut logisch, dass bei einer solchen „verkehrten Verkehrspolitik“ die Schiene in Richtung Prellbock gesteuert wird.

Das zweite wiederkehrende Grundelement ist die Zerschlagung der einheitlichen Eisenbahnsysteme.

Die Eisenbahnen haben sich alle als einheitliche Systeme, als „integrierte Bahnen“ entwickelt und bewährt. So gut wie nirgendwo gab es seit Existenz von Eisenbahnen, seit dem ersten Viertel des 19. Jahrhunderts, erfolgreiche Eisenbahnen ohne Infrastruktur.

Doch die EU-Politik und die Verkehrspolitik in vielen europäischen Staaten zielt auf eine Zerschlagung dieser Integration: Es geht um

Das dritte Grundelement sind verschiedene Formen der indirekten (formellen) und direkten (materiellen) Privatisierung.

Die Staatbahnen, die einer direkten staatlichen (öffentlichen) Kontrolle unterstanden, werden in Aktiengesellschaften umgewandelt. Es gibt dann nur noch eine indirekte und schwach ausgebildete Kontrolle. Teilbereiche des Nahverkehrs werden direkt – auch materiell – privatisiert (der Verkehr wird dort an rein private Betreiber vergeben). Es kommt zum Outsourcing wichtiger Bestandteile des Eisenbahnsystems (z. B. der Instandhaltung, der Reinigung, der Gepäckaufbewahrung, des Personals. [4]

Das hat oft für die Fahrgäste, die den Schienenverkehr zu Recht als Ganzes begreifen, fatale und teure Konsequenzen. [5]

Viertes Grundelement: Ein massiver Abbau der Beschäftigung – bei gleichzeitiger deutlicher Steigerung der Arbeitsintensität der Noch-Beschäftigten.

EU-weit wurden seit 1990 bei den Eisenbahnen mehr als eine Million Jobs vernichtet. Obgleich gleichzeitig die Leistung (gemessen in Personen-Kilometer und Tonnen-Kilometern) sich deutlich erhöhte. Allein in Deutschland wurden im Zeitraum 1992 bis 2016 rund 250.000 Arbeitsplätze im Eisenbahn-Bereich vernichtet. In Italien waren es mehr als 120.000.

Bezieht man die Bahnindustrie (Herstellung von Loks, Waggons; Instandhaltung – also z. B. bei Ansaldo Breda oder Bombardier oder Alstom oder Siemens-Bahntechnik usw.) mit ein, so wurden EU-weit zusätzlich rund 150.000 Arbeitsplätze seit 1990 zerstört.

Es dürfte in Europa als Ganzes keinen anderen strategischen Sektor geben, in dem es einen derart massiven Abbau der Beschäftigung gab. Dennoch hat dies zu keinem Aufschrei (und zu einem viel zu geringen Widerstand seitens der Gewerkschaften) geführt.

Früher gab es den (zweifellos idealisierenden) Begriff der „Eisenbahnerfamilie“. Das hatte recht praktische und für den Eisenbahnbetrieb und die Fahrgäste positive Folgen. Die Kolleginnen und Kollegen bei den Eisenbahnen identifizierten sich weitgehend mit dem Betrieb. Inzwischen gibt es bei den Bahnbeschäftigten einen krassen Verlust der „corporate identity“; die Identifikation mit dem Unternehmen Eisenbahn (DB AG, FS, SNCF usw.) tendiert gegen Null. Mit krassen negativen Folgen für den Eisenbahnbetrieb und die Fahrgäste. Und im Übrigen auch mit erheblichen negativen gesundheitlichen Folgen für die Bahnbeschäftigten.

Das fünfte Grundelement besteht in einem massiven Abbau von Komfort und Service.

Dies ist bereits weitgehend die logische Folge von Element 4: Massiv weniger Bahnbeschäftigte bei steigenden Leistungen müssen in einem deutlichen Abbau von Service münden.

Tatsächlich gibt es einen massivem Abbau der Schalter (für Ticketverkauf und Information). Es gibt die Stilllegung von deutlich mehr als zehntausend Bahnhöfen mit Personal in Europa (allein in Deutschland wurde seit 1985 und bis 2016 die Zahl der Bahnhöfe mit Personal von 5.500 auf weniger als 500 reduziert, also um 5.000 reduziert). Die Fahrpläne sind immer weniger aufeinander abgestimmt; oft herrscht Fahrplanchaos (auch wegen der unterschiedlichen Betreiber). Die Pünktlichkeitsquote bricht dramatisch ein. Speisewagen werden abgebaut (oder es gibt nur noch abstoßende McDonald-artige „Bistros“). Das Ticket-Pricing-System wird immer intransparenter; es herrscht ein wahrhaftige Tarifdschungel.

Ein besonders dramatisches Beispiel für diesen Abbau von Komfort und Service ist die europaweite massive Reduktion der Nachtzugangebote bzw. die Einstellung aller Nachtzüge in vielen Ländern (in Deutschland gab es eine komplette Einstellung der Nachtzüge am 11. Dezember 2016 – nach einer mehr als hundertjährigen Tradition).

Diese Nachtzüge hatten traditionell in vielen Ländern auch eine wichtige politische Funktion. In Italien förderten sie z.B. den Zusammenhalt von Nord- und Süditalien; sie waren Teil dessen, was man heute „nation-building“ nennt. Nachzüge könnten so europaweit eine Klammer für den Zusammenhalt des Kontinents darstellen. Nachtzüge haben darüberhinaus den unschlagbaren Vorteil, dass man nachts schlafend Zeit gewinnt und Hotelübernachtungen spart. Bei Entfernungen zwischen 800 und 2000 km könnten Eisenbahnen mit „Nachtsprung“ eine ernst zu nehmende Alternative zum Mittelstreckenflugverkehr darstellen. [6]

So gesehen – und Grundelement 10 berücksichtigend – ist es fast kein Zufall, dass es seit rund einem Jahrzehnt EU-weit eine Art konzentrierten Angriff auf die Nachtzüge gibt. Wobei dies jeder unternehmerischen Ratio und vor allem jeder Art klimafreundlicher und umweltbewusster Verkehrspolitik widerspricht. [7]

Das sechste zerstörerische Grundelement besteht in der Konzentration der europäischen Eisenbahnen auf Hochgeschwindigkeit bei gleichzeitigem Abbau der Schiene in der Fläche.

Europaweit werden Hochgeschwindigkeitszüge wie in Italien der Italo und die Frecce-Züge, in Frankreich der TGV, in Spanien der AVE und in Deutschland der ICE ausgebaut, gepriesen und gefördert.

Gleichzeitig wird der Schienenverkehr in der Fläche deutlich, teilweise radikal, abgebaut. Ganze Regionen und größere Städte werden so vom Schienenfernverkehr förmlich abgehängt. Teilweise werden Zuggattungen für den Fernverkehr deutlich entwertet (in Italien und Deutschland der Intercity) oder sogar komplett aufgegeben (in Deutschland der bis 1998 enorm erfolgreiche IR / InterRegio).

Dabei ist der Hochgeschwindigkeitsverkehr als Ganzes ausgesprochen defizitär. Das ist dann der Fall, wenn der extrem teure Bau der Hochgeschwindigkeitsstrecken eingerechnet wird. Aktuell erleben wir, dass sogar in Frankreich der TGV aufgegeben werden soll, weil er sich „nicht rechnen“ würde. Stattdessen soll es einen neuen Luxus-Zug im Hochgeschwindigkeitsverkehr und einen neuen Billigzug geben. [8]

Es kommt – siebtes Grundelement – zu einer deutlichen Vernachlässigung und Verschlechterung der Instandhaltung und der Infrastruktur und zur Einführung eines krass willkürlichen Systems von Trassenpreisen.

Die Vernachlässigung der Infrastruktur bewirkt zunächst – und das ist noch harmlos – die Zunahme der Verspätungen. Die Vernachlässigung der Instandhaltung hat zur Folge, dass oft Türen nicht zu öffnen sind, dass Toiletten verschlossen bleiben, dass Speisewagen keine Angebote (oder nur kalte Getränke) bieten.

Oft führt dies jedoch zu deutlich Schlimmerem: zu schweren Unfällen. Der katastrophale Unfall in Viareggio ist auf eine extrem mangelhafte Wartung von Waggons bzw. auf eine absolut unzureichende Kontrolle der Waggons und vor allem der Achsen zurückzuführen. [9]

Gleichzeitig wurde europaweit ein Mautsystem für die Trassennutzung eingeführt. Dieses ist extrem intransparent und willkürlich. In der Regel sind die Trassenpreise so hoch, dass sie Schienenverkehr reduzieren müssen.

Mit diesem System kann man leicht missliebige Bestandteile des Schienenverkehrs ausschalten. Dies war bei der Einstellung des deutschen Nachtzugverkehrs der Fall. Dort machten die Trassenpreise oft mehr als 35  % der gesamten Kosten aus.

Das achte Grundelement bei der Zerstörung der europäischen Eisenbahnen ist die Ausgliederung und Schließung von Tausenden Bahnhöfen.

Bahnhöfe werden zu Recht als „Visitenkarte für den Schienenverkehr“ bezeichnet. Sie sind Eingang zum System Schiene und Ausgang aus demselben. Mit der Zerschlagung der Schienensysteme erleben wir einen doppelten Prozess: Die große Zahl der Bahnhöfe wird geschlossen – die Gebäude sind oft vernagelt oder sie werden an private Betreiber verkauft. Fahrkartenverkauf und Information gibt es dort dann in der Regel nicht mehr. Einige – wenige! – große Bahnhöfe werden zu shopping malls umgebaut. Wobei bei diesen dann der Gleisanschluss eher die Nebensache darstellt – im Zentrum steht Shopping.

Damit verbunden sind gewaltige Immobiliengeschäfte und Bodenspekulation, als „Entwicklung“ („developing“) bezeichnet.

In Italien ist die Bahnhofsgesellschaft Grandi Stazioni inzwischen eine primär private Gesellschaft. Sie macht vor allem durch Vermietung und Pachten ihre Geschäfte. Zu dieser Gesellschaft gehören die großen Bahnhöfe in Italien und – einigermaßen absurd – auch der Bahnhof Praha hl. n.

Grundelement neun. Die staatlichen Ausgaben für das System Schiene bleiben hoch; oft liegen sie heute höher als vor dem Privatisierungsprozess.

Bei Beginn der Bahnprivatisierung Anfang der 1990er Jahre hieß es, man wolle damit erreichen, dass die „zu hohen Staatsausgaben für die Schiene sinken“. Das Gegenteil trat in der Regel ein. Der Abbau der Schiene wird von einem Anstieg der staatlichen Gelder für die Schiene begleitet. Dabei werden diese Gelder jedoch entweder zur Mästung der Privaten ausgegeben. Oder für Projekte im Schienenbereich, die ihrerseits zerstörerisch oder auch nur absurd und unnötig sind. Eben für grandi opere inutili.

Das betrifft den Bau von neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken, bei denen es keinen Bedarf gibt (so geschehen in Spanien, wo fast neue Hochgeschwindigkeitsstrecken bereits wieder stillgelegt werden). Das betrifft das gigantische Tunnelprojekt im Val di Susa (Hochgeschwindigkeitsstrecke Turin –Lyon). Es betrifft das Projekt TAV Tunnel Firenze – eine unterirdische Trasse unter der Stadt Florenz hindurch bei weitgehender Entwertung des Zentrums-nahen Bahnhofs Firenze SMN (Santa Maria Novella). Und es betrifft natürlich das Projekt Stuttgart 21.

Die hohen und steigenden staatlichen Ausgaben für die Schiene wiederum dienen als Vorwand für den weiteren Abbau von Schienenverkehren. Es heißt: Der Schienenverkehr kommt die Gesellschaft „zu teuer“.

Grundelement zehn: Es kommt zu einer Durchsetzung der Eisenbahngesellschaften und des Systems Schiene mit Personen, die mit der Schienenkonkurrenz verbunden sind.

Top-Leute bei den Eisenbahnen, die sich im Privatisierungsprozess befinden, sind oft Leute, die aus dem Öl-Business, aus der Autoindustrie, aus der Luftfahrtbranche kommen.

In Deutschland hatten wir drei Bahnbosse, die direkt aus dem Daimler-Konzern kamen: Heinz Dürr (1991–1998), Hartmut Mehdorn (1999–2009) und Rüdiger Grube (2009–2017). In Frankreich gab es mit Francois Gallois einen Mann, der von der SNCF-Spitze direkt an die EADS-Airbus-Spitze wechselte.

In Italien hatten wir an der FS-Spitze Lorenzo Necci (1995 ff.), der vom Ölkonzern ENI kam. Und wir hatten Lucca Montezemulo, den langjährigen Ferrari-Top-Manager, der Großaktionär bei der privaten Hochgeschwindigkeitsbahngesellschaft NTV mit dem „Italo“ stand.

Im Bundestag gab es Anfang 2015 eine Anhörung zu den Nachtzügen. Der Top-Manager der Deutschen Bahn, der dort für den Nachtzug fast ein Jahrzehntlang verantwortlich war, gestand ein: „Ich bin noch nie mit einem Nachtzug gefahren.“

Eine besonders brutale Form der Verbindung gegensätzlicher Interessen beschloss der italienische Ministerrat am 13. April 2017. Danach sollen die italienische Staatsbahn FS und die nationale Straßenbetriebsgesellschaft ANAS (Azienda Nazionale delle Strade) fusionieren. Damit wäre die entscheidende Konkurrenz zur Schiene, die Straße, in ein und demselben Konzern eingebunden. Die FS-ANAS muss dann ein Interesse daran haben, dass der Straßenverkehr expandiert – gegebenenfalls auf Kosten der Schiene. Es sei daran erinnert, dass es sich um ein Modell der NSDAP handelt: 1934, ein Jahr nach der Machtübernahme der Nazis in Berlin, wurde die „Reichsautobahngesellschaft“ gegründet. Dies war eine Tochtergesellschaft der staatlichen Reichsbahn (der deutschen Staatseisenbahn). Ab diesem Zeitpunkt und bis Kriegsende musste die Reichsbahn den Aufbau und Ausbau des deutschen Autobahnnetzes („Reichsautobahnen“) organisieren und weitgehend finanzieren. Dies hatte erhebliche negative Folgen für den Eisenbahnverkehr selbst. Offensichtlich übernahm hier die Regierung unter Ministerpräsident Paolo Gentilone und dem Verkehrsminister Graziano Delrio ein für die Nazis und für die Autolobby 1934–1945 erfolgreiches Modell – ohne dass dies bislang in der italienischen Öffentlichkeit bemerkt oder gar kritisch kommentiert worden wäre.

Das Agieren fremder Interessen an der Spitze eines Konzerns ist in der kapitalistischen Wirtschaft absolut unüblich, weil kontraproduktiv, den Profit schmälernd. Es ist undenkbar, dass ein Top-Mann bei Fiat, VW, BMW oder Peugeot nicht aus dem Autobusiness kommt. Und noch weniger ist vorstellbar, dass er mit konkurrierenden Interessen (etwa denen der Eisenbahn) verbandelt ist.

Vielmehr heißt es hier oft: „Der Top-Manager X hat Benzin im Blut“. Doch bei den Eisenbahnen in Europa gibt e so gut wie keine Eisenbahner mehr. Und kein Personal, das Eisenbahnen liebt und Eisenbahn lebt.

Wenn dieses Modell im Bereich Eisenbahnen praktiziert wird, dann offensichtlich allein mit dem Ziel, der Schiene zu schaden.
 

Bilanz der zehn Grundelemente

Die hier aufgeführten zehn zerstörerischen Elemente kommen heute europaweit zur Anwendung – in einem je Land unterschiedlichen Mix. Sie werden teilweise durch EU-Richtlinien (durch die EU-Gesetzgebung) unterstützt. Oft aber ist es die nationale Politik, die derart agiert (und dabei oft entschuldigend auf „Brüssel“ verweist).

Die Folgen sind eine massive Desintegration und hohe Synergie-Verluste beim System Schiene. Die Beschäftigten sind enorm frustriert von der Bahn und ihrem Arbeitgeber. Und es gibt einen extremen Reputationsverlust der Eisenbahnen europaweit (mit der interessanten Ausnahme der Schweiz [10]).
 

Situation in Deutschland

Eine knappe Skizze zur Lage der Eisenbahn in Deutschland. Grundsätzlich läuft es bei uns ziemlich genau nach dem Schema der dargestellten zehn Grundelemente. Doch es läuft nicht glatt.

1994 gab es die „Bahnreform“; die bereits genannte Umwandlung der Staatsbahnen in die DB als Aktiengesellschaft. Bei 100 Prozent Staatsanteil an der AG.

Im Zeitraum 2005 bis 2008 wollte die damalige CDU/CSU-SPD-Regierung („Große Koalition“) die DB auch materiell – in Form eines Börsengangs – privatisieren – zunächst mit Netz, dann nur noch den Betrieb (die Transportbereiche). Dieses Vorhaben scheiterte im Oktober 2008. Grund dafür war u.a. ein massiver Widerstand in der Öffentlichkeit, den wir durch die angesprochene Kampagne gegen die Bahnprivatisierung (u. a. auch mit einem erfolgreichen Film mit Titel Bahn unterm Hammer) mit entwickelt hatten. Nach außen wird die Finanzkrise als Ursache für das Scheitern des Bahnbörsengangs genannt.

Die wichtigste Gewerkschaft bei den Eisenbahnen, damals Transnet, heute heißt sie EVG, unterstützte das Projekt Börsengang der Bahn.

2015/16 gab es einen neuen Versuch der materiellen Bahnprivatisierung. Dieses Mal sollten „private Investoren“ an zwei zentralen DG-AG-Töchtern beteiligt werden. Auch dieses Vorhaben scheiterte (dieses Mal wohl an inneren Konflikten bei der aktuellen Regierung und weil die neue Bundestagswahl – die am 24.9.2017 stattfindet – zu nahe herangerückt war).

Dennoch gibt es bei der Schiene in Deutschland seit 1994 eine massive Transformation. Sie lässt sich in drei Punkten zusammenfassen.

Erstens gibt es inzwischen im Schienenpersonennahverkehr einen Anteil der privaten Betreiber von gut 40 Prozent. Gleichzeitig haben private Betreiber im Schienengüterverkehr einen Anteil von 45 Prozent erreicht. Groteskerweise sind diese „privaten“ Betreiber oft Töchter der noch staatlichen Nachbareisenbahnen (also mit Netinera, der FS-Tochter, mit Keolis der SNCF-Tochter oder mit SBB Cargo der Tochter der schweizerischen Bahn).

Zweitens macht die DB AG inzwischen die Hälfte ihres Umsatzes im Ausland. Gleichzeitig wird die Hälfte des Umsatzes im bahnfremden Bereich (u. a. mit Schiffen, Lkw und Flugverkehr) erzielt. Wobei es sich überschneidende Schnittmengen gibt. [11]

Die Investitionspolitik der DB ist eine Art „verlängerte Außenpolitik“ der deutschen Regierung. So investiert die DB viel im Nahen und Mittleren Osten (u. a. in Saudi Arabien, Katar, Kuweit). Kapital aus diesen Ländern ist massiv in deutschen Konzernen (VW, Daimler) und Banken (Deutsche Bank) angelegt. Eine Hand wäscht also die andere.

Auch ist die Deutsche Bahn in der Wiederbelebung der Seidenstraße engagiert. Ein durchgehender – wenn auch noch wenig bedeutender – Schienengüterverkehr von China nach Deutschland (über Russland) – und umgekehrt – findet statt. Hierfür wurden entsprechende Strukturen ausgebaut – und auch erreicht, dass der Spurwechsel von Normalspur (1.535 mm) auf Breitspur und zurück inzwischen in wenigen Minuten stattfinden kann.

Drittens wurde die bisherige führende Position der DB im Fernverkehr durch die 2015 erfolgte Liberalisierung der Fernbus-Verkehre gebrochen. Die Fernbusse werden inzwischen von dem Anbieter Flixbus, der auch in Italien präsent ist, monopolisiert (wobei es sich hier um ein Modell wie bei Uber handelt; „Flixbus“ ist nur die Marke und der Betreiber; die real rollenden Busse gehören alle kleinen und mittelständischen Busunternehmen, die ihre Busse grün lackieren müssen).

Es kam bei der DB bereits zu erheblichen Einbrüchen im Schienenpersonenfernverkehr. Dagegen geht die DB mit immer neuen Billigangeboten vor. Dies jedoch unterminiert die finanzielle Basis im Schienenfernverkehr. Perspektivisch dürfte die DB bei den gegebenen Marktbedingungen, die den Bus fördern, den Kürzeren ziehen. U. a. zahlen die Busse keine Maut auf den Autobahnen (wie die Lkw dies tun müssen).

Im Übrigen gab es Vergleichbares in Frankreich. Unter Emmanuelle Macron als Wirtschaftsminister wurde dort vor wenigen Jahren das lois car Macron verabschiedet, mit dem die Fernbusse-Fernverkehre in Frankreich liberalisiert werden und nun den SNCF-Fernverkehr bedrohen.

Bilanz: Der objektive Prozess der Bahnprivatisierung ist auch in Deutschland, trotz noch 100-prozentigem Anteil des Bundes an der DB AG, weit vorangeschritten. Und er schreitet weiter voran – das aktuelle Spitzenduo Richard Lutz (neuer Bahnchef und alter und neuer Finanzchef) und Ronald Pofalla (Infrastruktur-Chef) sind reine Bürokraten mit nachgewiesenem Interesse an einem neuen Börsen-Gang (oder dem Hereinholen von privaten „Investoren“).

Parallel setzt sich vor allem der zerstörerische Prozess bei der Infrastruktur fort. Aktuell diskutieren auch wir vom Bündnis Bahn für Alle, ob jetzt die Forderung nach einer Herauslösung der Infrastruktur (zusammen mit Bahnhöfen, Energiebereich und Instandhaltung) und deren Unterstellung unter eine direkte staatliche Kontrolle nicht eine richtige Forderung ist. Als Schutzmaßnahme – bei Beibehaltung der grundsätzlichen Forderung nach einer integrierten Bahn in direktem öffentlichem Eigentum.

* * *

Bilanz und Schlussfolgerungen

  1. Der Angriff auf die bestehenden, weitgehend noch staatlichen Eisenbahngesellschaften im Europa ist das Ergebnis der kapitalistischen Krise. Die Verwertungsschwierigkeiten des Kapitals sind Triebkraft dafür, dass der gesamte noch-öffentliche Sektor der Kontrolle des Kapitals und dem privaten Profit unterworfen werden soll. Dieser Angriff ist darüber hinaus im Besonderen Resultat eines Kapitalismus, der in starkem Maß von Öl, Auto und Luftfahrtinteressen – verbunden mit der Finanzindustrie – bestimmt wird.
     
  2. Die deutliche Mehrheit in den Bevölkerungen Europas ist heute gegen Privatisierungen des öffentlichen Eigentums eingestellt. Die Erkenntnis, dass „Privatisierung“ in sehr direktem Sinn mit dem lateinischen Wort „privare = berauben“ zu tun hat, setzt sich zunehmend durch. Die Mehrheit in der Bevölkerung fordert eine integrierte Eisenbahn in öffentlichem Eigentum und mit einer sozialen und ökologischen Verpflichtung. Die Forderung nach einer solchen „Ferrovie Pubblica e Sociale“ stellt sich ganz besonders als Resultat der menschengemachten Klimaerwärmung und der vertraglichen Bestimmungen, die aus den Klimakonferenzen, zuletzt aus der Klimakonferenz in Paris Ende 2015, resultieren.

Im übrigen müsste die Forderung nicht lauten „Re-Nationalisierung“, sondern korrekterweise „zweite Nationalisierung“. Schließlich waren in Europa alle Eisenbahnen in der Gründungszeit um 1825 ff private Eisenbahnen gewesen. Diese mussten Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts nationalisiert werden, weil sie auch aus bürgerlicher Sicht den an sie gestellten gesamtgesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht wurden. In Italien kam es diese erste Nationalisierung 1870 und 1905. [12] In jüngerer Zeit – ab den 1990er Jahren – erlebten wir hier eine Rolle rückwärts – zurück ins erste Drittel des vorletzten Jahrhunderts. Und erneut erweist sich, dass diese privaten neuen Eisenbahnen bzw. die im Privatisierungsprozess befindlichen Eisenbahnen den sozialen und ökologischen Anforderungen der Gesellschaft nicht gerecht werden. Daher ist zu fordern: Sofortige Beendigung der für die Gesellschaft extrem teuren Bahnprivatisierung – Durchführung einer zweiten Nationalisierung, wobei wir Lehren aus den Fehlern der starren und hierarchischen Staatsbahnen aus der Zeit vor 1990 ziehen müssen. [13]

  1. Es gibt diesen Kampf für eine öffentliche und soziale Bahn nicht nur auf dem Papier – es gibt ihn als Realität gesellschaftlicher Kämpfe. So gab es in Deutschland die geschilderte – erfolgreiche – Kampagne gegen die Bahnprivatisierung. Es gab die Kampagne gegen das Nachtzug-Aus – übrigens mit erstaunlichen Nachwehen. [14] Es gab 2007/2008 und 2014/2015 erfolgreiche Kämpfe und Streiks der deutschen Lokomotivführergewerkschaft (GDL), die indirekt politischen Charakter hatten. Es gibt den andauernden Kampf gegen das zerstörerische grande opere inutile – das Großprojekt – Stuttgart 21, bei dem es gerade die 370. Montagsdemonstration gab – sieben Jahre jede Woche am Montag eine Demonstration mit immer 1000 und oft mehr Menschen. Es gibt diesen andauernden Kampf im Val di Susa gegen das bereits genannte Monsterprojekt. Es gibt den neu belebten Kampf gegen den TAV-Tunnel in Firenze. Wir hatten in Stuttgart mehrmals Vertreter aus dem Val di Susa und aus Florenz, so Tiziano Cardosi als Redner, und konnten so einen höchst praktischen Beitrag für die internationale Solidarität leisten.

Und es gibt diesen Kampf mit dieser Konferenz, der ich allen Erfolg wünsche – mit dem Ziel, eine solche „Ferrovie Publicca e Soziale“ zu verwirklichen.

Lotta continua!

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Anmerkungen<

1. Veranstaltung organisiert von dem Comitato per una Ferrovie Pubblica e Sociale; Firenze Rifredi, Casa di Populo. Anwesend waren rund hundert Lokführer u. a. von der Gewerkschaft CUB Rail. Das Referat wurde nachträglich in Bytes gebracht und in wenigen Punkten optimiert und erweitert.

2. Siehe Bradford C. Snell, The American Ground Transport. A Proposal for Restructuring the Automobile, Truck, Bus and Rail Industries, vorgelegt dem Subcommittee on Antitrust and Monopoly of the Committee on the Judiciary United States Senate, 26th February 1974.

3. Am 9. Februar 2016 gab es in Deutschland in Bad Aibling in Bayern einen schweren Eisenbahnunfall mit zwölf Todesopfern. Die sehr stark befahrene Strecke ist eingleisig.

4. Beispielsweise wird das Personal in den ÖBB-Nachtzügen von dem privaten Betreiber Newrest gestellt. Die dort bezahlten Stundenlöhne liegen unterhalb des Niveaus des deutschen Minimallohns.

5. Nach einer Nachtzugfahrt von München nach Florenz am 25.5. wollten wir (meine Familie) – früh am Morgen gegen 7 h – den ca. 3-stündigen Aufenthalt für einen kurzen Stadtbummel nutzen. Erfreulicherweise gibt es im Bahnhof Firenze S.M.N. auch zu diesem Zeitpunkt die Möglichkeit zur Nutzung einer Gepäckaufbewahrung. Doch es handelt sich dabei um eine outgesourcte, private Firma, die dort u. a. für Fedex arbeitet. Wir bezahlten für drei Koffer und 2 Stunden 20 Euro. Das entspricht einem Drittel der Kosten für einen Ryanair-Flug Berlin–Florenz. Wobei natürlich klar ist, dass Ryanair faktisch unverschämt massiv mit Steuergeldern subventioniert wird.

6, Wir kamen mit Familie (zu viert) nach Florenz per Nachtzug. Ich fuhr auch per Nachtzug am 29.5. zurück. Es handelt sich um die Nachtzugstrecke München–Florenz, die die DB AG am 11.12.2016 einstellte und die die ÖBB erfreulicherweise übernahm. Wobei ich inzwischen in Berlin um 12 h mit einem ICE bis München fahren, dabei in München einen Zeitpuffer einplanen muss, um sicher zu sein, den ÖBB-Nachtzug um kurz nach 19 Uhr nehmen zu können. Die Ankunft in Florenz ist fahrplanmäßig kurz nach 6 Uhr. Vor 13 Jahren benötigte der (DB AG-) Nachtzug (EuroNight 287 Capri) München–Florenz 1,5 Stunden weniger Fahrtzeit (ab München 21.03 – Ankunft Florenz 5.34 h). Eine durchgehende Verbindung Berlin–Florenz (ggfs. weiterführend nach Rom) würde heute Fahrtzeiten für Berlin–Florenz von weniger als 15 Stunden ermöglichen. Bei einer Abfahrtzeit in Berlin z. B. Um 17 h und einer Ankunft in Florenz gegen 8 Uhr wäre eine solche Zugfahrt ausgesprochen attraktiv und gegenüber einem Flug ausgesprochen konkurrenzfähig.

7. Wir führten in Deutschland 2014–2016 eine intensive Kampagne zum Erhalt der Nachtzüge durch. Daran beteiligten sich das breite Bündnis Bahn für Alle (in dem 20 einzelne Verbände zusammengeschlossen sind und das sich allgemein gegen die Bahnprivatisierung richtet), die Belegschaftsvertreter der Nachtzugtochter der Deutschen Bahn AG (DB ERS) und punktuell die Lokführergewerkschaft GDL. Dazu entwickelten wir den Plan für ein europaweites Nachtzugsystem (mit Bezeichnung LunaLiner) und publizierten eine umfangreiche Broschüre (Lunapark21 Extra 12), die u. a. in den Nachtzügen verteilt wurde. In diesem Heft gab es auch einen Beitrag von David Leonie (CUB Trasporti) über dem Kampf zum Erhalt der Nachtzüge in Italien (dort S. 73 ff).

8. Nach 36 Jahren soll Ende 2017 die Marke TGV komplett aufgegeben werden. Der neue Hochgeschwindigkeitsluxus-Zug soll die Bezeichnung „inOui“ haben, der schnelle Billigzug soll „Ouigo“ heißen. Siehe Thomas Hanke, Trauriges Ende, in: Handelsblatt vom 30. Mai 2017. Unabhängig davon, dass Hochgeschwindigkeitszüge verlustreich sind, ist die Aufgabe der Marke TGV, die eine dreißigjährige Tradition verkörpert, tragisch und unternehmerisch falsch. Sie muss auch vor dem Hintergrund der Zerschlagung des TGV-Herstellers, des Konzerns Alstom, im Jahr 2014 gesehen werden. Das Hauptgeschäft von Alstom ging damals an GE (USA). Für beides zerstörerischen Akte – die Zerschlagung von Alstom und die Aufgabe der Marke TGV – ist Emmanuel Macron mitverantwortlich: 2014 als Wirtschaftsminister; heute als neuer Präsident. Beides erfolgt zumindest objektiv im deutschen Interesse: pro ICE und pro Siemens.

9. Die Katastrophe in Viareggio war zwei Wochen bevor sie stattfand, gewissermaßen angekündigt worden. Doch es wurde darauf nicht reagiert. Ich zitiere aus einem – bisher unveröffentlichten – wissenschaftlichen Artikel der beiden deutschen Eisenbahnexperten Prof. Vatroslav Grubisic und Dr. Gerhard Fischer: „Nach einer Meldung vom 15. Juni 2009 in Westdeutsche Allgemeine Zeitung- WAZ mit dem Titel Sicherheitsrisiko bei der Bahn, warnt das Eisenbahn-Bundesamt-EBA vor Gefahr von Achsbrüchen an mehreren tausend Güterwagen. „In Europa könnten bis zu 600.000 Achsen den schweren Lasten und den hohen Beanspruchungen nicht gewachsen sein“ heißt es weiter. Bereits 2007 hatte das EBA vor dem hohen Risiko von Entgleisungen und Kollisionen gewarnt. Darin heißt es weiter: „Großschadensereignisse könnten die Folge sein, in die Personenzüge wie Gefahrguttransporte verwickelt werden könnten“. Unmittelbar darauf kam es zur „angekündigten Tragödie“ (Süddeutsche.de, 30.6.2009), dem Inferno von Viareggio. Der Beitrag von Grubisic/Fischer wird in einer englischen Fachzeitschrift erscheinen; er wird aktuell auch ins Italienische übersetzt.

10. Die schweizerische Staatsbahn SBB liegt in der Regel auf Rang 1 bei der Frage nach dem Ansehen der verschiedenen großen Unternehmen in der Bevölkerung. In der BRD liegt die Deutsche Bahn meist auf dem vorletzten oder drittletzten Platz (meist knapp vor der Deutschen Post, die ebenfalls privatisiert wurde und die ihre traditionellen Dienste ebenfalls massiv abbaute).

11. Wenn die DB AG die Hälfte des Umsatzes im Ausland tätigt, so liegt ein Teil dieser Auslandsaktivitäten im Eisenbahnsektor. Wobei dann die staatliche Deutsche Bahn mit ihrer Tochter mit einer bestehenden staatlichen (ehemals integrierten, einheitlichen) Eisenbahngesellschaft konkurriert. Gleichzeitig gibt es bei den Inlandsengagements der DB auch bahnfremde Bestandteile, so im Fall des Lkw-Speditionsgeschäftes der DB AG-Tochter Schenker Logistics.

12. In Italien beschloss die Regierung in Rom 1870 die Verstaatlichung der größten privaten Eisenbahn, der Alta Italia. Doch das dann beschlossene staatliche Streckenbauprogramm ließ sich angeblich nicht finanzieren, worauf die Staatslinien wieder an private Gesellschaften verpachtet wurden. 1905 kam es mit der Bildung der Ferrovie dello Stato (FS) erneut zur Verstaatlichung.

13. Sinnvoll erscheint mir ein Modell, bei dem sich die gesamte Eisenbahn in öffentlichem Eigentum befindet, es jedoch eine Kombination von Bundeseigentum bei den großen Linien (auch bei Hochgeschwindigkeitszügen, insoweit es diese dann noch geben soll) und dezentralem öffentlichen Eigentum beim regionalen Schienenverkehr gibt. Grundsätzlich sollte gelten: so zentral wie nötig, so dezentral wie möglich. Dadurch kann eine größere Bürgernähe hergestellt werden. Dies entspricht auch dem erfolgreichen Modell in der Schweiz. Dort befinden sich große Teile der Eisenbahnen in kantonalem Eigentum (die Kantone entsprechend in Deutschland den Bundesländern. Wobei jedoch der größte Kanton in der Schweiz kaum größer ist als das kleinste deutsche Bundesland).

14. Im Mai beschlossen die Regierungsparteien CDU/CSU und SPD völlig überraschend einen gemeinsamen Antrag, in dem die Deutsche Bahn AG aufgefordert wird, zu prüfen, erneut Nachtzüge in Kooperation mit Nachbarbahnen zu betreiben. Das ist sicher ein Schaufenster-Antrag mit Blick auf die kommenden Bundestagswahlen. Dennoch wird damit auch deutlich, dass unsere Kampagne Wirkung zeigte.


Zuletzt aktualisiert am 26. Juni 2023